Botschafter des Heils in Christo 1926

02/06/2024
von Christ-und-Buch Günter Arhelger
Botschafter des Heils in Christo Inhaltsverzeichnis: 1926Seite
Das große Abendmahl  (Luk 14, 16-24)1-12
Betrachtungen über den Propbeten Hosea12
Kurze Aufzeichnungen aus einer Betrachtung über Esra 319
Lamech.25
Zweimal gerufen.29
Geöffnete Augen43
Mein Reichtum (Gedicht)55
Fragen aus dem Leserkreise 5555
Da bin ich in ibrer Mitte"57
Die glückliche Hanne und ihr Geheimnis80
Welche Wege soll ich gehn? (Gedicht)83
Ein bemerkenswertes Zeugnis84
Gereinigt vom bösen Gewissen100
Hat106
In all ihrer Bedrängnis war Er bedrängt" (Gedicht)112
Aufzeichnungen aus einer gemeinsamen Betrachtung
über Richter 13-16129
Aus alten Briefen.137
Einst und jetzt (Gedicht)140
Übles Nachreden159
Gedanke168
Mephiboseth177
Einige Gedanken über Hiob 5, 8 u. 22, 21 ff..186
Aufzeichnungen aus einer Betrachtung über Epheser206
3-4, 16215
Liebliche Örter" Sie sind nicht von der Welt"219
Frieden (Gedicht).224
Wenn wir mit Willen Sündigen"225
Der Gehorsam des Christen..234
Ich bin gekannt von ben Meinen"251
Ein Mensch von gleichen Gemütsbewgungen wie wir253
Und Er nahm ein leinenes Tuch und umgürtete sich269
Die Braut, das Weib des Lammes309
Unsere Aufgaben im Licht der Schöpfungstage288
Ich will"320
Jesus ist Sieger (Gedicht)331


Botschafter
des
Heils in Lhrtsto
„Der Herr ist nahe" (Phil. 4, 5)
Vierundsiebzigster Jahrgang
Elberfeld
Verlag von R. Brockhaus
19 2 6
Druck F. r<c W. Brockhau», K-G., Elberfeld
Inhaltsverzeichnis
Das große Abendmahl ......... 1
Betrachtungen über den Propheten Hosea ....
12. 37. 94. 121
Kurze Aufzeichnungen aus einer Betrachtung über
Esra 3...................................................... 19
„Lamech" ............. 25
Zweimal gerufen . . 29. 71. 85. 113. 141. 169. 197
Geöffnete Augen ........... 43
Mein Reichtum (Gedicht) ........ 55
Fragen aus dem Leserkreise 55. 110. 252. 279. 308. 331
„Da bin ich in ihrer Mitte" . ....... 57
Die glückliche Hanne und ihr Geheimnis ... 80
Welche Wege soll ich gehn? (Gedicht) .... 83
Ein bemerkenswertes Zeugnis ....... 84
Gereinigt vom bösen Gewissen.......................................... 100
„Hat" ............................................................................... 106
„In all ihrer Bedrängnis war Er bedrängt" (Gedicht)
.............................................................................112
Aufzeichnungen aus einer gemeinsamen Betrachtung
über Richter 13—16...................................129. 149
Aus alten Briefen . . 137. 163. 192. 275. 305. 327
Einst und jetzt (Gedicht) ......... 140
Übles Nachreden ............................. .....159
Gedanke................................................ 168. 214. 304
Mephiboseth ............ 177
Einige Gedanken über Hiob 5, 8 u. 22, 21 ff. . 186
Auszeichnungen aus einer Betrachtung über Epheser
3—4, 16 .... . 206. 242. 264. 296
„Liebliche Lrter" ............................................................215
„Sie sind nicht von der Welt" ....... 219
Frieden (Gedicht).................................................................224
„Wenn wir mit Willen sündigen"....................................225
Der Gehorsam des Christen ........ 234
„Ich bin gekannt von den Meinen"............................. 254
Ein Mensch von gleichen Gemütsbewegungen wie wir 253
„Und Er nahm ein leinenes Tuch und umgürtete sich" 269
Die Braut, das Weib des Lammes . . . 284. 309
Unsere Aufgaben im Licht der Schöpfungötage . 288
„Ich will" ...................................................................... 320
Jesus ist Sieger (Gedicht)............................................... 334

Betrachtungen
über den Propheten Hosea
Z. Teil. Kapitel 11-1Z
Mit Hoffnung verbundene Gerichte
Kapitel 11
Das neue Israel und die Barmherzigkeit
nach den Gerichten.
Die Kapitel 11 bis 13 kennzeichnen sich, ähnlich wie
die drei ersten Kapitel, besonders dadurch, daß sie den
ernsten Erörterungen der Kapitel 4 bis 10 beruhigende
Worte hinzufügen, Hoffnungsstrahlen durchblicken lassen,
Anspielungen auf einen zukünftigen Befreier machen und
mit der Erinnerung an die ersten Gnadenerweisungen die
Hoffnung auf zukünftige Befreiungen verbinden. Diese
Kapitel bereiten das Schlußkapitel vor, die völlige Wiederherstellung
Israels auf dem Wege der Buße. In allen
vorhergehenden Kapiteln kann nur eine einzige Stelle
(Kap. 6, 1—3) — und selbst diese ist nur als eine Ermahnung
in den Mund des Propheten gelegt — dem
zur Seite gestellt werden, was wir nunmehr antreffen.
Wir stehen hier nahezu am Ende der ungestümen Auftritte
der Entrüstung, der auffallenden, unvermuteten
Bilder, bei denen wir oft genötigt waren, Vers für Vers
den Wortlaut zu umschreiben, um den Sinn zu erfassen.
Im 11. Kapitel entfernt sich das Gewitter, aber es ist
- tZ —
noch nicht völlig vorüber. Hie und da erinnert ein dumpfes
Grollen des Donners, ein zuckender Blitz daran, daß noch
nicht alles beendet ist. Aber schon bricht von Zeit zu Zeit
ein Sonnenstrahl durch die dunklen Wolken, und der bisher
in starken, abgebrochenen Stößen dahinbrausende Sturm
hat einem sanften Hauche Platz gemacht, der das Erscheinen
der neuen Zeit als nicht mehr fern ankündigt.
(V. l—7.) — Nachdem der Prophet die gänzliche
Zerstörung Ephraims und seines Königs erwähnt hat,
greift er auf die vergangene Geschichte Israels zurück
und sagt uns, welche Freude Gott an dem Volke in seiner
Jugend gehabt habe. Er hatte es als Sohn angenommen
und aus Ägypten gerufen, um es nach Kanaan zu führen,
wie er einst Abraham aus Ur in Chaldäa gerufen hatte. Alles
das hatte Gott für Israel getan, das in sich selbst nichts
anderes Anziehendes für Ihn hatte als seine unbeschützte
Jugend und das Sklavenjoch, das auf ihm lastete. Aus
freier Gnade hatte Gott es geliebt und in innige Verbindung
mit sich gebracht. Könnte es eine größere Vertraulichkeit
geben, als die zwischen einem Sohn und seinem
Vater? Der Prophet hat bereits in Kapitel 9, lo angedeutet,
welch einen Wert Jehova dem Besitz Israels beilegte.
Aber wie hatte das Volk alle diese Vorrechte benutzt?
Sie hatten sich weggewandt, so oft die Propheten zu ihnen
redeten, und — welch erschreckende Tatsache! — „sie
opferten den Baalim und räucherten den geschnitzten Bildern".
(V. 2.) Aber hatte dieses Betragen die Geduld
Gottes ermüdet? Nein, in Anbetracht der großen Jugend
Seines Volkes hatte Er es gegängelt, wie ein zärtlicher
Vater es mit seinem kleinen Kinde macht. (Hier finden
wir wieder Ephraim allein.) Er hatte es wie ein ermüdetes
— 14 —
Kind auf Seine Arme genommen — welch eine Liebe,
welch zartes Sorgen! — aber Ephraim hatte kein Verständnis,
kein Empfinden für all die Bemühungen Gottes
mit ihm: „sie erkannten nicht, daß ich sie heilte".
Gott entschuldigt Ephraim noch! In dem Maße wie
es Heranwuchs, vermehrte sich Seine Sorge, Er paßte
sich seinem jeweiligen Alter an. Wie ein aufmerksamer
Bergführer es mit einem Reisenden macht, so hatte Gott
mit ihnen getan, indem Er sie mit Seilen der Liebe band,
um sie hinter sich herzuziehen. Wie oft hatte Er auch das
Joch, das auf ihren Kinnbacken lag und sie am freien
Essen hinderte, zur Erleichterung gelüpft und, sanft gegen
sie, ihnen Speise gegeben! Dieses ganze Gemälde von der
Zärtlichkeit Gottes für Sein Volk ist dazu angetan, das
Herz zu berühren und das Gewissen zu erreichen. Aber
alles war umsonst gewesen. Immer wieder hatte sich schon
während der Wüstenreise ihr Herz nach Ägypten gewandt,
immer wieder, auch nach ihrem Eintritt in das Land Kanaan,
waren ihre Gedanken nach jenem Lande der
Sklaverei zurückgewandert, sobald sich Schwierigkeiten erhoben
als Frucht ihrer Untreue. Auch in den damaligen
Tagen des Verfalls kennzeichnete sich Ephraim besonders
dadurch, daß es Hilfe bei Ägypten suchte; wir haben das
in den vorhergehenden Kapiteln und in seiner Geschichte
gesehen. Fortan, sagt Jehova, „wird es nicht nach dem
Lande Ägypten zurückkehren; sondern der Assyrer, der wird
sein König sein". (V. 5.) Obwohl alle seine Neigungen
und Wünsche nach Ägypten gingen, indem es völlig außer
acht ließ, daß Gott es gerade aus Ägypten herausgerufen
hatte, sollte es, wie der Prophet sagt, diese Rückkehr nicht
auöführen, sondern in ferne Gegenden weggeführt werden,
15
und zwar durch den Assyrer, der über sie herrschen würde.
Das Schicksal Judas war ein anderes. Dem Worte des
Propheten Jeremia widerspenstig, bestand der Überrest aus
Juda darauf, sich nach Ägypten zu retten, um so der
Knechtschaft Babylons zu entfliehen; aber es konnte seiner
Vernichtung nicht entrinnen.
Das ist das Ende der Geschichte Israels; aber, welch
unendliche Gnade! es bedeutet nicht das Ende der Geschichte
Gottes. In Matth. 2, 14 wird uns gesagt, daß
Joseph das Kindlein Jesus nahm und nach Ägypten floh,
„auf daß erfüllt würde, was von dem Herrn geredet ist
durch den Propheten, welcher spricht: „Aus Ägypten
habe ich meinen Sohn gerufe n"." Wer hätte geahnt,
daß die Prophezeiung Hoseas eine solche Bedeutung
haben und sich in diesem Ereignis erfüllen könnte!
Aber so ist es. Gott besaß einen anderen, einen
zweiten Israel, den Gegenstand Seiner ewigen Ratschlüsse.
Dieser sollte Ihn verherrlichen und alle Forderungen
Seiner Heiligkeit, Gerechtigkeit und Liebe beantworten.
Der Weinsteck Israel, den Jehova gepflanzt,
hatte für Gott nur Herlinge hervorgebracht (Jes. 5,2);
der „wuchernde Weinstock" hatte fürsichselbst Frucht
getragen. (Kap. 10, 1.) Deshalb sind seine Mauern niedergerissen
worden, sodaß die Tiere des Feldes ihn abgeweidet
und zertreten haben. Doch der Herr wird vom
Himmel herniederschaucn und zur bestimmten Stunde
diesen Weinstock besuchen, den Seine Rechte gepflanzt,
und diesen Setzling, den Er sich gestärkt hatte, d. h. Er
wird Israel wiederherstellen. Aber wie kann das geschehen?
Indem Er „Seine Hand auf den Mann Seiner
Rechten legt, auf den Menschensohn, den Er sich ge
— 4b —
stärkt hat"! (Ps. 80.) Israel wird auferstehen und von
neuem in die Segnung eingeführt werden durch den
wahren Sohn der Rechten Gottes, durch den wahren
Weinstock (Joh. 45), der allein für Jehova die Reben Israels
tragen kann. Aber um für Gott Frucht zu bringen,
wartet dieser wahre Weinstock nicht bis zu Seiner zukünftigen
Herrlichkeit als Messias, Er trägt jetzt Frucht
auf der Erde, und alle Reben aus den Nationen, die heute
mit Ihm hienieden in lebendiger Verbindung stehen,
werden in der Herrlichkeit Seine himmlische Braut bilden,
während Israel, mit seinem Messias vereinigt, in dem
Tausendjährigen Reich als der Weinstock Jehovas wieder­
erscheinen wird.
(V. 8—44.) — In Kap. 6, 4 hatte Gott die Frage
gestellt: „Was soll ich dir tun, Ephraim?" und gezeigt,
daß das Gericht nicht streng genug sein könne für Ephraim
und Juda. Hier ruft Er aus: „Wie sollte ich dich hingeben,
Ephraim, dich überliefern, Israel?" In der Berufung
Christi, des wahren Israel, aus Ägypten ist ein
Mittel gefunden worden, um die Gnade einzuführen.
Wird Gott mit Israel dasselbe tun, was Er in den Tagen
Abrahams mit den Königen Kanaairs, den Königen von
Adama und von Jeboim, getan hatte? (4. Mose 44, 2.)
Nein, sagt Er, „mein Herz hat sich in mir umgewendet,
erregt sind alle meine Erbarmungen. Nicht will ich auö-
führen die Glut meines Zornes, nicht wiederum Ephraim
verderben; denn ich bin Gott und nicht ein Mensch, der
Heilige in deiner Mitte, und ich will nicht in Zorneöglut
kommen." (V. 8. d.) Ein Tag wird kommen, wo Seine
Wege gegen Sein Volk sich ändern werden, wo Er Seinen
Erbarmungcn freien Lauf lassen wird. Er ist Gott, und
17
der Zorn bildet keinen Teil Seines Wesens, obgleich Er
gezwungen gewesen ist. Seine Gerechtigkeit im Gericht zu
offenbaren — aber Er ist Liebe. Er ist ohne Zweifel heilig
inmitten Seines Volkes, und es ist nötig, daß letzteres dies
wisse und die entsprechenden Erfahrungen mache, aber
Er ist vor allem ein Gott, der von Mitleid bewegt ist.
War Jesus das nicht, Er, der aus Ägypten gerufene
Sohn Gottes? Wenn Er als Gott, als Immanuel, zu
Israel kam, geschah eS, um das Volk zu richten? Ist
Sein Leben nicht voll Anfang bis zu Ende ein Leben des
Mitleidens gewesen? (Lies Matth, y, 36; 14, 14; 18, 27;
20, 34; Mark. 6, 34; 9, 22; Luk. 10, 33; 15, 20.) Er
ist gekommen, um diesem elenden Volke und allen
Menschen zu offenbaren, was in Seinem Herzen, in dem
Herzen Gottes für sie war. Sv konnte denn auch der
Apostel Paulus, in Zusammenfassung alles dessen, was
er in seinem Briefe an die Römer über die Gedanken
Gottes gegen den Menschen mitgeteilt hatte, sagen: „Ich
ermahne euch nun, Brüder, durch die Erbarmungen
Gottes". (Kap. 12,1.) Es war das Herniedcrkvmmen des
Sohnes Seiner Rechten, des wahren Benjamin, des Erstgeborenen,
wenn auch des Letztgeborenen, das die Schleusen
der Erbarmungen Gottes öffnete; und das zu einer Zeit,
als Er, der heilige Gott, in den Wegen Seiner Regierung,
nachdem Er einmal die Schleusen Seiner Gerichte geöffnet
hatte, diese ihren Laus hätte nehmen lassen müssen
bis zur völligen Vernichtung.
Welche Veränderung ist durch das Kommen Christi
bewirkt worden! Die .Geschichte Israels hat mit Ihm
von neuem begonnen, und zwar zur Ehre Gottes, die
durch Sein altes Volk der Schande preisgegeben worden
— r8 —
war. Dieser neue Israel, ein kleines Kind, war Der,
von welchem Gott gesagt hatte: „Du bist mein Sohn,
heute habe ich dich gezeugt" (Ps. 2, 7.) Er hat Ihn aus
Ägypten gerufen, um Ihn als König in Kanaan über Sein
irdisches Volk einzuführen. Er hat Ihn auch aus Ägypten,
aus der Welt, gerufen, um Ihn und alle Seine Erlösten
mit Ihm in die Freuden des himmlischen Kanaan einzuführen!
Alsdann „werden sie Jehova nachwandeln", sagt der
Prophet. (V. 1,0.) Der Löwe aus Juda braucht nur Sein
Brüllen hören zu lassen, und sogleich werden „die Kinder"
von allen Seiten zu Ihm eilen. Er wird nicht mehr gegen
sie brüllen, sondern gegen die Völker, die sie unterjocht
haben. Wenn auch zitternd, werden die Kinder zu diesen:
Brüllen Vertrauen fassen. Vom Meere, d. h. von den
Inseln und Ländern des Westens (Juda) und aus Assyrien
(Israel) werden sie herbeieilen und mit Windeseile aus
Ägypten fliehen, wie ehedem, als Jehova sie aus diesem
Lande rief.
Dürfen wir nicht mit Recht sagen, daß ein solches
Kapitel das Erbarmen noch mehr hervortreten läßt als
die Gerichte, die Hoffnung Israels mehr als seine Vernichtung?
Es ist das Kindlein, der letzte Adam, das erscheinen
wird, und das der Prophet schon ankündigt in
geheimnisvollen Worten!
Die Rückkehr der zehn Stämme wird erst „nach der
Herrlichkeit" stattfinden, die nationale Rückkehr Judas
vorher, wenngleich im Unglauben, wenn die „schnellen
Boten" dieses Volk nach Palästina zurückführen werden.
Aber wäre auch „die Zahl der Söhne Israels wie der
Sand des Meeres, nur der Überrest wird errettet
19
werden". (Röm. 9, 27.) Gott wird nur diejenigen als
Sein Volk anerkennen, die Er versiegelt haben wird: Juda,
der Stamm des großen Königs, an der Spitze, Benjamin,
der Stamm des Sohnes Seiner Rechten-, in der Nachhut.
(Vergl. Offbg. 7, 5—8.) (Fortsetzung folgt.)
Lurze Aufzeichnungen aus einer
Betrachtung über Esra 3. j
Ein verhältnismäßig kleiner Teil des Volkes Israel,
nur Bruchstücke aus einigen Stämmen (im ganzen nicht
mehr als 42 360 Männer, Weiber und Kinder), war,
dem Befehl des Königs Kores folgend, unter der Leitung
Serubbabels und Jeschuas, nach Jerusalem zurückgekehrt.
Aber dieser kleine Überrest wird wiederholt „die Kinder
Jsrael" genannt. Der Herr betrachtete sie, einschließlich
aller übrigen noch Zerstreuten, als ein Ganzes, als das
Volk, dem Er Seine Verheißungen gegeben hatte und
allezeit erfüllt. Und -ie Iurückgeführten, so klein ihre
Zahl auch sein mochte, verstanden, geleitet durch das
Wort Gottes, auffallend klar die Gedanken Gottes über
Sein Volk. In Kap. 6, 17 lesen wir: „Und die Kinder-
Israel . . . brachten dar . . . zum Sündopfer für ganz
Israel zwölf Ziegenböcke, nach derIahlder Stämme
Israels", und in Kap. 8, Z5: „Und die Kinder
der Wegführung brachten dem Gott Israels Brandopfer
dar, zwölf Farren für ganz Israel". (Vergl. 1. Kön. 18,
30. 31.)
Inmitten der Trümmer rund um sie her und angesichts
der Feindschaft der Völker der Länder dachten sie
*) Nach einem „Eingesandt".
20
nicht daran, zunächst die Mauer der Stadt zu bauen oder
Wohnhäuser für sich zu errichten, sondern sie stellten den
Altar, den Mittelpunkt ihrer Beziehungen zu Gott, wieder
her. Das Wort berichtet: „Und als der siebente Monat
herankam (vergl. 3. Mose 23, 23 ff.), da versammelte sich
das Volk wie ein Mann nach Jerusalem. Und .... sie
machten sich auf und bauten den Altar des Gottes I s -
raels, um Brandopfer darauf zu opfern, wie geschrieben
steht in dem Gesetz Moses, des Mannes Gottes. Und sie
richteten den Altar auf an seiner Stätte, denn ein
Schrecken war auf ihnen vor den Völkern der Länder." So
kehrte der Überrest zu dem zurück, was Gott Seinem
Volke im Anfang gegeben hatte, und stellte sich bei dem
Schrecken, der vor den umwohnenden Völkern auf ihm
lag, unter den Schutz des Altars Gottes. Schon unterwegs
hatten sie sich von denen abgesondert, die ihr Geschlechtsregister
nicht angeben konnten.
Von Gott geleitet, kamen sie wohlbehalten in das
Land ihrer Väter, und es heißt dann: „Ganz Israel
wohnte in seinen Städten". Wer anders hätte so schreiben
können, als der Geist Gottes? Am ersten Tage des siebenten
Monats versammelten sie sich dann wie e i n Mann
nach Jerusalem und, nachdem der Altar des Gottes Israels
wiederhergestellt war, opferten sie wunderbarerweise
auf ihm zunächst Brandopfer dem Jehova (Sündenbekenntnisse
folgten erst später), „die Morgen- und Abendbrandopfer".
(V. 3.) Die Anordnung dieser Opfer finden
wir in 2. Mose 29, 38—46. Nachdem Gott Sein Volk
auf Grund des Blutes des PassahlammeS aus Ägypten
herausgeführt und zu sich gebracht hatte, stellte Er es
unter die ganze Annehmlichkeit und Kostbarkeit des Lam
— 2t —
mes, das morgens und abends als Brandopfer dargebracht
werden mußte — d. h. der Person und des Opfers
Christi; wenigstens war es so in den Augen und nach
den Gedanken Gottes. Unaufhörlich, Tag und Nacht, stieg
„der liebliche Geruch" dieses Opfers zu Gott empor, zum
Wohlgefallen für Sein Volk, in dessen Mitte Er Seine
Wohnung aufgeschlagen hatte.
So war es damals im Beginn der Reise Israels gewesen,
als das ganze Volk, aus dem Hause der Knechtschaft
erlöst, vor den Augen Jehovas in der Wüste lagerte.
Aber wie war es jetzt? O welche Folgen hatte die
Untreue des Volkes gehabt! Wie arm und schwach war
das Häuflein der Übriggebliebenen, und wie traurig sah
es um sie her aus! Aber wenn der Mensch auch alles
verdorben hatte, hatten sich deshalb Gottes Gedanken
über Sein Volk verändert? Bestand nicht, trotz aller Untreue
und Bosheit des Volkes und seiner Führer, Gottes
Wort und Geist noch in ihrer Mitte? (Hagg. 2, 5.) Der
Glaube beantwortet solche Fragen mit einem bestimmten,
wenn auch schmerzlichen „Ja" und — handelt danach.
Wie wenn alles noch in bester Ordnung gewesen wäre,
forschte der Überrest nach dem, was geschrieben stand in
dem Gesetz Moses, des Mannes Gottes, und führte die
göttlichen Vorschriften getreulich und dankbaren Herzens
aus; und Gottes Wohlgefallen ruhte auf ihm. Ist es
doch zu allen Zeiten Gottes Freude gewesen, dein Glauben
zu antworten.
Die Geschichte Israels ist in vielen Beziehungen ein
Vorbild von der Geschichte des Volkes Gottes in unseren
Tagen. Was ist, im Vergleich mit der ersten Frische, die
sich nach dem Herniederkommen des Heiligen Geistes
22
zeigte, aus der Versammlung oder Gemeinde Gottes geworden?
Was ist gefolgt auf jene herrlichen Tage der
ersten Liebe, als die Menge der Gläubigen e i n Herz und
eine Seele war, als sie alles gemein hatten und einmütig
„verharrten in der Lehre der Apostel und in der Gemeinschaft,
im Brechen des Brotes und in den Gebeten"?
Ach! die Kirche glich in ihrer Verweltlichung und Zersplitterung
schon bald dem Trümmerfeld Jerusalems bei
der Rückkehr des Überrestes. Und dieses traurige Bild
hat sich im Laufe der Zeit nur immer weiter ausgestaltet.
Nun ist bekannt und in letzter Zeit wiederholt darauf
hingewiesen worden, daß in unseren Tagen ein Wirken
des Geistes Gottes eingesetzt hat, wie es bis dahin nicht
beobachtet worden war. In verschiedenen Ländern haben
Gläubige begonnen, sich von dem allgemeinen Verderben
abzusondern. Gebeugt wegen der Weltförmigkeit und des
Verfalls der christlichen Kirche, erkannten sie, daß ihnen,
wenn sie anders ihrem Herrn treu sein wollten, nichts
anderes übrigbleibe, als aus dem „Lager" zu Christo hin-
auszugehen. Seine Schmach tragend. Es war nicht Überhebung,
nicht ein hochmütiger Richtgeist, der sie leitete;
im Gegenteil, sie fühlten schmerzlich den allgemeinen Verfall
und bekannten ihre Untreue, die allen gemeinsame
Schuld, aber sie erinnerten sich auch der unwandelbaren
Treue Gottes und der Unveränderlichkeit Seiner Wahrheit.
Die anfänglich kleinen Zahlen — es waren wirklich zunächst
meist nur zwei oder drei, die sich zusammenfanden
— wuchsen bald. Vieler Gewissen wachten auf, und trotz
ernsten Widerstandes und zuweilen bitterer Feindschaft erstarkte
das Zeugnis. Die gute Hand Gottes war über den
Häuflein; sie stellten sich unter Seinen Schutz, und viel
23
fach brachten die Feindseligkeiten gerade das Gegenteil
von den: hervor, was sie bezweckten. Sie machten die
Zaghaften mutig, die Schwachen stark und lenkten die
Aufmerksamkeit auf die „kleine Herde", die sich mit solcher
Freude hin und her um ihren guten Hirten scharte und
von Ihm auf grüne Weiden geführt wurde. Was seit
den ersten Tagen des Christentums nicht mehr gesehen
worden war, trat wieder ans Licht: Gläubige, die einfach
als Glieder des Leibes Christi, als Kinder einer Familie,
in Anerkennung des Bandes, das alle Heiligen für ewig
umschlingt, zusammenkämen, um am Tische des Herrn
dieser Einheit Ausdruck zu geben und gemeinsam als geheiligte
Anbeter, annehmlich gemacht in dem Geliebten,
ins Heiligtum zu treten.
Die Kinder der Wegführung feierten indes nicht nur
nach langer, festloser Zeit am ersten des siebenten Monats
das Fest des Posaunenhallö, im Bewußtsein eines neuen
Anfangs, den Gott in Gnaden schenkte, sondern vierzehn
Tage später auch das Laubhüttenfest, jenes Fest der
Freude, das Israel an seinen Zug durch die Wüste und
an die Einführung in die Segnungen des gelobten Landes
erinnern sollte. Schien auch alles um sie her solcher
Freude zu spotten — der Glaube stellte sich kühn auf
den Boden Gottes und feierte dieses Fest, das in den äußerlich
besten Tagen des Volkes Israel nicht gefeiert
worden war.
Auch dies hat in unseren Tagen ein Gegenbild gefunden.
Gott hat den Seinigen wieder ein Verständnis
gegeben von den reichen Segnungen, die in dem himmlischen
Kanaan heute schon ihr Teil sind.
24
Leider folgte — wie cs in der Geschichte des
Menschen immer so gewesen ist — auf die ersten schönen
Tage voll Kraft und Frische eine Zeit des Niedergangs.
Als den, Bau des Hauses Gottes sich Schwierigkeiten
entgegenstelltcn, wandten sich die Kinder der Wegführung,
wie der Prophet Haggai uns berichtet, von dem guten
Wege ab, nm ihren persönlichen Interessen nachzugehcn
und „zu laufen, ein feder für sein eigenes Haus". Die
Züchtigung konnte nicht ausbleiben. Anstatt ihren Zweck
zu erreichen, mußten die Untreuen erfahren, daß sie viel
säten, aber wenig einbrachten, aßen, aber nicht zur Sättigung,
tranken, aber nicht zur Genüge, und daß der Lohnarbeiter
Lohn erwarb für einen durchlöcherten Beutel. Doch
auf die ernste Botschaft Haggais hin beugten sie sich tief
und begannen von neuem am Hause Gottes zu arbeiten,
worauf sie dann den ermunternden Zuruf hören durften:
„Das Wort, welches ich mit euch eingegangen bin, als ihr
aus Ägypten zöget, und mein Geist bestehen in eurer
Mitte: fürchtet euch nicht!... Und ich werde
dieses Haus mit Herrlichkeit füllen, spricht Jehova der
Heerscharen ... Die letzte Herrlichkeit dieses Hauses wird
größer sein als die erste." (Kap. 2, 5—9.)
Wie wunderbar gnädig und unveränderlich treu ist
doch unser Gott! Kehren wir vom verkehrten Wege um
und bekennen unsere Sünde, so ist Er treu und gerecht,
daß Er vergibt; ja, dem.Bittenden „gibt Er willig
und wirft nichts vor". (Jak. t, 5.) Anstatt jenen
Männern weitere Vorhaltungen über ihre Untreue zu
machen, richtete Er ihren Blick auf die Zukunft, die alles
bisher Gesehene noch weit, weit übertreffen würde.
25
„Lamech"
>l. Mose a, 2Z. 24.1
Uber die Geschichte der ältesten Menschheit gibt uns
nur die Bibel, das Wort der Offenbarung Gottes, einen
wahren Bericht, ein geschichtlich treues Bild. Es handelt
sich dabei nicht um ausführliche, ins Einzelne gehende
Schilderungen, sondern um charakteristische Grundzüge.
Die Wege der Menschen scheiden sich schon im ersten
Vaterhause, das auf dieser Erde stand: Nachkommen
Kains und Nachkommen Seths, der als Ersatz an
Abels Stelle tritt, gehen aus ihm hervor. Eine doppelte
Reihe von Menschen steht vor uns: Gläubige und Ungläubige.
Das Geschlecht der Kainiten wird uns zunächst
beschrieben. Wenn Kain mit seinem Abfall von Gott die
schiefe Bahn betrat, so zeigt sich bei seinen Nachkommen,
daß Stillstand hier unmöglich ist. Mit diesen Kindern
der Welt geht eö in religiöser und sittlicher Beziehung unaufhaltsam
bergab von Generation zu Generation, bis
dieses Geschlecht endlich bei der vollen Religionslosigkeit,
beim Materialismus anlangt. Und in demselben Maße
wie in religiöser und sittlicher Hinsicht der Niedergang
fortschreitet, findet auf dem Gebiete des Kulturlebens ein
Aufschwung statt. Kain baut eine Stadt, die er nach
seinem Sohne Hanoch benennt. Eine Reihe von Handwerken
und Künsten ist dabei vorausgesetzt, deren Pflege
dieses Geschlecht sich angelegen sein läßt. Die Musik wird
besonders erwähnt. Jubal ragt hervor als Meister im
Flöten- und Saitenspiel. Tubalkain ist berühmt in allerlei
Erz- und Eisenwerk. Seine Schwester heißt Naama, das
ist die Liebliche, Anmutige. Es ist ein leichtlebiges, der
Welt und ihren Freuden zugekehrtes Geschlecht, bei dem
26
von allem möglichen die Rede ist, nur nicht von Gott
und den ewigen Dingen.
Bis zu welcher Tiefe der religiöse und sittliche Verfall
schon in der siebenten Generation vorgeschritten war, erfahren
wir durch ein Wort des Neuen Testaments. In
Judas 44 lesen wir, daß der damals lebende Henoch aus
der Familie der Sethiter, „der siebente von Adam", als ein
gewaltiger Bußprediger dem religiösen Verderben seiner
Tage gegenüber Zeugnis abgelegt hat, indem er von jenen
Gottlosen weissagte: „Siehe, der Herr ist gekommen inmitten
Seiner heiligen Tausende, Gericht auszuführen
wider alle und völlig zu überführen alle ihre Gottlosen
von allen ihren Werken der Gottlosigkeit, die sie gottlos
verübt haben, und von all den harten Worten, welche gottlose
Sünder wider Ihn geredet haben".
So also stand es in jener Zeit. Man begnügte sich
nicht damit, Gott und Gottesdienst dahinten zu lassen, und
sich sein Dasein auf Erden ohne Rücksicht auf Gott möglichst
angenehm zu gestalten, sondern man trat auch feindlich
gegen die auf, welche an dem Glauben an Gott fest-
hieltcn. „Hartes" wurde geredet, man wollte auch anderen
den Glauben verleiden und durch kein Zeichen der
Gottesverehrung mehr in seinem bösen Treiben gestört
werden. Kein Wunder, daß da auch auf sittlichem Gebiet
das Verderben auffallend rasch zunahm. Besonders bemerkenswert
ist der zerstörende Einfluß im Familienleben.
Lamech nimmt zwei Weiber. Mit dem Eintreten der Vielweiberei
ist die Ehe, diese gnädige Stiftung Gottes, auf
den Boden der bloßen Natur, der natürlichen Triebe herabgesunken.
Die Weihe des Hauses, der Familie, ist dahin.
In den Versen 23 und 24 von 4. Mose 4 zeigt sich
27
uns ein besonders charakteristischer Zug dieses durch Vielweiberei
entstellten Familienkreises. Lamech tritt auf als
Dichter. Seine Worte sind nicht ein Sündenbekenntnis,
auch ist's kein Hoffen auf überströmende Gnade, nein,
der stolze Mann rühmt vor seinen Weibern seine Heldentaten,
wie er alle seine Feinde erschlagen habe, „einen
Mann sür seine Wunde, und einen Jüngling für seine
Strieme". Er verherrlicht den Totschlag im Liede, rühmt
die Untat als Heldentat. Dabei tritt die harte Rede hervor,
über welche Henoch seinen Zeitgenossen so ernsten Vorhalt
gemacht hat, die Verachtung des göttlichen Wortes. In
Lamechs Augen gilt der Blutbann wenig, den Gott zum
Schutze Kains aufgerichtet hatte; er stellt prahlerisch die
eigene Kraft über göttlichen Schutz. So rühmt er vor
seinen Weibern seine Taten, indem er wörtlich „seine Ehre
in seiner Schande" sucht. *) — Dieser Tage schrieb eine
Zeitung in Verbindung mit dem Mord in Serajewo und
der Verschwörung in Italien gegen Mussolini: „Verbrechen?
Unsere Zeit kennt nur Helden!" — Das ist der
Geist Lamechs.
*) So fassen die meisten Ausleger unsere Stelle auf. Einzelne
(vcrgl. I. G. Bellctt: „Die Welt vor der Flut") erblicken in den Worten
Lamechs ein Bekenntnis seines früheren Tuns und ein Rühmen
der Gnade Gottes, die ihm, dem Gewalttäter, zuteil geworden sei:
durfte ein Kain von feiten Gottes auf Bewahrung vor den Menschen
rechnen, ein Lamech noch elfmal mehr!
Wenn es aber in dem Geschlecht der Kainiten einmal
so steht, daß der Mord verherrlicht wird, wenn die Nachkommen
Kains, der zwar auch trotzig auftrat, doch aber
die Sünde noch Sünde nannte, so tief gesunken sind, daß
sie die Bluttat verherrlichen und in Liedern preisen, wenn
mit der Schutzwehr der Gottesfurcht auch alle sittlichen
28
Schranken durchbrochen sind, dann hört die heilige Urkunde
auf, die Namen dieser Gottesverächter zu nennen.
Trotz aller Fortschritte auf dem Gebiet der Kultur geht
es in religiöser und sittlicher Beziehung immer schneller
bergab. In der zehnten Generation steht dieses Volk von
Spöttern und Gottesverächtern schon völlig in irdischen
Sinn versunken, gefühllos, verhärtet da. Jene zum Gericht
reife Zeit schildert der Herr in Matth. 24, 38. 3Y.
Welch ein Entwicklungsgang von den Tagen Kains bis
zu diesem Tiefpunkt!
Doch wollte Gott in der Schilderung jener frühen Ereignisse
uns nur einen geschichtlichen Bericht von „der Well
vor der Flut" geben? Treten uns in ihr nicht Grundgesetze
entgegen, die Bahnen, in welchen das Leben der die Offenbarung
Gottes verlassenden Menschheit zu allen Zeiten
verläuft? Mag es auch zeitweilig so geschienen haben,
als wolle infolge besonderer Ereignisse, ernster Züchtigungen
Gottes und dergl. ein Sichbesinnen, ein Stillstehen
eintreten, die folgenden Geschlechter haben den Faden
immer wieder ausgenommen und weiter gesponnen.
Wohl mögen die Kinder Gottes sich jeweils bemüht
haben, den Irrtum ihrer Zeit in Wort und Lehre zu widerlegen;
das ist ihre Aufgabe, und sie warten dieses
Dienstes, ob die Kinder der Welt darauf hören oder nicht.
Der Herr selbst aber hat eine andere Beweisführung. Erführt
das abfällige Geschlecht durch die unerbittliche Logik
der Tatsachen zu der Erkenntnis seiner Torheit, bis es
unter den hereinbrechenden Gerichten mit Wehgeschrei
rufen wird: „Ihr Berge, fallet auf uns, und ihr Hügel,
bedecket uns!"
Zweimal gerufen
i.
Wenn Gott einen Menschen nut 9t a m e n ruft, so
ist das gewiß bedeutungsvoll, und wenn Er den Namen
sogar zweimal nennt, so verleiht das dem Augenblick und
Ruf ohne Frage doppeltes Geivicht und jenachdem doppelten
Ernst. Das Wort Gottes berichtet nicht von vielen solcher
Gelegenheiten. Es werden ihrer im ganzen nur sieben
erwähnt: vier im Alten und drei im Neuen Testament.
Fünfmal ergeht der Ruf unmittelbar vom Himmel aus,
zweimal kommt er aus dem Munde des hienieden lebenden
und wandelnden Herrn. Beachtenswert ist wohl auch, daß
keinem Menschen, soweit wir unterrichtet sind, diese Auszeichnung
zweimal zuteil geworden ist. Die sieben Stellen
sind: 4. Mose 22, 44; 46, 2; 2. Mose 3, 4; 4. Sam. 3,
40; Luk. 40, 44; 22, 34; Apstgsch. y, 4.
Der Schreiber dieser Zeilen wurde durch eine gelegentliche
Bemerkung, daß es doch wohl nicht von ungefähr
sei, wenn Gott einen Menschen zweimal rufe, veranlaßt,
diesen Gelegenheiten nachzuspüren. Er fand, daß der
Ruf meist einen aufweckenden, mahnenden oder warnenden
Charakter trägt, und nur einmal anerkennend und
einmal tröstend lautet, daß aber jeder einzelne der sieben
Fälle reich an Belehrung für uns ist. Betrachten wir sie
denn nacheinander, und der Herr gebe uns erleuchtete
Augen des Herzens, um diese Belehrungen zu sammeln
und uns zum Nutzen zu verwenden!
I.XXIII 2
- Z0 -
„Abraham! Abraham!"
Der erste Mensch, dessen Name zweimal vom Himmel
her gerufen wurde, war Abraham, der Vater der Gläubigen.
Nicht als „der Gott der Herrlichkeit" ihm in Mesopotamien
erschien, um ihn aus seines Vaters Hause her-
auszusühren und aus dem bisher blinden Götzendiener
einen einsichtsvollen Anbeter des allein wahren Gottes
zu machen, erfolgte dieser Ruf; auch nicht, als Gott ihn
aus seinem Zelte treten und gen Himmel blicken hieß,
um ihm die Myriaden von funkelnden Sternen als Bild
der zahllosen Scharen seiner Nachkommen zu zeigen; auch
nicht, als Jehova sich dem Neunundneunzigi'ährigen als
„der Allmächtige" offenbarte. Seinen Bund mit ihm errichtete
und den bisherigen Namen Seines Knechtes
Abram — erhabener Vater, in Abraham---- Vater
einer Menge, umwandelte.
Das alles waren große Zeiten, wunderbare Augenblicke
in dem Leben unseres Patriarchen, und es gab solch
herrlicher Stunden noch mehr auf seinem Wege. Denken
wir nur an den Besuch des Herrn bei Abraham (1. Mose
18) und die darauf folgende ergreifende Unterredung betreffs
Sodom; oder vorher an die denkwürdige und bedeutungsvolle
Begegnung Abrams mit Melchisedek, dem
König von Salem, im 14. Kapitel; oder noch früher an
die Unterredung Gottes mit ihm, als er seinen: Neffen Lot
in einfältigem Glauben die Wahl überlassen hatte, und
nun Gott ihn das ganze reiche Land sehen ließ, das Er
ihm und seinem Samen bestimmt hatte. (Kap. 1Z.) Aber
bei keiner dieser Gelegenheiten, so bedeutsam sie auch sein
mochten, wurde der Name Abrahams zweimal genannt.
Da müssen wir uns schon zu dem Kapitel wenden, in
ZI
welchem wir auf den Höhepunkt des Glaubenslebens
Abrahams geführt werden, zu jener Versuchung oder
Glaubensprüfung, die so unvergleichlich groß und schwer
war, daß wohl kein Sterblicher vor oder nach ihm sie hätte
bestehen können. Das 22. Kapitel des k. Buches Mose
erzählt uns diese einzigartige Geschichte.
Abraham, der „Freund" Gottes, der Empfänger und
Träger Seiner Verheißungen, der nach fünfundzwanzigjährigem
Warten endlich den verheißenen und so schmerzlich
erwarteten Sohn empfangen und die Magd mit ihren,
Sohn aus dem Hause entlassen hat, weil Ismael nicht
erben sollte mit Isaak, dem Sohne der Freien — Abraham
wird von Gott versucht. Selbstverständlich nicht in dem
Sinne einer Versuchung zum Bösen, denn „Gott kann
nicht versucht werden vom Bösen, und selbst versucht Er
niemand" (Jak. 1, Z3), sondern, wie schon gesagt, in dem
Sinne einer Erprobung, einer Glaubensprüfung. Solche
Versuchungen sind für den Gläubigen eine Ehre, ein Gegenstand
des Rühmens und ein Anlaß zur Freude, und der
Mann, der sie erduldet und sich in ihr bewährt, wird
glückselig gepriesen.
„Und es geschah nach diesen Dingen, daß Gott den
Abraham versuchte. Und Er sprach zu ihm: Nimm deinen
Sohn, deinen einzigen, den du lieb hast, den Isaak, und
ziehe hin in das Land Morija und opfere ihn daselbst als
Brandopfer auf einem der Berge, den ich dir sagen werde."
(k. Mose 22, k. 2.) Und nun entrollt sich vor unseren
Augen ein Bild von solch überwältigender Schönheit und
packender Wirkung, daß wir unwillkürlich mit angehaltenem
Atem den Ereignissen Schritt für Schritt folgen: das
uns allen so gut bekannte, von Gott selbst gewählte und
- Z2 -
durch Seinen Knecht ausgeführte Bild von Seiner Liebe,
wie sie sich in der Dahingabe Seines eingeborenen Sohnes
geoffenbart hat zu unserem ewigen Heil. Daß nur ein
auserwählteö und zu diesem Zweck sorgfältig zubereitetes
Gefäß zur Ausführung einer solchen Aufgabe benutzt werden
konnte, bedarf keiner Erwähnung. Wie aber muß
es das Herz Gottes erfreut haben, durch einen Menschen,
den Er aus der Finsternis des Heidentums herausgeholt
und sich nahe gebracht hatte, den wunderbaren Ratschluß
Seiner ewigen Liebe in einem solch ergreifenden Vorbilde
zur Darstellung gebracht zu sehen!
Abraham steht des Morgens früh auf, spaltet, wie
es scheint, miteigenen Händen das zu dem Brandopfer
nötige Holz und macht sich dann, ohne irgend einem Menschen
etwas von seinem Vorhaben gesagt zu haben, auf
den Weg nach dem Ort, den Gott ihm bezeichnet hatte.
Die Vorgänge sind so einfach und in Verbindung mit dem
Gegenbilde oder der Wirklichkeit so verständlich, daß sie
keiner Erklärung bedürfen. Das Herz liest sie und betet
den Gott an, der vor Grundlegung der Welt Seinen Heilsplan
entwarf und, ihn in der Tiefe Seines Herzens verbergend,
alles zu dessen Ausführung Nötige vorbereitete,
bis die Stunde kam, da Er mit Seinem geliebten Sohne
den schweren Gang nach Golgatha antrat.
Isaak ist anfänglich wohl ganz ahnungslos neben
seinem greisen Vater einhergcschritten, dessen schweigsames
und zugleich doch so ungewöhnlich liebevolles Wesen ihm
aufgefallen sein mag, ohne daß er eine Deutung dafür
hätte finden können. Erst als das Ziel der Reise beinahe
erreicht war und Abraham, unter Zurücklassung der beiden
Knechte, sich anschickte, mit ihm allein weiterzugehen, er
- z? -
mit dein Holz des Brandopfers beladen, der Vater mit
dem Feuer und dem Messer in seiner Hand, erst jetzt erwachten
seltsame Gedanken und Fragen in seinem Innern.
Und als sie nun „beide miteinander" langsam den Berg
hinanstiegen, machten sich diese Gedanken Luft in dem vertraulichen
und doch so bang klingenden Ruf: „Mein Vater!"
Der Augenblick war gekommen, den: Abraham schon
längst mit schmerzlicher Sorge entgegengesehen hatte.
„Und Isaak sprach zu seinem Vater Abraham." Beachte!:
wir die sorgfältige Nennung des Verhältnisses: sein —
Vater — Abraham! — im Worte Gottes ist nichts
von ungefähr. „Hier bin ich, mein Sohn. Und er sprach:
Siehe, das Feuer und das Holz; wo aber ist das Schaf
zum Brandopfer?" Jetzt war es heraus! Was wird der
Vater seinem geliebten, einzigen Kinde antworten? „Und
Abraham sprach: Gott wird sich ersehen das Schaf zum
Brandopfer, mein Sohn." Und zum zweiten Male hören
wir: „Und sie gingen beide miteinander".
Hier sind erklärende Worte noch weniger am Platz
als vorher; sie könnten nur störend wirken. Das Herz
aber versenkt sich mit tiefer Bewegung und Bewunderung
in die Gefühle, die bei dieser kurzen Unterredung Vater
und Sohn bestürmt haben müssen. Und die Bewunderung
wird zur rückhaltlosen, keine Worte findenden Anbetung,
wenn die Verwirklichung des Bildes vor die Seele tritt.
Ach! der wahre Isaak ging nicht ahnungslos Seinen langen,
mühsamen Weg durch diese Welt. Er kannte von Anfang
an den Willen Seines Vaters und war gekommen, um
das Werk zu vollbringen, das der Vater Ihm zu tun
gegeben hatte. Und es handelte sich für Ihn nicht nur darum,
als Brandopfer zu sterben, sondern den Tod als
- Z4 -
Sold der Sünde zu erleiden, zur Sünde g e m a ch t
und von dem Gott verlassen zu werden, dem zu dienen
von Mutterleibe an Seine Wonne gewesen war, und dessen
Gemeinschaft für Ihn alles bedeutete! Er mußte in
jenen drei furchtbaren Stunden der Finsternis den Kelch
trinken, der mit dem Zorne Gottes wider die Sünde gefüllt
war.
Und je näher unser geliebter Herr das Kreuz vor
sich erblickte, mit desto erdrückenderer Schwere legte sich
das Gefühl des Kommenden aus Seine heilige Seele.
„Jetzt ist meine Seele bestürzt, und was soll ich sagen?
Vater, rette mich aus dieser Stunde!" so
drängt es sich mit unwiderstehlicher Gewalt über Seine
Lippen, als die Begegnung mit den zum Passahfest nach
Jerusalem gekommenen Griechen Ihn daran erinnerte,
daß das Weizenkorn bald in die Erde fallen und sterben
würde. (Joh. t2.) Und in Gethsemane, im Anschauen des
unmittelbar bevorstehenden Leidens und Sterbens, flehte
Er dreimal: „Mein Vater, wenn es möglich ist, so
gehe dieser Kelch an mir vorüber"; oder, wie Markus berichtet:
„Abba, Vater, alles ist dir möglich; nimm
diesen Kelch von mir weg!" Mit starkem Geschrei und
Tränen brachte Er Bitten und Flehen Dem dar, der Ihn
aus dem Tode zu erretten vermochte. (Hebr. 5, 7.) Gott
sei gepriesen! Er ist um Seiner Frömmigkeit willen erhört
worden, aber nicht eher, als bis der letzte Tropfen des
bittern Kelches getrunken und das große, schwere Werk
vollbracht war.
Stehen wir schon tiefbewegt dem Vorbilde gegenüber,
in der Verwirklichung öffnen sich erschütternde Höhen
und Tiefen vor unserem Auge, Höhen, in die kein
- Z5 -
menschliches Ahnen dringen kann, Tiefen, die nur der
Vater und der Sohn auszumessen vermögen. Der Vater
und der Sohn — denn mochten auch alle Ihn allein
lassen, Jesus konnte sagen: „Ich bin nicht allein, denn
der Vater ist bei mir"; und: „Den Kelch, den mir der
Vater gegeben hat, soll ich den nicht trinken?"
(Joh. 16, 32; 18, 11.)
In welch wunderbarer Weise hat so auch das zweimalige
Wort: „und sie gingen beide miteinander", seine
Verwirklichung gefunden!
Ist es erstaunlich, wenn der Engel Jehovas, nachdem
Abraham den Altar gebaut, das Holz geschichtet,
seinen Sohn gebunden und oben darauf gelegt hatte, um
dann das Messer zur Hand zu nehmen und seinen Sohn
zu schlachten, zweimal vom Himmel her seinen Namen
rief? Ein einmaliger Zuruf hätte genügt, um Abrahams
Hand von dem letzten Stoß zurückzuhalten. Nein, „A bratz
a m, A b r a h a m!" tönt es mit mächtigem Laut in seine
Ohren. Abraham, Abraham, mein Freund, mein treuer
Knecht, Vater einer Menge! „Nun weiß ich, daß du
Gott fürchtest und deinen Sohn, deinen einzigen, mir nicht
vorenthalten hast." Meinen wir nicht die innige Befriedigung,
das tiefe Wohlgefallen Gottes aus diesem Doppelruf
herausklingen zu hören? Was muß es für Sein Herz
gewesen sein, in Abraham nicht nur einen unweigerlichen
Gehorsam zu sehen, verbunden mit dem einfältigen Urteil
des Glaubens, „daß Gott auch aus den Toten zu erwecken
vermöge, von woher er ihn (Isaak) auch im Gleichnis
empfing" (Hebr. 11, Id), sondern auch in Seinem Knecht
und dessen Tun einen Abdruck davon zu erblicken, was
Seinem eigenen Herzen so teuer war, ein für alle späteren
- Z<5 -
Zeiten und Geschlechter so wunderbares Bild von dem,
was Er selbst zu tun vorhatte? Wo war der Mensch, der
eine solche Versuchung zu ertragen, eine solche Probe zu
bestehen vermocht hätte? Es gab nur einen: Abraham,
den Freund Gottes!
„Durch Glauben hat Abraham, als er versucht
wurde, den Isaak geopfert, und der, welcher die Verheißungen
empfangen hatte, brachte den Eingeborenen dar."
llnd überaus groß und herrlich war die Antwort Gottes
auf diese Tat des Glaubens: „Ich schwöre bei mir selbst,
spricht Jehova, daß, weil du dieses getan und deinen
Sohn, deinen eingeborenen, mir nicht vorenthalten hast,
ich dich reichlich segnen und deinen Samen sehr mehren
werde, wie die Sterne des Himmels und wie der Sand,
der am Ufer des Meeres ist . . . ; und in deinem Samen
werden sich segnen (oder gesegnet werden) alle Nationen
der Erde". (V. 1b—1.8.) Der früher schon gegebenen
Verheißung einer unzähligen natürlichen Nachkommenschaft
wird hier der Segen hinzugefügt, der in Christo,
dem wahren Isaak, allen Nationen zufließen sollte.
Im Galaterbrief wendet der Apostel diese Stelle unmittelbar
aus Christum an und sagt, daß alle, die aus Glauben
sind, Abrahams Söhne sind, ja, daß der hier verheißene
„Segen Abrahams in Christo Jesu zu den Nationen gekommen
ist, auf daß wir die Verheißung des Geistes empfingen
durch den Glauben". (Gal. 3, 7—14.)
Noch einmal möchte ich fragen: Ist es erstaunlich,
daß Gott Seinem Wohlgefallen an Abraham in der doppelten
Nennung seines Namens Ausdruck verlieh? Damit
drängt sich aber auch ganz von selbst die Frage ins Herz:
Wie steht eö im eigenen Glaubensleben? Haben wir,
- Z7 -
du und ich, Gott wohl auch schon in unserem Leben
und Zeugnis Anlaß gegeben, mit Wohlgefallen auf uns
herabzublicken? Haben wir Sein Vaterherz dadurch erfreut,
daß Er in uns den einen oder anderen Zug Seines
Wesens, so arm und schwach es auch war, zu entdecken
oermochte?
Betrachtungen
über den Propheten Hosea
(Fortsetzung)
Kapitel 12
Drohungen und Verheißungen
Das elfte Kapitel hatte die Barmherzigkeit Gottes
den zehn Stämmen gegenüber und die Einführung des
neuen Israel zum Hauptgegenstand; das 12. Kapitel
handelt gelegentlich von Juda und spricht von der Wiederaufrichtung
des gesamten Volkes in den letzten Tagen.
Der Prophet beginnt damit, den Zustand Ephraims demjenigen
von Juda gegenüberzustellen gerade in dem Augenblick,
da seine Prophezeiung laut geworden ist. „Mit Lüge
hat Ephraim mich umringt, und das Haus Israel nut
Trug; aber Juda wandelt noch mit Gott und mit den
wahren Heiligen." *) (V. 1.) Dieser Satz ist wichtig für
das Verständnis der ganzen Prophezeiung Hoseaö. Er ist
oft folgenderweise übersetzt worden: „Juda ist immer
noch zügellos gegen Gott und gegen den Heiligen". Es
handelt sich hier nicht um eine Frage der Grammatik oder
der Sprachkunde, sondern des geistlichen Verständnisses,
und wir sind unserseits davon überzeugt, daß die zweite
*) So nach der französischen Übersetzung der Bibel.
Z8
Lesart diesen: Kapitel seinen wahren Charakter nimmt.
Der Gedanke, daß Juda „noch mit Gott wandelt", entspricht
in treffender Weise dem, was uns in 2. Chron. 12,
12 und 19, 3 gesagt wird. Während Ephraim, daö Wind
gesät hatte (Kap. 8, 7), sich daran ergötzte, während es
sich von eitlen Hoffnungen nährte und mit List und Tücke
jene beiden unversöhnlichen Feinde, Assyrien und Ägypten,
für sich zu gewinnen trachtete (V. 2), wandelte Juda noch
mit seinem Gott. Wie lange wird es dauern? Etwas mehr
als ein Jahrhundert, bis zur Gefangenschaft in Babel;
doch in den Tagen Hoseas zog Gott das Gericht noch hinaus.
Es gab noch wahre Heilige und Gottesfurcht inmitten
des so offenbaren Verfalls Judas. Mit Wohlgefallen
ruhten die Augen Gottes auf einem Asarja, Jo-
tham, Hiskia und später auf Josia, dessen Regierung Gedeihen
hatte nach der Wegführung der zehn Stämme.
Doch wird Juda hierbei stehen bleiben? Was war, selbst
unter diesen gesegneten Regierungen, die Masse des Volkes?
Der Prophet wie auch die Geschichte zeigen es uns.
Wir lesen: „Auch mit Juda hat Jehova einen
Rechtsstreit; und Er wird Jakob heimsuchen nach
seinen Wegen, nach seinen Handlungen ihm vergelten".
(V. 3.) *)
*) Wie wir bereits in der Einleitung bemerkten, stellt Jakob
stier die Gesamtheit des Volkes dar in Verbindung mit seinem
Haupte Juda, wie Israel die zehn Stämme darstellt in Verbindung
mit seinem Haupte Ephraim.
Doch wird Jakob zu Gott umkehren? Ja, denn da
er von Anfang an seinen Bruder durch List verdrängt hat,
wird ein Augenblick kommen, wo er mit Gott Zusammentreffen
und mit Ihm kämpfen muß. „Im Mutterleibe
- zy -
hielt er seines Bruders Ferse, und in seiner Manneskraft
kämpfte er mit Gott: er kämpfte mit dem Engel und
überwand, er weinte und flehte -zu ihm." (V. 4. 5.) Er
kämpfte mit Gott in seiner Kraft; aber der Engel
berührte das Gelenk seiner Hüfte, und so mußte Jakob
die Erfahrung seiner Schwachheit machen. Jedoch, er
überwand. Was ist also das Mittel, um im Kampf
mit Gott zu überwinden? Wir finden es in den unmittelbar
folgenden Worten: „Er weinte und flehte zu
ihm". Jakob mußte Sieger sein, um den Segen ererben
zu können, und das Mittel, ihn zu erlangen, der Weg zum
Sieg, ist Buße und Gebet. Doch obwohl Jakob sagen
konnte: „Meine Seele ist gerettet worden" (4. Mose 32,
30), hatte er die Gemeinschaft mit Gott doch
noch nicht wiedergefunden. Der Engel weigerte sich, ihm
seinen Namen kundzutun, und der Patriarch fand Gott
nur in Bethel: „Zu Bethel fand er Ihn". (V. 5.) Als
Jakob aus dem elterlichen Hause floh, hatte er in Bethel
Jehova zum erstenmal getroffen, aber in einem
Traum. (1. Mose 28, 43—22.) Ein zweites Mal begegnete
er Ihm in Machanaim „von Angesicht zu Angesicht",
aber ohnedaßderEngelihmseinenNa-
men genannt hätte. (1. Mose 32, 24—32.) Ein
drittes Mal endlich, in Bethel, findet er Ihn wirk-
lich, nachdem er sich gereinigt und seine Götzen begraben
hat. (4. Mose 35, 44.)
„Daselbst redete Er mit uns." (V. Z.) Als Jakob
die Gegenwart Jehovas in Seinem Hause zu Bethel
wiedergefunden hatte, tritt er in die Gemeinschaft mit
Ihm ein. Er hört, versteht und erfreut sich Seines Wortes.
„Und Jehova, der Gott der Heerscharen — Jehova ist
40
Sein Gedenkname." (V. 6.) Sein Gedenkname
i st d e r 9l a m e Jehova selbst, so wie Er ihn Israel
geoffenbart hat. (2. Mose Z, 75.) Vorher war Er
Abraham, Isaak und Jakob alö der Allmächtige erschienen
(2. Mose b, Z), aber wenn Er sich durch den Mund
Moses dem Volke Israel offenbart, ist der Name Ieho -
v a „Sein Name in Ewigkeit, und das ist Sein Gedenk-
name von Geschlecht zu Geschlecht". Doch um diese gesegnete
Verbindung mit Gott zu finden, ist cs erfcnderli.'b,
das; Israel, wie der Patriarch, umkehrt: „Du denn, kehre
um zu deinen: Gott; bewahre Güte und Recht, und
hoffe beständig auf deinen Gott." (V. 7.)
Kurz zusammengefaßt ist die Bedeutung dieser anscheinend
so rätselhaften Stelle folgende: Israel kann seine
Beziehungen zu Gott und die Gemeinschaft mit Ihm nur
wiederfinden in dein Gefühl der eigenen Ohnmacht, durch
Neue und Demütigung, und indem eö seine Götzen verläßt,
um das Angesicht seines Gottes zu suchen. Nur
durch eine wahre Umkehr wird es fähig sein, „die Güte
zu bewahren", — glückliche Beziehungen mit Gott zu
unterhalten, — „das Recht", d. h. die nötige Unterscheidungsfähigkeit
zu haben, um sich vom Bösen zu trennen,
— und endlich „beständig auf seinen Gott zu hoffen",
d. i. in Abhängigkeit zu wandeln. (V. 7.)
(V. 8—75.) — Nachdem der Prophet von der Umkehr,
der Beugung und Buße Judas wie des ganzen Volkes
geredet hat, kehrt er zu Ephraim zurück und verläßt
eö nicht mehr bis zum Ende seiner Prophezeiung. In
seiner gewohnten, abgebrochenen Redeweise gibt er ohne
weitere Überleitung den Gedanken Gottes im Blick auf
die zehn Stämme Ausdruck: „Ein Kaufmann ist er; in
41
seiner Hand ist eine Wage des Betrugs; er liebt zu Übervorteilen".
(V. 8.) Diese Anklage erreicht indes das Gewissen
Ephraims nicht. Es spricht vielmehr: „Ich bin
doch reich geworden, habe mir Vermögen erworben; in
all meinem Erwerb wird man mir keine Ungerechtigkeit
nachweisen, welche Sünde wäre". Welch eine Zufriedenheit
mit sich selbst und mit seinem Tun! Wie groß ist die
Unwissenheit über das eigene Herz! Unwillkürlich denkt
man an Laodicäa, das dieselben Worte spricht, wenn es
im Begriff steht, aus dem Munde des Herrn auögespieen
zu werden: „Ich bin reich und bin reich geworden und bedarf
nichts, und du weißt nicht, daß du der Elende und
der Jämmerliche und arm und blind und bloß bist".
(Offbg. 3, 17.) So wird das Ende der Christenheit durch
dieselbe Verblendung gekennzeichnet, wie das Ende Israels.
Es genügt Ephraim, daß eine menschliche Untersuchung
keine strafbaren Handlungen bei ihm gefunden
hat, die es unter das Urteil des Gesetzes bringen würden.
Die Götzen erwähnt es nicht. Ihr Vorhandensein ist ihm
hier unbekannt. Welch erschreckende Tatsache! Aber kennt
die Welt heute ihre Götzen? Wie damals, so ist heute der
Gedanke an einen Gott, der den Menschen erforscht und
kennt, völlig unbekannt. Und was Israel betrifft, so kennzeichnet
der alte Betrug Jakobs es immer noch.
Angesichts einer solchen Gewissensverhärtung wird
Jehova diesem traurigen Volke ohne Zweifel endgültig den
Rücken kehren! Weil man diesen Ausgang erwartet, ist
man umsomehr erstaunt und beschämt, die Worte Jehovas
im tv. Verse zu vernehmen: „Ich aber bin Jehova, dein
Gott, vom Lande Ägypten her; ich werde dich wieder in
Zelten wohnen lassen wie in den Tagen der Festfeier".
42
Welch unerwartete Gnade! Für dich, elendes Ephraim,
wird es nach dem Durchschreiten der Wüste, in welche
ich dich von neuem treiben werde, eine herrliche Ruhe
geben. Für dich wird noch ein Laubhüttenfest kommen, das
auf die Ernte und die Weinlese folgen wird. Wenn du
auch mich vergessen hast, so habe doch ich nicht vergessen,
daß ich seit dem Tage der Erlösung, die ich zu deinen
Gunsten bewirkte, als ich dich aus Ägypten führte, die
Absicht hatte, dich diese endliche Ruhe finden zu lassen.
Unmittelbar daran anschließend nimmt Gott den
Faden bitterer Vorwürfe wieder auf. (V. 11—15.) Hatte
Ephraim jemals auf Den gehört, der durch den Geist dcr
Propheten, durch ihre Gesichte und Gleichnisse zu ihm
gesprochen hatte? Nein; wohl hatte es Opfer angeboten,
die Gott aber nicht annehmen konnte, sodaß „ihre Altäre
wie Steinhaufen auf den Furchen des Feldes" werden
sollten! Schon war das Gericht auf Gilead, die zweiundeinhalb
Stämme jenseit des Jordan, gefallen (2. Könige
15, 2d; 1. Chron. 5, 26), aber was würde es
erst sein, wenn es über Ephraim kommen würde? (B. 12.)
O Ephraim, möchtest du doch die Geschichte Jakobs, die
Geschichte Israels, an deinem Auge vorüberziehen lassen!
Ist sic nicht wie ein Gesicht, ein prophetisches Gleichnis,
das sich an dich wendet? Hat Jakob nicht in die Ebene von
Syrien entfliehen müssen, weil er seinen Bruder überlistet
hatte? Ist Jakob nicht in Knechtschaft geraten, und
wurde seine Dienstbarkeit nicht verlängert, bis zu seiner
Verbindung mit dem Weibe, das er liebte? Indes war
Israel am Ende aus seiner langen Gefangenschaft befreit
worden: „Durch einen Propheten (Mose) führte Jehova
Israel aus Ägypten herauf". (V. 14.) Durch den
- 4Z -
selben Propheten „wurde es gehütet" bis an das Ende der
Wüstentage. Ebenso wird es mit Israel sein: Das Wort
Gottes (der Geist der Prophezeiung, das Zeugnis Jesu,
Offbg. ry, 70; 22, 7), das sie verachtet haben, als der
Herr ihnen Seine Propheten mehrte, dieses Wort wird sie
am Ende wieder zurückbringen. Aber auf Ephraim ruht
für den Augenblick der Zorn Gottes. (V. 75.)
In solcher Weise vermengen sich bei dieser wunderbaren
Prophezeiung die Drohungen, die flehentlichen Bitten,
die Gerichte, die Hoffnungen und die Verheißungen.
Ach! wenn die Christenheit heute hören wollte! Ihr
Schicksal wird weitaus schrecklicher sein als dasjenige Israels;
denn Israel wird wiederhergestellt werden, aber die
zu „Babylon, der großen", gewordene Christenheit wird
vernichtet werden auf ewig! (Fortsetzung folgt.)
Geöffnete Augen
Der natürliche Mensch ist geistlich blind, wandelt
in Finsternis und sieht nicht die Gefahr, in der er sich
befindet. Durch die Sünde von Gott getrennt, ist sein
Teil, wenn er in diesem Zustande stirbt, für ewig an jenem
Ort, der dem Teufel und seinen Engeln bereitet ist. Der
Mensch bedarf der Erleuchtung von oben; und deshalb kam
der Sohn Gottes auf diese Erde herab, um als das wahrhaftige
Licht jeden Menschen zu erleuchten. (1. Joh. 7, y.)
Leider „haben die Menschen die Finsternis mehr geliebt
als das Licht, denn ihre Werke waren böse". Glücklich
aber ein jeder, der sich in diesem untrüglichen Lichte erkannt
und seine Zuflucht genommen hat zu Jesu Christo,
als seinem Erlöser und Heiland! Ein solcher darf nun
froh bezeugen: „Einst war ich Finsternis, jetzt aber
44
Lieht in d em Herrn"; einst war ich „tot in Vergehungen
und Sünden", jetzt aber bin ich ein „Lebender auö den
Toten".
Unter der unermeßlich großen Zahl der Blinden gibt
eö nun viele, die da meinen, sehend geworden zu sein,
die zu den Christen sich zählen und eine gewisse „Form
der Gottseligkeit" haben, die aber in Wirklichkeit noch
geradeso blind sind wie die übrigen, und denen der Herr
zurufen muß: „Ich rate dir, Gold von mir zu kaufen . . ,
auf daß du reich werdest, . . und Augensalbe, deine
Augen zu salben, auf daß du sehen mögest". (Offbg. 3,
"ty.) Daö Sendschreiben an Laodicäa, das unö die Endzeit
der Kirche hienieden beschreibt, zeigt unö, daß man ein
hoheö Bekenntnis ablegen und den Schein tiefer Frömmigkeit
tragen, und dabei völlig blind sein kann über
den eigenen traurigen Zustand sowohl, wie über Gott und
Ewigkeit. Wir treffen solche Menschen allenthalben an,
in jeder Gegend und unter allen Schichten der Bevölkerung.
In ihrem Wahn, gut zu sehen, weisen sie eö mit
Entrüstung zurück, wenn man sie auf den Ernst ihrer
Lage aufmerksam macht. So etwas mag gut sein für
Menschen, die in offenbaren Sünden leben, aber nimmermehr
für sie, die mit solchem Eifer an dem Kleide der
eigenen Gerechtigkeit arbeiten. Sie gleichen den Pharisäern
zur Zeit des Herrn, die da sagten: „Wir sehen",
und deren Sünde deshalb blieb. (Joh. y, -N.)
Dem Herrn sei Dank für den guten, aber auch so
ernsten und eindringlichen Rat, den Er solch armen Menschen
gibt, die da meinen, sie seien Gott nahe und sind
doch so fern von Ihm! Wenn nur noch viele in diesen
ernsten Zeiten, so nahe vor den furchtbaren Heimsuchun-
45
gen, die über alle hereinbrechen werden, welche „die Liebe
zur Wahrheit nicht angenommen haben", ihren wahren
Zustand vor Gott erkennen, Buße tun und sich auöstrecken
wollten nach der Gerechtigkeit, die aus Gott ist! Mag
auch schon der Abend der Gnadenzeit angebrochen sein,
dennoch liegt ihnen noch ein reicher Segen bereit. Jeder,
der den Rat des Herrn befolgt, soll schon hier Seine gesegnete
Genreinschaft genießen und droben mit Ihm auf
Seinem Throne sitzen. (Offbg. Z, 20. 21.)
Sobald eine Seele Jesum im Glauben ergreift, wird
sie aus der Finsternis in Sein w u n d e r b a r e ö L i eh t
geführt. Sie steht nun auf dem Pfade des Glaubens,
der im Vaterhause droben endet. Aber auch für diesen
Pfad sind geöffnete Augen nötig. Es liegt dein Gläubigen
so nahe, sich auf Menschen zu stützen und nicht einfältig
auf Jesum, den Anfänger und Vollender des Glaubens,
zu blicken. Auch begnügt man sich, anstatt das Wort
Gottes selbst unter Gebet zu erforschen, so gern mit den
Erklärungen eines begabten Predigers oder Redners, und
wird dadurch möglicherweise ganz in die Irre geführt.
Von solchen, oft tief bedauerlichen Irreführungen wissen
alle zu erzählen, die sich mit Hirtendienst und Seelenpflege
beschäftigen. Sie sind auch kaum verwunderlich.
Finden wir doch, daß selbst ein Mose in diese Gefahr
geriet. Als es sich um die Wanderung durch die pfadlose
Wüste handelte, wandte er sich an seinen Schwager Hobab
mit der Bitte, die Führung des Volkes zu übernehmen.
„Verlaß uns doch nicht!" bat er, „denn du weißt ja,
wo wir . . . lagern sollen, und duwirstunse r A u g e
sein." (4. Mose 10, 2Y—Z2.)
Hobab war jedenfalls ein wegeknndiger Führer, an
46
den jeder andere sich mit Nutzen hätte wenden können.
Aber Mose?! Hatte Gott ihm einen solchen Auftrag gegeben?
Hatte Er sich nicht selbst an die Spitze des Volkes
gestellt, um ihnen den Weg zu zeigen, um nach der Güte
und Weisheit Seines Herzens ihm Lagerplätze auszusuchen,
ja, selbst Tag und Stunde ihres Aufbrechens
und Lagerns zu bestimmen? Und nun sollte ein Hobab
ihr Führer, ihr Auge sein? Woher kam das nur? Ach!
selbst das Auge eines Mose war da nicht völlig auf den
Herrn gerichtet, und so nahm er Zuflucht zu einem schwachen,
hinfälligen Menschen.
Wir verurteilen Mose, aber wie oft machen wir es
genau so! Anstatt uns zu stützen auf die klaren und
bestimmten Belehrungen des Wortes Gottes, wenden wir
uns zu Menschen, und müssen dann allerdings betrübende
Erfahrungen machen, schmerzliche Enttäuschungen
erleben. Wie ruhig und getrost hätten die Israeliten unter
der Leitung ihres gnädigen Gottes sein können! Ja, wer
unter ihnen geöffnete Augen für diese Leitung hatte, war
nicht nur nicht unruhig, sondern voll Freude und Dankbarkeit
für solche Gnade. Rührend ist es, wie Mose am
Ende seiner Laufbahn die Liebe und Treue Gottes dem
Volke vor Augen und Herzen stellt. Er fordert Himmel
und Erde auf, den Worten seines Mundes zu lauschen.
Wie Regen träufelt seine Lehre, und wie Tau fließt seine
Rede! (Lies 5. Mose 32, k—44.)
Der Herr schenke uns, daß wir uns fürchten vor
eigenen Wegen und vor dem Vertrauen auf Menschensöhne
und Männersöhne! Sind sie doch nur Eitelkeit
und Lüge, „allesamt leichter als ein Hauch"!
(Ps. 62, y.) Selbst in den dunkelsten Zeiten hat Gott
47
für uns Weg und Bahn, und auf der Reise zum Vaterhause
gibt Er uns auch „Elims", Orte des AusruhenS
und der Erquickung. Ja, Er führt Seine Geliebten auf
Pfaden der Gerechtigkeit um Seines Namens willen.
(Pf. 23, 3.) Und am Ziele angelangt, werden auch wir
bald jubelnd bezeugen: „Du hast dein Volk geleitet
wie eine Herde!" (Pf. 77, 20.)
Betrachten wir jetzt einige Fälle „geöffneter Augen".
In 2. Kön. 6, 72 ff. wird uns erzählt, wie Elisa, der
Mann Gottes, gefangen weggeführt werden sollte, und
wie der König von Syrien zu diesem Zweck ein ganzes
Heer aufbot. Eines Morgens sieht der Diener des Propheten
Dothan, die Stadt, in welcher Elisa weilte, von
Rossen und Wagen umringt. Für das Fleisch war das
ein erschreckender Anblick; nicht so für den Glauben, nicht
für den Mann Gottes, dessen Augen geöffnet waren.
Ruhig und getrost steht Elisa da. Die Umstände beeinflussen
ihn gar nicht. Es ist, wie wenn er mit dem Psal-
misten spräche: „Jehova ist mein Ächt und mein Heil,
vor wem sollte ich mich fürchten? Jehova ist meines
Lebens Stärke, vor wem sollte ich erschrecken? . . . Wenn
ein Heer sich wider mich lagert, nicht fürchtet sich mein
Herz." (Ps. 27, 7-3.)
Der Diener dagegen, von.Furcht und Angst ergriffen,
jammert: „Ach, mein Herr! was sollen wir tun?"
Welch ein Unterschied zwischen den beiden Männern! Der
eine, auf die Gnade des Mächtigen Israels rechnend,
ist ruhig und über die Umstände erhaben, der andere,
auf das Sichtbare blickend, ist außer sich. In der Gegenwart
des Feindes ist er außerstande, mit den Hilfsquellen
48
zu rechnen, die der Glaube in Gott hat. Elisa dagegen,
der Mann geöffneter Augen, sieht, wie „der Engel Jehovas,
sich uni die her lagert, welche Ihn fürchten"
(Ps. 34, 7), und im Glauben sich stützend auf Jehova,
seinen Gott, wünscht er, daß auch sein Diener auf diese
Höhen geführt werden möge. Deshalb tröstet er ihn mit
den Worten: „Fürchte dich nicht, denn mehr sind derer,
die bei uns, als derer, die bei ihnen sind". Dann aber
fleht er für ihn: „Jehova, öffne doch seine Augen, daß
er sehe!" Der Herr beantwortet das Gebet des Propheten,
öffnet die Augen des Knaben, und — er sah: „und
siehe, der Berg war voll feuriger Rosse und Wagen um
Elisa her". Waren diese vorher nicht da? Sicherlich! Aber,
was nützt es, wenn man Augen hat und doch nicht sieht?
Sobald die Augen geöffnet sind, sieht man Gott zwischen
sich und den Umständen.
Auch in unseren Tagen gilt eö, offene Augen zu
haben, einen Glauben, der nach oben blickt zu dem Herrn,
von welchem uns die Hilfe kommt. Schwierigkeiten mancherlei
Art finden sich auf dem Pfade des Volkes Gottes,
die wohl dazu angetan sind, den Pilger mit Verzagtheit
und Mutlosigkeit zu erfüllen, und wie mancher der Geliebten
des Herrn steht heute völlig entmutigt da! Der
Herr gebe uns allen geöffnete Augen, um die Zusagen
und Verheißungen Gottes zu sehen und damit zu
rechnen, daß Er Sein Wort einlöst! Dann werden wir unseren
Mitpilgern, die auf dem Wege kleinmütig gewo.den
sind, zur Ermunterung und zum Troste dienen. Ja, wir
können dann, wie Elisa, fürbittend für sie eintreten. Wer
kann den Segen und Nutzen für das Volk des Herrn berechnen,
wenn solche da sind, die mit geöffneten Augen
49
auf dein Pfade deö Glaubens wandeln und auf andere
„acht haben zur Anreizung zur Liebe und zu guten Werken"?
(Hebr. 40, 24.) Die da kühn die Glaubenshand
auf die Zusagen Gottes legen und angesichts der in Christo
geoffenbarten Liebe Gottes siegesfroh bezeugen: „Wenn
Gott für uns ist, wer wider uns"? (Röm. 8, 34.)
Jin Neuen Testament fleht der Apostel Paulus für
die Gläubigen um „e rleuehtete Augen deö Herzens",
damit sie wissen möchten, 4. welches die Hoffnung Seiner
Berufung ist, und 2. welches der Reichtum der Herrlichkeit
Seines Erbes in den Heiligen, und 3. welches die
überschwengliche Größe Seiner Kraft an uns, den Glaubenden.
(Eph. 4, 48—20.) Das ist ein wunderbares
Gebet, und herrlich sind die Gegenstände, die hier in Betracht
kommen. Handelte es sich bisher um Glauben, hier
kommt geistliches Verständnis in Frage. Sind wir imstande,
der Bitte des Apostels zu folgen? Gehen nicht
viele von uns an den kostbaren Dingen, von denen er
redet, vorbei, weil sie sich die erleuchteten Augen nicht
schenken lassen?
Wie wunderbar ist doch die Berufung Gottes, die
Stellung, in die wir durch die Gnade Gottes gebracht
worden sind! Schon vor Grundlegung der Welt hat diese
Gnade alle geistlichen Segnungen für unö bereitet, und
nun, heilig und tadellos in Liebe vor Gott hingestellt, sieht
der Vater uns „in dem Geliebten" vor sich als die Kinder
Seiner Liebe. Und richtet sich unser Blick aus jene wunderbare
Zeit, wo unser geliebter Herr als Haupt über alles
erscheinen und Sein rechtmäßiges Erbe in Besitz nehmen
wird, so dürfen wir zu unserer unaussprechlichen Freude
wahrnehmen, daß wir nicht allein zu Kindern Gottes
50
berufen sind, sondern auch zu Erben Gottes, zu Mit-
erben Christi. Das Erbe, von dem Sohn, der als
Mensch Gott hienieden vollkommen verherrlicht hat, erworben,
wird von uns mitbesessen werden. Wir werden
mit Ihm und durch Ihn alles erben, was in den Himmeln
und was auf der Erde ist. Ist Er als Haupt über alleo
doch der Versammlung gegeben, die „Sein Leib ist, die
Fülle Dessen, der alles in allem erfüllt"!
Mag es sich nun um die Berufung Gottes oder um
den Reichtum der Herrlichkeit Seines Erbes in den Heiligen
handeln, wir werden in beiden Fällen auf Höhen geführt,
von wo aus „erleuchtete" Augen des Herzens mit
heiliger Bewunderung Umschau halten. Einst tot in unseren
Vergehungen und Sünden, Kinder des Zorns, wie
auch die übrigen — jetzt in Christo an das Vaterherz
Gottes gebracht, in dem vollen Bewußtsein, daß alles,
was uns einst von Ihm trennte, durch das Werk Seines
geliebten Sohnes für ewig hinweggetan ist. Einst fern,
jetzt nahe; einst Fremdlinge und ohne Bürgerrecht, jetzt
Mitbürger der Heiligen und Hausgenossen Gottes, in
Christo mitversetzt in die himmlischen Orter.
Wollen wir Gott nicht bitten, die Augen unseres Herzens
mehr zu erleuchten, damit wir diese Kostbarkeiten!
besser verstehen und genießen lernen und dann auch in
unserem praktischen Verhalten mehr Seiner Berufung
entsprechen? Wir wissen ja aus Erfahrung, daß,
jemehr ein Gläubiger sich dieser Segnungen erfreut und
in ihnen lebt, er umsomehr auch in seinem ganzen Verhalten
dadurch beeinflußt wird. Eine himmlische Gesinnung
offenbarend, wandelt er als „ein Kind des L i ch t s"
und als „Nachahmer Gottes" in Liebe.
51
Als Drittes wünschte der Apostel, daß die Gläubigen
erkennen möchten, „welches die überschwengliche
Größe der Kraft Gottes an ihnen, den Glaubenden, sei".
Diese Kraft hatte Christum aus den Toten auferweckt
und nun auch die gläubigen Epheser auf.dem Boden der
Auferstehung in die innigste Verbindung mit dem verherrlichten
Christus gebracht. Mit dem Christus lebendig gemacht,
waren sie bereits in Ihm mitversetzt in die himmlischen
Örter, und wenn Er als Haupt über alles, über
jedes Fürstentum und jede Gewalt usw. gesetzt war, so
bildeten sie als Seine Versammlung den Leib, die „Fülle"
oder Vollendung dieses geheimnisvollen Menschen der Ratschlüsse
Gottes. Wunderbare Kraft Gottes! Wo ist eine
Kraft, die mit dieser vergleichbar wäre? Und wir sind
die Gegenstände ihrer Wirksamkeit!
Fürwahr, unübersehbar und unermeßlich reich sind
die Felder der Gnade und der Herrlichkeit Gottes, auf die
wir hier geführt werden, aber noch einmal: um von ihren
Früchten genießen zu können, bedürfen wir erleuchtete
Augen des Herzens. Hast du sie dir öffnen lassen? Der
Herr ist gern bereit, dich zu erleuchten und dir geöffnete
Augen für diese Schätze Seiner Gnade zu schenken.
Beachten wir auch, daß für den Gläubigen, dessen
Augen aufgetan sind, die Gefahr besteht, wieder „blind
und kurzsichtig" zu werden. (Vergl. 2. Petr. 5, d.)
Wir wissen alle, wie der Feind bemüht ist, unsere Herzen
durch die Dinge der Welt zu beeinflussen und uns so aus
der Gegenwart und dem Lichte Gottes zu entfernen. Gelingt
ihm das, so geht es schnell bergab, dem Zustand zu,
wie der Apostel Petrus ihn beschreibt. Traurig ist der
52
Anblick eines solchen Gläubigen! Fruchtleer, unfähig, Personen
und Dinge richtig zu beurteilen, unentschieden in
seinem Verhalten, unklar bezüglich des Weges, den er
gehen soll, unruhig und ohne Freude des Heils — so
steht er da. Welch ein beklagenswerter Zustand! „Darum,
Brüder, befleißiget euch!" (Lies V. ko u. U.)
Manchmal geht es uns auch so wie den Jüngern in
Gethsemane, deren Augen beschwert waren vom
Schlaf. Wie demütigend waren für sie die ergreifend wehmütigen
Worte ihres Herrn: „Also nicht eine Stunde
vermochtet ihr mit mir zu wachen?" (Matth. 26, 40.)
Auch für uns gilt es Heerte zu wachen. Ernste Zeiten
sind über uns gekommen. Sind unsere Augen offen für
die mannigfaltigen Gefahren, die uns umgeben? Nehmen
wir es wahr, wie der Feind das Zeugnis der Wahrheit zu
verderben und uns von dem Boden der Absonderung und
des Gehorsams abzulenken sucht? Wie er uns dahin bringen
möchte, es nicht mehr so genau zu nehmen mit dem
eigenen Tun wie auch mit dem Verhalten anderer? Sind
unsere Augen nicht auch oft schlafbeschwert, wenn es sich
um die Bedürfnisse, Nöte und Gefahren unserer Mitgeschwister,
um das Werk des Herrn usw. handelt? Oder
entdecken sie schnell die jeweiligen Bedürfnisse, und sind
wir bereit, uns von dem Herrn gebrauchen zu lassen, wie,
wo und wann Er will? Bereit, uns selbst zu verleugnen
und, das Kreuz aufnehmend, Ihm nachzufolgen?
Auf dem Berge der Verklärung sollten die Jünger
für ihren Pfad in besonderer Weise ermuntert und gestärkt
werden durch das persönliche Schauen der Majestät
ihres geliebten Herrn. Aber auch hier waren sie beschwert
vom Schlaf! Sollte ihnen nun alles verloren gehen?
- 5Z -
Sollten sie diese herrliche Stärkung und Freude ganz einbüßen?
Nein, nicht deshalb hatte ihr gnadenreicher Herr
sie mit hinaufgenommen. Aus dem Schlafe aufwachend,
dürfen sie Seine Herrlichkeit sehen und in Seiner
Nähe zwei von Seinen geehrten Knechten. Der eine,
der einst die Schmach seines Herrn allen Schätzen Ägyptens
vorgezogen hatte, darf jetzt in der Herrlichkeit dieses
Herrn weilen. Er ist nicht zu kurz gekommen, hat sich
auch nicht in seinen Erwartungen getäuscht, wie keiner
es tun wird, der für Christum etwas aufgibt oder um
Seinetwillen leidet. Der andere, der in Zeiten des Abfalls
und der allgenreinen Untreue ganz allein für seinen
Herrn geeifert und sich bemüht hatte, das götzendienerische
Volk für Ihn zurückzugewinnen und Ihm wieder zuzuführen,
ist nun anr Ziele angelangt. Sein Platz ist nicbt
mehr der eines einsamen Glaubcnözeugen, nein, er ist
mit Mose zum Schauen gekommen!
Alles das dursten die Jünger sehen. Sie durften
die Herrlichkeit des Herrn schauen, und in derselben Herrlichkeit
Seine beiden treuen Diener aus dem Alten Bunde.
Sie durften schlaftrunken hören, wie diese mit Jesu den
Ausgang besprachen, den Er in Jerusalem erfüllen sollte,
und dann, „völlig aufgewacht", die Stimme des Vaters
vernehmen: „Dieser ist mein geliebter Sohn, an welchem
ich Wohlgefallen gefunden habe". Ihre Schläfrigkeit war
sicher nicht gutzuheißen, aber die Gnade handelte wunderbar
zu ihrem Segen und ihrer Freude und richtete ihre
Blicke schließlich auf Jesum allein.
Sind auch unsere Augen vom Schlafe beschwert, geliebter
Leser? Möchte es dann den: Heiligen Geist gelingen,
uns aus aller Gleichgültigkeit und Schläfrigkeit auf
54
zurütteln! Er ruft uns zu: „Wache auf, der du schläfst
und stehe auf aus den Toten, und der Christus wird dir
leuchten!" (Eph. 5, 44.) Welch einen Gewinn bedeutet
es für uns, wenn unsere Augen au s I e s um al l e in gerichtet
und unsere Herzen von Ihm allein angezogen
und eingenommen worden sind! Dann hat man ein ganzes
Interesse für alles, was Seinem Herzen wertvoll
ist, und ist auch bereit, um Seinetwillen ein Opfer zu
bringen. Seine Nähe und Gemeinschaft genießend, eilt
man frohen Herzens dem Ziele zu. Mag es dann auch
einmal vorkommen, daß man in eine Lage gerät, in der
man sich nicht sofort zurechtfinden kann, wo die Augen für
eine Zeit „gehalten" sind, sodaß man in besonderer
Weise die eigene Ohnmacht und Hilflosigkeit erkennen muß
— es ist kein Schade! Der Herr wird im rechten Augenblick,
wenn die nötige Lektion gelernt ist, unsere Augen
„auftun", und wir werden Ihn nicht nur in Seinem
Tun erkennen, sondern auch verherrlichen.
(Vergl. Luk. 24.) Mit geöffneten Augen werden wir
Wunder schauen in Seinem Gesetz.
Wie gesegnet ist cs doch für die Geliebten deö Herrn,
//Ihn zu erkennen auf allen ihr.m Wegen"! (Spr. 3, 6.)
So eilen sie Ihm entgegen, still und ergeben, und, „mit
aufgedecktem Angesicht die Herrlichkeit des Herrn anschauend,
werden sie verwandelt nach demselben Bilde von
Herrlichkeit zu Herrlichkeit", bis der herrliche Augenblick
kommen wird, wo sie Ihm gleich sein werden, „denn
wir werden Ihn sehen, wie Er ist". (4. Joh. 3,
2.) Vor Ihm, dem Geliebten, in Anbetung niederfallend,
werden wir dann singen und sagen: „Du bist würdig,
das Buch zu nehmen und seine Siegel zu brechen; denn
55
du bist geschlachtet worden", und durch die unermeßlichen
Räume des Himmels wird es widerklingen: „Würdig
ist das Lamm, das geschlachtet worden ist!"
Mein Reichtum
Warum sollt' ich mich betrüben
Um der Erde gleißend Gut?
Warum ihren Mammon lieben,
Wie die arme Welt cs tut?
Gibt's doch eine bess're Habe,
Als das Beste dieser Zeit,
Die mir Gott geschenkt als Gabe,
Als ein Meer von Seligkeit.
All mein Reichtum ist in einem
Sel'gen Worte ausgedrückt.
Jesus, Jesus! ja, in Deinem
Namen bin ich hoch beglückt.
Wenn ich Dich nicht sollte haben,
Herr, wer gäbe mir Ersatz?
Nein, ich will mich ewig laben
An des Himmels höchstem Schah.
_______________ H. K.
Kragen aus dem Leserkreise
I. Redet der Apostel, wenn er in 2. Kor. 5, Z sagt: „so wir
anders, wenn wir auch bekleidet sind, nicht nackt erfunden werden",
zu Ungläubigen oder zu Gläubigen?
Er redet offenbar zu Gläubigen, zu denselben Leuten, von denen
er in Vers l sagt: „Denn wir wissen usw.". Die Worte „bekleidet"
— „entkleidet"— „überkleidet" beziehen sich ausnahmslos
auf unseren Leib, die Behausung, in der wir wohnen, sei es nun
unser gegenwärtiger oder unser zukünftiger Leib. „Nackt" bezeichnet
den Zustand des Menschen vor Gott (vcrgl. Offbg. Iö, 15; auch
Kap. 5, 17. 18 u. a. St.), als unbedeckt vor Seinem heiligen Auge,
ohne das Kleid Seiner Gerechtigkeit, die Kleider des Heils usw.
Die Worte: „wenn wir auch bekleidet sind", werden verschieden
ausgelegt. Die einen meinen, sie bezögen sich auf unseren gegenwärtigen
Leib; mit anderen Worten also: „so wir anders, wenn
auch das Kommen des Herrn (das uns das „llberkleidetwerden"
von Vers 2 bringt) uns noch in diesem Leibe finden sollte, nicht
56
nackt, d. b. ohne Leben aus Gott erfunden werden". Die anderen
wenden sie an auf den Leib, mit denr alle Menschen, ob gläubig
oder ungläubig, in der Auferstehung (selbstverständlich nicht zu gleicher
Zeit) bekleidet werden sollen; denn alle werden ja einmal
einen Ewigkeitsleib empfangen. In beiden Fällen will der Apostel
in dieser Stelle, die so trostreich ist für die Treuen, zugleich vor der
Gefahr warnen, als ein blcßer Bekenner erfunden zu werden. (Vergl.
l. Kor. 10, l-Il).
2. Warum spricht der Apostel in I.Kor. 15, 59 von dem Fleische
des Viehes, der Vögel usw.? Cs handelt sich doch um die Auferstehung
der Toten!
Paulus beantwortet an dieser Stelle bekanntlich die törichte Frage
der menschlichen Vernunft: „Wie werden die Toten auferwcckt? und
mit was für eine m Lei b e kommen sic?" (Vers 55), wie wenn
der Zustand unseres Leibes in der Auferstehung dem gegenwärtigen
ähnlich sei oder gar sein müsse. Er weist dann hin auf die große
Mannigfaltigkeit, die schon in der gegenwärtigen Schöpfung besteht:
da sind allerlei Samen, jeder verschieden von den anderen, tausenderlei
Arten von Tieren! vierfüßige Tiere,Vögel, Fische etc., aller Fleisch anders
geartet, und der Mensch wiederum von allen völlig verschieden; da
sind himmlische Leiber und irdische Leiber, und anders ist die Herrlichkeit
der himmlischen und die der irdischen, anders die Herrlichkeit
der Sonne und die des Mondes und der Sterne; und dann folgt
der eindrucksvolle Schluß: „Also ist die Auferstehung der
Toten". Menn Gott schon einem jeden der Samen einen eigenen
Leib gibt, wie Er will, wenn cs Ihm gefallen bat, in der natürlichen
Schöpfung die größte Mannigfaltigkeit der Leiber und Körper
hervortreten zu lassen, sollte Er dann in Verlegenheit sein, dem aus
dem Tode aufcrwecklen Menscken einen entsxr,chenden Leib zu geben?
Freilich muß cs ein „geistiger" Leib sein, der dem neuen Zustand
Mrd Verhältnis entspricht, so wie der „natürliche" oder „seelische"
Leib unserem heutigen Zustand angepaßl ist.
5. Wenn der Apostel in Vers 40 von „himmlischen" Leibern
spricht, meint er dann den Leib, den wir einst tragen werden?
Das ist wohl schon deshalb nicht möglich, weil er sagt: „Es
gibt (also damals schon, als er seinen Brief schrieb) himmliscbc
Leiber und irdische Leiber". Ferner werden wir wohl „die Himmlischen"
genannt (Vers 48), aber niemals wird unser Auferstehungsleib
in der Schrift als ein „himmlischer" Leib bezeichnet.
„Sa bin ich in ihrer Mitte."
In Form eines Zwiegespräch s. *)
*) Diese Form ist gewählt worden, um den Gegenstand möglichst
einfach und verständlich behandeln zu können.
l.XXIII z
A. — Über die Worte unseres Herrn in Matth. 1^8,
20: „Denn wo. zwei oder drei zu meinem Namen hin
versammelt sind, da bin ich in ihrer Mitte", wird so viel
Gegenteiliges geredet und geschrieben, daß ich mich gern
einmal mit dir darüber unterhalten möchte. Ich habe
früher gemeint, die Worte gut zu verstehen; die verschiedenen,
oft sich unmittelbar widersprechenden Auslegungen
haben mich aber in Verwirrung gebracht.
B. — Die Worte sind nicht so schwer zu verstehen.
Man muß sie nur genau lesen und in dem Zusammenhang
lassen, in welchem sie gesprochen wurden. Der
Herr sagt in Vers r8: „Wahrlich, ich sage euch: Was
irgend ihraufderErde binden werdet, wird imHim-
m e l gebunden sein, und was irgend ihr auf der Erde
lösen werdet, wird im Himmel gelöst sein", und dann
fügt Er diesen mit dem feierlichen „Wahrlich" eingeleiteten
Worten als zweiten, ergänzenden Ausspruch hinzu:
„Wiederum sage ich euch: Wenn zwei von euch
aufderErde Übereinkommen werden über irgend eine
Sache, um welche sie auch bitten mögen, so wird sie ihnen
werden von meinem Vater, der in den Himmeln
ist". Meinst du nicht auch, daß das: „Wahrlich, ich
sage euch" und das: „Wiederum sage ich euch", wie
58
auch die in beiden Versen wiederkehrenden gleichen Ausdrücke
„auf der Erde" und „im Himmel" beweisen, daß
die Verse inhaltlich zusammengehören, ein Ganzes bilden,
wenn auch die darin ausgedrückten Gedanken an und
für sich verschieden sind?
A. — Das scheint allerdings so zu sein, obwohl
ich es noch nie so bestimmt habe auslegen hören.
B. — Es ist nicht eine Auslegung, sondern vielmehr
das einfache Ergebnis des genauen Lesens der
Worte des Herrn. Der Gedanke ist auch gar nicht neu;
schon andere haben ihn in ähnlicher Weise ausgesprochen.
So sagt z. B. (um einen aus dem Gebiet der griechischen
Sprache und des neutestamentlichen Textes besonders kundigen
Gewährsmann und in diesem Falle gewiß unverdächtigen
Zeugen anzuführen) Dr. H. A. W. Meyer, der
bekannte Herausgeber des „Kritisch-exegetischen Kommentars
über das Neue Testament", in Verbindung mit unserer
Stelle, der Herr habe „behufs zuversichtlicher Handhabung
dieser letzten Stufe der Jucht" Seine Jünger „ein
Zwiefaches versichert: r. Euer Urteil hinsichtlich der
vor die Gemeinde gebrachten Beschwerden hatgöttliche
Gewähr. 2. Wenn zwei von euch über irgend etwas
zu Bittendes übereinstimmen, so wird es ihnen zuteil werden;
ihr seid also in solcher Übereinstimmung eurer betenden
Herzen der göttlichen Hilfe und Erleuchtung gewiß,
um in allenFällendiegottgemäßeEnt-
scheidungzu treffen."
Man übersieht vielfach das „Wiederuin sage ich
euch", das den ry. Vers unmittelbar mit dem ^8. verbindet,
und bezieht dann das im 20. Verse folgende, den
Inhalt beider Verse begründende „Denn" nur auf
59
dm Id. Vers. Der Herr sagt in Vers 20: „Denn wo
zwei oder drei zu meinem Namen hin versammelt sind,
da bin ich in ihrer Mitte"; mit anderen Worten:
sowohl die im 18. Verse angedeuteten Handlungen als
auch die im 19. Verse genannten Bitten bekommen da­
durch, daß ich in der Mitte der Handelnden und Bittenden
bin, eine ganz besondere, einzigartige Autorität und
Kraft. Meine Gegenwart verbürgt einerseits die Anerkennung
der auf der Erde geschehenden Handlungen
im Himmel, und anderseits die Erhörung der auf
derErde laut werdenden Bitten seitens meines Vaters,
der im Himmel ist. Wäre die Zahl der also
Handelnden und Bittenden auch nur zwei oder drei —
nicht wahr? kleiner könnte sie nicht sein — die Anerkennung
und Erhörung ist ihnen sicher, vorausgesetzt daß
die voranstehende Bedingung erfüllt ist.
A. — Jawohl; aber willst du damit sagen, daß der
19. Vers nur eine beschränkte, nicht für alle Zeiten oder
Fälle geltende Verheißung enthalte?
B. — Ich möchte keineswegs sagen, daß zwei Gläubige,
die auf Grund dieses Verses im Glauben zu Gott
flehen, nicht Erhörung finden werden. Wie sollte oder
könnte der Vater im Himmel, der dem Glaubenögebet
des einzelnen Erhörung verheißt, nicht um so mehr antworten,
wenn zwei oder mehr Seiner Kinder gemeinsam
ein Anliegen vor Ihn bringen, indem ihr Herz sie
getrieben hat, betreffs irgend einer Sache übereinzu -
kommen? Aber eine andere Frage ist es, ob der Herr
das hier meint. Warum die feierliche Einleitung und die
Umständlichkeit der Sprache: „Zwei — von euch —
auf der Erde", wenn der Herr nur etwas bestätigen
— 60 —
wollte, was dem Einzelgebet, das „im Glauben" oder
„in Seinem Namen" geschieht, an verschiedenen Stellen
der Schrift bedingungslos verheißen ist? Du weißt ja,
wie man die Stelle vielfach anwendet: Zwei Gläubige,
von denen der eine in diesem, der andere in jenem Hause
oder Orte wohnt, kommen überein, um eine Sache, die
beiden am Herzen liegt, zu einer bestimmten Tageszeit
zu bitten. Nun frage ich dich: Kann man von diesen
beiden sagen, daß sie zu dem Namen Jesu hin versammelt
sind? Du wirst antworten: Nein. Aber wenn das
nicht so ist, dann dürfen sie auf Grund dieser Stelle
nicht auf die Erhörung ihrer Bitte rechnen, weil ja gerade
das fehlt, was der Herr als Begründung der sicheren
Erhörung seitens Seines Vaters im Himmel anführt:
„Denn wo zwei oder drei usw."
A. — Ja, das sehe ich ein; aber ist es denn nicht
gut, wenn zwei Gläubige in der oben beschriebenen Weise
handeln? ?
B. — Gewiß ist das gut, und wo es im Glauben
und in Herzenseinfalt geschieht, werden gewiß herrliche
Erhörungen erlebt werden.
A. — Das ist auch meine Meinung. Wie ist es
aber, wenn zwei oder mehr Gläubige irgendwo s ich z u -
sammenfinden, unr gemeinsam um eine Sache,
betreffs derer sie übereingekommen sind, zu Gott zu beten?
Kann man auf sie dann auch nicht den 20. Vers
anwenden? Ich meine: sind sie nicht in dem von dem
Herrn bezeichneten Sinne versammelt?
B. — Deine Frage bringt uns zu unserem eigentlichen
Gegenstand, dem Kernpunkt unserer Unterredung,
der Frage nämlich: Was will der Herr mit dem Worte
— be­
sagen: „Denn wo zwei oder drei zu meinem Namen
hin versammelt sind"? Die Beantwortung dieser
Frage ist überaus bedeutungsvoll, weil ja von der Erfüllung
dieser Bedingung die Verwirklichung deö Nachsatzes
abhängt: „da (Et) bin ich in ihrer Mitte".
Beachte es: Da, nur da! Daß der Herr überall bei
den Seinigen sein will und ihnen Seinen Segen nicht
vorenthält, ob sie nun einsam oder gemeinsam wohnen
oder wandern, ob sie allein oder miteinander beten oder
Sein Wort betrachten, das hat Er verschiedentlich verheißen;
aber hier sagt Er ausdrücklich in unbegreiflicher,
herablassender Gnade: „da (oder dort) bin ich in ihrer
Mitte", gleichsam als einer von ihnen. An kei­
ner anderen Stelle begegnen wir dieser Versicherung, aber
auch an keiner anderen der vorangestellten Bedingung.
Schon deshalb sind wir gezwungen, den allgemein anerkannten
Grundsatz, daß man ein Wort nicht auö seinem
Zusammenhang herausreißen, sondern es immer in
Verbindung mit der betreffenden Stelle betrachten solle,
besonders streng zu befolgen. Laß unö denn miteinander
diesem Zusammenhang nachspüren. Dazu ist es allerdings
nötig, ein wenig weiter auszuholen.
Der Herr redet in dem ganzen t8. Kapitel des Evangeliums
nach Matthäus von dem Geist der Demut und
Gnade, der uns als Gläubigen, als wahren Kindern des
Reiches, geziemt. Dem entspricht auch die bekannte Belehrung
über den Weg, den wir einzuschlagen haben, wenn
ein Bruder gegen unö gesündigt hat. Die Gnade tut den
ersten Schritt, indem sie dem Schuldigen nachgeht, genau
so, wie Gott unö gegenüber gehandelt hat, oder wie
der Mensch in Vers k2 dem irrenden Schaf gegenüber
b2
handelt. Die Natur (das Fleisch in uns) handelt in genau
entgegengesetzter Weise: sie fordert Genugtuung und erwartet,
geleitet durch selbstsüchtige Beweggründe, den ersten
Schritt von der anderen Seite. Der Gnade liegt daran,
den Bruder zu gewinnen und, indem sie sich darum
bemüht, zugleich den Rechten Gottes im Blick auf die
Sünde Geltung zu verschaffen; das Fleisch denkt nur an
sich, Gottes Rechte sind ihm gleichgültig.
Wenn nun der fehlende Bruder sich verhärtet und
weder auf die Vorstellungen des Beleidigten, noch auf die
Ermahnungen der mit ihm kommenden Brüder hört,
so bleibt nur noch ein Mittel zur Erreichung des Zweckes
übrig: „sage es der Versammlung". (V. 1,7.)
Ich betone: zur Erreichung des Zweckes; denn auch die
Zucht der Versammlung hat keinen anderen Zweck und
sollte nie anders ausgeübt werden, als in der Absicht,
das Gewissen des Irrenden zu erreichen und ihn in das
Licht Gottes zurückzuführen, mit anderen Worten, ihn „zu
gewinnen". Doch damit entsteht ganz von selbst die
Frage: Was ist „die Versammlung", an welche der Bruder
als „letzte Instanz" sich wenden soll? Der Herr redet
so, als wenn es sich für die Jünger um eine wohlbekannte
Sache gehandelt hätte. Und doch gab es damals noch
keine Versammlung! Nein, aber wir begegnen diesem,
allen anderen Evangelien unbekannten Ausdruck *) schon
im 1h. Kapitel unseres Evangeliums. Der Herr sagt dort,
in Verbindung mit dem Bekenntnis des Petrus: „Du
bist der Christus, der Sohn des lebendigen Gottes", daß
*) weil keines von ihnen den Übergang von dem alten Haushalt'
des Gesetzes zu dem neuen der Gnade so behandelt, wie Matthäus,
durch den Geist geleitet, es tut.
— 63 —
Er auf diesen Felsen Seine Versammlung oder Gemeinde
bauen wolle. Du wirst mit mir einverstanden
sein, wenn ich sage: Diese Versammlung oder Gemeinde
ist das Nme, das der Herr errichten wollte, nachdem Er
als Messias verworfen war, und Sein irdisches Volk damit
jede Hoffnung auf die Erfüllung der Verheißungen
verloren hatte. Es ist „die Versammlung des lebendigen
Gottes", wie Paulus sie in 1. Tim. 3, 1.5 nennt, der
heilige Tempel, das geistliche Haus (Eph. 2; 1. Petr. 2),
in welchem Gott wohnt, der Leib Christi (Röm. 12, 5;
1. Kor. 12, 12 ff.; Kol. 1, 24 ff.), der die Fülle
Dessen bildet, der alles in allem erfüllt. (Eph. 1, 23.)
Sie bestand, wie gesagt, damals noch nicht, aber der Herr
redet in dem ganzen Abschnitt von zukünftigen, durch
Seinen Weggang bedingten Verhältnissen.
A. — Damit bin ich völlig einverstanden; aber der
Herr kann doch nicht an die Versammlung in diesem
Sinne denken, wenn er den Bruder auffordert: „Sage
es der Versammlung". Derselbe konnte sich doch nicht an
die Gesamtheit der Kinder Gottes wenden?
B. — Nein, gewiß nicht. Es war einfach die Versammlung
(Gemeinde) Gottes an demOrte, an welchem
die betreffenden Personen wohnten, zu der sie gehörten
— die örtliche Darstellung des gesamten Körpers. Aber
beachten wir es wohl: Es war nicht eine Versammlung,
eine kleinere oder größere Anzahl von Gläubigen, die sich
unter gewissen Bedingungen zu dem einen oder anderen
Iweck zusammenfanden, sondern d i e Versammlung, die
Gesamtheit der Gläubigen an jenem Ort, alle, die dort
dem Herrn angehörten und durch einen Geist zueinem
Leibe getauft waren. So schrieb der Apostel Paulus einst
64
„der Versammlung Gottes, die in Korinth ist", oder
„d e r Versammlung der Thessalonicher in Gott, dem Vater
usw." Johannes sandte „den sieben Versammlungen,
die in Asien sind", seinen Gruß. Immer wieder
lesen wir von der Versammlung in Jerusalem, Antiochien
usw., oder von d e n Versammlungen Gottes oder
Christi in Galatien, Mazedonien usw.
A. — Ganz recht; aber alles, was du sagst, bezieht sich
nur auf die damalige Zeit, auf den Anfang der christlichen
Kirche, als der Verfall noch nicht eingetreten war
und alles noch in bester Ordnung dastand.
B. — Ich werde darauf sogleich zurückkommen. Zunächst
gilt es festzustellen, was der Herr Seinen Jüngern
damals sagen wollte; und das ist doch unzweifelhaft
dies: Für ihr Zusammenleben sollten fortan nicht mehr
gesetzliche Bestimmungen maßgebend sein, sondern der
Geist der Gnade, und an die Stelle der Synagoge, von
welcher Übeltäter, Widerspenstige und dergl. in Zucht genommen
und gegebenen Falles ausgeschlossen werden konnten
(vergl. Joh. y, 22. 34), sollte jetzt die Versammlung
treten, um die nötige Jucht auszuüben. Nachdem
der beleidigte oder geschädigte Bnider und die ein oder
zwei mit ihm sich in der Liebe Christi vergeblich bemüht
hatten, den Schuldigen zu überführen, mußte die Sache
der Versammlung unterbreitet werden. Hörte er auch auf
die Versammlung nicht, „so sei er dir", sagt der Herr,
„wie der Heide und der Zöllner". Welch ein Ausgang!
Bis dahin ein „Bruder" (V. 45), und nun ein „Heide"
und ein „Zöllner"! Unrein! Und dabei konnte es nicht
einmal bleiben. Das Endergebnis der persönlichen Übertretung,
dieses an und für sich kleinen Feuers, ist über
aus ernst, ist ein Brand! Die Versammlung als solche
muß den Fall weiter behandeln. Alle sind durch das
Böse in ihrer Mitte in Mitleidenschaft gezogen, und sie
müssen beweisen, „daß sie an der Sache rein sind". (2.
Kor. 7, 1U.) Und so folgt jetzt das feierliche Wort:
„W ah rl i ch, ich sage euch: Was irgend ihr auf der Erde
binden werdet, wird im Himmel gebunden sein; und was
irgend ihr auf der Erde lösen werdet, wird im Himmel
gelöst sein". Mit anderen Worten: die Juchthandlungen
der Versammlung in solchen und ähnlichen Fällen werden
im Himmel Anerkennung und Bestätigung finden.
Ein überaus ernster Gedanke für alle, die sich in die Lage
versetzt sehen mögen, eine derartige Jucht ausüben zu
müssen! Und nun folgt das Wort: „Wiederum sage
ich euch: Wenn zwei von euch auf der Erde Übereinkommen
werden über irgend eine Sache, um welche sie auch
bitten mögen, so wird sie ihnen werden von meinem Vater,
der in den Himmeln ist". Welch ein Trost für die
zwei oder drei, aus welchen die Versammlung bestehen
mag! In sich selbst schwache, irrende Menschen, dürfen
sie doch auf die Weisheit und Macht des Herrn in
ihrer Mitte und auf die nie fehlende Gnade des Vaters
im Himmel rechnen. Sind sie „zu dem Namen Jesu
hin versammelt", so sichert Seine Gegenwart ihren Beschlüssen
Autorität und ihren Bitten Erhörung zu. Sie
stehen, also handelnd, nicht allein da, sondern sind „mit
der Kraft des Herrn Jesus versammelt" (l. Kor. S, 4),
und ihre Bitten sind gleichsam Seine Bitten. Daß
diese ernste, aber zugleich so kostbare Wahrheit wenig verstanden
und noch weniger beachtet wird, ist tief bedauerlich,
aber deshalb bleibt sie doch, was sie ist.
66
A. — Darm hast du allerdings recht. Aber wenn
ich auch die Richtigkeit deiner Ausführungen dankbar anerkenne,
muß ich doch meine Frage wiederholen: Wie kann
inan das Gesagte auf unsere Tage mit all ihrer Verwirrung
auf kirchlichem Gebiet anwenden?
B. — Zunächst möchte ich daraus antworten, daß
die Untreue des Menschen und die durch sie und Satans
List herbeigeführte Verwirrung nichts an der Wahrheit
Gottes ändern. Diese bleibt zu allen Zeiten und unter
allen Umständen dieselbe. Oder soll Gott Seine Gedanken
den Verkehrtheiten und Torheiten der Menschen anpassen?
Unmöglich, nicht wahr? Der Glaube urteilt auch
einfältig: Wenn Gott unveränderlich treu ist und Seine
Grundsätze stets dieselben bleiben, bleiben müssen,
warum sollten dann Gläubige heute nicht mehr zu dem
Namen Jesu hin versammelt sein können und sich all der
Segnungen erfreuen dürfen, die damit verbunden sind?
Freilich kann man von einem solchen Versammeltsein nur
reden, wenn es in dem bedingungslosen Gehorsam gegen
Gottes Wort (und nichts anderes) geschieht, wenn eS
sich gründet auf Seine Gedanken über Christum und die
Versammlung, Seinen Leib, und, unter der Leitung des
Heiligen Geistes, ausgeführt wird in Übereinstimmung mit
dem Willen des Herrn Jesus Christus, des Hauptes Seines
Leibes. Daß es in allen religiösen Körperschaften und
christlichen Gemeinschaften treue, gottesfürchtige Menschen
gibt, in vielen auch eine gute Bedienung des Wortes, besonders
wenn es sich um die Verkündigung des Evangeliums
handelt, steht außer Frage; aber wenn das Wort
Gottes nicht die einzige Grundlage bildet, auf dsr man
steht, und man dem Herrn nicht in der Kraft des Geistes
67
in allem unterworfen ist, unter Aufgabe aller menschlichen
Satzungen, Einrichtungen, Namen usw. usw., so mag man
wohl (vor allem, wenn es in Unkenntnis geschieht,) Segen
empfangen, Erhörungen erfahren usw., aber man kann
doch nicht von einem Versammeltsein zu dem Namen Jesu
hin reden. Sein Name ist nicht der einzige Sammelpunkt,
Sein Wort nicht die einzige, alle anderen ausschließende
Richtschnur. Man versteht oder verwirklicht
doch nicht, daß Sein Leib die einzige Körperschaft ist, die
Er anerkennt, und daß es, nach wie vor, trotz allen Verfalls,
nach Seinen Gedanken nur eine, d. i. Seine
Versammlung gibt, die aus allen wahren Gläubigen besteht,
mögen sie noch so zerstreut und zersplittert sein.
A. — Wieder kann ich nur mein Einverständnis mit
dem, was du sagst, erklären, aber es ist doch eigentlich
keine Antwort auf meine Frage.
B. — Höre weiter. Du fragst: „Wie kann man
das Gesagte auf unsere Tage mit all ihrer Verwirrung auf
kirchlichem Gebiet anwenden?" — Wir können selbstverständlich
die Verwirrung nicht beseitigen, den Verfall nicht
aufheben. Es wäre eine Anmaßung sondergleichen, die
Kirche in ihren: ersten Zustande wiederherstellen zu wollen.
Die äußere Einheit, in welcher sie einst so herrlich dastand,
ist unwiederbringlich dahin. Was aber können und
sollen wir tun? Müssen wir uns hoffnungslos in das
Unabänderliche schicken und alles lausen lassen, wie es
läuft? Gott sei Dank, nein! Was die Gläubigen zu
allen Zeiten, besonders aber in unseren Tagen, bedürfen,
ist zunächst ein wahres, tiefes Gefühl des Schmerzes
über den allgemeinen Verfall und über die eigene Untreue
und völlige Unzulänglichkeit, dem Übel zu steuern. Dieses
68
Gefühl wird die Seele einerseits zu Gott treiben mit ernstem
Bekenntnis, mit Beugung und Trauer über das
Geschehene, und sie anderseits anleiten, „von der Ungerechtigkeit",
d. i. von allem, was sie als böse erkennt, abzustehen.
Zn dem „großen Hause" der Christenheit befindlich,
sondert sie sich ab von den Gefäßen zur Unehre, um
so ein Gefäß zur Ehre zu sein, geheiligt, nützlich dem Hausherrn.
(2. Tim. 2, ky—2t.) Sie tut das nicht in pharisäischem
Stolz, um nun allein zu stehen, sich über andere
erhebend und sich besser dünkend als sie, sondern um mit
denen, die den Herrn anrufen aus reinem Herzen, sich um
Ihn, den einzig würdigen Mittelpunkt zu scharen, nicht eine
neue Kirche oder Gemeinschaft gründend, sondern einfältig
zu dem zurückkehrend, „was von Anfang war", in Anerkennung
der Autorität Christi, „des Sohnes über Sein
Haus", und des Heiligen Geistes als der einzig leitenden
Kraft in der Mitte der Versammlung. Mit den zweien
oder dreien — sind es mehr, umso besser — die mit ihr
denselben Weg gehen, erkennt sie dankbar jede Seele an,
die deö Herrn ist und sich fernhält von aller Art des Bosen,
und begrüßt mit Freuden jede Gabe, die der Geist zum
Segen und Nutzen für alle austeilt, „wie Er will",
(t. Kor. k2.)
A. — Was du sagst, ist mir nicht neu, aber ich bin
dir dankbar, daß du mich noch einmal in solch deutlicher
und verständlicher Weise daran erinnerst. Nur wolle Gott
alle, die den Weg der Absonderung zu gehen begehren, einfältig
und treu erhalten und sie vor allem vor einem Geist
der llberhebung und der Lieblosigkeit anderen Gläubigen
gegenüber bewahren!
B. — Dazu kann ich nur von Herzen „Amen" sagen.
bd
Gerade in letztgenannter Beziehung ist gewiß oft gefehlt
worden, und zwar meist von solchen, die die Wahrheit nur
mit dem Kopf erfaßt und nicht von Herzen leidgetragen
hatten über die allen gemeinsame Schuld. Wer durch die
Gnade von Irrwegen zurückgeführt ist und mm seine ganze
Ohnmacht fühlt, kann nicht hoch von sich denken und andere
lieblos verurteilen; angesichts der ihm widerfahrenen
Gnade wird er anderseits aber auch nicht mutlos werden,
sondern in allem und für alles auf Gott rechnen.
Die betrübenden Erscheinungen, die sich im Laufe der
Zeit in der Mitte derer, die nach Matth. 1.8, 20 zu handeln
begehren, gezeigt und in verschiedenen Spaltungen zu
solch demütigenden Ergebnissen geführt haben, hätten vielleicht
vermieden werden können, wenn mehr Demut und
Liebe die Herzen erfüllt und regiert hätten. Bei dem an
und für sich einwandfreien Begehren, den Worten unseres
Herrn im 18. Berse entsprechend zu handeln, hat man
vielleicht auch den Inhalt des Id. Verses nicht genügend
beachtet und vergessen, daß mit dem ernsten, gemeinsamen
Bitten der zwei miteinander Übereinkommenden das: „da
bin ich in ihrer Mitte" genau so verbunden ist wie mit
den im 18. Verse beschriebenen Handlungen. Das Geschehene
beweist aber nichts für oder wider die in Rede
stehenden Grundsätze. Möchten nur alle daraus lernen
und, im Bewußtsein, daß sie selbst nichts sind und
nichts vermögen, daß aber Gott, heute wie immer, über
alle Hilfsquellen der Gnade verfügt, sich stützend auf
Ihn, der alles Nötige zu ihrer Leitung und Belehrung darreichen
will, das tun, wozu Sein Wort sie anleitet bezw.
bevollmächtigt! So nur können sie vor weiterem Irre-
gehen und Fehlen bewahrt werden.
70
Wie einst dem jüdischen Überrest in Esras Tagen,
so ruft Gott auch uns heute zu: „R ich t e t e u er H erz
auf eure Wege!" Wie sind im Laufe der Jahre die
Zustände schwächer und niedriger geworden! Wo sind die
erste Frische und die erste Liebe, welche die Träger des Zeugnisses
im Anfang kennzeichneten? Müssen wir nicht alle
unsere Augen tiefbeschämt niederschlagen? Aber Gott sei
gepriesen! Er hat sich nicht verändert, und wenn die
Seinigen auf Ihn „höre n" und sich vor Ihm „f ü r ch-
t e n", so wird Er sie auch heute erfahren lassen, daß Er
voll vergebender und wiederherstellender Gnade ist, und
daß Sein Wort und Sein Geist auch heute noch in ihrer
Mitte bestehen; ja, Er wird ihnen zurufen, wie einst dein
kleinen, schwachen Überrest in Haggais Tagen: „Seid stark
und arbeitet! ... Fürchtet euch nicht!"
Das Wort: „Wo zwei oder drei zu meinem Namen
hin versammelt sind, da bin ich in ihrer Mitte",
hat unser hochgelobter Herr wohl ganz besonders gesprochen
im Blick auf die Tage kleiner Dinge und einer kleinen
Kraft, in denen wir leben. Mehr bedarf ein Herz nicht,
das Ihn liebt und kennt. Er ist genug für alles. Laßt
uns darum, abgesondert von der Welt und ihren Dingen
in jeder Beziehung und Form, um Ihn allein uns scharen,
der uns geliebt und sich selbst für uns hingegeben hat!
Tröstlicher vielleicht als je richtet sich an alle, die Sein
Wort zu bewahren und Seinen Namen nicht zu verleugnen
begehren, die Verheißung: „Ich komme bald!"
aber auch wohl eindringlicher als je die Aufforderung:
„Halte fest, was du hast, auf daß niemand deine
Krone nehme!" (Offbg. Z, 77.)
— 74 —
Kwetmal gerufen
ii.
Eö ist wohl nicht von ungefähr, daß die meisten zweimaligen
Rufe eines Menschen seitens des Herrn zu Zeiten
geschahen, die durch wichtige Wandlungen in den Ne-
gierungs- oder Verwaltungswegen Gottes gekennzeichnet
sind und deshalb besondere Abschnitte in Seinen Handlungen
mit dem Menschen bedeuten.
In Abraham erblickten wir den Gegenstand der
auserwählenden Gnade Gottes, die aus der von Ihm
abgefallenen und entfremdeten Welt den Vater jenes Volkes
berief, das, von allen Völkern der Erde durch den
Bund der Beschneidung abgesondert, Ihm dienen und als
Sein Eigentumsvolk von Ihm zeugen sollte. — Jakob,
der zweite der von Gott zweimal Gerufenen, verläßt das
seinem Großvater gezeigte und gelobte Land, in welchem
dieser zwar nur als „Fremdling und Beisasse" geweilt
hatte, und zieht nach Ägypten, tut also etwas, wovor
Abraham und Isaak ernstlich gewarnt worden waren; aber
er tut es, wie wir sehen werden, unter der Leitung der Vorsehung
des 'Gottes, der „Seinen Sohn, Seinen Erstgebo­
renen" (2. Mose 4, 22. 2Z; Hos. Il, 4), aus Ägypten,
dem Knechtshause, berufen wollte. Israel zog, „als
es jung war", nach Ägypten — Mose, der dritte in der
Reihe, ist der Prophet, durch den Gott Israel aus Ägypten
wieder heraufführte und in der Wüste hütete (Hos. 72,
44), der Mittler, durch den Jehova mit dem Volke redete,
und unter dessen Leitung es erst zu dem erlösten und
für Gott abgesonderten Volke wurde, wozu es bestimmt
72
war. — Samuel endlich, der vierte der Gerufenen,
wurde zu einer Zeit erweckt, als das noch ohne König im
Lande wohnende Volk seine ursprüngliche Beziehung zu
Gott verloren hatte, als das Hohepriestertum, das einzige
Bindemittel zwischen Gott und dem Volke vermittelst
der in seiner Mitte weilenden Bundeölade, auf dein Punkte
seines tiefsten Niedergangs angelangt war und aufhören
sollte, die Grundlage deö Verhältnisses zwischen Jehova
und Israel zu bilden. Gottes Strafgericht kam über das
Haus Elis, deö damaligen Hohenpriesters, sowie über das
ganze Volk, die Bundeslade fiel in die Hände der Feinde,
und Gott erweckte sich in Samuel einen anderen, „treuen
Priester", der all Sein Wohlgefallen ausführen und „vor
Seinem Gesalbten (dem König) wandeln würde alle
Tage". (7. Sam. 2, Z5.) Samuel, der „Prophet", war
fortan der einzige, durch den Gott mit Seinem Volke verkehrte,
bis in dem Königtum Davids eine neue Grundlage
Seines Verhältnisses zu Israel geschaffen wurde.
Die neutestamentlichen Fälle einer spätereil Besprechung
vorbehaltend, wollen wir uns jetzt ein wenig mit
Jakob, dem Enkel Abrahams, beschäftigen.
„Jakob! Jakob!"
Dürfen wir in Isaak, den: Sohne Abrahams, ein
liebliches Bild unseres anbetungswürdigen Herrn sehen,
als deö Eingeborenen vom Vater, deö fleckenlosen, von
Gott zuvorbestimmten Lammes, und, nach seiner bildlichen
Auferstehung, als des „Erbe:: aller Dinge", so tritt
in Jakob, dem „Ferscnhalter" oder „llberlister", ein Mann
vor unsere Blicke, der, wie vielleicht kein anderer, unö zeigt,
was das menschliche Herz, selbst in einen: Gläubigen, ist:
73
„arglistig, mehr alö alles, and verderbt, wer mag eS
kennen?" (Zer. 77, y) trotzig und verzagt, trügerisch
nnd voller Ränke. Zeigt uns ferner die Geschichte Abrahams,
was die Gnade in einem treuen Gläubigen zu wirken
und wie sie sich in einen: schwachen Gefäß zu verherrlichen
vermag, so läßt uns die Geschichte Jakobs Blicke
tun in die unerschöpflichen Reichtümer dieser Gnade in
derErziehung eines Menschen, in der Bewahrung, Zurechtbringung
und endlichen Wiederherstellung eines allezeit
widerstrebenden Gläubigen. Die Gnade kann nicht anders
alö sich verherrlichen, aber wie sollten wir begehren, mehr
dem Abraham zu gleichen alö dem Jakob!
Am Ende seines wechselreichen, mühevollen Lebens
stehend, wird Jakob immer einsamer. Debora, die Amme
seiner Mutter Rebekka, wohl die treue Hüterin seiner Kindheit,
ist gestorben. Die Geburt Benjamins hat seinem
geliebten Weibe Rahel das Leben gekostet. Joseph, der
von allen seinen Söhnen am meisten geliebte, ist nach
Jakobs Meinung von einem wilden Tier zerrissen worden.
Dazu kommt eine schwere Hungersnot über das
Land. Die Söhne wandern nach Ägypten, um Getreide
zu kaufen, müssen Simeon gefangen dort zurücklassen und
fordern Benjamin als Begleiter für die zweite Reise. —
Ganz erschüttert und gebrochen jammert Jakob: „Dies
alles kommt über mich!" Ach, er sieht nicht, daß
Gottes Hand in allem ist, die ernste, züchtigende Hand des
ewig Treuen, der schließlich aus den schweren Prüfungen
doch nur Gutes für Seinen Knecht hervorgehen lassen
will!
Die Söhne ziehen nochmals nach Ägypten hinab und
— kehren zurück, nicht nur mit Simeon und Benjamin in
74
ihrer Mitte, sondern auch mit der Kunde: „Joseph
lebt noch, und er ist Herrscher über das ganze Land
Ägypten". Da erstarrte Jabobs Herz, denn er glaubte
ihnen nicht. (4. Mose 45, 26.) Aber als dann die Söhne
„alle Worte Josephs, die er zu ihnen geredet hatte", dem
Vater berichteten — und das ging sicherlich nicht ab ohne
ein aufrichtiges Bekenntnis der so lang verschwiegenen
bösen Tat — und als er die Wagen sah, die sein Sohn
Joseph gesandt hatte, da lebte sein Geist auf. „Genug!"
sagt er, „Joseph, mein Sohn, lebt noch! Ich will hinziehen
und ihn sehen, ehe ich sterbe."
So einfach die Erzählung ist, so ergreifend ist sic
auch. Versuchen wir, uns ein wenig in die bis auf den
Grund aufgewühlten Gefühle des Vaterherzens hinein zu
versetzen. Auf der einen Seite die erstmalige Erkenntnis
des entsetzlichen Verhaltens der Söhne ihm, dem betagte::
Vater, gegenüber, einer Gefühllosigkeit und Lügenhaftigkeit
sondergleichen! Auf der anderen die Gewißheit: Joseph,
mein Sohn, lebt noch! Ja, nicht nur das, Gott hatte
aus dem Bösen Gutes hervorkommen lassen, zum Heil
der ganzen Familie. Joseph war der zweite nach dem
mächtigen Pharao von Ägypten, „der Erhalter der Welt",
und Gott hatte ihm Gnade geschenkt, so mit seinen Brüdern
zu handeln, wie es zu ihrer Wiederherstellung nötig
war. Wahrlich, das hatte er von ihm, dem Vater, nicht
gelernt! Wie im Fluge zogen wohl die zweiundzwanzig
Jahre, die seit der Aussendung Josephs nach Sichem verflossen
waren, an dem Geistesauge Jakobs vorüber —
einsame Jahre voll ungestillter Sehnsucht, voll Schmerz
und Trauer! Nun sind sie zu Ende! Die Nacht ist vorüber,
die Sonne geht auf!
75
Wollen wir es dem greisen Patriarchen verargen,
wenn der Gedanke an Joseph für den Augenblick alle anderen
zurücktretcn läßt? Jnr Gegenteil, wir verstehen es
nur zu gut. In aller Eile werden die nötigen Vorbereitungen
getroffen, und zum drittenmal, diesmal mit Weibern
und Kindern, der alte Vater mit jugendlichem Eifer
an der Spitze, ziehen die Söhne Israels nach Süden hinab.
In Beerseba, dem letzten bedeutenderen Ort diesseit der
Grenze Ägyptens, der Wohnstätte Abrahams nach der
Opferung Isaaks (Kap. 22, 79), wird Halt gemacht, und
Jakob „opfert Schlachtopfer dem Gott seines Vaters
Isaak". (Kap. 46, 7.) Das war im Überschwang der Gefühle
vor der Abreise vergessen worden. Der Geist Jakobs
findet allmählich sein Gleichgewicht wieder. Damit aber
erwachen auch ernste Fragen, bange Zweifel in seinem
Innern. War er jetzt wohl auf richtigem Wege? Verfolgte
er nicht wieder einen eigenen Pfad? Hatte Gott seinem
Vater Isaak nicht ausdrücklich geboten: „Ziehe nicht
nach Ägypten hinab"? (Kap. 26, 2.) Und hatte Er nicht
auch ihm und seinem Samen das Land Kanaan zum
Eigentum gegeben? (Kap. Z5, 72.) Und nun zog er,
seinen Vatergefühlen folgend, nach Ägypten hinab! Mochten
diese Gefühle menschlich auch ganz berechtigt sein, vor
Gott hatten sie doch wohl kaum Wert!
Wir verstehen diese Fragen und freuen uns darüber.
Ganz gewiß waren sie Gott wohlgefällig. Darum erscheint
Er Jakob auch in einem Nachtgesicht, und — „Jakob!
Jack ob!" so tönt es laut ins Ohr und Herz des
bekümmerten Patriarchen. „Hier bin ich", ist die unmittelbare
Antwort, und nun darf Jakob die wunderbaren
Worte hören: „Ich bin Gott, der Gott deines Vaters
7b
Isaak; fürchte dich nicht, nach Ägypten hinabzu-
ziehen, denn zu einer großen Nation will ich dich daselbst
machen. I ch will mit dir nach Ägypten hinabziehen, und
ich will dich auch gewißlich heraufführen; und Joseph
soll seine Hand auf deine Augen legen." (V. 3. 4.)
Ein Gesicht des Herrn, an und für sich schon etwas
Besonderes, war für Jakob ein ganz außergewöhnliches
Ereignis. Ach! er wandelte nicht gewohnheitsgemäß vor
dem Angesicht Jehovas, wie sein Vater Abraham es getan;
er hatte jedesmal ein Denkmal aufgerichtet, wenn
Jehova ihm auf dem Wege erschienen war. In den Jahren,
die seit dem Verlust seines geliebten SohneS verflossen
waren, hatte er, soweit wir wissen, keine Begegnung
mit Gott gehabt. Welch ein Beweis der treuen, unveränderlichen
Gnade Gottes war es deshalb, daß sie gerade
jetzt ihm zuteil wurde — jetzt, wo er, infolge der göttlichen
Führungen und bestürmt von den widersprechendsten
Gefühlen, die Gegenwart Gottes wiedergefunden hatte!
Zwar nannte Jehova ihn nicht, wie es einst bei Abraham
geschehen war, bei seinem neuen Namen — Jakob hatte
sich wahrlich nicht als „Kämpfer Gottes" oder als „Überwinder"
geoffenbart. Nein: Jakob! Jakob! so hört
er sich rufen. Aber war es nicht wiederum überströmende
Gnade, die ihn gerade in der gegenwärtigen Lage mit seinen:
menschlichen Namen rief und damit solch tröstende, ermunternde
Worte verband? O wie groß, wie anbetungswürdig
ist unser Gott! Wie vermag Er anzuerkennen, zu
trösten, zu mahnen, zu warnen — und immer zur rechten
Zeit mit dem rechten Wort! Hier war Ermunterung am
Platze, und siehe da, der „Gott der Ermunterung", der
Gott, „der allen willig gibt und nichts vorwirft",
77
erscheint auf dem Schauplatz, und „der Gott seines Vaters
Isaak" ruft dem verzagenden Patriarchen zu:
„Fürchte dich nicht, ich bin mit di r". (Vergl. Hagg.
2, 4. 5; Apgsch. 48, y. 40; 23, 44.)
Ja, Gott will nicht nur mit Seinem Knechte nach
Ägypten hinabziehen, Er will ihn gerade dort (wo
Jakob es am wenigsten erwarten konnte) zu einer großen
Nation machen und ihn dann gewißlich wieder herauf-
führen. Wunderbare Offenbarungen Gottes für ein
so schwaches Gefäß, wie Jakob war! Aber vergessen wir
nicht, ein gebeugter, sich fürchtender und seine Wege verurteilender
Mann steht vor uns, und will Gott nicht
„blicken auf den Elenden und den, der zerschlagenen Geistes
ist und der da zittert vor Seinem Wort"? (Jes. 66, 2.)
Einen solchen läßt Gott Seine Gedanken wissen, ihn,
teilt Er Seine geheimen Ratschlüsse über Israel, Sein auserwähltes
Volk, mit. Und in unmittelbarer Verbindung
damit, in überaus rührender Berücksichtigung der menschlichen
Gefühle Jakobs, fügt der Herr hinzu: „Und Joseph
soll seine Hand auf deine Augen legen" — dein
geliebter, so lang und so schmerzlich vermißter und mm
wiedergefundener Sohn soll dir den letzten Liebesdienst erweisen,
soll dir die Augen zudrücken!
Wo ist ein Gott wie unser Gott, mag Er anerkennen
oder verurteilen, züchtigen oder trösten? Ein Gott, l a n g-
sam zum Zorn, aber reich an Güte und Erbarmungen,
allezeit bereit, zu vergeben! Er läßt sich finden von
solchen, die Ihn nicht suchten, und: „Hier bin ich, hier
bin ich!" so ruft Er (auch zweimal) in erbarmender,
eilenderLiebe einer Nation zu, die nicht mit Seinen:
Namen genannt war. (Jes. 65, 4.)
78
Von jener Stunde an wird Jakobs Geschichte eine
andere. Gott ist ihm nicht umsonst begegnet, hat ihn nicht
vergeblich gerufen. Fortan ist Jakob wirklich ein Fremdling
auf Erden, der nichts anderes mehr sucht als die
Verherrlichung Gottes, und der von Gott benutzt werden
kann zum Segen für andere. Noch siebenzehn Jahre
lebt er in Ägypten. (Kap. 47, 28.) Hundertunddreißig
Jahre war er alt, als er vor den Pharao trat und ihn
zweimal segnete, bei seinem Kommen und bei seinem Gehen
— der einfache Hirt aus Kanaan segnet den damals
gewaltigsten Fürsten der Welt, „das Bessere das
Geringere", nach Gottes Ordnung. (Hebr. 7, 7.) Was
ist irdischer Glanz fernerhin noch für Jakob? Alle die
Schätze Ägyptens haben keinen Reiz mehr für ihn. Still
verbringt er seine letzten Tage, ohne die Macht und den
Einfluß Josephs für sich auszunutzen, und „sterbend segnet
er einen jeden der Söhne Josephs und betet an über der
Spitze seines Stabes". (Hebr. 77, 27.) Bei dieser Gelegenheit
überragen sein Glaube und seine geistliche Einsicht
sogar die seines Sohnes Joseph: er segnet den jüngeren
vor denr älteren, indem er seine Hände kreuzt und
Ephraim, trotz des Einspruchs Josephs, das reichere Teil
gibt. (Kap. 48.)
Beiläufig sei auf den fortwährenden Wechsel der Namen
„Jakob" und „Israel" in dieser Stelle hingewiesen.
Man berichtet dem Jakob, daß sein Sohn Joseph
komme, um ihn zu besuchen, und dann macht Israel
sich stark und setzt sich aufs Bett. Jakob spricht zu
Joseph über Gottes Verheißung an ihn, über die Aufnahme
der beiden Söhne Josephs in die Reihe seiner Kinder
und über den Tod Rahels, und dann verkündet I s -
79
rael im Namen Jehovas den Segen über die Knaben
und gibt Joseph einen Landstrich „über seine Brüder hinaus".
Und wenn er im Anschluß daran die übrigen Söhne
zusammenrufen läßt, um als Prophet Jehovas ihnen zu
verkündigen, was ihnen in künftigen Tagen (oder am Ende
der Tage) begegnen würde, hören wir ihn sagen: „Kommet
zusammen und höret, ihr Söhne Jakobs, und höret
auf Israel, euren Vater!" Und nachdem Is ra e l „die
zwölf Stämme" gesegnet hat, einen jeden nach seinem
Segen", und Jakob geendet hat, seinen Söhnen Befehle
zu geben betreffs der Bestattung seines Leibes in
der Höhle Machpela im Lande Kanaan, zieht er seine Füße
aufs Bett und wird versammelt zu seinen Völkern.
(Kap. 49.)
Unwillkürlich werden wir an das Wort erinnert: „Wo
ist, o Tod, dein Stachel? Wo ist, o Tod, dein Sieg?"
Der Pilgerlauf Jakobs war beendet, seine Tagesarbeit
vollbracht, und strahlend, in majestätischer Ruhe, versinkt
die Sonne hinter dem Horizont.
War Jakobs Weg auch gekennzeichnet durch mancherlei
Verkehrtheiten und Torheiten, ja, mochte er eine
fast ununterbrochene Kette von Verirrungen und Iurecht-
bringungen bilden, das Ende war herrlich, ein glorreicher
Ausgang, zur Ehre Gottes, „des Mächtigen Jakobs".
Gott sei Dank für alle Seine Sorgfalt und Seine große
Geduld mit uns! Wir haben so wenig Geduld, dagegen viel
Sorge und Unruhe. Die kleinste Schwierigkeit zeigt uns, w i e
schwach wir sind. Aber unser Gott „kennt unser Gebilde, ist eingedenk,
daß wir Staub sind". Er ist treu und läßt uns nicht
über Vermögen versucht werden.
80
Sie glückliche Hanne und ihr Geheimnis
In einenr armseligen, altersschwarzen Hause außerhalb
der Stadt lebte eine ältere, alleinstehende Frau. Sie
war fast erblindet, dazu gelähmt und mißgestaltet. Angehörige
hatte sie nicht, noch irgend einen Menschen, der
sich in Liebe um sie bekümmert hätte. Ihren kärglichen
Unterhalt erwarb sie sich durch Stricken und Spinnen und
durch den Ertrag ihres kleinen Obstgartens am Hause.
Wenig beneidenswert, wie die äußere Lage der Witwe
auch war, einen großen Schatz besaß sie doch, und das
war ein allezeit glückliches, zufriedenes Herz. Heiter und
fröhlich war ihr Wesen am Morgen wie am Abend, und
aus ihrem freundlichen Gesicht sprach so viel tiefer Herzensfriede,
daß sie im ganzen Orte bekannt war unter dem
Namen „die glückliche Hanne".
Hanne war ein Kind Gottes. Gerechtfertigt durch
den Glauben an Christum, besaß sie Frieden mit Gott.
Wie groß und wunderbar ist es, Vergebung der Sünden
und damit die Gewißheit einer ewigen Errettung in Christo
Jesu zu besitzen! Aber dabei war Hanne nicht stehen geblieben.
In einfältigem Glauben verwirklichte sie die wunderbaren
Verheißungen des Wortes Gottes, die den Glaubenden
geschenkt sind, indem sie täglich aus dem tiefen,
klaren Quell des lebendigen Wortes schöpfte. So genoß
sie den „Frieden Gottes, der allen Verstand übersteigt",
und dieser Friede lag auf ihrem Antlitz, auch dann wenn
die äußeren Umstände nicht eben leicht und glücklich für
sie waren.
„Wie kommt es, Hanne", fragte einmal ein Besu
-Lo­
cher, der gelegentlich bei ihr vorsprach, „daß Sie immer
singen können? Ist es Ihnen denn immer so fröhlich
zumute?"
„O ja, ich könnte immer singen."
„Würden Sie mir das Geheimnis nicht verraten,
weshalb Sie so glücklich sind? Sie stehen doch ganz allein
in der Welt, müssen sich von morgens bis abends tüchtig
plagen und kennen von den Annehmlichkeiten des Lebens
gar wenig. Woher kommt es denn, daß Sie anscheinend
nie traurig sind?"
„Vielleicht," erwiderte Hanne, „weil ich nichts und
niemand habe als nur den Herrn Jesus. Denn,
sehen Sie, reiche Leute wie Sie sind leicht abhängig von
ihrer Umgebung, ihren Familien und ihrem Besitz. Sie
sind besorgt und beunruhigt um viele Dinge. Ich besitze
nichts, worüber ich mich beunruhigen könnte, und überlasse
alles dem Herrn."
„Das ist alles recht und gut, Hanne; aber nehmen
wir einmal an, ein Frost würde kommen, wenn Ihre
Obstbäume gerade in der Blüte stehen, und würde alles
verderben; nehmen wir an —"
„Ich nehme gar nichts an", unterbrach Hanne lä­
chelnd. „Ich habe nicht nötig, etwas anderes anzunehmen,
als daß der Herr alles gut machen wird. Gerade
das macht euch Leute immer unglücklich; ihr „nehmt" immerfort
„an". Warum könnt ihr nicht warten, bis es
wirklich kommt, um es alsdann aus Gottes Hand zu nehmen
und das Beste daraus zu machen?"
Hatte Hanne nicht recht? Beschweren und beunruhigen
wir uns nicht oft durch tausenderlei Dinge, mit denen
wir in Wirklichkeit gar nichts zu tun haben? Anstatt uns
82
und unsere Umstände ruhig dem Herrn zu überlassen, ängstigen
wir unsere armen Herzen mit sorgenden Vermutungen,
mit Schwierigkeiten, von denen wir „annehmen",
daß sie eines Tages über uns kommen könnten. Sollten
wir nicht lieber alle unsere Sorgen auf Ihn werfen, der
verheißen hat, für uns besorgt zu sein? Wie verun-
ehrend ist es für den Herrn, uns so besorgt und beunruhigt
zu sehen, da Er uns doch so unaussprechlich liebt und uns
zuruft: „Seid um nichts besorgt!" — „Seid nicht besorgt
für das Leben... betrachtet die Raben... betrachtet
die Lilien . . . und seid nicht in Unruhe . . . euer Vater
weiß, daß ihr dieses bedürfet." Durch unser Sorgen
setzen wir Ihn mit all Seiner Hclfermacht und Seinem
liebenden Herzen, dem es Bedürfnis ist, uns Seine Liebe
immer neu zu offenbaren, beiseite und mißachten den Trost
Seiner Verheißungen. Unruhe und Sorgen sind die geeigneten
Werkzeuge in der Hand des Feindes, um unsere
Herzen dem Herrn zu entfremden. Sie »rachen uns kurzsichtig
und blind und lassen uns den Glauben verleugnen.
Aber ein kurzsichtiger oder gar blinder Christ kann Sein
Herz nicht befriedigen, denn „ohne Glauben ist es unmöglich,
Ihm wohlzugefallen". Möchten wir uns denn
allezeit prüfen, ob wir Ihm Wohlgefallen!
Das Geheimnis der glücklichen Hanne bestand in
einer ununterbrochenen Gemeinschaft mit dem Herrn. Ihr
Herz war von Ihm erfüllt und ihr Auge auf I h n gerichtet.
Wie Maria zu Seinen Füßen sitzend und auf
Seine Unterweisungen lauschend, lernte sie Ihn kennen
und wußte, daß Er vollkommen genug war, um allen
ihren Bedürfnissen zu begegnen. Und die kostbaren Erfahrungen
von Seiner Huld und Freundlichkeit, die ihr Glaube
8Z
machen durfte, machten ihr Herz warm in inniger Gegenliebe
zu Ihm. So stützte sie sich mit ungeteiltem Vertrauen
auf Seinen mächtigen Arm in der Überzeugung, daß
Eralles gut machen würde. Etwas anderes konnte rind
wollte sie nicht annehmen. „Ich habe nichts und niemand
als nur den Herrn!" so sagte sie, und da sie nebenIhm
nichts besaß, konnte ihr Herz stets sorglos, glücklich und
zufrieden sein, weil sie inIhm alles besaß. Die himmlischen
Dinge, die ihr Herz ausfüllten, ließen sie Freude
und Wonne genießen, und indem sie immer wieder Jesum
in Seiner vollkommenen Schönheit betrachtete, leuchteten
Seine Tugenden aus ihrem Handeln und Wesen hervor.
So konnte „der Gott des Friedens" mit ihr sein, und so
war sie „die glückliche Hanne".
Ist dieses beneidenswerte Los nur wenigen, besonders
bevorzugten Kindern Gottes bestimmt?
welche XP<rg<r soll Ich gehn?
Welche Wege soll ich gehn,
Welches Ziel erstreben?
Welche Höh'n soll ich ersehn
In dem Crdenleben?
Oftmals hab' ich so gefragt
In vergang'nen Tagen;
Bin viel Eitlem nachgejagt.
Haschend Wind und Plagen.
Aber nunmehr steh' ich da.
Wo die Gnaden fließen,
Gottes Vaterherzen nah —
Seliges Genießen!
Möchte nie zurück mehr schaun
Nach der Erde Freuden,
Nun auf Gottes grünen Au'n
Lieb' und Güt' mich weiden! H. B.
84
Ein bemerkenswertes Zeugnis
Aus dem Vorwort einer alten Live! I1720) von l)r. Martin Luther
über die Offenbarung
„Den Inhalt dieses Buches betreffend, so ist eö eine
Weissagung nicht nur von den sieben asiatischen Gemeinden,
über welche Johannis die Aufsicht gehabt, sondern
auch von der ganzen christlichen Kirchen und deren un-
derschiedlichen begegnüssen, Verfolgungen und errettung...
Die Auslegung dieser hohen und geheimnüßreichen Offenbarung
ist von allen Gottesgelehrten jederzeit für schwer
gehalten worden, und hätten wir auch gewünschet, derselben
überhoben zu bleiben; alleine weilen sichs in diesem
Bibelwerk nicht wohl würde geschickt haben, so ein herrliches
Buch gar mit stillschweigen zu übergehen, und die
betrachtung desselben von dem Geist Gottes austrücklich
anbefohlen wird: „Selig ist, der da liefet und die da
hören die Worte der Weissagung, und behalten, waö darinnen
geschrieben ist", haben wir uns wohl bequemen
müssen, begehren aber unsere auslegung eben niemand in
allen stücken aufzudringen, sondern nur zu zeigen, was
uns bis anjetzo am natürlichsten und vernünftigsten vorgekommen:
Nemlich, daß betreffend das erste gesicht, die
sendschreiben an die sieben Gemeinden in Asia (welche der
Johanni in seinem elend auf Insel Pathmos in überaus
majestätischer gestalt erschienene Sohn Gottes demselbigen
an sie abgehen zu lassen befohlen), eigentlich nur den zustand
dieser Gemeinden entworffen, gleichwol aber
dieselben als ein bild der christlichen Kirchen
in künftigen zeit en angesehen werden
möge n."
Zweimal gerufen
in.
Jehova hatte einst zu Abraham gesagt gelegentlich des
Bundes, den Er mit ihm schloß: „Gewißlich sollst du wissen,
daß dein Same ein Fremdling sein wird in einem
Lande, das nicht das ihre ist; und sie werden ihnen dienen,
und sie werden sie bedrücken vierhundert Jahre. Aber ich
werde die Nation auch richten, welcher sie dienen werden;
und danach werden sie ausziehen mit großer Habe."
(1. Mose 15, 13. 14.) Im Anfang des 46. Kapitels
wandert Jakob dann mit seiner ganzen Familie nachAgnp-
ten hinab, und im Beginn des 2. Buches Mose wird uns
berichtet, wie schwer der Dienst 'auf den Schultern seiner
Nachkommen lastete, und wie sie „seufzten wegen des
Dienstes und schrieen". Und ihr Geschrei „stieg hinauf
zu Gott. Und Gott hörte ihr Wehklagen und gedachte
Seines Bundes mit Abraham, mit Isaak und mit Jakob;
und Gott sah die Kinder Israel und nahm Kennt-
n i ö von ihnen". (2. Mose 2, 23—25.) Hatte Er doch
zu Jakob in Beerseba gesagt: „Ich will mit dir nach Agnp-
ten hinabziehen, und ich will dich auch gewißlich heran
f f ü h r c n".
Gottes Wort ist treu, und Seine Verheißungen sind
unbereubar. Darum, „als die Zeit der Verheißung nahte,
welche Gott dem Abraham zugesagt hatte . ., wurde Moses
geboren, und er war ausnehmend schön". (Apstgsch. 7,
17 ff.) So berichtet Stephanus, und derselbe Heilige
UXXÜI 4
86
Geist, der ihn erfüllte, läßt uns durch den Schreiber des
Hebräerbriefes wissen: „D urch Glauben wurde Moses,
als er geboren wurde, drei Monate von seinen Eltern
verborgen, weil sie sahen, daß das Kindlein schön war;
und sie fürchteten das Gebot des Königs nicht. Durch
Glauben weigerte sich Moses, als er groß geworden
war, ein Sohn der Tochter Pharaos zu heißen, und wählte
lieber, mit dem Volke Gottes Ungemach zu leiden, als
die zeitliche Ergötzung der Sünde zu haben." (Hebr. tt,
23—25.)
Zu Seiner Zeit erweckt Gott die passenden Werkzeuge
zur Ausführung Seiner Absichten, schenkt ihnen d- nötigen
Glauben und bereitet sie für Seinen Dienst zu. Mag
auch der Glaube in Moses Eltern unklar gewesen sein,
aber er wurde recht geleitet und war Gott wohlgefällig.
Und gab es anderseits auch viel Eigenwilliges, Fleischliches
in dem ersten Auftreten Moses, so handelte er doch aus
Liebe zu seinem Volke, in der Meinung, „seine Brüder
würden verstehen, daß Gott durch seine Hand ihnen Rettung
gebe". Auch nachher, während seines Aufenthaltes
in der Wüste von Midian, beweist der Name, den er seinem
erstgeborenen Sohne gab, wo sein Herz weilte. (Vergl.
Kap. 2, 22.) Midian war das Land der Fremdlingschaft
für ihn. Weib und Kind konnten ihm sein Volk nicht ersetzen;
und dabei gab es wahrlich nicht viel Anziehendes in
Israel! Aber eö war das Volk Gottes, und die
Schmach, die Mose um seinetwillen auf sich nahm, wird
die Schmach Christi genannt. Als die Erziehung für
den großen Auftrag, den Mose erfüllen sollte, vollendet
war — vierzig lange Wüstenjahre waren dazu nötig —
gedachte Gott Seines armen, seufzenden Volkes. Nicht
7
daß eö zu 3hm geseufzt und geschrieen hätte — anscheinend
war daü gar nicht der Fall — aber seine Not war
groß, sein Druck schwer, und es erbarmte Gott seiner.
Man sollte meinen, nach dem Vorangcgangencn bei Mose
ähnliche Gefühle erwarten zu dürfen. Der lange Aufenthalt
in der Einsamkeit der Wüste, bei den Herden seines
Schwiegervaters Jcthro, wäre wohl dazu angetan gewesen,
nicht nur Härte und Selbstvertrauen aus ihm zu entfernen,
sondern auch sein Herz mit Abhängigkeit und Glauben zu
erfüllen. Aber ach! das Herz des Menschen, „w e r in a g
eö kennen"?!
„Und Mose weidete die Herde JethroS . . . und er
trieb die Herde hinter die Wüste und kam an den Berg
Gotteö, an den Horeb. Da erschien ihm der Engel Jehovas
in einer Feuerflamme mitten aus einem Dornbusch; und
er sah: und siehe, der Dornbusch brannte im Feuer, und
der Dornbusch wurde nicht verzehrt." (Kap. Z, 7. 2.)
Welch ein wunderbares, ja, überaus seltsames Gesicht!
Ein brennender Dornbusch in der Wüste! Was macht man
mit einem Dornbusch? Liest man Trauben oder Feigen
von ihm? Ist sein Holz zu irgend etwas tauglich? Oder
setzt man ihn als Zierstrauch oder dergleichen irgendwohin?
Nichts von alledem: „Die Söhne Belials sind allesamt
wie Dornen, die man wegwirft; denn mit
der Hand faßt man sie nicht an, . . . und mit Feuer werden
sie gänzlich verbrannt an ihrer Stätte". (2. Sam. 23,
b. 7.) Dornen und Disteln sind eine Folge der Sünde!
Der Dornstrauch ist also gefährlich für Hand und Kleider,
lästig da wo er steht und schwer auörottbar, zu nichts anderem
tauglich, als verbrannt zu werden! Und ein solcher
Strauch bildet hier die Stätte der Erscheinung des Engels
88
Jehovas! Mitten aus dem Dornbusch heraus loht die
verzehrende Flamme, und dabei, Wunder über Wunder!
obwohl der Dornbusch „i in Feuer brennt", wird er doch
nicht verzehrt!
Es ist nicht gleichgültig, wie Gott sich offenbart.
Er ist freilich der unumschränkte Gott, und niemand darf
zu Ihm sagen: Warum tust du also? Aber gerade weil
Er das ist, wird Er, der unumschränkt Weise, sich auch
stets so offenbaren, wie es der Stunde angemessen ist und
der Gelegenheit dient. So war es auch hier. Nicht um
die Aufmerksamkeit Seines Knechtes auf sich zu ziehen
oder seine Verwunderung zu wecken, erscheint Jehova in
einem brennenden Busche; o nein. Seine Absichten sind
tiefer, ernster, und darum, wenn Mose neugierig hinzutreten
und einmal zusehen will, wie sich doch dieses seltsame,
nie gesehene Schauspiel erklären lasse, ertönt mitten
aus dem Dornbusch heraus der laute, warnende Ruf:
„Mose! Mose!"
Die zweimalige feierliche Nennung seines Namens
unter diesen Umständen und an dieser Stätte hat gewiß
einen gewaltigen Eindruck auf Mose gemacht. „Hier bin
ich!" antwortet er. War Gott ihm schon früher einmal
begegnet? oder hörte er heute zum erstenmal die Stimme
Jehovas? Wir wissen eö nicht, wahrscheinlich aber ist
das letztere der Fall. „Nahe nicht hierher! Ziehe
deine Schuhe aus von deinen Füßen, denn der Ort, auf
dem du stehst, ist heiliges Land." (V. S.) Ehrfurcht,
heilige Ehrfurcht geziemt sieh für das Geschöpf seinem
Schöpfer gegenüber. Selbst die Seraphe, diese heiligen
himmlischen Wesen, bedecken ihre Angesichter und ihre
84
Füße, wenn die Herrlichkeit des dreimal heiligen Gotteö
erscheint, und der Prophet Jesaja ruft: „Wehe mir! denn
ich bin verloren..., denn meine Augen haben den
König, Jehova der Heerscharen, gesehen". (Jes. 6, t—5.)
Der Ruf Gottes hat denn auch hier zunächst wohl keinen
anerkennenden oder tröstenden, sondern eher einen ernst
warnenden Klang. „Heilig, heilig, heilig ist Jehova der
Heerscharen, die ganze Erde ist voll Seiner Herrlichkeit",
so tönt eö Mose gleichsam entgegen. „Ziehe deine
Schuhe aus von deinen Füßen", der „Heilige Israels"
steht im Begriff, mit dir zu reden! Nicht Wißbegierde oder
gar Neugier, sondern heilige Scheu geziemt sich für dich.
Gott sei gepriesen für solche Mahnung! Auch wir
werden immer wieder daran erinnert, daß der Gott, den
wir als Vater anrufen, der heilige Gott ist, der ohne
Ansehen der Person richtet nach eines jeden Werk. „Denn
auch unser Gott ist ein verzehrendes Feuer." Möchten
wir daö nie vergessen! Die Erinnerung ist heilsam und
notwendig auch für die besten unter uns, denn gerade die
Stunden seligsten Genusses und tiefsten Eingehens in Gottes
wunderbare Gedanken sind Zeiten der gründlichsten Verwirklichung
der Heiligkeit Gottes. Dann „erfreut si ch
die Seele deö Lichtes", und man ahnt ein klein wenig von
dem, was Paulus im dritten Himmel gehört haben mag.
Doch der Leser wird fragen: Was ist denn die eigentliche
Bedeutung deS „großen Gesichts"? Will Gott
Seinen Knecht nur an Seine Heiligkeit erinnern und Furcht
in seinem Innern wecken? Daß Mose sein Angesicht verbarg
und sich fürchtete, Gott anzuschauen (V. b), war
recht und gut, aber um daö allein zu erreichen, wäre ein
Dornbusch in der Wüste, der im Feuer brannte und doch
90
nicht verzehrt wurde, ein eigentümliches Mittel gewesen.
Nein, dieses große Gesicht war von tiefer, charakteristischer
Bedeutung für den ganzen Abschnitt der Wege Gottes,
der nunmehr beginnen sollte; es war so bedeutsam, daß
dieser ganze Teil des Buches Gottes später anscheinend
unter der Bezeichnung „in dem Dornbüsche" bekannt war.
(Vergl. Luk. 20, 37.) Gott stand im Begriff, in ganz
besonderer Weise in Mose und in der Mitte des Volkes
Israel zu wirken. Er hatte vom Himmel her Kenntnis
genommen von dem Elend Seines Volkes, und Er war
herabgekommen, um es aus der Hand der Ägypter zu erretten
und in ein gutes, geräumiges Land zu führen, in
ein Land, daö von Milch und Honig floß. Mose und Israel
sollten das wissen, zugleich aber auch wissen, daß
sie in ihrem Nichts die Gefäße Seiner Macht sein sollten.
Gerade in ihrer Schwachheit sollte Gottes Kraft sich offenbaren.
Wie wenig waren sie bereit, in diese Gedanken
Gottes einzugehen! Wie fremd waren sie selbst Mose, diesem
einsichtsvollen Diener Gottes in späteren Tagen!
Aber mußte nicht das verzehrende Feuer der Gegenwart
Gottes das Volk vernichten? Nein, so arm und
vergänglich der Dornbusch auch sein mochte, wenn Gott
bereit war, sich in Seiner Macht und Gnade an ihm zu
verherrlichen — und das war doch Seine Absicht — so
konnten selbst die richterlichen Wege Gottes, Seine Züchtigungen,
verbunden mit der ganzen Bosheit und Feindschaft
der Menschen, sie nicht verzehren; iin Gegenteil,
alles mußte unter Seiner unumschränkten Leitung zum
Besten der Gegenstände Seiner Gnadenwege dienen. Wie
könnte, wenn Gott sich verherrlichen will, etwas anderes als
Gutes für Seine Erwählten daraus hervorkommen? Sind
Y1
nicht ihre Interessen Seine Interessen, und ist nicht gerade
ihr Elend das, was Sein Herz bewegt?
Das erste, was Moses geöffnetes Ohr hören darf, ist
denn auch nicht ein Hinweis auf den schwachen Zustand
Israels, sondern eine Erinnerung an die unwandelbare
Treue des Gottes seiner Väter, des Gottes Abrahams,
Isaaks und Jakobs. Obwohl Gott im Begriff stand, als
Jehova, der Ewige, mit Seinem Volke in Verbindung
zu treten und eö angesichts aller Völker der Erde als Sein
Volk anzuerkennen — bis dahin war das noch nicht geschehen
— gefiel es Ihm doch, Seinen Knecht zunächst
an den Namen zu erinnern, mit welchem Er Abraham,
Isaak und Jakob bekannt gewesen war: „Ich bin Gott, der
Allmächtig e". (Vergl. 1. Mose 17, 1; 2. Mose 6, 3.)
Um der Väter willen, denen Gott erschienen war, und
denen Er Seine Verheißungen gegeben hatte, sollte Israel
aus dem Sklavenhause befreit und in das gelobte Land
geführt werden. „Also sollst du zu den Kindern Israel
sagen: Jehova, der Gott eurer Väter, der Gott Abrahams,
der Gott Isaaks und der Gott Jakobs, hat mich
zu euch gesandt. Das ist mein Name in Ewigkeit,
und das ist mein Gedächtnis von Gefehlt
ch t z u G e s ch l e ch t." (V. 15.)
Welch ein wunderbarer Gott ist unser Gott! Wollte
Er sich jetzt auch, wie bereits gesagt, offenbaren als Jehova
— Ich bin, der ich bin, der ewig Treue und
Unveränderliche, durch den alles ist und besteht, und dem
gegenüber alles Geschaffene in seinem Nichts erscheint,
gefiel es Ihm doch wohl, Seinen Knecht nicht nur an
den Namen zu erinnern, in welchem Er die Väter, die Gegenstände
Seiner Wahl, mit sich verbunden hatte, sondern
Y2
auch diesen Namen als Seinen Gedächtnis- oder Denk-
namm für alle Ewigkeit festzustellen — und daö gegenüber
dem gegenwärtigen Elend Seines Volkes sowohl, als
auch angesichts der Undankbarkeit und Widerspenstigkeit,
die es auf seinem ganzen späteren Wege offenbaren würde.
Wir wissen, warum Gott so handeln konnte. Sein Auge
ruhte auf dem Anfang und Ende aller Seiner Wege, dem
Alpha und Omega aller Seiner Mitteilungen, auf Ihm,
in welchem alle Seine Verheißungen Ja und Amen sind.
Betrachte Ihn, geliebter Leser, den Mensch gewordenen
Sohn Gottes, sieh Seinen Gehorsam bis in den Tod,
Sun vollendetes Werk, in welchem Er die Erlösung des
Sünders mit der Verherrlichung Gottes hinsichtlich der
Sünde verband — und du hast den Schlüssel zu dem
Rätsel, die Erklärung des großen Gesichts.
Aber ach! wie wenig war Mose, der nachher so treue
Diener im ganzen Hause Gottes, mit dem Gott von Mund
zu Mund redete (4. Mose 42), hier imstande, in die Gedanken
Seines Herrn einzugehen! Wie wenig hatte er noch
gelernt! Steht hier wirklich derselbe Mann vor uns, der
einst so mutig für seine Brüder cingetreten war und gemeint
hatte, Gott wolle ihnen durch Seine Hand Rettung
geben? Ja, eö ist derselbe Mann. Und gleichen
wir ihm nicht oft auf ein Haar? Voller Mut, wenn Gottes
Stunde noch nicht gekommen ist, sind wir verzagt lind
furchtsam, wenn Er uns ruft. Freilich war der Zustand
deö Volkes tieftraurig — eö kannte nicht einmal den Namen
seines Gottes mehr — und die Aufgabe war schwer.
Aber wenn der „Ich bin" ihn sandte, war eö dann nicht
der Höhepunkt der Torheit und des Unglaubens für Mose,
zu fragen: „Wer bin ich?" Wunderbar ist der Name,
yz
den Gott hier annimmt. Nicht: „Ich bin das und das gewesen",
oder: „Ich werde daö und das sein"; nein: „Jüdin,
der ich bin", der ewig in sich selbst Bestehende,
der unveränderliche Gott, von dem alles, was außer Ihm
ist, abhängt, durch den alles sein Sein hat. Wer vermöchte
sich Ihm zu widersetzen? Wenn der Pharao in
seinem Trotz und Hochmut sich herausnimmt zu fragen:
„W er ist Iehova > auf dessen Stimme ich hören soll,
Israel ziehen zu lassen? Ich kenne Jehova nicht,
und auch werde ich Israel nicht ziehen lassen", so muß Er
die Hand dieses Jehova fühlen und die Folgen seiner Vermessenheit
tragen.
Gott handelt gnädig mit Seinem Knecht. Auf mancherlei
Weise — es ist hier nicht der Platz, näher darauf
einzugehen — sucht Er ihn zu belehren, und erst als Mose
nach den Wundern, die er gesehen, alö letzten Einwand seine
schwere Junge geltend macht, und trotz der Frage: „Wer
hat dem Menschen den Mund gemacht? ... Nicht ich,
Jehova?" bei seiner Weigerung bleibt, entbrennt der
Zorn Jehovas wider ihn, und Mose verliert die Ehre, der
Mund Jehovaö sein zu dürfen. Sein Bruder Aaron soll
ihm zum Munde sein.
Welch eine Demütigung für den sonst so treuen
Mann! Gott hat uns den Bericht darüber jedoch nicht
deshalb aufbewahrt, damit wir über Mose urteilen, sondern
damit wir lernen, bei viel unwichtigeren, aber doch vielleicht
ähnlichen Anlässen uns vor der Schlinge zu hüten,
in die Mose geriet. Wie oft wird aber in späteren Tagen
die Erinnerung an den Ruf Gottes und an das „große
Gesicht" am Berge Horeb diesem außergewöhnlichen Werkzeug
Gottes, dem Vorbild unseres Herrn Jesus in so
94
mancher Hinsicht, zur Belehrung und Ermunterung gedient
haben! Wer könnte sagen, wie viel es dazu beigetragen
hat, ihn zu dem zu machen, was er als Retter und Führer
Israels geworden ist?
Betrachtungen über denpropHetenAosea
(Fortsetzung)
Kapitel 43
Letzte Ausbrüche. Das Morgenrot der
Befreiung
Im 43. Kapitel erhebt der entfesselte Sturm von
neuem seine gewaltige Stimme gegen das untreue
Ephraim. Ein letzter zorniger Wirbelwind scheint auf
seinem Wege alles vor sich niederreißen zu wollen. Dann
tritt eine große Stille ein — die Stille des Todes. Doch
aus des Todes Mitte erklingt eine befreiende Stimme.
(V. 44.) Noch ein letzter Windstoß von Osten, ein furchtbares
Krachen, ein Blutbad, und die Zertrümmerung
Ephraims ist vollendet. (V. 45. 46.) Dann endlich
schlägt die Stunde des Erwachens unter der ruhmreichen
Herrschaft des Messias. (Kap. 44.)
(V. 4.) — „Wenn Ephraim redete, war Schrecken;
es erhob sich in Israel. Aber es verschuldete sich durch
Baal und starb."
Der Prophet fährt mit der Schilderung des Zustandes
Ephraims fort. Dieser Stamm war von Gott mit
einer Autorität bekleidet worden. Er nahm einen hervorragenden
Platz in Israel ein. Aber er hatte alles verloren
durch den Baalsdienst und die Kälber zu Bethel.
Was wird ihm nun bleiben, und was wird sein Ausgang
ys
sein? „Sie werden sein wie die Morgenwolke und wie
der Tau, der früh verschwindet, wie Spreu, welche von
der Tenne dahinfliegt, und wie Rauch aus dem Gitter."
(V. Z.) Man suche Ephraim! Wo wird man es finden?
Man könnte ebensogut nach der Wolke, dem Tau
und dem Rauche forschen. So ist es bis zum heutigen
Tage mit den zehn Stämmen geblieben!
Im 4. Berse kommt Jehova auf die vergangenen
Zeugnisse Seiner Gnade zurück. Ium wievielten Male
schon, seitdem Er nach Kap. 44, 4 „aus Ägypten Seinen
Sohn gerufen", stellt Er dem Volke vor, was Er seit dem
Lande Ägypten für sie gewesen ist! „Ich aber bin Jehova,
dein Gott, vom Lande Ägypten her; und du kennst
keinen Gott außer mir, und da ist kein Retter als ich.
Ich habe dich ja gekannt in der Wüste, in dem Lande der
Gluten."
Ach, wie weit lagen doch die Tage zurück, wo die
Braut dem Bräutigam in die Wüste folgte, und der Hirte
Israels dort Seine Schafe weidete und tränkte, sodaß
ein jeder sagen konnte: „Mir wird nichts mangeln"! Aber
Ephraim hatte sich derart überhoben, daß Jehova ihm wie
ein zerreißender, brüllender Löwe entgegentreten mußte,
anstatt zu seinen Gunsten zu brüllen (Kap. 44, 40), wie
eö am Ende geschehen wird. Welch ein schreckliches Los!
Ephraim sollte von wilden Tieren angegriffen und zerrissen
werden — ein Hinweis auf den Ansturm erbarmungsloser,
feindlicher Nationen gegen dieses Volk. „Und
so wurde ich ihnen wie ein Löwe; wie ein Pardel laure
ich am Wege; ich werde sie anfallen wie eine Bärin, welche
der Jungen beraubt ist, und werde den Verschluß ihres
Herzens zerreißen; und ich werde sie daselbst verzehren wie
Y6
ein Löwe; die Tiere des Feldes werden sie zerfleischen,"
(V. 7. 8.)
Welche Torheit, ein Feind Gottes zu sein, des Einzigen,
der uns helfen kann! Aber ist nicht der Zustand der
Menschen heutzutage derselbe wie in jener Zeit? Anstatt
sich zu dem alleinigen Retter zu wenden, zieht man vor, wie
es in Vers 6 heißt, sich an den Gütern dieser Erde zu
sättigen. Doch man möge sich nicht täuschen; wenn man
nicht für Ihn ist, ist man gegen Ihn! Wenn man die
Welt und ihre Dinge erwählt, stellt man sich als einen
Feind Gottes dar. Und wird es nicht eine verderbenbringende
Täuschung für den bekennenden Christen sein,
wenn er meint, gleichzeitig ein Freund der Welt und ein
Freund Gottes sein zu können? Möge sich doch ein jeder
hüten, daß er Gott nicht wie einen Löwen auf seinem
Wege finde! Es gibt keinen anderen Retter als Ihn; aber
Israel war gegen Ihn, gegen Seine Hilfe. (V. y.) Und
als das Gericht endlich herannahte, suchte es sein Heil
darin, sich auf den Arm des Fleisches zu stützen. „Wo
ist nun dein König, daß er dich rette in allen deinen
Städten, und wo deine Richter, von welchen du sagtest:
Gib mir einen König und Fürsten?" (V. 70.) Jehova
erinnert die zehn Stämme daran, was die Könige
und Fürsten, die sie gefordert hatten, gewesen waren; denn
es handelt sich hier wohl nicht um Saul, wie ich früher
annahm, noch weniger um David und Salomo, selbst nicht
um Jerobeam I., den Gott zum Gericht über Juda erweckt
hatte. „Ich gab dir einen Köniz in meinem Zorn,
und nahm ihn weg in meinen, Grimm", sagt Gott zu
Ephraim. (V. 77.) Die ganze Prophezeiung Hoseas lenkt
den Gedanken auf Jehu, den Vollstrecker des Zornes Got
— Y7 —
tes gegen das Haus Ahabs und gegen seinen letzten Nachfolger,
Sekarja. Und die Worte: „Ich nahm ihn weg
in meinem Grimm", finden ihre Anwendung fast auf die
Gesamtheit der Könige, die zwischen den beiden genannten
Männern geherrscht haben; denn bis auf den letzten König,
Hosea, starben alle eines gewaltsamen Todes.
„Die Ungerechtigkeit Ephraims ist zusammengebunden,
aufbewahrt seine Sünde; Wehen einer Gebärenden
werden ihn ankommen. Er ist ein unweiser Sohn; denn
wenn eö Zeit ist, tritt er nicht ein in den Durchbruch der
Kinder." (V. 72. 73.) Ms der Assyrer sich vor den
Toren Jerusalems zeigte, nahm der fromme König Hiskia
seine Zuflucht zu dem Propheten Jesaja und ließ ihm
sagen: „Dieser Tag ist ein Tag der Bedrängnis und
der Züchtigung und der Schmähung; denn die Kinder sind
bis an die Geburt gekommen, aber da ist keine Kraft zum
Gebären . . . Erhebe denn ein Gebet für den Überrest, der
sich noch vorfindet." (Jes. 37, 3. 4.) Gott hatte dein
König von Juda geantwortet, während die Sünde Ephraims
aufbewahrt wurde.
Jetzt auf einmal verkündigt Jehova, trotz allem, was
Er Ephraim zufügen wollte, ohne (wie gewöhnlich) irgend
eine Überleitung zu geben: „Von der Gewalt des Scheols
werde ich sie erlösen, vom Tode sie befreien! Wo sind,
o Tod, deine Seuchen? wo ist, o Scheol, dein Verderben?
Reue ist vor meinen Augen verborgen." (V. 74.) Ja, obgleich
Ephraim nicht bereut, wollte der Herr Sein Werk
der Befreiung ihm gegenüber doch vollenden. Es ist ein
neuer Hinweis auf das Erlösungswerk Christi, wie wir
einen solchen schon in Kap. 6, 2 gefunden haben. Dieses
Werk wird Gott kraft des Todes und der Auferstehung
98
des Heilandes zur irdischen Befreiung Israels vollmden.
Dann wird sich das Wort aus Jesaja 25, 8 erfüllen: „Den
Tod verschlingt er auf ewig, . . . und die Schmach seines
Volkes wird er hinwegtun von der ganzen Erde".
Doch dieses Werk, das Gott zur irdischen Befreiung
Israels vollendet, wird für uns, die Christen, in einem
noch weit höheren Maße ein vollendetes Werk sein. Die
Auferstehung des Herrn ist gleichsam das Vorspiel der
Auferstehung der entschlafenen Heiligen und der Verwandlung
der lebenden. Diese Befreiung der Heiligen und der
Gemeinde geschieht im Blick aus den Himmel, nicht auf
die Erde. Dann wird sich auch für uns in unumschränkter
und endgültiger Weise jene wunderbare Verheißung
erfüllen: „Der Tod ist verschlungen in Sieg". Er
wird das auf ewig, noch ehe er für immer abgeschafft
ist. Bis zu jenem Augenblick hat er über die Erlösten
scheinbar den Sieg, denn sie können, was ihren Leib
betrifft, sterben und ins Grab gelegt werden. Nur ein
einziger Mensch, Christus, steht heute schon für ewig
außerhalb seiner Gewalt, denn Er hat ihn durch Seine
Auferstehung besiegt. Und wir haben schon den Sieg
durch unseren Herrn Jesus Christus. Er ist
uns geschenkt und gehört uns, indem er dem zweiten Adani,
dem Haupte der Familie Gottes, und damit allen gegeben
worden ist, die einen Teil dieser Familie bilden. (1.. Kor.
75, 54—57.) In dieser Stelle wird der Tod einem Skorpion
verglichen, dessen Stachel, die Sünde, seine zerstörende
Wirkung in den Menschen einführt. Die Kraft
des Stachels, der Sünde, sein Gift, ist das Gesetz, das
aus dem Tode eine Qual für den Menschen macht, indem
es ihm daö Los zeigt, das er verdient, und zugleich die
yy
Unmöglichkeit, ihm zu entrinnen. Diese Befreiung vom
Tode und von allem, was ihn begleitet, besitzen wir in
Christo.
So ruht denn die zukünftige Befreiung Israels auf
derselben Grundlage wie die unsrige, ihr Ausgangspunkt
ist ein auferstandener Christus. Während sie aber dieses
Volk auf eine von der Sünde gereinigte Erde bringt, führt
sie uns Christen in den Himmel als solche, die auf ewig
von der Gegenwart der Sünde und des Todes erlöst sind.
In den Versen b5 und 76 kommt der Prophet auf
das gegenwärtige Gericht Ephraims zurück. Ein letztes
Grollen des Donners! Juda, das hier nicht erwähnt wird,
geht demselben Schicksal entgegen wie Ephraim, dieses
durch die Hand des Assyrers, jenes durch die Hand Babels.
Doch nachdem der Feind in seinem furchtbaren Haß
die Menschen mit dem Schwert hingestreckt, die Kinder
zerschmettert und die Schwängern aufgeschlitzt und so für
Israel und Juda als Gottes Zuchtrute gedient hat, wird
er selbst seine Vergeltung empfangen. Man kann diese
Stelle in Beziehung bringen zu der Prophezeiung, die in
den Mund des jüdischen Überrestes, der seine Lauten an
die Weiden Babels hängte, gelegt wird: „Tochter Babel,
du Verwüstete! Glückselig, der dir dasselbe vergilt, was
du uns getan hast! Glückselig, der deine Kindlein ergreift
und sie hinschmettert an den Felsen!" (Ps. 137,
8. 9.) (Schluß folgt.)
Berichtigung
In dem 2. Teil von „Zweimal gerufen", Seite 72
(z. Heft des Botschafter), Zeile 12 v. o. lies „Zadok" statt „Samuel".
— Zoo —
Gereinigt vom bösen Gewissen
(Hebr. 10, 2 2.)
Der Mensch hat ein Gewissen. Seit dem Sündenfall
besitzt er die Kenntnis von gut und böse. Viele Menschen
sind in ihrem Gewissen beunruhigt, viele sind es auch
nicht. Die meisten möchten sich mit solch ernsten Dingen
wie Sünde, Schuld, Tod und Gericht nicht beschäftigen.
Manche sind eine Zeitlang beunruhigt gewesen über
ihre Sünden und haben gezittert bei dem Gedanken an die
vor ihnen liegende Ewigkeit, tun es aber jetzt nicht mehr,
ohne selbst recht zu wissen, warum nicht. Aber ein nicht
anklagendes Gewissen ist kein „gereinigtes" Gewissen. Der
große Betrüger der Seelen weiß das Gewissen auf mancherlei
Weise zu beruhigen, ja, es endlich „wie mit einem
Brenneisen zu härten". Er benutzt sogar die Gewohnheit,
die Wahrheit zu hören, dazu, das Herz völlig gefühllos
zu machen.
Satan hat, wie gesagt, viele Wege, um die Menschen
davon abzuhalten, den Segen eines gereinigten Gewissens
kennen zu lernen. Sind die eisernen Ketten grober Fleischessünden
nicht dazu geeignet, weil die Gesinnung verfeinert
ist, so benutzt er die goldenen Ketten irdischen Wohlergehens
oder, wenn diese nicht geeignet erscheinen, die seidenen
Schnüre äußeren Ansehens, menschlicher Ehren, zeitlicher
Vergnügungen und dergleichen. Biele sucht er auch
durch ein wenig religiöse Beschäftigung zu beruhigen.
Wenn solche Menschen dem gewohnten „Gottesdienst" beigewohnt
oder ihre religiösen Übungen auögeführt haben, fühlen
sie sich völlig befriedigt. Fehlt auch daö eine und andere
— ror —
noch, am Ende wird doch schon alles gut werden. Ach,
wenn sie wüßten, waö es heißt, Frieden mit Gott zu haben
durch unseren Herrn Jesus Christus, ein durch das Blut
Christi gereinigtes Gewissen zu besitzen und durch den Glauben
die Versicherung GotteS zu kennen: „Ihrer Sünden
und ihrer Gesetzlosigkeiten werde ich nie mehr gedenken"!
Es gibt auch Menschen, die sich den Begriff „Sünde"
so zurechtlegen, daß sie selbst eigentlich gar nicht mehr
schuldig sind. Sie entschuldigen die Sünde und suchen sie
zu vergessen oder, wenn sie das nicht können, andere dafür
verantwortlich zu machen; und hilft daö auch nicht, erhebt
das Gewissen doch noch zuweilen seine anklagende
Stimme, so bemühen sie sich, durch gute Werke, durch
daö Halten von Tagen und Geboten, durch eifrige Liebes-
tätigkcit und dergl. einen ruhigen Gemütszustand zu erlangen.
Viele werden in diesem Netz gefangen. Aber
ich wiederhole: „Das Herz besprengt zu haben und also
gereinigt zu sein vom bösen Gewissen", ist etwas himmelweit
davon Verschiedenes. Rechtschaffen handeln und sieh
alle Mühe geben, Gottes Wohlgefallen auf sich zu ziehen,
vielleicht auch noch etwas von Christo als einen Ausgleich
für die vorhandenen Mängel hinzufügen — das ist wohl
ein Weg, der Tausenden von Menschen gefällt, aber er
führt nimmermehr zum Ziele.
War nicht SauluS von Tarsus ein Mann, der „von
seinen Voreltern her" Gott mit reinem Gewissen gedient
hatte? Hat er nicht vor dem König Agrippa bezeugt,
daß „er bei sich selbst gemeint habe, viel Widriges gegen
den Namen Jesu, des Nazaräers, tun" und die Heiligen
verfolgen zu n: üsscn, weil sie von der jüdischen Religion
abgefallcn innen? Und doch nennt sich dieser Mann
t02
mit Recht den vornehmsten der Sünder. Tadellos in
seinen: Wandel vor den Menschen, ein hochgeachtetes Mitglied
der strengreligiösen Sekte der Pharisäer, ein Eiferer
für Gott, und dabei doch der vornehmste der Sünder!
Es ist der Mühe wert, einen Augenblick über diese Dinge
nachzusinnen.
Doch auf welche Weise bekam der Mensch das Gewissen?
Infolge seines Ungehorsams. Als Adam durch
die Versuchung der Schlange zu Fall gekommen war,
sprach Gott: „Siehe, der Mensch ist geworden wie unser
einer, zu erkennen Gutes und Böses", (t. Mose 3, 22.)
Diese Erkenntnis bedeutet für den Menschen das Gewissen,
das in ihn: zeugt, indem die Gedanken sich untereinander
anklagen oder auch entschuldigen. (Nöin. 2, t5.) Aber
wie ernst auch das Gewissen als ein Mahner vor dem
Bösen sprechen mag, wie eö zweifellos oft tut, so kennzeichnet
sich doch der gefallene sündige Mensch, solang
sein Gewissen nicht wirklich aufwacht, durch die Verwerfung
des Wortes Gottes und die gänzliche Verneinung deö
göttlichen Urteils, daß „die im Fleische sind, Gott nicht
gefallen können". (Röm. 8, 8.) Er weigert sich infolge
dessen auch, das Erlösungswerk Christi als den einzigen
Weg zur Rettung anzunehmcn.
Wie ist es nun aber mit den aus Gott Geborenen?
Sie haben, „einmal gereinigt, kein Gewissen mehr von
Sünden". (Hebr. io, 2.) Besprengt mit dem Blute
Christi, sind sie vom „bösen" Gewissen gereinigt. Aber-
gerade deshalb ist ihr p ra k t i s ch e r Gewissenözustand von
der größten Wichtigkeit. Paulus fühlte dies tief. Er sagt:
„Ich habe mit allem guten Gewissen vor Gott gewandelt
bis auf diesen Tag"; und an einer anderen Stelle:
— 403 —
„Darum übe ich mich auch, allezeit ein Gewissen ohne
Anstoßzu haben vor Gott und den Menschen". (Apgsch.
23, 4; 24, 4b.) Hat das Wort daö Gewissen in der Gegenwart
Gottes von Sünde und Schuld überführt, ist der
Mensch durch die Gnade zur Reinigung im Blute Christi
und zur Rechtfertigung in dem auferstandenen Christus
gebracht, so weiß er, was es heißt, Frieden mit Gott zu
haben durch unseren Herrn Jesus Christus. Mit Vertrauen
nähert er sich jetzt dem heiligen Gott. Er hat, wie
wir schon sagten, „kein Gewissen mehr von Sünden",
ist ein Mensch, dem Gott die Sünde „nicht zurechnet"
(Ps. 32, 2), aber das macht ihn nicht gleichgültig, sondern
treibt ihn i n Gegenteil an, nun auch so zu wandeln und zu
handeln, wie es dem Kinde eines solchen Gottes geziemt.
In den Reihen der bekennenden Christen gibt eö auch
viele, die da meinen, der Mensch von Natur sei imstande,
wenn es ihm so gefalle, Gott zu dienen und anzubeten.
Ja, man kann vielleicht sagen, daß diese, die Seelen zerstörende
Lehre eine der meistverbreiteten Lehren des Namen-
christentumS ist. Auf Grund derselben meint man daö
Recht zu haben, obwohl man weiß, daß man nicht bekehrt
ist, am Abendmahl teilzunehmen, kirchliche Ämter zu bekleiden
und sogar zu predigen. Wieder andere — und ihre
Zahl ist Legion — sind von ihrer Kindheit an belehrt worden,
daß es, um ein guter Christ zu sein, genüge, recht zu
tun, brav zu sein, im besten Falle auch zur Kirche zu
gehen, seine Gebete herzusagen usw. Aber daö alles ist
nur die Tätigkeit der sündigen AdamSnatur und von wahrem
Christentum so weit entfernt wie der Himmel von der
Erde. Man erkennt den Fall des Menschen in Adam nicht
an, weist das reinigende Blut Christi zurück, verneint die
— ro4 —
Notwendigkeit der Wiedergeburt aus Wort und Geist und
verwirft die Grundwahrheit des Evangeliums, daß man
Gott nur durch das Sühnopfer Christi nahen kann.
In bezug auf solche Lehren und Lehrer ist die Schrift
sehr ernst und entschieden. Sie sagt: „Wehe ihnen! denn
sie sind den Weg Kainö gegangen". (Judas tt.) Was ist
denn der Weg Kains? Kain war ein religiöser Mann,
aber er wollte Gott nahen ohne daö Blut eines Sünd-
opfers. Er übersah den Sündenfall, und, völlig vergessend,
daß der Erdboden des Menschen wegen verflucht war,
brachte er kühn und gefühllos Gott ein Opfer dar, das seine
unreinen Hände von den Früchten des sündenbcflecktcn
Erdbodens gesammelt hatten. Aber Gott läßt sich nicht
spotten. „Jehova blickte auf Abel und seine Opfergabe,
aber auf Kain und seine Opsergabe blickte
Er nicht." Was war die Folge? War Kain fortan ein
glücklicher Mann? Laßt uns seinen Weg verfolgen, t) Er
ergrimmte sehr, und sein Antlitz senkte sich; 2) er haßte
Abel, den Mann Gottes: „Kain erhob sich wider seinen
Bruder Abel und erschlug ihn". Z) Er wurde unstet und
flüchtig auf der Erde. 4) Er ging weg von dem Angesicht
JehovaS. 5) Er und seine Nachkommen wurden erfolgreiche
Bürger dieser Erde, Städteerbauer, Hersteller
nützlicher Gegenstände, eifrige Pfleger schöner Künste usw.,
aber von der Gegenwart Gottes waren sie ausgeschlossen.
Welch ein trübes, aber treffendes Gemälde von den Zeiten,
in denen wir leben! Sie gleichen den Tagen Kains
und seiner Nachkommen auf ein Haar.
„Ohne Blutvergießung ist keine Vergebung." Hätte
Aaron Gott nahen wollen ohne Blut, so würde er sofort getötet
worden sein. Und der Herr Jesus sagt: „Dies ist mein
— ros —
Blut, das des neuen Bundes, welches für viele vergossen
wird zur Vergebung der Sünden". Das Zeugnis
des Alten und Neuen Testaments ist völlig übereinstimmend.
Niemand kommt zum Vater als nur durch Jesum.
Ferner lesen wir im Alten Testament: „DaöBlut
isteS, welches Sühnung tut durch (oder für) die Seele".
(Z. Mose 17, 1.1..) Und im Neuen: „Das Blut Jesu
Christi, Seines Sohnes, reinigt uns von aller Sünde".
Oder: „Wenn das Blut von Stieren und Böcken . . . .
zur Reinigkeit des Fleisches heiligt, wieviel mehr wird das
Blut des Christus, der durch den ewigen Geist sich selbst
ohne Flecken Gott geopfert hat, euer Gewissen reinigen von
toten Werken, um dem lebendigen Gott zu dienen!" usw.
usw.
In: Alten Bunde war, von Abel an, der Weg, Gott
zu nahen, die Opferung eines Lebens, als Vorbild des Opfers
Christi; im Neuen Bunde ist der einzige Weg, Gott
zu nahen, das Blut Jesu Christi. Welch ein verhängnisvoller
Irrtum ist es daher, wenn der sündige Mensch sich
für berechtigt hält, Gott ak:f einem anderen Wege zu nahen,
als auf den:, den Gott selbst bereitet hat! Ist eö ein Wunder,
wenn von solchen gesagt wird: „Wehe ihnen!"?
Gepriesen aber sei der Gott und Vater unseres Herrn
Jesus Christus, daß Er allen Glaubenden Freimütigkeit
gegeben hat „zum Eintritt in das Heiligtum durch das Blut
Jesu auf dem neuen und lebendigen Wege, welchen Er uns
cingeweiht hat durch den Vorhang hin, das ist Sein
Fleisch", und daß wir nun hinzutretcn dürfen „involler
Gewißheit des Glaubens, die Herzen besprengt
und also gereinigt vom bösen Gewissen"!
— t06 —
„Hat."
„Hätte ich die weite Reise von Europa nach Asien
lediglich zu dem Zweck gemacht, um auf die Schönheit
des kleinen Wortes „hat" hingewiesen zu werden, die
Reise wäre fürwahr nicht vergeblich gewesen. Ich habe
viel in Gottes Wort gelesen, aber nie vorher ist mir die
hohe Bedeutung des Wörtleins so klar und tief zum Bewußtsein
gekommen."
So sprach ein Mann, der seit Jahren bekehrt war,
aber die überströmenden Reichtümer der Gnade Gottes
nie für sich in Anspruch genommen hatte, trotzdem sie
während all der Jahre für ihn da waren. Und weil er
sie sich nicht zu eigen machte, genoß er sie nicht.
Sind aber nicht Tausende in ähnlicher Lage wie er?
— Nicht sorglose Ungläubige, aber zweifelnde, sorgenvolle
Gläubige? Alle jene zaghaften Seelen möchten wir bitten:
Offne! eure Bibel und laßt euch zunächst auf einige jener
Stellen aufmerksam machen, in denen das bedeutungsvolle
Wörtlein „hat" vorkommt. So auf den Weg gebracht,
könnt ihr diesen dann allein weiter verfolgen zu reichem
Segen und bleibendem Gewinn.
In t. Joh. 5, U lesen wir: „Dies ist das Zeugnis:
daß Gott uns ewiges Leben gegeben hat". Welch eine
Gabe! Mochte es klar verstanden werden, daß der Geist
Gottes hier zu Gläubigen spricht, und daß für sie allein
diese Worte geschrieben sind, damit sie wissen, daß sie
ewiges Leben haben! (V. k3.) In unserem natürlichen
Zustand sind wir tot in Vergehungen und Sünden (Eph. 2,
U 5); es ist kein Leben in uns. „Wer den Sohn hat,
107
hat das Leben; wer den Sohn Gottes nicht hat, hat
das Leben nicht." (V. 72.) Daß doch hinsichtlich dieser
wichtigen Wahrheit keinerlei Unklarheit bestehen möchte!
Ein Ungläubiger ist tot in seinen Sünden, und alle seine
besten Werke sind tote Werke (Hebr. y, 74), Werke
ohne Kraft, ohne Wert, ohne Leben. Jedem Gläubi-
g e n aber ist das Zeugnis von Gott selbst geworden, daß
ewiges Leben sein Teil ist. Wie zaghaft auch jemand
den Saum des Kleides seines Erlösers berührt haben mag,
wie schwach sein Glaube auch ist, wenn er Ihn angcrührt
hat, wenn nur Er es ist, an den er glaubt, so hat er ewiges
Leben und geht nicht verloren ewiglich; denn es ist unmöglich,
daß Gott lügen sollte.
Weiter dürfen wir „danksagen dem Vater, der uns
fähig gemacht hat zu dem Anteil am Erbe der Heiligen
in deni Lichte". (Kol. 7, 72.) Wieder möchten wir dem
zweifelnden Gläubigen zurufen: Lies das erste Kapitel des
Kolosserbriefeö sorgfältig durch und achte insbesondere ans
das Wörtchen „hat". Vielleicht hast du bisher gehofft,
auf deinem Sterbebett einmal passend gemacht zu werden
für jene hehren Wohnungen des Lichts. Aber beachte
einmal genau, was da steht: Er „hat unö fähig (oder
passend) gemacht" — jetzt schon! Cs ist alles in bester
Ordnung, und zwar auf Grund dessen, was Gott gewirkt
hat, nicht auf Grund deines Tuns. Wenn du das einmal
fest ins Auge faßt, mag dem gefesselter Geist frei werden,
und dann wird dein Herz, das bisher von Zweifeln und
Befürchtungen aller Art erfüllt war, überfließen von Lob
und Dank. Ja, frage und zweifle nicht länger, sondern
„danksage dem Vater", deinem Vater, der dich
liebt mit unveränderlicher Liebe!
— rv8 —
Einst warst du ein Kind des Zorns, ein Sklave Satans.
Heute bist du es nicht mehr. „Frcigemacht von der
Sünde, seid ihr Sklaven der Gerechtigkeit geworden."
(Röm. b, 18.) Die Macht der Finsternis ist für dich
für immer gebrochen. Du bist frei. Darum danksage,
weil Er dich „errettet hat aus der Gewalt der Finsternis".
Oder bist du aus dem Gefängnis entlassen worden,
um wie.früher im Sträflingökleide einherzugehen und
immerfort seufzend auszurufen: „O Gott, sei mir armen:
Sünder gnädig"? Nein! danksage dem Vater,
denn:
Er „h a t uns versetzt in das Reich des Sohnes Seiner
Liebe" (Kol. 1, 13), und Er „h a t uns begnadigt in den:
Geliebten". (Eph. 1, 6.) Du bist zu einem Gegenstand
ewiger, göttlicher Gunst geworden. Gerechtfertigt aus
Glauben, hast du Frieden mit Gott und hast Zugang
zu der Gnade, in welcher du stehst. (Röm. 5, 1. 2.) Ja,
du bist geliebt wie der Geliebte Gottes selbst, bist in Sein
Reich versetzt. Darum: „Danksage!" Wer vermöchte
zu danken, wenn du eö nicht kannst?!
„Und euch, die ihr einst entfremdet und Feinde wäret
nach der Gesinnung in den bösen Werken, hatEr aber
nun versöhnt." (Kol. 1, 2t.) Gott war niemals den:
Menschen feindlich gesinnt, wiewohl Er die Sünde haßte.
Er hatte deshalb auch nicht nötig, versöhnt zu werden.
Die Heilige Schrift redet auch nie so. Wer da meint, Gott
habe mit uns versöhnt werden müssen, hat eine
ganz falsche Vorstellung von Gott. Wir lesen im Gegenteil:
„Also hat Gott die Welt geliebt, daß Er Seinen
eingeborenen Sohn gab", und Jesus kam nicht, um die
Liebe Gottes für uns zu erwerben, sondern um sie zu
— loy —
offenbaren. Die Sache liegt genau umgekehrt. W i r
waren Feinde Gottes; wir verachteten Seine Liebe und
haßten Seinen Sohn. Jetzt aber sind wir, die wir einst
Feinde waren, durch den Tod Seines Sohnes mit Gott
versöhnt worden. (Röm. 5, ro.) Erstaunliche Tatsache!
Die Tat, die den bittersten Haß des Menschen gegen Gott
offenbarte, wurde in Gottes Hand daö Mittel, um ihn
nun versöhnt dem Gott nahe zu bringen, den er haßte.
„Für die- Freiheit hat Christus unö freigemacht;
stehet nun fest." (Gal. 5, 'l.) Noch einmal dieses
kostbare „hat". Frei vom bösen Gewissen, frei von der
Macht der Sünde, frei von der Sklaverei Satans, frei von
der Knechtschaft des Gesetzes, frei von der Furcht des Todes
und des Gerichts! Sind daö nicht wunderbare Dinge?
Ja, Christus hat uns freigemacht. Und du willst noch
zweifeln?!
Verfolge den Gegenstand weiter, geliebter Leser! Wir
haben dir nur einige Richtlinien gegeben, nur einzelne Andeutungen
gemacht von dem, was Gott für dich getan
und dir in Christo geschenkt hat. Verfolge den Weg unter
Gebet, und dein Herz wird weiter und immer weiter werden
und überströmen von Freude und Dank. Du wirst
erkennen, daß du schon jetzt vom Tode zum Leben übergegangen,
auö der Finsternis zum Licht, aus der Ferne in
die Nähe, aus der Feindschaft in die Gunst, aus der Knechtschaft
zur Freiheit gebracht bist; und alle diese Herrlichkeiten
überschauend, wirst du mit dem Apostel ausrufen:
„Gepriesen sei der Gott und Vater unseres Herrn Jesus
Christus, der uns gesegnet h a t mit jeder geistlichen Segnung
in den himmlischen Ortern in Christo!" (Eph. l, Z.)
— rio —
Kragen aus dem Leserkreise
— Wie ist das Wort in Cph. 1, 10 zu verstehen: „alles
unter ein Haupt zusammen zu bringen in dem Christus, das was in
den Himmeln und das was auf der Erde ist"?
Gott macht hier Seine geliebten Kinder mit Gedanken bekannt,
die in früheren Zeiten nicht geoffenbart waren. Er läßt
Seine Gnade, die sic aus ihrem einstigen sündigen Zustand und aus
ihrer Gottentfremdung so nahe zu Ihm gebracht hat, gegen sie
überströmen, indem Er ihnen Seine geheimen Ratschlüsse über
Den mitteilt, der Seinem Herzen am nächsten steht, über Jesum
Christum, Seinen geliebten Sohn. In der „Verwaltung der Fülle
der Zeiten", d. h. in der zukünftigen Welt, im sogenannten Tausendjährigen
Reich, wird Er nicht nur die Erde, sondern alles, was
im Himmel und auf Erden ist, in dem Menschen Christus Jesus,
dem Er einen Namen gegeben hat, der über alle Namen ist,
unter ein Haupt zusammenbringen. Schon jetzt ist Christus über
alle Fürstentümer und Gewalten, Kraft» und Herrschaften gesetzt,
die es in diesem und in dem zukünftigen Zeitalter gibt, aber bald
wird Er angesichts des ganzen Weltalls als „Haupt über alles"
offenbar werden. (B. 2t. 22.) Und nachdem Er „geherrscht" hat,
bis auch der letzte Feind, der Tod, hinweggetan ist, wird Er als
Mensch die Herrschaft in die Hände Dessen zurücklegen, „der Ihm
alles unterworfen hat, auf daß Gott alles in allem sei", (1. Kor.
15, 25—28.) Damit beginnt dann der c w i g e Zustand. (2. Petr.
Z, 1Z; Offbg. 21, 1—8.)
2. — „Das aber: Er ist hinaufgesticgen, was ist es anders,
als daß Er auch hinabgestiegen ist in die unteren Teile der Erde?"
(Eph. 4, d.) — Verstehe ich recht: hinaufgestiegen ans Kreuz,
hinabgestiegen ins Grab?
Der 8. Vers führt die Stell« aus Psalm 68 an, die der Belehrung
des Apostels hier zugrunde liegt. Er lautet: „Hinaufgestiegen
in die Höhe, hat Er die Gefangenschaft gefangen geführt
und den Menschen Gaben gegeben". Dieses eine Wort genügt
wohl, um zu zeigen, daß der Apostel nicht an das Kreuz dentr.
Ruchlose Menschenhände haben den Sohn des Menschen von der
Erde auf das Kreuz „erhöht" (Joh. Z, 14; 12, Z2), aber nirgendwo
redet die Schrift von einem Hinaufsteiqen des Herrn Jesus ans Kreuz.
Nein, Er ist nach vollendetem Werke, als das siegreiche Haupt der
neuen Schöpfung, in den H i m m c l hinaufgesticgen, dalün, wo Er
zuvor war, und hat sich gesetzt zur Rechten der Majestät in der
Höhe. Gottes Gerechtigkeit hat Ihm diesen Platz gegeben. Und
— nr —
indem Er hinaufsticg, hat Er die Mächte der Bosheit, die uns einst
gefangen hielten, gefangen geführt und den auf diese Weise befreiten
Menschen „Gaben gegeben", sodaß sie als Apostel und Propheten
oder als Evangelisten, Hirten und Lehrer da wirkungsvoll tätig sein
können, wo eigentlich Satans Thron und Herrschaft ist. Satan
ist ein überwundener Feind, und er weiß das auch.
Wollte aber Jesus als Sieger über Sünde, Tod und Teufel
„über alle Himmel hinaufsteigen", so mußte Er vorher zu uns herabkommen,
Er mußte Mensch und Anecht Gottes werden, ja. Er
mußte „hinabsteigen in die unteren Teile der Erde", ins Grab.
Anders waren Sieg und Befreiung nicht möglich. Nun, „der
hinabgestiegen, ist derselbe, der auch hinaufgestiegen ist über alle
Himmel" (vergl. Joh. 3, 13) — wer könnte die Würde und Herrlichkeit
Seiner Person beschreiben? - „auf daß Er alles erfüllte".
Wohin jetzt das Auge sich wenden mag, ob hinab in die unteren
Teile der Erde, oder hinauf, über alle Himmel hinaus, überall erblickt
es Jesum und nur Ihn.
3. — Wie ist die Aufforderung zu verstehen, daß wir uns
Freunde mit dem ungerechten Mammon machen sollen? (Luk. IS, d.)
Wir sollen klug handeln, wie der ungerechte Verwalter, an
die Zukunft denkend, nicht aber ungerecht wie er. Wir sollen den
irdischen Besitz als das betrachten, was er wirklich ist: der ungerechte
Mammon, und ihn so verwalten, wie cs Gott gefällt, d. h.
ihn gebrauchen als nicht uns, sondern Ihm gehörend. Auf diese
Weise sichern wir unsere Zukunft. Wer so handelt, d. h. also,
wer Gott und nicht dem Mammon dient, darf sicher darauf rechnen,
dereinst in die ewigen Hütten ausgenommen zu werden.
„Kein Hausknecht kann zwei Herren dienen; denn entweder
wird er den einen hassen und den anderen lieben, oder er wird dem
einen anhangen und den anderen verachten." (B. 13.) Es ist
unmöglich, Gott zu dienen und zugleich dem Mammon. Darum:
Laßt uns den Mammon benutzen, wie der ungerechte Verwalter
die Güter seines Herrn benutzt hat, laßt uns ihn mit festem
Entschluß verwenden im Blick auf die Zukunft, anstatt ihn ängstlich
für die Gegenwart aufzubewahren! Das wird uns nicht schwer
werden, wenn wir daran denken, daß an allem irdischen Besitz
Sünde, Ungerechtigkeit klebt, und noch weniger schwer, wenn wir
verwirklichen, daß er gar nicht uns, sondern einem Anderen, Gott,
gehört. Ein altes deutsches Sprichwort sagt: „Aus andermanns
Leder ist gut Riemen fchneiden". Wenn wir das auf den vorliegenden
Fall anwendcn, so können wir eine wichtige geistliche
Belebrung daraus ziehen.
„Zn all ihrer Bedrängnis
war Er bedrängt."
(Zes. S5, y.)
Noch pilgern deine Füße
Im heißen Wüstensand;
Doch sei getrost, und wisse:
Dich leitet Jesu Hand.
Er, der bei Nacht und Tage
In Liebe dein gedenkt,
Ist in der schwersten Lage
Ja selbst mit dir bedrängt!
Wohl gibt's der Tränen viele.
Viel Kummer, Angst und Not;
Man seufzt, fleht in der Stille:
„Hilf mir, mein Herr und Gott!" —
O Herz, nicht bang verzage.
Was immer auch dich kränkt.
Denn sieh, in jeder Lage
Ist Jesus mitbedrängt.
Wenn Feinde dich umringen,
Er stehet dir zur Seit'.
Auch über Satans Schlingen
Wacht Er zu jeder Zeit.
Will deine Kraft versagen.
Er neue Stärke schenkt.
Er hilft dir alles tragen.
Er ist stets mitbedrängt.
Drum, Herz, still Ihm vertraue,
Und ist's auch oftmals schwer;
Auf Seine Treue baue —
Er läßt dich nimmermehr!
Er wird dir Hilfe senden.
Der deine Pfade lenkt.
Dein Leid wird Er beenden.
Er, der stets mitbedrängt.
I. Sch.
Zweimal gerufen
IV.
Der vierte und für das Alte Testament letzte Fall
eines Doppelrufes von feiten Gottes an einen Menschen
führt uns, wie früher schon kurz bemerkt, in die Endzeit
des ursprünglichen Verhältnisses Gottes zu Seinem
Volke Israel. Nicht nur erblicken wir in Eli und Samuel
die letzten „Richter" des Volkes (vergl. I. Sam. 4,
48; 7, 75), auch das Priestertum, das bis dahin das
unmittelbare Band zwischen dem Volke und Gott
gebildet hatte, sollte einer anderen Verbindung Platz
machen. Es sollte und konnte nicht völlig aufhören —
wie wäre das dem heiligen Gott gegenüber möglich gewesen?
— aber eine andere, neue Grundlage des Verhältnisses
zwischen Gott und Israel sollte geschaffen werden.
Diese neue Sache war das Königtum, freilich
nicht so, wie das Volk in seinem Unglauben nach ihm
verlangte, sondern so wie Gott es ihm in David geben
wollte, als Vorbild auf Christum hin, den Einen, dessen
gesegneten Spuren wir im Alten Testament auf jedem
Blatt begegnen. Bisher hatte Israel als Volk vermittelst
des Priesters Gott nahen können. Blieb Gott auch
immer hinter dem Vorhang verborgen, so konnte Israel
doch als das anerkannte Volk Jehovas vor Ihn hintreten
und Ihm als ein Volk von Anbetern seine Opfer darbringen.
Der Hohepriester war ihr Haupt und Stell-
ÜXXIV 5
— tt4 —
Vertreter, der „die Ungerechtigkeit ihrer heiligen Dinge
trug" und am Versöhnungstage die Sünden des ganzen
Volkes auf den Kopf des Bockes Asasel bekannte. In
ihm war das Volk gleichsam vor Gott zusammengefaßt,
verkörpert.
Darin sollte jetzt eine Wandlung eintreten. Wenn
auch das Priestertum nach wie vor dazu diente, die persönliche
Beziehung des einzelnen zu Gott aufrecht zu halten,
hörte es doch auf, die Grundlage der Beziehung des
ganzen Volkes zu Gott zu bilden. Eli, der letzte Stellvertreter
dieses Verhältnisses, erwies sich als unwürdig
und unfähig, es zu bewahren. Seine Söhne führten ein
grob unsittliches Leben und machten die Opfergaben Gottes
verächtlich in den Augen derer, die sie darbrachten.
Eli hörte das, aber, obwohl persönlich gottesfürchtig, besaß
er nicht geistliche Kraft genug, um seinen Söhnen zu
wehren. Er liebte und ehrte sie mehr als Gott. Die
notwendige Folge war Gericht. Gott ließ ihm durch einen
Boten, einen „Mann Gottes", sagen, daß Er ihn und alle
seine Nachkommen dem Schwerte übergeben und in die
„Wohnung" einen Bedränger kommen lassen werde; an
Elis Stelle aber werde Er sich einen treuen Priester
erwecken, der werde tun, was in Seinem Herzen und in
Seiner Seele sei, und werde beständig wandeln vorSei -
nem Gesalbten (zunächst David, im weiteren Sinne
Christus) alle Tage?)
Aaron hatte vier Söhne: Nadab und Abihu, Eleasar
und Jthamar. Nadab und Abihu starben in der Wüste,
*) Vergleiche auch den Schluß des Lobgesangs Hannas:
„Jehova wird . . . Macht verleihen Seinem König und erhöhen
das Horn Seines Gesalbten". (Kap. 2, 10.)
— 115 —
weil sie „fremdes Feuer" darbrachten (3. Mose 10, 1—5),
ohne Söhne zu hinterlassen, (1. Chrom. 24, 2.) Eli
war ein Nachkomme Jthamars, des vierten Sohnes
Aarons. Das Hohepriestertunr war also damals in dieser
Familie; nunmehr sollte es zu der Familie Eleasars zurückkehren,
dessen Sohn Pinehas einst in der Sache des
Peor mit heiligem Eifer für Jehova geeifert und deshalb
„für sich und seinen Samen einen Bund ewigen Priestertums"
von Gott empfangen hatte. (4. Mose 25, 10—
43.) Iadok, ein treuer Nachkomme des Pinehas, empfing
unter der Regierung Davids die hohepriesterliche
Würde, während die Familie Elis nach und nach von dem
«»gekündigten Gericht erreicht wurde. (Vergl. 2. Sam.
15, 24 ff.; 1. Kön. 1, 32; 2, 26. 27. 35; Hes. 44, 15.)
In dem 1. Buche Samuels finden wir eine Art
Übergangszeit aus dem ersten Verhältnis des Volkes Israel
Gott gegenüber zu dem zweiten. Der König, der
fortan als der eigentliche Träger der Verantwortlichkeit
den: Volke vorstehen sollte, und von dessen Verhalten die
Treue oder Untreue des Volkes größtenteils abhing, war
noch nicht da, das Priestertum war untreu geworden, und
die Bundeslade, der Mittelpunkt der bisherigen Beziehung
zu Gott, fiel in die Hände der Philister und weilte nachher
viele Jahre lang in dem Hause Abinadabs zu Kirjath-
Jearim, wo der Sohn Abinadabs „sie hütete". Die beiden
Söhne Elis waren in der Schlacht gefallen, und Eli war
bei der Nachricht von dem Verlust der Bundeslade rücklings
vom Stuhle gefallen und hatte das Genick gebrochen.
(Kap. 4—7.) Welch eine Lage für das Volk Gottes!
Ehe jedoch die Dinge sich so überaus traurig gestalteten,
ja, gerade im Blick auf die kommende ernste Zeit
— 116 —
hatte die Treue Gottes bereits eine Vorsorge in der Berufung
Samuels getroffen. Samuel, der Prophet
Jehovas, wie er in Kap. 3, 20 genannt wird (vergl.
2. Chrom 35, 18; Apstgsch. 13, 20), sollte fortan das
Bindeglied zwischen Gott und Seinem Volke bilden. Sein
Name bedeutet: „von Gott erhört". Die rührende Geschichte
seiner Geburt ist uns bekannt. „Um diesen Knaben
habe ich gefleht", sagt die gottesfürchtige Mutter,
wenn sie ihr Kind, sobald sie es entwöhnt hat (also in
noch sehr jugendlichem Alter) zu Eli bringt, „und Jehova
hat mir meine Bitte gewährt. . . alle die Tage, die er
lebt, ist er Jehova geliehen." So blieb denn Samuel bei
Eli, im Hause Jehovas, und „diente vor Jehova, ein
Knabe, umgürtet mit einem leinenen Ephod . . . und der
Knabe Samuel wurde groß bei Jehova". (Kap. 2.)
Während die bösen Söhne Elis sogar am Eingang des
Zeltes der Zusammenkunft ihre Schandtaten trieben, wurde
Samuel „fort und fort größer und angenehmer, sowohl
bei Jehova als auch bei den Menschen". Wie erinnert uns
dieses Wort an den Einen, Vollkommenen, von welchem
der Heilige Geist durch den Evangelisten Lukas berichtet:
„Und Jesus nahm zu an Weisheit und an Größe und an
Gunst bei Gott und Menschen"! (Luk. 2, 52.) Aber in
welch furchtbarem Gegensatz dazu steht die Botschaft des
„Mannes Gottes" an Eli!
Ist es ein Wunder, daß bei einer solchen Sachlage
das Wort Jehovas „selten" und Gesichte „nicht häufig"
waren? An wen hätte Gott sich wenden, wem Seine
Botschaften anvertrauen können? Da gab es nur noch
einen, und dieser eine war ein Knabe, aber er war
treu und wich nicht aus der Gegenwart Gottes. Die
— tt7 —
Augen des alten Eli waren in geistlichem und leiblichem
Sinne blöde geworden, aber Samuels Augen wachten
umso treuer über die Wohnung Gottes zu Silo. „Er lag
im Tempel Jehovas, wo die Lade Gottes war." Zwar
„kannte er Jehova noch nicht, und das Wort Jehovas war
ihm noch nicht geoffenbart" (Kap. Z, Z. 7), aber die Stunde
seines ersten persönlichen Bekanntwerdens mit Jehova
war nahe. Seine Treue sollte belohnt werden. „Wer da hat,
dem wird gegeben werden." So war es damals, und so
ist es heute. — Ach, wenn wir das ernste Wort nur mehr
beachten wollten!
Samuel lag also im Tempel Jehovas. „Da rief
Jehova den Samuel." In der Meinung, Eli habe ihn
gerufen, geht Samuel dreimal zu diesem hin, und erst
beim dritten Male steigt in Eli der Gedanke auf, daß
Jehova vielleicht zu dem Knaben rede. Armer Mann!
Er sah und hörte nicht mehr und mußte nun die bittere
Erfahrung machen, daß Gott ihn, den berufenen Vermittler
Seiner Gedanken, beiseite setzte und einen Knaben an
seine Stelle treten ließ. Anscheinend hatte Gott schon seit
so langer Zeit nicht mehr mit ihm geredet, daß es ihm
eine ganz fremde Sache geworden war. Als Samuel sich
zum vierten Male wieder an seinen Ort gelegt hatte, kam
Jehova und trat hin und rief wie die anderen Male:
„Samuel! Samuel!"
Bisher hatte Gott den Namen des Knaben nur einmal
genannt; jetzt dringt laut und feierlich, wenn auch
nur Samuel vernehmlich, der Ruf zweimal durch die
Stille der Nacht. Der Knabe weiß jetzt, von wem der
Ruf kommt, und die Wiederholung seines Namens läßt
ihn noch mehr den heiligen Ernst des Augenblicks erken
— U8 —
nen. Mit welchen Gefühlen mag er geantwortet haben:
„Rede, denn dein Knecht hört"! Und was mag durch
seine Seele gegangen sein, als ihm dann das vernichtende
Urteil Gottes über Eli und sein Haus verkündigt wurde!
Wahrlich, der Anfang der Prophetenlaufbahn Samuels
war ernst, entsprechend den Zeiten, in welche sein Los gefallen
war. Aber anderseits welch ein Vorrecht für ihn,
auf diesem Wege in die geheimen Gedanken Gottes eingeführt
zu werden, wie Jahrhunderte vorher sein Vorfahr
Abraham, und in Gottes Hand als ein nützliches Werkzeug
für andere dienen zu dürfen, während Eli verworfen
wurde!
Mein Leser! Diese Dinge sind zu unserer Belehrung
niedergeschrieben. Gottes heilige Grundsätze in den Wegen
Seiner Regierung sind immer die gleichen. Er kann sich
selbst nicht verleugnen. Wir wollen uns das immer wieder
ins Gedächtnis rufen. Gottes Freude ist es, stets größere
Gnade darzureichen, aber Er kann sich nur denen offenbaren,
die in Treue und Heiligkeit vor Ihm wandeln. Indem
Samuel sich streng von dem ihn umgebenden Bösen
abgesondert hielt, ehrte er Gott, und Gott ehrte ihn. —
Gleichen wir ihm? Oder gleichen wir mehr dem alten Eli,
der persönlich sich zwar nicht mit dem Bösen befleckte, aber
Sauerteig in seinem Hause duldete?
Samuel, der erste in der Reihe der alttestamentlichen
Propheten (abgesehen von vereinzelten Prophezeiungen, wie
z. B. diejenige Henochs), stand von nun an als Jehovas
Mund zwischen Gott und Seinem Volke. Kein anderer
Hohepriester trat vorläufig an die Stelle Elis. Israel
war wie eine Herde Schafe, die keinen Hirten haben, diente
fremden Göttem und seufzte unter der Herrschaft der Phi
— 779 —
Ilster. Jede äußere Verbindung mit Gott war gelöst. Der
einzige, dem Gott sich kundgab, und durch den Er redete,
war Samuel. „Jehova war mit ihm und ließ keines von
allen seinen Worten auf die Erde fallen. Und ganz Israel,
von Dan bis Beerseba, erkannte, daß Samuel als Prophet
Jehovas bestätigt war."
Wo Samuel während der zwanzig Jahre, die der unglücklichen
Schlacht bei Aphek folgten, gewohnt hat, wird
uns nicht gesagt. Ist er noch lange in Silo geblieben,
oder schon bald nach Rama, seinem späteren Wohnort,
übergesiedelt? Wir wissen es nicht. Es ist auch unwichtig;
viel wichtiger ist die Tätigkeit, die er in dieser langen
Zeit ausübte, die freilich nicht ins Auge fiel, aber von
umso durchschlagenderer Bedeutung war. Worin bestand
sie denn? Samuel betete! Sicherlich hat er es auch
nicht an Vorstellungen und Mahnungen fehlen lassen; aber
er fand kein Gehör, bis endlich, nach zwanzig langen Jahren,
ein Aufwachen der Gewissen erfolgte und „das ganze
Haus Israel wehklagte Jehova na ch". (Kap. 7, 2.)
Die wahre Stärke eines Gläubigen und der höchste
Nutzen eines Knechtes Gottes liegen bekanntlich nicht so
sehr in ihrer Erkenntnis oder Begabung, als vielmehr in
ihrem verborgenen Umgang mit Gott. Alle treuen Männer
Gottes, ja, die gesegnetsten Werkzeuge Seiner Hand
waren stets treue Beter. Samuel war es in besonderem
Maße. Von ihm lesen wir in Ps. 99, 6: „Mose und
Aaron unter Seinen Priestern, und Samuel unter denen,
die Seinen Namen anrufen, riefen zu Jehova usw."; und
in Jer. 75, 7 spricht Jehova zu Jeremia: „Wenn auch
Mose und Samuel vor mir ständen, so würde meine Seele
sich nicht zu diesem Volke wenden". Beide Stellen be
120
weisen, daß Samuel viel vor Gott gestanden und anhaltend
zu Ihm gerufen hat. Die Bitte des Volkes in Kap.
7, 8: „Laß nicht ab, für uns zu Jehova, unserem Gott,
zu schreien", und sein eigenes Wort in Kap. 12, 23:
„Fern sei es von mir, daß ich gegen Jehova sündigen,
daß ich ablassen sollte, für euch zu bitten", bestätigen das
Gesagte.
Wie wird sein Herz gejubelt haben, als endlich sein
Flehen Erhörung fand und das Volk zur Erkenntnis des
Verlustes seiner Verbindung mit Jehova kam und auf
Samuels Aufforderung, mit ihrem ganzen Herzen zu Jehova
umzukehren und die fremden Götter aus ihrer Mitte
Hinwegzutun, sich von den Baalim und den Astaroth reinigte
und „Jehova allein diente"! Und es blieb nicht bei
dieser äußeren Reinigung. Auf Samuels Geheiß hin versammelte
sich ganz Israel nach Mizpa, demütigte
sich vor Gott und sprach: „Wir haben gegen Jehova
gesündig t". (Kap. 7.) Die gesegneten Folgen
dieser aufrichtigen Umkehr sind uns bekannt. Ein großer,
entscheidender Sieg über die Philister wurde erstritten, sodaß
sie fortan nicht mehr in die Grenzen Israels kamen.
„Die Hand Jehovas war wider sie alle Tage Samuels."
Eben-Eser, der Stein der Hilfe, den Samuel zu Mizpa
errichtete, erinnerte das Volk für alle Zeiten daran, daß
Jehova bis hierher geholfen hatte. „Samuel richtete Israel
alle Tage seines Lebens", und mit welch einer Uneigennützigkeit
und Treue er seines Amtes gewaltet hat, davon
gibt uns Kap. 12, 3—5 Kunde.
Zweimal gerufen — und, Gott sei gepriesen! nicht
umsonst! In späteren Tagen klagt Gott einmal: „Ich
— 121 —
suchte einen Mann unter ihnen, der die Mauer zumauern
und vor mir in den Riß treten möchte für das Land,
auf daß ich es nicht verderbte; aber ich fand keine n".
(Hes. 22, 30.) Samuel ließ sich zu seiner Zeit finden,
und welch einen Segen hat dieser einzelne Mann unter
Gottes Leitung über sein Land und Volk gebracht! Er
war nicht nur Prophet, sondern Richter, Priester und Mittler
zugleich.
Lieber gläubiger Leser! Wollen wir uns nicht auch
finden lassen in diesen letzten Zeiten der Verwirrung und
des Abfalls von Gott? Gewiß, wir leben in den Tagen
kleiner Kraft und kleiner Dinge, aber Gott legt auch heute
auf die persönliche Treue und Hingebung besonderen Se­
gen.
Wo ist denn der „Mensch Gottes", der Gott geweihte
„Nasir", der den Ruf Gottes vernimmt und, wie einst
Samuel und andere, bereit ist, „in den Riß zu treten"?
Betrachtungen
über den Propheten Hosea
(Schluß)
4. Teil. Kapitel 14
Buße und Wiederherstellung Israels
In diesem Kapitel sind wir Zeugen des glücklichen
Ausgangs aller Wege Gottes mit Seinem Volke. Die
Flut der Vorwürfe ist versiegt, die Stimme des Gerichts
verstummt. Der Aufruf zur Buße hat endlich einen
Widerhall in dem Herzen Israels gefunden. An dem
Tage, als der Prophet sie zur Buße und Umkehr ermahnte
und ihnen die daraus hervorgehenden Segnungen ankün
122
digte (Kap. 6, 1—3), hatten sie ihm kein Gehör geschenkt.
Jetzt aber, wo die Bedrängnis den Höhepunkt erreicht hat
(vergl. Kap. 5, 15), wird ihr Ohr endlich aufgetan, um
der Stimme Jehovas zu lauschen: „Kehre um, Israel,
bis zu Jehova, deinem Gott, denn du bist gefallen durch
deine Ungerechtigkeit. Nehmet Worte mit euch und kehret
um zu Jehova; sprechet zu ihm: Vergib alle Ungerechtigkeit,
und nimm an was gut ist, daß wir die Frucht
unserer Lippen als Schlachtopfer darbringen." (V. 1. 2.)
Israel kehrt um. Es bringt Worte mit, deren Ausdruck
wir so oft in den Psalmen finden (Ps. 103, 2;
130, 3; 51, 1—17; 69, 30, usw.), und die jetzt aus
einem Munde ohne Falsch hervorgehen. Eine volle Vergebung,
eine Vergebung aller Ungerechtigkeit, daö ist es,
wonach ein von der Sünde überführtes und von der Gnade
angezogenes Herz verlangt. Gott kann das, „was gut
ist, annehmen", daö, was Ihm und Seinen Gedanken
entspricht: die Buße eines Volkes, das sich zu Ihn: wendet
und seine Sünden bekennt. So verband sich auch der
Herr mit den „Herrlichen auf Erden", die zur Taufe der
Buße kamen. Indem Gott sie nun so empfing, nahm
Er an, was gut war. In diesem Zustand ist von der
Sünde keine Rede mehr, dank des am Kreuze vollbrachten
Erlösungswerkes Christi, das Gott zu unserer völligen
Rechtfertigung annimmt. Wenn dem aber so ist, kann
Sein Volk den Lobgesang anstimmen. Es handelt sich für
Israel nicht mehr um das Blut von Stieren und Böcken,
das weder die Sünden wegnehmen, noch das Volk vor
Gott angenehm machen kann, sondern um die „Schlachtopfer
seiner Lippen". Die Frucht der Lippen, die Seinen
Namen bekennen, die Opfer des Lobes, sind fortan die
123
einzigen Opfer, die Ihm gebracht werden können; denn
daö Versöhnungsopfer ist einmal dargebracht worden und
hat für immer die Forderungen der göttlichen Heiligkeit
befriedigt.
„Assyrien wird uns nicht retten; auf Nossen wollen
wir nicht reiten." Israel sucht nicht mehr den Schutz
einer feindlichen Welt und vertraut nicht mehr auf die
natürliche Kraft, um dem Bösen zu entrinnen oder ihm
die Stirn zu bieten. „Zu dem Machwerk unserer Hände
wollen wir nicht mehr sagen: Unser Gott! denn die Waise
findet Erbarmen bei dir." (V. 3.) Wie könnten die Kälber
zu Bethel noch weiter ihr Herz ausfüllen? Zeder-
Stütze, jeder menschlichen Zuflucht beraubt, ohne irgend
ein Band, daö es wieder mit Gott verbinden könnte, hat
dieses niedergebeugte, von allem entblößte Volk, diese
Waise, dieses Lo-Ammi und Lo-Ruchama, Ihn und die
Schätze Seines Herzens wiedergefunden: einen Vater statt
eines Richters, Barmherzigkeit an Stelle des Gerichts.
Nachdem das Gericht vorüber ist, bleibt die Liebe allein
bestehen.
Ohne Zögern (V. 4—7) erklärt Gott, was Er für
sie sein will, wenn sic Worte mit sich genommen haben,
unr zu Ihm zurückzukehren: „Ich will ihre Abtrünnigkeit
heilen, will sie willig lieben; denn mein Zorn hat sich
von ihm abgcwendet. Ich werde für Israel sein wie der
Tau: blühen soll es wie die Lilie, und Wurzeln schlagen
wie der Libanon." (V. 4. 5.) Gott wird alle Folgen
ihrer Abtrünnigkeit wegnehmen und ihr Elend durch die
Segnungen eines neuen Lebens ersetzen. Er wird sie
„willig lieben" können. Diese Liebe war stets in
Seinem Herzen, denn sie ist daö Wesen Gottes, aber ihre
124
Offenbarungen waren hintangehalten worden durch die
Untreue des Volkes, durch ihre Herzenshärtigkeit und die
schrecklichen Gerichte, die Er über sie bringen mußte. Gott
wird für Israel sein wie der Tau: eine himmlische Erquickung,
deren Quelle die gesegnete Person Christi sein
wird. Sein Volk wird blühen wie die Lilie: ein Sinnbild
der Gnade, der Schönheit und des herrlichen Schmuckes
der Erde. „Es wird Wurzeln schlagen wie der Libanon."
Man beachte die Rolle, die der Libanon in dieser ganzen
Szene spielt. Er ist das Sinnbild der Festigkeit der Regierung
Christi. Wie die majestätischen Zedern, die dieses
Gebirge bedecken, so wird Israel seine Wurzeln ausbreiten
und nie mehr gefällt werden. Auch seine Schößlinge sollen
sich ausbreiten, und sein Same wird die Erde besitzen.
Sein Duft wird gleichfalls wie der des Libanon sein, der
dem König, dem Bräutigam Israels, ein vollkommener
Wohlgeruch ist. (Hohel. 4, 1.0. 11.) Schließlich wird
ihr Ruf sein wie der Wein des Libanon: eine Quelle der
Freude für die ganze Erde, einer Freude, die sich auf eine
in Ewigkeit feststehende Regierung gründet. (V. 5—7.)
Aus diesem neuen Schauplatz wird auch die „Pracht des
Olivenbaumes" ihr Teil sein. Wiedereingepfropft in den
eigenen Stamm, wird Israel wieder strahlen in der ersten
Schönheit seines Königtums und Priestertums (Sach. 4,
3; Offbg. 11, 4), ein Sinnbild deö Friedens für die erneuerte
Erde, wie ehemals nach der Sintflut das Blatt,
das die Taube Noahs in ihrem Schnabel brachte. Auch
wird man unter seinem Schatten wohnen (V. 7) und
unter ihm Schutz suchen, der allen angeboten wird. „Sie
werden wieder Getreide hervorbringen und blühen wie ein
Weinstock." Ein Überfluß an Frucht (Kap. 2, 22) wird
125
vorhanden sein, und ein neues Aufblühen des Weinstocks
des Messias wird seinen Frühlingsduft verbreiten. *)
*) Man beachte hier die Erwähnung von drei Bäumen, die
als Bilder von Israel in die tausendjährigen Segnungen eingeführt
werden: Zeder, Olivenbaum und Weinstock.
Die Zeder. Das Gebirge des Libanon ist, wie wir sagten,
ein Symbol der Festigkeit der Regierung Christi. Die Zedern,
die es bedecken, sind ein Bild Israels, das ehemals durch die Nationen
zerstört wurde (Jes. 37, 24), jetzt aber in seiner Macht
und seinem Glanz wicderhergestellt ist. Dieses Israel wird einen
wesentlichen Teil des Hauses Jehovas bilden. (Vergleiche den
Tempel und das Haus des Libanon unter Salomo.)
Der Olivenbaum ist das Bild des Überrestes von
Israel, der nach Wahl der Gnade aufs neue in den Stamm
der Verheißungen eingepfropft und nach dem Fall der Nationen
wiederhergestellt werden wird. Dieser Überrest wird die Gesamtheit
des Volkes unter der Herrschaft des Messias bilden,
nachdem die abtrünnigen Juden vernichtet sein werden.
Der Weinstock ist das Bild des wiederhergestellten Israel
hinsichtlich seiner Lebensverbindung mit Christo, dem wahren
Weinstock, fähig, fortan Frucht für Gott zu bringen, nachdem es
ehedem wie ein unfruchtbarer Weinstock zerstört worden war.
Es sei noch bemerkt, daß der so oft in der Schrift als
Symbol der jüdischen Nation erwähnte Feigenbaum
hier mit Stillschweigen übergangen wird, da das endgültige Urteil
über dieses Volk bereits verkündigt ist: „Nimmermehr komme
Frucht von dir in Ewigkeit!" (Matth. 21, 19.) Das hindert
jedoch nicht, daß der Feigenbaum mit demselben Recht wie der
Weinstock ein Sinnbild der Ruhe und des tausendjährigen Segens
ist. (Micha 4, 4; Sach. 3, 10; 1. Kön. 4, 25.)
Das sind die tausendjährigen Segnungen, die Israels
Umkehr herbeiführen wird.
Der 8. Vers läßt uns Zeuge eines lieblichen Gedankenaustausches
sein zwischen Jehova und Ephraim. Ähnliches
finden wir in gewissen Psalmen. In diesem Austausch
tritt eine völlige Übereinstimmung der redenden Personen
zutage.
— 426 —
„Ephraim wird sagen: Was habe ich fortan mit den
Götzen zu schaffen?" Israel hat seinen Christus, seinen
Retter und König gefunden. Die falschen Götter spielen
keine Rolle mehr, weder in seinem Herzen noch in seinem
Leben. So ist es stets, wenn die Seele einen Gegenstand
gefunden hat, der sich ihrer bemächtigt, und dem sie einen
höheren Preis beimißt als den elenden Nichtigkeiten dieser
Welt.
„Ich"/ sagt der Herr, „ich habe ihn erhört und auf
ihn geblickt." Er, der wahre Gott, wird es sein, mit den:
Ephraim zu tun haben wird. Ich werde alle seine Bitten
erhören, sagt Er; ich werde dich erleuchten durch das An-
schauen meines Angesichts, gemäß der Bitte: „Erhebe,
Jehova, über uns das Licht deines Angesichts!" (Ps. 4, 6.)
Unter dem Einfluß dieses Anschauenö wird Ephraim
sagen: „Ich bin wie eine grünende Cypresse". Die Cy-
presse, deren Blatt nie verwelkt, wächst mit der Jeder
auf dem Libanon und bildet mit ihr den Schmuck des
Tempels Jehovas, (4. Kön. 5, 8, 40; 6, 45; 2. Chron.
2, 8.) Wieviele gesegnete Gedanken werden durch dieses
eine Wort wachgerufen! Es erinnert uns an ein ununterbrochenes
Zeugnis, an Festigkeit, Heiligkeit, unvergänglichen
Schmuck des Heiligtums, an die Nähe Jehovas.
Der Messias antwortet: „Aus mir wird deine Frucht
gefunden". Wie unsagbar lieblich ist dieses Schlußwort!
Wie sehr entspricht es Seinem eigenen Herzen und dem des
wiederhergestellten Israel! Christus will gleichsam daö
letzte Wort haben, und Er freut sich, bei Seinen: Volke
die Frucht Seiner Gnade zu finden. „Von der Mühsal
Seiner Seele wird Er Frucht sehen und sich sättigen."
(Jes. 53, 44.) Dieser ganze Segen hat keinen anderen
727
Ursprung. Nichts stammt vom Menschen, alles kommt
von Gott! Za, wie darf das Herz Seiner Vielgeliebten
in stiller Bewunderung antworten: „Alle meine Quellen
sind in dir"! (Ps. 87, 7.)
Der y. Vers beschließt und faßt die ganze Prophezeiung
Hoseaö noch einmal zusammen: „Wer weise ist,
der wird dieses verstehen; wer verständig ist, der wird
es erkennen. Denn die Wege Jehovas sind gerade, und
die Gerechten werden darauf wandeln; die Abtrünnigen
aber werden darauf fallen." Ist das nicht tatsächlich der
Schluß, die Folgerung des ganzen Buches? Um es zu
verstehen, bedarf es einer von oben kommenden Weisheit
und Einsicht, die Gott den Seinen aber nicht verweigert,
während die Weisen dieser Welt unseren Propheten
geradeheraus als unverständlich und sinnlos hinstellen.
Doch das Ergebnis ist so einfach und offenkundig wie
möglich. Eö sind die Wege Gottes. Sie sind gerade,
sind der Weg deö Gerechten und bilden seine Bewahrung,
während sie Verderben und Untergang bedeuten
für die Übertreter, für alle, die eö ablehnen, sich dem
Willen Gottes zu unterwerfen.
* *
Daö also ist dieses wunderbare Buch. In seinem
Ungestüm greift es unvermutet die Seelen an, um sie
zu treffen und zu überzeugen. Wenn es wie mit wilden
Wogen die Ufer überschreitet, so geschieht eö, um die Gewissen
zu erreichen.' Ein starkes Wehen der Liebe durchzieht
die glühenden Worte der Entrüstung. Die Offenbarung
der Person und des Werkes des Herrn möchte ieb
einem still dahinfließenden, unterirdischen Strom verglei-
1.28
chm, der dasselbe Ziel verfolgt wie die brausenden Fluten
an der Oberfläche. In diesen Strom senkt Gott die Wurzeln
der zukünftigen Segnungen ein, doch das Verachten
dieses lebendigen Wassers wird das Urteil eines unnachsichtlichen
Richters finden.
Wie wir schon im Anfang sagten, ist es unmöglich,
Hosea zu studieren, ohne ihn zu umschreiben; so weit sind
die Gedanken scheinbar voneinander entfernt und sich
fremd. Aber der Heilige Geist enthüllt uns die Verbindungen,
und die Entdeckungen, die wir unter Seiner Leitung
machen, vermehren noch das Interesse für diese wunderbaren
Kapitel. Ohne Zweifel nehmen sie nicht, wenn
wir uns so ausdrücken dürfen, den umfassenden und majestätischen
Lauf, wie er Jesaja mehr als jeden anderen
Propheten kennzeichnet, obgleich der eine wie der andere
sich mit dem Assyrer beschäftigt. Hier ist, wie wir schon
sahen, der Gegenstand beschränkter. Die einzigen Völker,
die bei Hosea auf den Schauplatz treten, sind Ägypten und
Assyrien. Das jüdische Volk trägt viel häufiger den Charakter
von Ephraim alö den von Juda. Das liegt daran,
daß die Stunde der Vergeltung für die zehn Stämme bereits
geschlagen hat, während noch mehr als ein Jahrhundert
vergehen muß, bis die Sterbeglocke das Ende des
Hauses Davids ankündigt. Nach dem Toben des Sturmes,
der nur hie und da von einzelnen Sonnenblicken
durchbrochen wird, findet das Auge endlich Ruhe in dem
Anschauen des friedlichen Bildes eines durch die Gnade
wiederhergestellten Volkes, das unter der Herrschaft des
Messias die Gemeinschaft mit seinem Gott wiedergefunden
hat.
— 42Y —
Aufzeichnungen
aus einer gemeinsamen Betrachtung^
über Richter 13—r6
Das Buch der Richter ist daS Buch des Verfalls
Israels, der schließlich so weit ging, daß ein jeder tat was
recht war in seinen Augen. Daö Buch Josua schildert die
Einführung des Volkes in daö gelobte Land und die Besitzergreifung
desselben unter der Führung Josuas, eines Vorbildes
von unserem Herrn Jesus und der in uns wirkenden
Kraft Seines Geistes. DaS Gegenbild des Buches
Josua im Neuen Testament ist der Epheserbrief, in welchem
uns das himmlische Kanaan mit seinen Segnungen
und unsere Einführung in dieselben vor Augen gestellt
werden.
Solang Josua und die Ältesten lebten (Jos. 24, 34),
stand es noch leidlich gut um Israel, dann aber zeigten sich
bald Niedergang und Verfall. Nicht nur ließ Israel viele
Feinde am Leben, die ihnen dann zu Stacheln in der Seite
wurden, sondern eö vermischte sich auch mit den Bewohnern
des Landes und verfiel dem Götzendienst. Das Gericht
konnte nicht auöbleiben, denn Gott ist ein heiliger
Gott; Er ist treu und kann sich selbst nicht verleugnen. So
gab Er denn Sein Volk „in die Hand ihrer Feinde ringsum".
Wandte eö sich dann aber in der Not zu Jehova
zurück und schrie zu Ihm, so gedachte Er Seines Bundes
mit ihren Vätern und sandte ihnen Richter und Retter,
unter deren Führung sie die Feinde besiegten. (Vergl.
Neh. y, 27.)
") Im Monat März in Elberfeld.
— lzo —
So ging es lange Zeit, bis der Zustand so schlimm
wurde, daß daö Volk alö Ganzes sich mit der Unterjochung
unter seine Feinde abfand und gar nicht mehr
nach Befreiung verlangte. Damit hörten die Tage der teilweisen
oder allgemeinen Erweckungen auf, und es begann
die Zeit des Einzel Zeugnisses, der p e r s ö nl i ch e n A b-
sonderung von dem allgemeinen Verderben, die im
Neuen Testament im 2. Brief an Timotheus ihr Gegenbild
findet. Denn in ganz gleicher Weise, wie bei Israel,
ist daö Verderben auch in die Kirche eingedrungen. Wurde
auch in den ersten Jahrhunderten nach dem Tode der
Apostel durch Verfolgungen seitens der Welt, durch Erweckungen
usw. zeitweise das eindringende Verderben aufgehalten
— im Laufe der Zeit kam es so weit, daß die
Welt nicht nur in die Kirche eindrang, sondern die Oberhand
in ihr gewann und schließlich die Leitung in die Hand
»rahm. Und wie die Israeliten zu Simsons Zeit ihrem
Retter Vorwürfe darüber machten, daß er sie aus der
Hand ihrer Feinde zu befreien suche (Kap. 15, 11), so
wird man heute in der Christenheit ärgerlich, ja, ernstlich
böse, wenn jemand aufsteht und von der Befreiung des
Volkes Gottes aus der Macht Satans oder von der Notwendigkeit
einer Absonderung von der Welt redet: man
hat sich der Herrschaft der Welt unterworfen und fühlt
sich wohl in der Verbindung mit ihr.
Im Anfang der Richterzeit, in den Tagen eines Barak,
Gideon oder Jephtha, fand der Weckruf noch ein Echo
in den Herzen deö Volkes; große Scharen strömten zusammen,
um unter der Führung jener Männer den Feind
niederzuschlagen. In den Tagen Simsons aber gab es
kein Verstehen, kein Aufmerken mehr unter dem Volke;
— rzr —
die eigenen Eltern verstanden Simson nicht. Ganz allein
»rußte er seinen Weg gehen, als „ein Nasir Gottes von
Mutterleibe an".
Ähnlich im 2. Brief an Timotheus. Der Verfall
(noch nicht der völlige Abfall) ist vollständig, und es
bleibt dem Treuen nichts anderes übrig als „Absonderung"
(Kap. 2, 2b ff.), und zwar eine immerwährende
Absonderung. Darum lesen wir immer wieder: „Du aber,
o Mensch Gottes, fliehe diese Dinge... du nun, sei
stark . . . duaber, sei nüchtern" usw.
Jur Zeit der Wüstenwanderung Israels und nachher
konnte ein Mann oder ein Weib sich freiwillig, auf Grund
eines Gelübdes, vorübergehend, für eine bestimmte Zeit,
für Jehova absondern (vergl. 4. Mose b), in den Tagen des
allgemeinen Verfalls aber wird das Nasiräat fortdauernd.
So war es bei Samuel, dem Propheten, so bei
Johannes, dem Täufer, und so ist es hier bei Simson.
Bemerkenswert ist, daß die Mütter dieser drei Männer
alle unfruchtbar waren. Da, wo für den Menschen
jede Hoffnung zu Ende ist, beginnen die Möglichkeiten
Gottes. Man sagt mit Recht: Des Menschers Hoffnungslosigkeit
ist Gottes Gelegenheit. Er weckt Leben aus dem
Tode, wandelt das dürre Land in ein Fruchtgefilde um.
Simson war ein Nasir Gottes, von Gott dazu ersehen
und zuvorbestimmt; und obwohl er viel Verkehrtes
und Fleischliches getan hat und die Leidenschaftlichkeit seiner
Natur immer wieder hervortrat, offenbarte er anderseits
doch Liebe zu seinem Volke und eine Übereinstimmung mit
den Gedanken Gottes bezüglich der Feinde, und solang er
das Geheimnis seiner Kraft bewahrte, war er unüberwindlich,
sobald er es preisgab, schwach wie ein anderer Mensch.
— 1Z2 —
Im ersten Verse unseres Kapitels lesen wir zum
siebenten Male: „Und die Kinder Israel taten, was
böse war in den Augen Jehovas". (Kap. 2, 77; 3, 7. 72;
4, 7; 6, 7; 70, 6.) Der Versall war vollständig, „und
Jehova gab sie in die Hand der Philister vierzig
Jahre".
Früher hatten mehr die äußeren Feinde als Gottes
Zuchtrute gedient, und Besserung und Umkehr waren die
Folge gewesen; jetzt aber gibt Gott Sein Volk in die Hand
der im Lande wohnenden Feinde, und das Ergebnis ist
ein Erlahmen jeder Kraft und ein gänzliches Vergessen der
Berufung als Volk Gottes. Genau so ist es in der Geschichte
der Kirche gewesen. Die äußeren Feinde, Verfolgungen
und dergl. waren der Kirche nicht schädlich; sie
haben ihr viel eher Nutzen und Förderung gebracht. „Der
Same der Kirche ist Märtyrerblut", heißt es mit
Recht. Sobald aber im Inneren die Feinde die Oberhand
zu gewinnen begannen, und ein äußeres Bekenntnis
an die Stelle der inneren Kraft trat, war es um ihr Zeugnis
geschehen. Früher verfolgte die heidnische Welt die
Kirche, jetzt wird sie von einer religiösen Welt regiert, die
ihr den Charakter als Weltkirche aufprägt.
Drei Dinge kennzeichneten einen Nasir in Israel:
7) er durfte keinen Wein trinken, ob süß oder sauer, noch
irgend etwas essen, was vom Weinstock kommt; 2) er durfte
sein Haupthaar nicht scheren lassen, und 3) zu keiner Leiche
eines Toten kommen, auch nicht, wenn es sich um seine
nächsten Blutsverwandten, Vater oder Mutter, handelte.
Alle Tage seiner Absonderung war er Jehova heilig. (4.
Mose 6, 7—8.) Mit anderen Worten: ein für Gott Ab
— 133 —
gesonderter enthält sich aller gesellschaftlichen Freuden
(„der Wein erfreut des Menschen Herz"), begibt sich des
Zeichens seiner persönlichen Würde und Kraft (das lange
Haar ist ein Zeichen der Schwachheit und Unterwürfigkeit,
deshalb „eine Unehre für einen Mann", 1. Kor. 11,
14) und enthält sich jeder Berührung mit der Sünde
und ihren Folgen. Jeder Gläubige sollte Zeit seines Lebens
in diesem geistlichen Sinne ein Nasir Gottes sein.
Der einzig vollkommene Nasir war Jesus. Er konnte
in Wahrheit sagen: „Auf dich bin ich geworfen von Mutterschoße
an, von meiner Mutter Leibe an bist du mein
Gott". (Ps. 22, 10.) Die Gefahren, durch Geselligkeit *)
und Berührung mit der Welt „das Haupt unserer Weihe"
zu verunreinigen, sind in unseren Tagen besonders groß,
nicht minder gefahrvoll ist aber auch die Neigung zu Unabhängigkeit
und Hochmut. Wohl nie hat man so viel
von dem Selbstbestimmungsrecht und der Würde des Menschen
reden hören, wie gerade heute. Seien wir deshalb
auf der Hut!
*) Ium Beispiel bei Hochzeitsfesten, Geburtstagsfeiern und
dergleichen. Wie leicht läßt man sich da zu weit gehen und ist
nachher unglücklich! Das Gewissen ist beschwert und die geistliche
Kraft dahin.
Die Eltern Simsons waren einfache Leute mit wenig
geistlichem Verständnis, aber treu und gottesfürchtig. Das
Weib war weiter gefördert als der Mann. (Kap. 13, 23.)
Sie wollen dem Engel ein Mahl von einem Iiegenböcklein
bereiten. Alö dieser das ablehnt und Manoah, unter Anerkennung
seiner richtigen Gefühle, auf Gott hinweist,
bringt dieser das Böcklein als Brandopfer Jehova dar,
— rZ4 —
und zwar „aus dem Felsen". Er zeigt so mehr Verständnis
als seiner Zeit Gideon, der ein Ziegenböcklein kochte
und das Fleisch dann mit der Brühe zu dem Engel herausbrachte.
(Kap. 6.) In beiden Fällen aber kommt Gott
in Gnaden dem mangelnden Verständnis entgegen. Dasselbe
tut Er heute. Mag auch die Anbetung vieler Gläubigen,
aus Mangel an geistlicher Erkenntnis, sehr unvollkommen
sein — Gott sieht das Herz an, und durch
Christum steigen die schwachen Opfer des Lobes wohlannehmlich
zu Ihm empor. So wichtig und begehrenswert
deshalb geistliche Einsicht ist, laßt uns nicht vergessen, daß
ein der äußeren Form nach tadelloser Gottesdienst wertlos,
ja, verwerflich werden kann, wenn das Herz nicht dabei
oder gar das Gewissen befleckt ist!
Der Vater sucht heute Anbeter, die Ihn in Geist
und Wahrheit anbeten. (Joh. 4.) Die Grundlage aller
Anbetung ist Christus und das Kreuz, worauf wohl in beiden
Fällen, bei Gideon wie hier, der Felsen hindeutet.
Nur in Verbindung mit Christo und Seinem Opfer kann
die Anbetung Gott wohlgefällig sein. Jede andere ist eitel.
Erst als der Engel in der Flamme des Altars gen
Himmel fuhr, erkannten Manoah und sein Weib, daß es
der Engel Jehovas war. Aber auf diesem Wege wurden,
so schwach und unvollkommen es sein mochte, ihre Augen
und Herzen nach oben gelenkt, wie es auch bei uns heute der
Fall ist. Wir sehen heute Christum, den für uns
Gekreuzigten, hinaufgefahren gen Himmel und sitzend zur
Rechten der Majestät in der Höhe. Wie in unserer Absonderung
als Nasire, will Gott auch, daß wir in unseren:
geistlichen Verständnis als Anbet e r wachsen und
immer mehr lernen, in Seine Gedanken über Seinen
— rzs —
Sohn und über die verschiedenen Seiten Seines Opfers,
nicht nur als Sund- und Schuldopfer, sondern auch als
Speis- und Brandopfer, einzugehen.
Kapitel 44. — Die geplante Heirat Simsons war
nicht von Gott, wenn Er sich auch ihrer bedienen mochte.
Simson wartete nicht auf den Herrn, damit E r ihm eine
Gelegenheit an den Philistern gebe. Der Geist Gottes hat ihn
wahrlich nicht nach Timna getrieben, um da diese sündhafte
Verbindung anzuknüpfen. Er ging nach Timna hinab
(vergl. Luk. 40, 30; Jona 4, Z) und sah! (Die Da-
niter, *) zu denen Simson gehörte, wohnten hart an der
Grenze der Philister.) Seine Eltern warnten ihn vor der
Verbindung mit einer Tochter der Unbeschnittenen, aber
schon war sein Herz gefangen. Diese war „recht in
seinen Augen".
*) Machaneh-Dan (Lager Dans) lag im Stammgebiet Judas
(Kap. 18, 11. 12), wo ein Teil des Stammes Dan, dem bis dabin
noch kein Erbteil zugefallen war, sich niedergelassen hatte.
Wie oft geht es heute ähnlich! Anstatt auf die Leitung
deö Herrn zu warten, geht man und hält Umschau.
Verbindungen gläubiger junger Männer mit unbekehrten
Mädchen, und umgekehrt, sind leider so zahlreich geworden,
daß man erschrecken möchte. Wie sollten die älteren
Brüder und Schwestern ihre jüngeren Geschwister,
wie vor allem die Eltern ihre Kinder überwachen
und warnen! Läßt Gott in Seiner unumschränkten
Gnade zuweilen auch Gutes aus dem Bösen hervorkommen,
so sind in den meisten Fällen die Folgen
doch überaus ernst. Die Anfänge oft sehr unscheinbar,
wie einst bei Eva im Paradiese, aber die Ergebnisse erschüt
— 1Z6 —
ternd! DaS Weib in Timna war ohne Frage schön. Aber
was sind Anmut und Schönheit ohne Gottesfurcht?
(Vergl. Spr. 31., zo.)
Dem ersten Schritt auf dem Wege hinab folgt bald
der zweite; das Licht schwindet immer mehr, und schließlich
erkennt man nicht mehr, worüber man strauchelt. Wie
ganz anders ist der Pfad des Gerechten! Er ist „gerade"
(Jes. 2b, 9) und „wie das glänzende Morgenlicht, das
stets Heller leuchtet bis zur Tageshöhe". (Spr. 4,18. 19.)
Gott erhalte uns alle auf diesem Pfade!
Auch beim Heiraten können uns die drei Dinge leiten,
die in der Welt sind: Augenlust, Fleischeslust und
Hochmut des Lebens oder ein Trachten nach hohen Dingen.
Wenn es der Fall ist, können die schmerzlichsten Erfahrungen
nicht ausbleiben.
Ebenso tadelnswert und schriftwidrig wie Verlobungen
zwischen Gläubigen und Ungläubigen — „seid nicht
in einem ungläubigen Joch mit Ungläubigen" (2. Kor. 6,
14) — sind die leichtfertigen Entlobungen, wie sie heute in
der Welt an der Tagesordnung sind. Es mag einzelne
Fälle geben, wo sie nach gegenseitiger Vereinbarung in
Aufrichtigkeit und Liebe erlaubt oder geboten erscheinen,
aber diese Fälle sind gewiß sehr selten und auch dann
noch, mit geringen Ausnahmen, für beide Teile demütigend.
Auch vor den langen, zuweilen Jahre dauernden
Verlobungen ist zu warnen. Das Wort Gottes weiß davon
nichts. Sie dienen gar selten, wenn überhaupt, zur Förderung
des geistlichen Lebens, wohl aber leicht zum Schaden
beider Teile und nicht selten zur Verunehrung des
Herrn und Seines Zeugnisses. (Fortsetzung folgt.)
— rZ7 —
Aus alten Briefen j
L., Juni 7853.
-Dein lieber Brief hat mich und die Geschwister
hier recht gestärkt und getröstet, namentlich haben die Nachrichten
aus E. uns mit Lob und Dank erfüllt. Unser Gott
ist doch ein wunderbarer Gott, ein weiser und lieber Vater,
der Gebete erhört und die Seinen zu sich zu ziehen weiß.
Ich habe daraus Mut und Freudigkeit gewonnen, für
manche noch ernstlicher anzuhalten, denn es kommt die
Stunde der Errettung auch für sie. Wollen sie sich nicht
durch Güte ziehen lassen, so kommt der Ernst, und wir
dürfen uns freuen, wenn sie nur erlöst sind und der
Name unseres Gottes verherrlicht wird. In diesem Geiste
des Glaubens befehle ich Ihm auch unsere Kinder; sie
sind Sein, und es kommt eine Stunde, und wäre eö die
letzte, da wird Er offenbaren, daß sie Sein sind. Dieser
Glaube tröstet das Herz der Eltern und macht ihre Freude
groß; wo er fehlt, da gibt's Sorgen und Not.
Sehr freue ich mich auch im Herrn, daß Du mit
mir denselben kostbaren Glauben überkommen hast, daß
wir in einem Geiste beten und wandeln, und daß die Liebe
*) Unter dieser Überschrift möchte ich nach und nach einiges
aus hinterlassenen Briefen meines im Jahre I8Y- Heimgegangenen
Vaters (meist an seine Frau gerichtet) einem weiteren Kreise zugänglich
machen, in der Hoffnung, daß die Veröffentlichungen
manchem Leser nicht nur interessant, sondern auch nützlich sein werden.
Sie lassen uns Blicke tun in eine Zeit stillen, aber mächtigen
Wirkens des Geistes Gottes, in Tage der ersten Liebe und Frische,
und manchmal fühlt man sich unwillkürlich versucht auszurufen
„Wach auf, du Geist der ersten Zeugen!"
— rz8 —
Gottes in unsere Herzen ausgegossen ist. Ein doppeltes
Band vereinigt uns: ein Fleisch und ein Geist. Doppelt
geheiligt ist unsere Gemeinschaft, und nie wird eine
Trennung stattfinden, weder in diesem noch in jenem Veden.
Wir stehen nicht nur in dem innigen Verhältnis,
das Gott eines Vergleichs mit Christo und Seiner Gemeinde
gewürdigt hat, sondern leben auch in dein himmlischen
Verhältnis, wo Christus der Bräutigam und wir
die Braut, Er das Haupt und wir die Glieder sind. Der
Herr gebe Gnade, daß wir in beiden Beziehungen die uns
angewiesene Stellung recht wahrnehmen und in heiliger
Liebe und Treue darin wandeln zum Preise unseres Gottes!
Unser ganzes Leben sei ein Beweis, daß wir unseren
hohen Beruf und unsere herrlichen Vorrechte in Wahrheit
erkennen! Laß uns vereint in der Gemeinschaft des
Vaters und des Sohnes beharren, als solche, die noch
nicht im Schauen, aber im Glauben wandeln, und die die
Hoffnung der Herrlichkeit festhalten und in dieser Hoffnung
schon selig sind! Sein Friede ist unaussprechlich,
Seine Gnade und Liebe sind unergründlich, Seine Treue
und Weisheit unerforschlich und der Reichtum Seiner
Herrlichkeit überschwenglich. Sein Geist führe unseren
Geist immer tiefer in dieses Geheimnis ein und lasse unö
stets zunehmen in der Erkenntnis Gottes und Christi Jesu,
unseres Herrn, sodaß wir in kindlichem Gehorsam unserem
Gott und Vater zu allem Wohlgefallen zu wandeln
vermögen!
Nichts ist, was unsere Herzen so tief bewegt und unsere
Gedanken so mächtig nach oben lenkt, als die Liebe
Gotteö, des Vaters. Er stellt uns neben Seinen einge-.
borenen, über alles geliebten Sohn und spricht: „Ich
— rzy —
liebe euch mit gleicher Liebe, auf euch ruht dasselbe Wohlgefallen,
und dasselbe Erbteil und dieselbe Herrlichkeit warten
euer". Und Er, neben den wir uns gestellt sehen, und
der alles in solch herzlicher Liebe mit unS teilt, ist Jesus,
der uns zuvor noch mit Seinem eigenen, teuren Blut erkauft
hat. „Sehet, welch eine Liebe!" In dieser beglückenden
Liebe sind wir nun gekommen und rnhen in
ihr. Eins wissen wir jetzt schon, nämlich, daß wir Gottes
Kinder sind, und von der Zukunft wissen wir, daß wir
Jesum sehen und Ihm gleich sein werden. Selige Hoffnung,
die unsere Herzen für uns und unsere Kinder belebt!
Laß uns denn ohne Wanken an diesem Bekenntnis
festhalten und im Kampfe des Glaubens beharren!
Wie tut eö dem Herzen so wohl, zu wissen, daß wir
eine Hoffnung, einen Glauben und einen Kampf
haben und, wenn wir hier'mit Jesu leiden, dort mit Ihm
königlich herrschen werden! Wir wissen uns darin auch
eins mit vielen teuren Brüdern und Schwestern und leben
in ihrer Mitte mit dem seligen Bewußtsein, daß sie unö,
wie wir sie, auf betendem Herzen tragen. Es ist mir auch
ein höchst beglückender Gedanke, daß wir ewig in ihrer
Gemeinschaft sein werden. Der Trcnnungüschmerz beim
Abschiede zeugt von inniger, herzlicher Liebe, und die Tränen,
die zuweilen fließen, beweisen, wie nahe wir miteinander
verwandt sind. Die Freude und der Jubel, womit
wir bei unseren Besuchen begrüßt werden, sind ein kleiner
Vorschmack von dem Wiedersehen der ganzen Familie Gottes
bei der Ankunft des Erstgeborenen. Das wird eine
Freude sein, in die sich kein Trennungsschmerz mehr
mischen kann. (Schluß folgt.)
140
Einst und jetzt
Einst ewig verloren,
Dann wiedergeboren
Und einmal gestorben,
Und doch nicht verdorben! —
Erlöst und errettet,
In Jesu ein Christ,
Ach, weißt dn, wie herrlich, wie selig das ist?
Mich Elenden, Armen
Hat Gottes Erbarmen
In freundlichem Lieben
Au Jesu getrieben. —
Einst friedlos und freudlos,
Jetzt jubelnd als Christ,
Ach, weißt du, wie herrlich, wie selig das ist?
Wie glücklich schon heute
In himmlischer Freude!
Und zu ihr geladen
Sind alle aus Gnaden.
Drum komme zu Jesu
Und werde ein Christ,
Dann weißt du, wie herrlich, wie selig das ist!
H. K.
Zweimal gerufen
v.
Die Beispiele eines zweimaligen Rufenö Gottes, die
wir bisher betrachteten, gehörten alle dem Alten Testament
an. Jehova, der ewige, unsichtbare Gott, rief aus Seiner-
Stellung unnahbarer Majestät heraus den schwachen, auf
Erden wandelnden Menschen. Die Rufe trugen deshalb
ausnahmslos einen Ehrfurcht erweckenden, ja, überwältigenden
Charakter. Der Gott, dessen Stimme die Erde erbeben
läßt und die Berge Hüpfen macht wie Widder, die
Hügel wie junge Schafe, redete, und der Mensch lauschte
in tiefer Ehrfurcht und atemloser Spannung.
Ganz anders ist es mit den beiden Beispielen aus dem
Neuen Testament, die unsere Aufmerksamkeit jetzt zunächst
beschäftigen werden. Ein über alle Beschreibung wunderbarer,
gewaltiger Wechsel hat sich vollzogen. Gott, „geoffenbart
im Fleische", ist in dieser Welt erschienen. Der
eingeborene Sohu Gottes, der Schöpfer und Erhalter des
Weltalls, hat in menschlicher Gestalt, „aus dein Samen
Davids gekommen dem Fleische nach", den Schauplatz
der Erde betreten und wandelt umher, ein Mensch unter
Menschen, aber als Mensch „das Bild des unsichtbaren
Gottes, der Erstgeborene aller Schöpfung". (Röm. 1, 3;
Kol. l, l5.)
Der, von welchem die Propheten und Schriften immer
wieder gezeugt hatten, Emmanuel (Gott mit uns),
— 142 —
Jesus Christus (der Gesalbte), der verheißene Sohn Abrahams,
die Wurzel und das Geschlecht Davids, „der Same
des Weibes", war in die Mitte Seines Volkes Israel
getreten. Das „Reis" war aus dem Stumpfe Jsais hervorgegangen,
der „Schößling" aus seinen Wurzeln, auf
welchem „der Geist Jehovas ruhte, der Geist der Weisheit
und des Verstandes, der Geist des Rates und der Kraft,
der Geist der Erkenntnis und Furcht Jehovas". (Jes. 11;
vergl. Jes. 53, 2.)
Aber ach! wer glaubte der Gnadenbotschaft Gottes,
und wem wurde der Arm Jehovas offenbar? Israel verwarf
seinen Messias. Der in Niedrigkeit Gekommene, an
dem keine äußere Herrlichkeit und Pracht war, „kein Ansehen,
daß sie Seiner begehrt hätten, ein Mann der
Schmerzen und mit Leiden vertraut", wurde von Seinem
Volke verachtet, ja, für nichts geachtet.
Doch die Liebe ist langmütig. Im 10. Kapitel des
Evangeliums Lukas wird uns berichtet, daß der Herr „andere
siebenzig" (vergl. Kap. 9) aussandte, damit sie vor
Seinem Angesicht her in jede Stadt und jeden Ort
gingen, wohin Er selbst kommen wollte. Es war der letzte,
ernste Ruf der Gnade an das widerspenstige, ungläubige
Volk, dessen Nichtbeachtung ein endgültiges Gericht über
Israel bringen mußte. Wer diese Boten nicht hörte, hörte
den Herrn nicht; wer sie verwarf, verwarf Ihn, und wer
Ihn verwarf, verwarf Den, der Ihn gesandt hat, d. i.
Gott selbst!
Als die Boten zurückkehrten und berichteten, daß
selbst die bösen Geister ihnen untertan seien, lenkte der
Herr ihren Blick auf andere, höhere Dinge. Die Entfaltung
dergrößten Macht ist nicht zu vergleichen mit der
— 443 —
Gnade, die armen verlorenen Menschen einen Platz im
Himmel geben will. Die Jünger sollten sich deshalb
nicht darüber freuen, daß die Geister ihnen gehorchten,,
sondern daß ihre Namen in den Himmeln angeschrieben
waren. (V. 20.) Und in Verbindung damit frohlockte
Jesus im Geiste und pries den „Herrn des Himmels und
der Erde", daß die Kenntnis desVaters und des Soh-
n e s und das darauf gegründete himmlische Verhältnis
jetzt den „Unmündigen" geoffenbart werden sollte.
Unendlich Höheres und Herrlicheres, als die mit einem
auf dieser Erde lebenden Messias verbundenen Segnungen,
sollte fortan den Mühseligen und Beladenen zuteil
werden. (Vergl. Matth, rr, 25—30.)
Nachdem dann in dem Gleichnis von dem barmherzigen
Samariter auch der Gegensatz zwischen Gesetz und
Gnade klar vorgestellt und gezeigt worden ist, wie das
Gesetz dem armen, unter die Räuber gefallenen Menschen
nichts bringen kann, werden wir nach Bethanien, in das
Haus der Martha, geführt, um uns in den beiden, uns so
wohl bekannten Schwestern die Früchte der Gnade erkennen
zu lassen. Ich wiederhole: inbeiden Schwestern,
denn wenn Martha auch einen ernsten, verdienten Tadcl
von feiten des Herrn erhielt, war doch auch sie ein Gefäß,
in welchem die Gnade Gottes wirkte.
„Es geschah aber, als sie ihres Weges zogen, daß
er in ein gewisses Dorf kam." (V. 38.) Wunderbar!
der von Seinem Volke und dessen Leitern für nichts geachtete
Messias zieht im Lande umher und muß sehen, wo
man Ihm, dem Heimatlosen, eine Herberge bereitet! Wie
begann schon damals die Prophezeiung Daniels: „der Messias
wird weggetan werden und nichts haben" (Kap.
144
9, 2b) in Erfüllung zu gehen! „Und ein gewisses Weib,
mit Namen Martha, nahm Ihn in ihr Haus auf." Wer
achtete hier auf Erden darauf? Aber der Himmel schaute
hernieder und sah, wie der einsame Wanderer mit Seinen
Jüngern vor dem Hause in Bethanien anlangte, und wie
die Besitzerin desselben Ihn ehrfurchtsvoll begrüßte und
zur Einkehr einlud. Der Himmel sah es und freute sich.
Der Herr des Himmels und der Erde war in die Welt
gekommen, aber die Welt kannte ihren Schöpfer nicht;
Sein Eigentumsvolk nahm Ihn nicht an, verachtete
Ihn vielmehr. Wie wohltuend mußte es daher Sein Herz
berühren, wenn hie und da eine Tür sich für Ihn auftat,
wie anziehend war ein solcher Anblick für die Bewohner
des Himmels! Ein „gewisses" Dorf und ein
„gewisses" Weib, so lesen wir; aber beider Namen sind
unauslöschlich, für ewig in Gottes Buch eingetragen.
Wir wollen das nicht vergessen, ihr lieben gläubigen
Leser, und ferner auch nicht vergessen, daß für uns, die
wir den Herrn selbst nicht mehr bewirten können, geschrieben
steht: „Wahrlich, ich sage euch: Insofern ihr es einem
der geringsten dieser meiner Brüder getan habt, habt
ihr es mir getan". (Matth. 25, 40.)
Nachdem Martha den Herrn in ihr Haus aufgenommen
hatte, war sie „sehr beschäftigt mit vielem Dienen".
Sie war sich bewußt, welch ein hoher Gast bei ihr eingekehrt
war: Jesus, der Sohn Davids, der König Israels.
Sollte sie Ihn nicht ehren und zu Seiner Bewirtung
alles aufwenden, was Küche und Keller zu bieten vermochten?
War es nicht ungeziemend von Maria, die Gelegenheit
so unbenutzt vorübergehen zu lassen, um dem
Messias ihre Liebe und Ehrerbietung zu beweisen? War
r4s
es nicht auch unrecht von ihr, ihr allein die ganze Arbeit
und Mühe zu überlassen? Mit Verwunderung hatte sie
gesehen, wie Maria sich sofort zu den Füßen deö Herrn
niedergelassen hatte, um „Seinem Worte zuzuhören", und
während ihres geschäftigen Hin- und Hergehenö hatte gewiß
mancher mißbilligende Seitenblick die still Dasitzende
getroffen, bis endlich ihr Unmut sich in den Worten Luft
machte: „Herr, kümmert es dich nicht, daß meine Schwester
mich allein gelassen hat zu dienen? Sage ihr nun,
daß sie mir helfe."
Bis dahin hatte der Herr sie ruhig ihren Weg gehen
lassen, jetzt aber „antwortete und sprach Er zu ihr:
Martha! Martha!
du bist beunruhigt um viele Dinge; eines aber ist not.
Maria aber hat das gute Teil erwählt, welches nicht von
ihr genommen werden wird".
Hier haben wir, wie bereits angedeutet, nicht mehr
die majestätische Sprache des Engels Jehovas oder den
feierlichen Ruf des unsichtbaren Gottes, nein, der in
Menschengestalt erschienene, den Menschen so innig nahegekommene
Sohn Gottes redet in Lauten, wie die Schwestern
sie zu hören gewöhnt waren, so menschlich vertraut,
und doch wiederum so göttlich groß und eindrucksvoll!
„M artha, Martha! du bist beunruhigt um viele Dinge."
Beunruhigt! Wird die Gnade jemals einen Menschen
zu solch unruhiger Tätigkeit des Fleisches veranlassen?
Hätte Martha ausschließlich unter dem Einfluß der
Gnade gestanden, so hätte sie ihre Pflichten als Hausfrau
gewiß nicht versäumt, aber darüber auch nicht „das eine,
was not ist" vergessen. Die Gnade stellt alles an seinen
— r46 —
richtigen Platz, sie tut das eine, ohne daö andere zu lassen.
Sie weckt vor allen Dingen in der Seele den Hunger
nach dem Worte des Herrn. Es gibt nichts, was eine in
den Gnadenwegen Gottes unterwiesene Seele mehr schätzt,
als dieses Wort. Sie versteht das Wort Jesu: „Eines
aber ist not" und begrüßt mit Freuden jede Gelegenheit,
wo sie dem Worte Gottes zu den Füßen Jesu lauschen
und dem Herrn so Anlaß geben kann, Seinen Dienst der
Liebe an ihr zu tun.
Diesen Platz sand Maria ganz von selbst. Es kostete
sie keine Überlegung oder gar Überwindung, „das gute
Teil" zu erkennen und zu erwählen; und während ihr Herz
erquickt und ihre geistliche Erkenntnis gefördert wurde,
ging Martha leer aus.
Ich wiederhole: Nicht als ob in Martha nicht auch
die Gnade gewirkt hätte. Ganz gewiß war das der Fall,
aber ihr Auge war mehr auf das Äußere gerichtet. Sie
glaubte an den Messias und wollte Ihm Ehre antun.
Zugleich vermengte sich mit diesem Wunsche wohl auch
ein wenig Sucht nach eigener Ehre. Es war i h r Haus,
in das der Messias eingekehrt war, und es galt, den guten
Namen ihres Hauses und ihrer Familie hochzuhalten. Für
die bevorstehende Veränderung in den Wegen Gottes mit
Israel und die Gefühle ihres Herrn im Blick auf den
Zustand Seines Volkes und die Ihm selbst nahenden Leiden,
für welche Maria ein so feines Gefühl besaß, hatte
sie kaum ein Verständnis. Sie hatte ja auch keine Zeit,
um zu den Füßen Jesu zu sitzen und sich in die Gedanken
Gottes einführen zu lassen und so eine Vertraute Seines
Herzens zu werden! Sie fand ihre Befriedigung in ihrer
Tätigkeit.
r47
Hat Martha in unseren Tagen nicht viele Genossinnen?
Es ist auch heute viel leichter, das eine oder andere
zu tun, als in der Stille zu lernen. Warum wohl?
Die Antwort ist nicht schwer. Es gefällt dem Fleische
nicht, völlig ausgeschaltet zu werden; es will sich in irgend
einer Weise betätigen, auch auf christlichem Gebiet,
ja, hier nicht selten in ganz hervorragender Weise. Und
das Fleisch ist nie listiger und betrüglicher, als wenn es
sich in ein religiöses Gewand hüllt.
Darum die ernste, wenn auch zugleich freundliche
Mahnung des Herrn an Martha, und damit an uns alle.
Ach, indem sie „das eine, was not ist", nicht erkannte
und „das gute Teil" nicht erwählte, war sie dahin gekommen,
ihre viel geistlichere Schwester zu verurteilen,
ja, sogar dem Herrn einen leisen Verweis zu geben! —
„Aber Martha meinte es doch gut", wird man einwenden.
Zugegeben; aber wenn wir mit dem guten Meinen unseren
Herrn und Heiland betrüben und zu „Richtern" unserer
Mitgläubigen werden? Wenn wir „das gute Teil"
(beachten wir wohl, daß es heißt: daö gute Teil, nicht:
ein gutes Teil, irgend einen Segen, einen geistlichen Genuß,
nein, das, das eine gute Teil) uns dadurch entgehen
lassen, was dann?
„Martha, Martha!" — zweimal ruft der Herr den
Namen Seiner Jüngerin; ohne Frage, um ihr die Wichtigkeit
des Augenblicks und die Gefahr ihres Zustandes
recht eindringlich vorzustellen. Daß sie ihren Herrn verstanden
hat, beweist wohl ihr Verhalten zu einer späteren
Zeit. (Joh. 42, l—8.) Bei dieser Gelegenheit lesen wir
von ihr: „Martha diente". Wie einfach und schön! Und
während Judas Jskariot mit den übrigen Jüngern Maria
148
wegen ihrer vermeintlichen Verschwendung der kostbaren
Salbe tadelt, spricht Martha kein Wort. Sie hat gelernt.
Still verrichtet sie den ihr aufgetragenen Dienst,
und der Heilige Geist erkennt ihr Tun an mit dem kurzen,
aber bedeutsamen Bericht: „Und Martha diente".
Es ist nicht allen Jüngern und Jüngerinnen Jesu
das gleiche Teil, derselbe Auftrag gegeben. Aber daö
eine ist gewiß: wenn wir fleißiger zu Jesu Füßen sitzen
und Seinem Worte zuhören würden, „das gute Teil"
erwählend, so würden auch wir mehr imstande sein, daö
Herz unseres Herrn zu erfreuen und „das ganze Haus"
mit dem Wohlgeruch der Kostbarkeit Seiner Person zu
erfüllen. Lernen und dann dienen, hören und dann
tun, das ist und bleibt die göttliche Ordnung.
O möchten wir es nie vergessen: Das, was Jesus
mitteilt. Sein Wort, das uns mit den ewigen Dingen
bekannt macht, ist das gute Teil, das von dem, der es
erwählt, in Ewigkeit nicht genommen werden wird! Gott
bewahre uns denn in Gnaden vor dem „Besorgtsein um
viele Dinge" und lasse uns „das eine, waö not ist", suchen!
Dann werden wir ganz gewiß auch im Dienste
nicht lässig sein, sondern zur richtigen Zeit das Richtige
tun, zur Freude unseres Herrn und zum Nutzen und Segen
für andere.
Eins ist not — auf Dich zu hören,
Auf Dein Wort voll Huld und Heil,
Zu bewahren Deine Lehren,
Ist das allerbeste Teil.
— 14Y —
Aufzeichnungen
aus einer gemeinsamen Betrachtung
über Richter 13-16
(Schluß.)
Als Simson nach Timna ging, begleiteten ihn seine
Eltern, trotzdem sie ihm diesen Schritt widerraten hatten.
Ein warnendes Beispiel für gläubige Väter und Mütter!
Bei Simson verbanden sich die Triebe des Fleisches
mit dem Treiben des Geistes — eine unnatürliche, böse
Verbindung: die eine Hand für Gott, die andere für die
Welt!
In dem Zerreißen des jungen Löwen ist Simson ein
schönes Vorbild von Christo. Der brüllende Löwe und die
zischende Schlange sind bekannte Bilder von Satan. In
beiden Beziehungen ist Satan dem Herrn begegnet, und
in beiden ist der Herr Sieger geblieben. Simson unterlag
den listigen Verführungen der Schlange. Den Löwen aber
zerriß er, trotzdem er gar nichts in seiner Hand hatte.
Und als er nach einiger Zeit desselben Weges ging, um
die Verbindung mit der Philisterin zu vollziehen, trieb eö
ihn, nach dem Aase des Löwen zu sehen; und siehe da,
in dem Gerippe hatte sich ein Bienenschwarm angesiedelt!
Simson nahm von dem Honig desselben und aß, gab auch
seinen Eltern davon, und sie aßen, aber er tat ihnen auch
jetzt noch nicht kund, daß er den Löwen zerrissen hatte,
obwohl es so natürlich gewesen wäre.
Kostbares Vorbild von dem Werke unseres Herrn
auf Golgatha und dessen Folgen für uns! Ohne irgend
— t5ü —
eine Waffe in Seiner Hand zu haben, ist auch Er dem
Feinde entgegengetreten und hat durch den Tod den
zunichte gemacht, der die Macht des Todes hat. (Vergleiche
David, der dem Riesen Goliath mit seinem eigenen
Schwerte den Kopf abhieb.) Süß wie Honig sind
die Folgen dieses Sieges für uns: Leben und Unverweslichkeit
sind ans Licht gebracht, eine ewige Erlösung und Befreiung
aus Satans Macht und Sündenketten unser Teil
geworden; und indem wir selbst davon genießen, dürfen
wir auch anderen davon mitgeben. „Aus der Fülle des
Herzens redet der Mund."
Simson tat seinen Eltern nicht kund — ein schöner
Zug! Der geheime Umgang mit Gott, die stille, verborgene
Gemeinschaft mit Ihm sind die Quelle unserer
Kraft. Ein prahlerisches Reden über das, was er getan,
hätte der Tat Simsons das Schönste geraubt und ihn:
selbst nur zum Schaden gedient. So ist es auch, wenn Gott
uns vielleicht gewürdigt hat, in der Kraft Seines Geistes
etwas für Ihn zu tun, einen Sieg über den Feind zu
erringen. Jedes unüberlegte oder gar selbstgefällige Reden
darüber schwächt unsere Kraft und bringt uns in Gefahr.
Und doch, wie liegt es uns so nahe!---------
„Aus dem Fresser kam Fraß, und aus dem Starken
kam Süßigkeit", lautet das Rätsel, das Simson hernach
seinen Hochzeitsgenossen aufgibt — leicht verständlich für
uns sowohl in seiner buchstäblichen als auch in seiner vorbildlichen
Bedeutung. Der starke, gierige Löwe wollte Simson
verschlingen, aber das Ergebnis war für ihn und seine
Eltern herrliche Speise, süße Nahrung. So ist Satan
unserem geliebten Herrn am Kreuz entgegengetreten, aber
der Stärkere hat den Starken überwunden. Satans An
— 1.51 —
griff hat ihm selbst völlige Niederlage, uns aber in Christo
ven herrlichsten Sieg gebracht — so völlig, daß Satan
für uns jetzt ein überwundener Feind ist und nicht nur
flieht, wenn wir ihm standhaft im Glauben widerstehen,
sondern uns auch Süßigkeit für unsere Seele zurücklasscn
muß.
Es ist immer so gewesen. Satans böse Anschläge
hat Gott stets ins Gegenteil verkehrt. Evas Fall führte
den „Samen des Weibes" ein, der der Schlange den Kopf
zertreten sollte. Das Kleid der Gerechtigkeit Gottes ist
unendlich herrlicher als das Kleid der Unschuld, das der
erste Mensch verlor. Aus den Ruinen, die Satan schafft,
läßt Gott immer neue, herrlichere Offenbarungen Seiner
Gnade und Macht hervorgehen. Das Wort ist voll von
Beispielen, wo Gott aus dem Bösen Gutes hervorkommen
ließ. Vergl. z. B. den Bund, den Er nach der Sintflut
mit Noah schloß, die Geschichte Josephs, die des Kerkermeisters
in Philippi usw. — —
„Und Simson machte daselbst ein Mahl, dennal o
pflegten die Jünglinge zu tu n." (V. 10.) E i n
verkehrter Schritt hat immer einen zweiten und dritten
zur Folge, wenn daö Herz nicht zur Einsicht und Umkehr
kommt! Was hatte ein „Nasir Gottes" mit den Gepflogenheiten
der „Unbeschnittenen" zu tun? Aber so geht's,
wenn man mit der Welt buhlt. Ist es ein Wunder, daß
für Simson und selbst für das Weib seiner Wahl und
deren Haus (vergl. Kap. 15, 6) nichts als Schmerz und
Bitterkeit aus allem hervorging? Oder ist es verwunderlich,
daß das Weib mit den „Kindern ihres Volkes"
(V. 16) gemeinsame Sache machte gegen Simson?
Konnte es anders sein? „Welches Teil hat ein Gläu
152
biger mit einem Ungläubigen?" (Vergleiche 2. Kor. 6,
14—16.)
Wenn Gott trotzdem Simsons Weg benutzte, um den
Feinden Seines Volkes eine wenn auch kleine Niederlage
beizubringen (V. 19), so war daö Seine göttliche Un-
umschränktheit. Erfolge sind niemals ein vollgültiger Beweis
von der Güte einer Sache.
Kapitel 15. — Obwohl Simson das Verkehrte seines
Weges deutlich genug gezeigt worden war, blieb er doch
auf demselben, und das nächste Ergebnis, bezw. Simsons
weiteres Tun ist wiederum nicht nach Gottes Gedanken.
Daß man sein Weib einem anderen gegeben hat, erregt
seinen Zorn dermaßen, daß er den Philistern einen empfindlichen
Schaden zusügt. Aber war das Mittel, das er
anwandte, von Gott? War es die „Weisheit von oben",
die ihn die Schakale sangen hieß? Die Antwort kann nur
verneinend ausfallen. Simson wollte den Philistern „Übles
tun". (V. Z.) Darum war auch das Ergebnis auf feiten
der Feinde nicht Furcht und Schrecken, sondern Zorn und
Rachsucht. — Auch wir sind in Gefahr, im Kampf -mit
dem Feinde, z. B. bei Verkündigungen des Evangeliums,
Mittel anzuwenden, die der „Weisheit von unten" entsprechen,
die aber menschlich sind und vielleicht keinen einzigen
Feind zu Boden strecken.
Das Schicksal des Timniters und seines Hauses
(V. 6) erregt von neuem Simsons Zorn. Gott steht
hinter allem, aber Simson will sich rächen an denen,
die ihm Böses zugefügt haben. (V. 7.) So begegnen wir
in seiner Geschichte immer wieder der Vermengung göttlicher
und menschlicher Beweggründe. Jehova schenkte ihm
153
diesmal einen großen Sieg über die Philister. „Er schlug
sie, Schenkel samt Hüfte." Simson stritt ohne Frage für
Jehova, aber da war kein ungeteiltes Herz für den
Herrn, und darum war wohl auch sein Einfluß auf seine
Umgebung so gering.
„Wie sie mir getan, also habe ich ihnen getan", sagt
er in Vers ll. Es ist ernst, wenn Gläubige denselben Beweggründen
folgen wie die Kinder der Welt. (Vergleiche
V. 10.)
Wie traurig war doch der Zustand Israels! Ihr Retter
wohnt ganz allein „in der Kluft des Felsens Etam",
niemand gesellt sich zu ihm; die Philister ziehen herauf,
um ihn zu binden, und das Volk will lieber Simson preisgeben,
als Befreiung finden. „Weißt du nicht, daß die
Philister über uns herrschen?" fragen sie, „warum hast du
uns das getan?" als wenn sie und die Philister ein und
dasselbe gewesen wären. Und dann wird der in der Mitte
deö Volkes weilende Befreier den „Unbeschnittenen" ausgeliefert!
Genau so wie später Christus. — Steht nicht
auch heute der Gläubige, der entschieden Partei nimmt für
Gott gegen die Welt, häufig genug ganz allein und muß
sich gar noch Vorwürfe gefallen lassen von feiten seiner
Brüder?
Es ist auffallend, daß in der Geschichte Simsons
nicht ein einziges Mal von dem Worte Gottes die Rede
ist und nur zweimal erwähnt wird, daß er gebetet habe.
(Kap. 15, 18 u. 16, 28.) Dabei drehen sich seine Gebete
hauptsächlich um seine eigene Person: „ihn dürstet" im
ersten Fall, und im zweiten will er „an den Philistern eine
einmalige Rache nehmen für seine beiden Augen". —
154
Liegt nicht auch hierin eine ernste Unterweisung für uns?
Ist Gottes Wort unsere tägliche Speise, unser Licht
und Führer auf dem Wege, und beten w i r „allezeit mit
allem Gebet und Flehen usw." nach Eph. 6, 18?
Finden die Stricke, mit denen Simson gebunden
wurde, nicht ein Gegenbild in den Bemühungen, mit denen
man in der Christenheit wieder und wieder versucht hat,
der freien Wirksamkeit des Geistes Gottes Fesseln anzulegen?
Gott hat von Zeit zu Zeit Männer erweckt, die
mit Kraft gegen das herrschende Verderben, die Verbindung
mit der Welt usw. Zeugnis ablegten. Man hat sich
mit allen Mitteln bemüht, ihr Zeugnis zum Schweigen zu
bringen; man will die Freiheit nicht, die der Geist bringen
möchte. Aber die Fesseln schmolzen auch immer wieder dahin
wie Flachsfäden, die vom Feuer versengt sind.
Daö Werkzeug, mit dem Simson diesmal einen so
glänzenden Sieg errang, war, wie der Rinderstachel seines
Vorfahren Schamgar (Kap. Z, 31), verächtlich. „Ein
frischer Eselskinnbacken", den Simson fand — von Gott
für ihn dahingelegt! Warum ein „frischer"? Will es uns
vielleicht daran erinnern, daß Gottes Werkzeuge, wenn
auch an sich armselig und verächtlich vor den Menschen,
doch nicht zerbrechlich und zermürbt sind — schwach und
doch stark?
Gottes Werkzeuge sind verschieden, heute so, morgen
so. Er kann auch mit einem krummen Stock einen
rechten Schlag tun. Die wichtige Frage ist nur die, ob
wir das, was Gott uns finden läßt, in der Kraft des
Geistes gebrauchen; wir werden dann den Erfolg auch
nie uns selbst zuschreiben. Simson „nannte selbigen Ort
— 455 —
Ramath-Lechi", d. i. Kinnbacken-Höhe, nicht etwa Simsans-
Höhe. (V. 47.)
Wenn der Unglaube sich ein Werkzeug sucht, und
wäre es auch das erhabenste, wird Niederlage und Beschämung
stets das Ergebnis sein. Denken wir nur an
die Geschichte Israels, nicht lange nach dem Tode Sim-
sonö. Das Volk führt die Bundeslade, den Thron
Jehovas selbst, ins Treffen, aber die anfangs erschreckten
Feinde erschlagen dreißigtausend Mann von dem Volke und
rauben die Lade! (4. Sam. 4.)
Der letzte Vers des Kapitels lautet: „Und er (Simson)
richtete Israel zwanzig Jahre", während wir am
Ende des nächsten Kapitels lesen: „Er hatte aber Israel
zwanzig Jahre gerichtet". Können wir darin nicht einen
Beweis der Güte Gottes erblicken? Der Inhalt des 46.
Kapitels ist in besonderer Weise beschämend für Simson;
abgesehen von dem Siege, den er sterbend über die Philister
errang, berichtet es nur von Irrwegen. Gott schließt
gleichsam hier die Geschichte Seines Knechtes, nachdem Er
ihm den großen Sieg geschenkt und den Ermatteten auf
so wunderbare Weise gestärkt hat. Er läßt uns Seine
Anerkennung des öffentlichen Dienstes Simsons verstehen,
trotz all des Verkehrten, das sich damit vermengt
hatte. Das Folgende ist nur noch ein Bericht über die
Wege, die Simsons Fall und den völligen Verlust seines
Nasiräertums herbeiführten, wenngleich die Gnade auch
daraus noch Gutes hervorkommen lassen konnte.
Wie wunderbar ist unser Gott, und wie vollkommen
Sein Wort!
Das 46. Kapitel berichtet das Ende Simsons. Seinen
— r56 —
unreinen Neigungen folgend, besucht er zunächst die Hure
in Gasa, die er anscheinend zufällig sieht, und dann
liebt er ein Weib im Tale Sorek, namenö Delila. Sv
schreitet das Verderben immer fort; es gibt kein Einhalten
auf dem Wege deö Fleisches. Welch ein demütigendes
und belehrendes Gemälde von einem Manne, der von Gott
in Seinem Dienst gebraucht wurde und in Hebr. 1.1, unter
den Glaubenszeugen genannt wird! Dennoch gibt Gott
in Seiner Gnade ihm ein Ende, das seiner Berufung als
Retter Israels entspricht, ja, Simson tötet in seinem Tode
mehr Philister, als er in seinem ganzen Leben getötet hatte.
(V. 30.) Aber er ist schließlich ein blinder Mann, ein
Gegenstand des Spottes und der Verachtung der Feinde,
geradeso wie ein Gläubiger, der sich mit der Welt verbindet
und so sein Geheimnis verrät, der Welt zum Hohn
und Spott werden kann.
Um deö Herrn willen Schmach und Verfolgung erleiden
ist etwas ganz anderes, als um der eigenen verkehrten
Wege willen verspottet werden. Im ersten Fall dürfen
wir uns freuen, im zweiten haben wir nur Ursache uns zu
schämen und zu demütigen.
Dennoch ist daö Ende SimsonS in einem Sinne schön.
Er kam nicht, wie der den Lohn der Ungerechtigkeit liebende
Bileam, mit den Unbeschnittenen im Kampf gegen
Israel um, sondern er starb im Kampf für sein Volk
als Sieger, wenn er auch den Sieg mit seinem Leben
erkaufen mußte.---------
Haben die eigenen Wege Simson bisher nur
Schmerz und Bitterkeit eingebracht, hier führen sie ihn
zu dem Verlust seiner Kraft und liefern ihn in die Hände
seiner Feinde. Wie einst in Timna, so geht auch hier der
— 757 —
„Nasir Gottes" nach Gasa hinab, aber die Umstände sind
hier nicht die gleichen wie dort. Wir hören hier nichts
davon, daß Gott Seine Hand in der Sache gehabt hätte.
Simson folgt seiner bösen Lust, spielt mit der Sünde, und
dem ersten Fall folgt der zweite, schwerere, auf dem Fuße.
In der Sache mit Delila befriedigt er nicht nur vorübergehend
eine unerlaubte Neigung, nein, er liebt diese
Tochter der Unbeschnittcnen, sein ganzes Herz ist verstrickt.
Die Folgen mußten dementsprechend ernst sein. Er
verliert sein Nasiräertum und damit seine Kraft, die Feinde
stechen ihm die Augen aus und führen ihn nach Gasa,
wo sein trauriger Niedergang begonnen hatte. Dort wird
er ihr Sklave! „Wer für sein eigenes Fleisch sät, wird
von dem Fleische Verderben ernten." (Gal. 6, 8.) Darum
„glückselig der Mensch, der sich beständig fürchtet!" —
Dreimal widerstand Simson den Überredungskünsten
seines Weibes, aber „als sie ihn alle Tage mit ihren Worten
drängte und ihn plagte, wurde seine Seele ungeduldig
zum Sterben, und er tat ihr sein ganzes Herz
kund". (V. "lb. t7.) Als dann die Philister nachher über
den des Zeichens seiner Würde Beraubten herfielen, da
„wußte er nicht, daß Jehova von ihm gewichen war".
Er meinte, sich „herausschütteln zu können" wie die ersten
Male, aber — nach seinen eigenen Worten war ihm geschehen:
er war schwach geworden und war wie alle Menschen.
(V. 77.) Armer, bedauernswerter Mann! — —
Obwohl Simson persönlich in Gasa nichts weniger
als ein Vorbild von dem Herrn ist, können wir in
seinem Tun doch wohl einen schwachen Hinweis auf die
Ergebnisse des Werkes des Herrn erblicken. Wie er einst
den brüllenden Löwen erschlagen hatte, reißt er hier das
158
Stadttor mit Pfosten und Riegeln heraus und trägt das
Ganze auf den Gipfel des Berges, der gegen Hebron liegt.
(B. 3.) So hat auch unser hochgelobter Herr, gleichsam
aus Seinem Todesschlafe aufwachend, das Bollwerk Satans
vernichtet und dessen Tore und Riegel zertrümmert.
Der Tod hat keinerlei Schrecken mehr für den Gläubigen,
er vermag ihn nicht zu behalten. „Des Hades Pforten"
sind machtlos gegenüber der Kraft des Lebens und der
Auferstehung in Christo.
Kein einziges Mal lesen wir in diesem Kapitel, daß
der Geist des Herrn Simson getrieben habe. Dennoch hat
die Gnade das Ende dieses Mannes, der so oft seine
Verantwortlichkeit vergaß, fruchtbar gestaltet. Gleicht sein
Ende auch nicht dem wunderbaren Glanz der untergehenden
Abendsonne, wie bei dem einst so ränkevollen Patriarchen
Jakob, so ist es doch weit schöner als z. B. dasjenige eines
Salomo, dessen Geschichte so vielversprechend begann und
in den finsteren Schatten des Götzendienstes endete. Sim-
sonö Ende ist stürmisch, aber nicht ohne Helle Lichtpunkte.
Sein Haar begann wieder zu wachsen, sobald es geschoren
war. Gott wandte sich nicht ab von Seinem Knecht trotz
all seiner Untreue. Aber trotz des glänzenden Sieges am
Ende ist sein Weg nicht nachahmungswert. Der Herr
schenke uns, daß Anfang und Ende bei uns gleich gut
seien, zum Preise unseres großen Vorbildes, des in alle m
vollkommenen Zeugen Gottes!
Im Buche der Richter finden wir fünf gottesfürchtige
Frauen, die, ini Glauben wandelnd, mehr geistliches
Verständnis offenbarten als die Männer: Aksa, daö
459
Weib Othniels, des ersten Richters (Kap. 4, 43—45),
Debora, die Prophetin und Richterin (Kap. 4), Iael,
das Meid Hebers (Kap. 4, 24), dann die Tochter Jephthas
(Kap. 44, 34—40) und schließlich daö Weib Manoahs,
die Mutter Simsons (Kap. 43). Dementsprechend hat auch
der Feind fünf Frauen, deren er sich bedient: Das Weib
zu Timna, die Hure zu Gasa, Delila, dann das Weib
Michas und endlich das Kebsweib des Leviten. (Kap.
44, 4; 46; 47; 49.)
Übles Nachreden
„Leget nun ab alle Bosheit und allen Trug
und Heuchelei und Neid und alles üble Nach-
reden!" (>. Petr. 2, I.)
Alles üble Nachreden läuft darauf hinaus, den Ruf
des anderen zu untergraben. Es kann ein Anlaß dazu
vorliegen, es kann auch ganz unbegründet sein. Aber selbst
im ersten Falle sollte beim Sprechen über Böses stets das
Wohl dessen vor unseren Herzen und Augen stehen, der
das Böse getan hat. Als der Chloe Hausgenossen dem
Apostel die bösen Dinge in Korinth mitteilten, geschah es,
um Heilung zu bewirken. Das war keine üble Nachrede.
Aber die Worte jemandes wiederholen und dabei Sinn
und Absicht verhehlen oder gar entstellen, ist sehr böse.
Iiba verleumdete Mephiboseth, als er zu David sagte:
„Siehe, er bleibt zu Jerusalem; denn er sprach: Heute
wird mir das Haus Israel das Königtum meines Vaters
wiedergeben!" (2. Sam. 46.) In demselben Kapitel finden
wir völlig grundlose, wahrheitswidrige Schmähungen
in dem Fluchen Simeis. In Johannes 9, 28 gab cs
wenigstens noch Wahrheit in der Schmähung.
— 460 —
Übles Nachreden begreift nicht nur böses oder unwahres
Sprechen in sich, es schließt auch ein Reden der Wahrheit
mit böser Absicht ein. Das, was wir sagen, mag Wahrheit
sein, aber wie, wenn der Zweck unseres Redens böse
ist ? Die einfache Tatsache, daß das Wort Gottes so
ernstlich vor allem üblen Nachreden warnt, sollte genügen,
es als bös e zu meiden. Wir leben in einer übelredenden,
lästernden Welt: Gott wird verlästert (4. Petr.
4, 44), der Weg der Wahrheit wird verlästert (2. Petr.
2, 2), Würden und Gewalten werden verlästert (2. Petr.
2, ro), Christen werden verlästert (4. Petr. 4, 4), unser
Heilsgut wird verlästert (Röm. 44, 46), man lästert was
man nicht kennt. (2. Petr. 2, 42.) Laßt uns doch nichts
gemein haben mit dieser übelredenden, lästernden Welt!
Ach, daß wir uns vielmehr reinigten von den bösen Augen,
dem bösen Argwohn, dem bösen Sprechen, den bösen Werken,
dem bösen Herzen des Unglaubens!
Wahrlich, nicht umsonst warnt daö Wort Gottes so
ernst vor der so sehr verbreiteten Gewohnheit des Redens
hinter dem Rücken anderer. Ärgernis, Lieblosigkeit, Geringschätzung,
Verachtung, Trennung usw. sind die traurigen
Folgen.
Beim Fehlen des Bruders, der Schwester, sollten
wir suchen, in Gnade mit ihnen zu reden und zwar allein,
unter vier Augen. Wir sollten die Sünde nicht vor die
Öffentlichkeit bringen! Aber auch bei solchen Einzelgesprächen
sollten wir die ernste Warnung bezüglich „des Splitters
und des Balkens im Auge" nicht vergessen. (Matth.
7, Z ff.).
Die Zunge, ein kleines Glied, aber welch einen Einfluß
übt sie aus! „Siehe, ein kleines Feuer, welch einen
großen Wald zündet es an! und die Junge ist ein Feuer,
dieWelt d e r Un g e r e ch t ig k e i t." (Jak. 3, S.) „Tod
und Leben sind in der Gewalt der Junge." (Spr. 18,
21.) Worte, ob gesprochen oder geschrieben, sind wie
Samenkörner, die Frucht zum Leben oder zum Tode in
sich tragen. Alles üble Nachreden ist ein Mißbrauch der
Zunge. Wir mögen, wie schon bemerkt, die Wahrheit
sagen und doch die Junge mißbrauchen, weil das, was
wir sagen, nicht in Liebe, nicht zum Wohl und Nutzen
des anderen gesprochen wird, sondern nur, um die böse
Neigung unseres Herzens, unsere Eitelkeit und Tadelsucht
zu befriedigen, oder um unseren eigenen Interessen-zu
dienen. Wären wir selbst mehr im Lichte Gottes, durchforschten
wir aufrichtiger den Grund unserer Herzen und
wandelten wir im Lichte des Richterstuhls Christi — gewiß,
wir würden daö Tor unserer Lippen sorgfältiger hüten.
Wieviel Herzeleid und wieviele Tränen sind durch
übles Nachreden schon verursacht worden! Es ist eines
der mächtigsten Mittel in der Hand des Feindes der Seelen,
um Herzen zu brechen, Kinder Gottes zu entzweien,
ja, selbst ganze Häuser und blühende Versammlungen zu
zerstören. Und doch, wie leicht geraten Gläubige in diesen
Fallstrick! (Spr. 12, 13.) Und dabei geht man so leicht
über solche „Übertretungen der Lippen" hinweg, als hätte
es nichts zu bedeuten, wenn man des Bruders oder der
Schwester Ruf schädigt. Ja, es scheint fast so, als ob
manche es als ihre Aufgabe ansähen, ihre Geschwister zu
verdächtigen. Sie vergessen ganz, daß „die Liebe erbaut".
Die Liebe zum Herrn, zu Seinem Werke und
zu den Geschwistern wird einen Gläubigen vor solchem
Handeln bewahren. — Laßt uns denn heilig und treu
— 162 —
umgehen mit dem Namen und Ruf unserer Brüder und
Schwestern! Hüten wir uns aber auch davor, daß unsere
Herzen und Häuser nicht Stätten gleichen, wo „Schutt
abgeladen werden darf"! Auch dadurch können wir manchen
Schaden abwenden und solchen behilflich sein, die
zu üblem Nachreden neigen. Wenn jemand, der „als
Verleumder unter seinen Brüdern umhergeht", kein Ohr
für sein Reden findet, statt dessen aber einer liebevollen
Zurechtweisung begegnet, wird er sich vielleicht schämen;
jedenfalls wird dem Feuer keine Nahrung gegeben.
Übles Nachreden ist indes nicht nur ein Reden von
anderen, wodurch deren Ansehen, ihre Ehre und ihr guter
Ruf untergraben werden. Oft besteht es auch in einem
lieblosen Richten und Aburteilen oder wegwerfenden Reden.
Wie oft werden auch durch dieses Gift Herzen verwundet,
einzelne und ganze Familien einander entfremdet!
Mißtrauen wird gepflanzt, Uneinigkeit heraufbeschworen,
das Band der Liebe zerrissen. Zuweilen hat solches Nachreden
eine Fackel entfacht, die bis in den Tod brannte.
Gottlob! es gibt Heilung von diesem Übel. Beuge
dich vor Gott! Bekenne aufrichtig den Menschen, an denen
du so gesündigt hast! „Wer seine Übertretungen verbirgt,
wird kein Gelingen haben; wer sie aber bekennt und
läßt, wird Barmherzigkeit erlangen." (Spr. 28, 1.3.)
Bedenke auch, wieviel Gnade und Geduld du selbst von
Gott und Menschen täglich bedarfst. Auf diesem Wege
wirst du Kraft finden, deine üble Gewohnheit zu überwinden.
Und wenn es im Kreise unserer Geschwister wirkliche
Ursache zur Zurechtweisung gibt, dann laßt uns einander
di en en" durch treues Ermahnen in Liebe!
— tt>3 —
Aus allen Briefen
(Schluß.)
L., Juni t8S3.
Der Herr richte unsere Herzen und Blicke immer
mehr auf Seine Ankunft, damit wir die Leiden dieser Zeit
gering achten und nicht von Wert halten gegenüber der
Herrlichkeit, die an uns geoffenbart werden soll! Der
Gedanke, daß so viele Kinder Gottes durch Wort und
Wandel beweisen, daß sie diese Herrlichkeit wenig schätzen,
verursacht mir oft tiefe Trauer. Aber der Herr ist mächtig
und treu. Er erhört die Gebete der Gerechten. So laß
uns denn überall mit den treuen und nüchternen Gläubigen
heilige Hände aufheben ohne Jörn und zweifelnde Überlegung!
Der Herr weiß die Ratschläge der Bösen zuschanden
zu machen und die Unwissenden und Irrenden
zu belehren.
„In der Welt habt ihr Angst." Das ist eine Tatsache,
die ich und andere Brüder jetzt recht praktisch erfahren
müssen. Nirgend, soweit wir bekannt sind, ist ein Ort,
von dem wir sagen könnten: „Hier laß dich einige Tage
nieder und ruhe ein wenig aus". Immer wieder weiß
Satan uns auszuwittern und zu verdächtigen. Oft ist eö
mir ein wohltuendes Gefühl, in einen ganz unbekannten
Ort zu kommen. Dennoch freue ich mich, daß es in dieser
Welt so um uns steht. Es offenbart sich darin unsere
Ähnlichkeit mit Jesu, der ja auch nicht fand, wohin Er
Sein Haupt legen konnte. Was die Welt nicht gebrauchen
kann, nimmt Jesus an; als der Blindgeborene aus der
Synagoge gestoßen wurde, weil er für Den zeugte, der
— re>4 —
ihn sehend gemacht hatte, stand der Herr draußen lind
nahm ihil in herzlicher Liebe auf. Die Welt mag uns hintreiben,
wohin sie will; sie mag uns hinausstoßen,
wir finden uns immer in den treuen Armen unseres
Herrn wieder, ja, in unserer geliebten himmlischen
Heimat. Denn je mehr Druck von unten, desto größere
Sehnsucht nach oben; haben wir der Trübsale viel, so wird
uns auch Sein Trost überschwenglich zuteil. So laß uns
denn in einfältigem Glauben und kindlicher Liebe, den Blick
stets nach oben richtend, unseren Pilgerlauf vollenden!
Also wird uns beigelegt werden mit allen Heiligen und
Hausgenossen Gottes die Krone der Gerechtigkeit.
Daß uns Deine Gebete begleiten, davon bin ich überzeugt.
Empfiehl auch den anderen lieben Mitkämpfern im
Glauben, daß sie unser stets fürbittend gedenken möchten,
da wir es recht sehr bedürfen. Unsere Beschwerden kennt
nur Oer, der sie selbst mit durchmacht; aber wir beklagen
unö nicht, sondern freuen uns vielmehr und preisen die
Gnade, die uns einen solch köstlichen Dienst anvertraut
hat. Der Vater, an dessen Herz wir ruhen, ist uns sehr-
nahe und erquickt unsere Herzen mit Seiner Liebe. Jesus
Christus ist bei Seinen Knechten allewege und geht vor
ihnen her. Seiner Obhut und Fürbitte getrösten wir uns
und bleiben in Ihm vor dem Bösen bewahrt. Er hat uns
Seinen Geist gegeben, und wie der uns leitet und belehrt,
so ist es recht ...
-In D. hatten wir am letzten Sonntag und am
Abend vorher gesegnete Versammlungen. Am Montagmorgen
machten wir uns auf den Weg nach dem Siegerlande.
Wir hatten sechs Stunden zu marschieren, teilweise
unter viel Regen. Unterwegs suchten wir noch einige einzel
— rb5 —
wohnende Geschwister auf, was viel Freude machte. Wir
müssen uns immer wieder sagen: wie sehr tut es not, besonders
entlegene Gegenden am meisten zu besuchen und
solch schwache, alleinstehende Seelen auf betendem Herzen
zu tragen!
Am nächsten Tage hatten wir einen Weg von zehn
Stunden zu machen. Als wir uns unserem Ziele näherten,
kam uns Br. Alberts entgegen und warnte uns, den Ort
zu betreten, wenn wir nicht augenblicklich verhaftet werden
wollten. Es herrsche große Aufregung, und er werde
überall von den Gendarmen gesucht. Der Bürgermeister-
Habe erklärt, er wolle ihn haben, und wenn er an jedem
Hause einen Wachtposten ausstellen sollte. S. liegt an der
Landstraße, und um zu dem Hause unseres Bruders St.
zu kommen, hätten wir durch den ganzen Ort gehen müssen.
Eö blieb uns deshalb, so müde wir waren, nichts
anderes übrig, als bis Uhr abends in den Bergen um-
hcrzustreifen, bis wir von einigen Brüdern abgeholt und
durch die Gärten in die Wohnungen geführt wurden. Wir
würden diese Vorsicht nicht gebraucht haben, wenn wir
nicht Rücksicht auf die Brüder im Ort genommen hätten.
Die Versammlung dauerte bis nachts ists Uhr; da
kannst Du Dir denken, wie müde wir waren. Dennoch war
die Freude groß, unter den lieben Geschwistern zu sein . . .
In H. ist uns der Eingang jetzt sozusagen verschlossen.
Die liebe Schwester, Frau K., hat viel von ihrem armen,
betörten Mann zu leiden. Betet doch für sie, daß sie nicht
ermatte und vom Herrn ablasse! Zugleich hat R. aus V.
hier in der Gegend viele Verdächtigungen über mich auö-
gestreut, wie Alberts mir erzählte. Eö tut mir nur leid
um ihn und die Seelen, die er etwa beeinflussen sollte.
— kbb —
Am nächsten Abend gegen 7 Uhr kamen wir in D.
an bei den lieben Gebrüdern R., die sich sehr freuten.
Gegen 9 Uhr nahmen wir an einer Versammlung teil
(die Gebr. R. stehen, wie Du weißt, noch in Verbindung
mit den Baptisten), die in einem anderen Hause stattfand.
Nach Gesang und Gebet wurde Phil. 2 vorgelesen, und
man bat mich, einiges darüber zu sagen, was ich mit großer
Freudigkeit tat. Es waren etwa vierzig Personen versammelt,
aber ich hatte kaum eine halbe Stunde gesprochen,
als zwei Gendarmen eintraten und die Fremden aufforderten
vorzutreten. Wir taten dies, und nachdem unsere
Papiere durchgesehen waren, mußten wir zum Bürgermeister
folgen. Auf der Straße rotteten sich viele Leute
zusammen, weil es schnell bekannt wurde, wer wir waren.
Der Bürgermeister befahl uns ins Gefängnis zu bringen.
Die Gebr. R., die uns gefolgt waren, um ein gutes Wort
für uns einzulegen, wollten Bürgschaft für uns leisten,
aber nichts half, wir kamen in Arrest.
Der Gefangenwärter durchsuchte unsere Taschen,
nahm uns alles ab und, beim Weggehen auf die hölzernen
Pritschen zeigend, sagte er spöttisch: „Da ist Ihr Ruhebett;
wir haben's halt nicht besser". Dann riegelte er die
Tür zu, und wir befanden uns im tiefsten Nachtdunkel
hinter den eisernen Gittern; aber unser Herz war getrost
und unser Gemüt ruhig. Ein Kollege, der wegen Schlägerei
saß, war schnell bereit, uns dies zu erzählen, und als
er nun auch unser Vergehen wissen wollte, sagten wir
ihm, daß er hier sitze, weil er dem Teufel gedient habe,
wir aber, weil wir dem Herrn Jesus gedient hätten. „Ja",
meinte er, „so geht's halt in der Welt zu", doch hörte er
aufmerksam zu, als wir ihm das Heil in Jesu verkündig
— t67 —
ten, benahm sich auch sehr artig gegen uns. Der beinahe
achtstündige Tagesmarsch hatte uns müde gemacht, aber am
anderen Morgen waren wir es noch mehr; die hölzernen
Pritschen waren eben sehr hart. Gegen 8V2 Uhr wurden
wir wieder durch die ganze Stadt zum Rathause geführt.
Lachend und spottend standen die Leute überall in den
Türen und an den Fenstern. Der Bürgermeister nahm
ein Protokoll auf, und dann ging es denselben Weg zurück
und "lVs Stunden weiter nach H., zum Kreisamt. Unser
Begleiter, der strengste Gendarm, wie man uns sagte,
hörte willig zu, als wir ihm das Evangelium verkündigten,
und als ich gelegentlich unser hartes nächtliches Lager
erwähnte, suchte er uns mit den Worten zu trösten: „Die
ersten Jünger des Herrn Jesus haben's oft noch viel
schlimmer gehabt". Er sagte uns auch, daß er und sein
Kollege uns nur gezwungen verhaftet hätten; er möchte
wünschen, daß alle Leute in D. solche „Baptisten" wären
wie wir, dann hätten sie gewiß einen viel leichteren Dienst.
Der Kreisrichter in H. schickte uns wieder ins Gefängnis,
befahl aber, uns etwas zu essen zu geben. Im
Gefängnis fanden wir wieder zwei Gesellschafter. Der
Herr gab uns Freudigkeit, ihnen daö Wort zu verkündigen,
und wir haben Hoffnung, daß wenigstens der eine von
ihnen, ein Vagabund, es nicht umsonst gehört hat. Zuerst
überaus geschwätzig, wurde er bald sehr still und setzte
sich nachdenklich in eine Ecke. Gegen Mittag wurden wir
wieder zum Kreiörichter geführt, und es wurde uns eröffnet:
„Das Abhalten religiöser Versammlungen ist hier verboten;
heute nachmittag werden Sie über die Grenze transportiert".
So geschah es denn auch. Gegen t Uhr holte
uns ein vierter Gendarm ab, ein sehr artiger Mann. Er
r68
führte uns absichtlich um die Stadt herum und behandelte
uns auf dem ganzen Wege mit großem Zartgefühl. Beim
Abschied überreichte er uns unsere Pässe, und wir waren
erstaunt, keinerlei nachteilige Bemerkung darin zu finden.
So waren wir wieder frei, und unsere Herzen waren
voll Lob und Dank über daö Erlebte. Wir hatten überall
mit großer Ruhe und Freimütigkeit den Herrn bekennen
können. Ob im Gefängnis, oder in den Amtszimmern des
Bürgermeisters und Kreisrichters, überall waren wir so
ruhig und getrost, als wenn wir daheim gewesen wärem
Wir hatten erfahren, was die Gnade und Kraft unseres
Gottes vermag. Sein Name sei dafür gepriesen! Er verherrliche
ihn jetzt und immerdar! Auch unsere Geschwister,
von deren steter Fürbitte im Werke des Herrn wir überzeugt
sind, werden mit uns unseren Gott und Vater preisen,
wenn sie hören, was Er an und durch uns tut.
Nach zehnstündigem Marsch bei großer Hitze kamen
wir spät abends hier in L. an. Ich wundere mich selbst darüber,
wie wir's fertig gebracht haben. Aber der Herr ist
treu und weiß die Seinigen zu stärken. Die Gnade und
der Friede Gottes seien reichlich mit Dir!
Gedanke
Es ist wunderbar, wie in Trübsalen und Prüfungen
so manche Worte der Schrift uns auffallen, über die
wir sonst wenig nachdachten. Es geht damit wie mit
den Sternen, welche am Tage nicht sichibar sind; aber
am Abend zeigen sie sich, und im Dunkeln glänzen sie.
Ohne Nacht gäbe es keine Sterne zu sehen.
Zweimal gerufen
VI.
Derselbe Evangelist, der uns von dem ersten Doppelruf
des Herrn im Neuen Testament erzählt, berichtet auch
über die beiden anderen Fälle: Luk. 22, 34 und Apstgsch.
d, 4. Vielleicht nicht von ungefähr, da gerade Lukas daö
vom Heiligen Geist benutzte Werkzeug ist, um uns die
in Christo, dem Sohne des Menschen, erschienene Gnade
Gottes vor Augen zu stellen; und Gnade kennzeichnet in
besonderer Weise einen jeden der drei Fälle.
Wieder hat ein bemerkenswerter Wechsel in Zeit und
Umständen stattgefunden. Die Leiter des Volkes Israel
haben die Ermordung ihres Messias beschlossen und bereits
mit dem Verräter Judas ein Abkommen getroffen,
wie er Ihn ihnen überliefern wolle. Ium letzten Male ist
der Herr mit Seinen Jüngern versammelt, um das Passah
mit ihnen zu essen. Sein Leiden und Sterben steht unmittelbar
bevor. Daö was über Ihn geschrieben stand:
„Er ist unter die Gesetzlosen gerechnet worden", sollte jetzt
an Ihm erfüllt werden. Die Dinge, die Ihn betrafen,
waren ihrer Vollendung nahe. (Vergl. V. 37.)
Damit trat eine ernste Entscheidungsstunde auch an die
Jünger heran. Waren sie den Forderungen des Augenblicks
gewachsen? Ach! während ihr Herr und Meister den nie-
t.XXIV 7
— 170 —
drigsten Platz unter ihnen einnimmt (Joh. 13, 1—11)
und bereit ist, zwischen zwei Räubern sich ans Fluchholz
schlagen zu lassen, streiten sie darüber, wer von ihnen für
den Größten zu halten sei und dementsprechend in dein erwarteten
Reiche den hervorragendsten Platz beanspruchen
könne. Lukas stellt uns immer die inneren Gegensätze zwischen
Fleisch und Geist, zwischen dem Menschen von Natur
und dem Menschen Gottes vor Augen. Hier, am Ende
der Geschichte des Herrn auf dieser Erde, treten sie in überwältigender
Schärfe hervor. Je Heller das Licht scheint,
desto dunkler malen sich die Schatten, und umgekehrt, je
dunkler der Hintergrund wird, umso strahlender hebt sich
die Lichtgestalt des Hochgelobten von ihm ab. *)
*) Gegenüber dem Rangstreit der Jünger betont der Herr:
„Ich bin in eurer Mitte wie der Dienende", und dann erkennt Er
in unbeschreiblicher Gnade ihr Ausharren mit Ihm in Seinen Versuchungen
an — hatte in Wirklichkeit nicht Er mit ihnen in ihren
Versuchungen ausgeharrt? — und verordnet ihnen ein Reich, in
welchem sie auf Thronen sitzen und die zwölf Stämme Israels
richten sollen. (V. 27 —ZV.) Nur Lukas ist es, der diese ergreifende
Anerkennung des Herrn (V. 28) berichtet.
Der Haß des Menschen hatte seinen Gipfelpunkt erreicht.
Satan, der große Widersacher Gottes, stand im
Begriff, nachdem seine listigen Anschläge mißlungen
waren, als der brüllende Löwe dem Herrn entgegenzutreten.
Gethsemane mit seinem ringenden Kampfe lag unmittelbar
vor dem Geistesauge des Sohnes des Menschen. Die
ganze finstere Macht des Feindes, der die Gewalt des
Todes hatte, trat auf den Schauplatz, um den heiligen,
gehorsamen Menschen aus Seiner Bahn zu reißen, um
den Fürsten des Lebens zurückzuhalten. Sein Werk zu vollenden
— den Tod als der Sünde Sold für uns zu schmecken.
— t7t —
O wie ernst, wie furchtbar war die Bollendungsstunde der
den Herrn betreffenden Dinge!
Es konnte, wie gesagt, nicht ausbleiben, daß diese
Vollendung auch den Jüngern gewaltige Erschütterungen
brachte. Alle ihre Hoffnungen und Erwartungen für diese
Erde sollten mit einem Schlage zertrümmert und ihr Ausharren
auf eine nie geahnte Probe gestellt werden. Satan
würde alles aufwenden, um die kleine, furchtsame Schar
zu zerstreuen und ihnen innerlich wie äußerlich jeden Halt
zu nehmen. Ganz besonders sollte Petrus, seiner Stellung
unter den Jüngern entsprechend, das Ziel seiner Angriffe
werden. Der Herr, der alles wußte, was über Ihn kommen
würde, warnt in Seiner vorsorgenden Gnade und
Liebe die Jünger alle, aber vor den übrigen gilt Sein
Warnungsruf ganz besonders dem Petrus.
„Simon! Simon!"
so ruft Er ihm zu, indem Er ihn bei seinem menschlichen
Namen nennt, „siehe, der Satan hat euer begehrt, euch
zu sichten wie den Weizen. Ich aber habe für dich gebetet,
auf daß dein Glaube nicht aufhöre; und du, bist du einst
zurückgekehrt, so stärke deine Brüder."
Alle Evangelisten reden von der Sichtung, die über
die Jünger kam, und von der Verleugnung deö Herrn
durch Petrus, aber nur Lukas erzählt uns von der gnädigen
Vorsorge des Herrn für ihn und von den Absichten
Seiner Gnade in der Wiederherstellung des gefallenen
Jüngers. O wie wunderbar sind doch die Wege der Gnade,
wie herrlich ihre Ziele — und das in Verbindung mit solchen
Geschöpfen, wie wir sind!
„Ich habe für d i ch gebetet", sagt der Herr zu Petrus,
und ihn allein ruft Er mit Namen. O wie hätte
172
die zweimalige Erinnerung an seinen Namen als schwacher,
ohnmächtiger Mensch und daö unmittelbar persönliche „für
dich" Petrus erschrecken sollen! Wie hätte das: „Ich
habe für dich gebetet, auf daß d e i n G la ub e n ich t
aufhör e", in das Innerste seiner Seele dringen und ihn
an frühere schmerzliche Erfahrungen erinnern sollen! Aber
er hatte anscheinend noch nichts gelernt. In betrübender
Weise unwissend über sich selbst und vertrauend auf eine
Kraft, deren Unzulänglichkeit er doch schon zur Genüge erfahren
hatte, ist er kühn, ja, vermessen genug, zu antworten:
„Herr, mit dir bin ich bereit, auch ins Gefängnis
und in den Tod zu gehen".
Armer Simon! Nur einige Stunden sollten vergehen,
um ihm zu zeigen, daß die Frage einer schwachen Magd
oder die Bemerkungen einiger Kriegsknechte genügen würden,
um ihn zu der schmählichsten Verleugnung seines
Herrn und Heilandes zu führen.
Hatte er denn gelogen? War er wirklich nicht bereit
gewesen, alles für seinen Herrn zu erdulden und,
wenn nötig, selbst mit Ihm zu sterben? Ja, er war bereit
gewesen, er hatte nicht gelogen; er liebte seinen Herrn mit
der ganzen Kraft seiner feurigen Seele. Aber sein Vertrauen
gründete sich auf Fleisch! Wehe aber dem Manne,
„der auf den Menschen vertraut und Fleisch zu seinem
Arme macht"! (Aer. 1.7, 5.) In der Stunde der Gefahr,
in die sein fleischliches Vertrauen ihn bringt, wird er erfahren
müssen, daß die besten Vorsätze eitel sind, und daß
der Arm, auf den er sich verlassen zu können meinte, zusammenknickt
wie ein Strohhalm.
Simon! Simon! — Ach, daß er gehört hätte!
Wieviel Schmerzen würde er sich erspart haben, welch tie
— r?z —
fer Demütigung entgangen sein! So sagen wir mit Recht
und meinen eö auch so. Aber wie tief ist daö Selbstvertrauen
eingewurzelt auch in uns, und wie schwer wird es
uns, praktisch zu lernen, daß in unserem Fleische nichts
Gutes wohnt! Wir wissen, daß es so ist, haben es auch
schon häufig zu unserer Beschämung erfahren — und
doch! O was ist der Mensch, was sind wir!
Wie wunderbar ist alledem gegenüber die Gnade! Sie
sorgt nicht nur dafür, daß die Schwere des Falles nicht
volle Entmutigung, ein Aufhören des Glaubens, bewirkt,
sondern läßt auch aus dem Bösen Gutes hervorgehen, wendet
das Unheil zum Segen für Petrus und andere. „Und
du, bist du einst zurückgekehrt, so stärke deine Brüder."
Die Erfahrung der eigenen Kraftlosigkeit, der völligsten
Ohnmacht bei den besten Absichten und Vorsätzen, in Verbindung
mit der wunderbaren Macht der wiederherstellenden
Gnade — einer Gnade, die dem Gebeugten willig gibt
und nichts vorwirft — setzt uns in den Stand, anderen
behilflich zu sein, ihnen mit der Gnade zu dienen, die uns
selbst zuteil geworden ist. Iurückgekehrt, wiederhergestellt,
durch den Geist belehrt, vermögen wir solchen zurechtzuhelfen,
die noch durch die Erfahrungen gehen, die wir gemacht
haben.
Beachtenswert ist in unserer Stelle auch der Wechsel
in der Anrede unseres Herrn. Ruft Er Seinen Jünger
zunächst mit dem Namen Simon, um ihn an seine
menschliche Schwachheit zu erinnern, so nennt Er ihn gleich
nachher, nachdem Petrus seiner Bereitwilligkeit, mit Jesu
alles zu erdulden, Ausdruck gegeben hat, mit seinem neuen
Namen: „Ich sage dir, Petrus, der Hahn wird heute
n ich t krähen usw." Petrus bedeutet bekanntlich „Stein".
774
Ein Stein ist das Bild des Festen, Unwandelbaren. Nur
an dieser Stelle wird unö berichtet, daß der Herr Seinen
Jünger so anredete. Es mag mehr geschehen sein, aber
dies ist die einzige Stelle, die davon erzählt. Das ist sicher
nicht von ungefähr. Der Herr spricht mit ernster Bedeutsamkeit:
Ich sage dir, Petrus, du, der Stein —
ich selbst habe dir ja diesen Namen gegeben! — wirst mich
in dieser Nacht, noch ehe der Hahn den kommenden Tag
ankündigt, dreimal verleugnen. Markus berichtet uns, daß
Petrus, anstatt sich durch diese doppelte Mahnung warnen
zu lassen, noch „über die Maßen mehr" beteuerte, er werde
Jesum nicht verleugnen, auch wenn er mit Ihm sterben
müßte. (Kap. 74, 30. 37.)
So mußte denn das Unvermeidliche geschehen. Simon
Petrus verleugnet seinen Herrn und Meister dreimal!
Lukas redet nicht von den verächtlichen Ausdrücken und
schließlichen Schwüren und Verwünschungen, mit denen
eö geschah (vergl. Matth. 26, 72—74), wohl aber erzählt
er uns — und wiederum er allein —, wie der Herr sich
zu Seinem armen Jünger „umwandte und Petrus anblickte"
(Kap. 22,67), woraufhin dieser dann, an das Wort
deö Herrn gedenkend, hinausging und bitterlich weinte.
Ebenso ist es Lukas, der den Ausspruch der elf Jünger
berichtet: „Der Herr ist wirklich auferweckt worden und
dem Simon erschienen" (Kap. 24, 34), während
bei Markus die Engel den Weibern am Grabe zurufen:
„Gehet hin, saget Seinen Jüngern und Petrus, daß
Er vor euch hingeht nach Galiläa". (Mark. 76, 7.) Beide
Berichte lassen uns verstehen, mit welch einer zärtlichen
Liebe der Herr gerade Seines tief gefallenen Jüngers gedachte.
Ihm galt der erste Besuch nach Seiner Auf-
775
crstehung. (Vergl. auch 7. Kor. 75, S.) Sem Name
wird ausdrücklich neben den anderen Jüngern genannt.
Fürwahr, „die Gnade kennet keine Schranken".
Wie ergreifend ist auch die Wiedereinführung des
Zurückgebrachten in seinen Dienst! Vor den Ohren seiner
Mitjünger hatte Petrus so unbedacht und vermessen mit
seinen Lippen geredet, und vor ihren Ohren erinnert der
Herr ihn durch Seine Fragen: „Liebst du mich mehr als
diese?" — „Liebst du mich?" — „Hast du mich lieb?"
an seine dreimalige Verleugnung. Zugleich nennt Er ihn
alle drei Male bei seinem vollen menschlichen Namen:
„Simon, SohnJona s'", und wenn Petrus dann, traurig
darüber, daß der Herr zum dritten Mal zu ihm sagt:
„Hast du mich lieb?" demütig antwortet: „Herr, du
weißt alles, du erkennst, daß ich dich lieb habe" —
sein Tun hatte es freilich nicht bewiesen, niemand anders
konnte es wissen — so übergibt ihm der Herr Seine Herde,
Seine geliebten Schafe und Lämmlein, das Teuerste, was
Er besaß. „Weide meine Lämmlein! — Hüte meine
Schafe!" (Joh. 27, 75—77.) Iurückgekehrt, durch die
Gnade zurechtgebracht, auf schmerzliche Weise von seinem
Nichts überführt, war er jetzt der rechte Mann für
diesen mühevollen, so viel Geduld und Selbstverleugnung
erheischenden Dienst.
Eindringlich erinnert uns die Geschichte, die wir eben
betrachtet haben, an das Wort des Apostels: „Daher, wer
zu stehen sich dünkt, sehe zu, daß er nicht falle"
(7. Kor. 70, 72), sowie an das andere: „Glückselig der
Mann, der sich allezeit fürchtet!" lind anderseits
läßt sie uns tiefe Blicke tun in die Fülle der Gnade, die uns
auf unserem Wege umgibt. Wir singen mit Recht:
176
Wie kommt's, daß ich hier sicher walle?
Weil deine Gnad', o Gott, mich schützt.
Wie kommt's, daß ich im Kampf nicht falle?
Weil deine Lieb' mich schirmt und stützt.
Es bleibt uns noch übrig, einen kurzen Blick auf die
Worte zu werfen, die der Herr an Seine Unterredung mit
Simon Petrus knüpft.
„Und Er sprach zu ihnen: Als ich euch ohne Börse
und Tasche und Sandalen sandte, mangelte euch wohl
etwas? Sie aber sagten: Nichts. Er sprach nun zu ihnen:
Aber jetzt, wer eine Börse hat, der nehme sie und gleicherweise
eine Tasche, und wer keine hat, verkaufe sein Kleid
und kaufe ein Schwert." (V. Z5. Z6.) Bis dahin hatte
die Güte des Herrn die Jünger umgeben; niemand hatte sie
antasten dürfen, und nichts hatte ihnen je auf ihren Wegen
gemangelt. Der in ihrer Mitte weilende und sie aussendende
Messias war die sichere Bürgschaft für alles Nötige
gewesen. Aber jetzt sollte Er verworfen und hinweggetan
werden. Statt der Errichtung des Reiches in Macht und
Herrlichkeit sollte die Stunde der Menschen anbrechen und
die ganze Macht der Finsternis sich offenbaren. Fortan
sollten sie gleichsam auf eigenen Füßen stehen, und Kampf,
ernster Kampf, würde ihr Los sein. Gleich Ihm würden
Verachtung, Verfolgung und Vergewaltigung sie treffen.
Nun, um diesen Kampf bestehen zu können, war ein
Schwert nötig.
Die Jünger, unfähig, die geistliche Bedeutung der
Worte des Herrn zu erfassen, verstehen sie buchstäblich und
sagen: „Herr, siehe, hier sind zwei Schwerter". Er aber
sprach zu ihnen: „Es ist genug". In dieser kurzen Antwort
verbindet sich wunderbare Güte mit dem zarten Vor
— 777 —
wurf unverstandener Liebe. Ach, so lange Zeit war Er bei
ihnen gewesen, und doch verstanden sie Ihn noch so wenig!
Eöist genug — dasselbe Wort, das Er wenige Stunden
später zu den drei Jüngern redete, die Er mit sich genommen
hatte, um in den schweren Stunden des Kampfes
in Gethsemane nicht ganz allein zu sein. (Vergl. Mark. 1.4,
44.) Aber ach! Er hat auf Mitleiden gewartet, und da war
keines, und auf Tröster, und Er hat sie nicht gesunden.
(Ps. 69, 20.) Die Jünger schliefen!
Und das waren die, die der Vater Ihm aus der Welt
gegeben, und die Er als ein kostbares Gut aus Seiner
Hand genommen hatte!
Hochgelobter Herr! Wir liegen im Staube vor dir
und beten an!
MepMoseth
Im 2. Buch Samuel, Kap. 9, haben wir ein liebliches
Bild von der Gnade. Es ist wohl schon häufig Gegenstand
der Betrachtung gewesen, aber immer wieder zieht es die
Aufmerksamkeit auf sich, und jedes neue Betrachten läßt
uns neue Schönheiten entdecken. Es hat Gott ja gefallen,
uns die ncutestamentlichen Wahrheiten in vielen eindrucksvollen
Geschichten des Alten Testaments lebendig und
packend vor Augen zu führen. Zu diesen Geschichten gehört
die vorliegende in besonderer Weise.
Wir finden in dem genannten Kapitel David auf dem
ihm von Gott bereiteten Thron in Jerusalem. Die Liebe
seines Herzens und daö Verlangen, auch andere glücklich
zu sehen, bewegen ihn zu der Frage: „Ist noch jemand
da, der vom Hause Sauls übriggeblieben ist, daß ich Güte
— r78 —
an ihm erweise um Jonathans willen?" David hatte eigentlich
keine Veranlassung, an dem Hause seines erbitterten
Feindes, der ihm beständig nach dem Leben getrachtet hatte,
ein gütiges Interesse zu nehmen. Viel eher hätte man
denken können, daß er die Stunde begrüßt hätte, die es
ihm ermöglichte, an den letzten Nachkommen seines Bedrängers
und Verfolgers Vergeltung zu üben. Doch sein
Herz dachte nicht an Rache. Es verlangte ihn vielmehr
danach, Güte zu erweisen und die, die ihn als ihren
schlimmsten Feind betrachten mußten, in den Genuß seiner
Gunst zu bringen.
Warum? „Um Jonathans willen", sagt er. Jonathan
war Davids Freund gewesen und hatte einen Bund
mit ihm gemacht, daß David, wenn Gott einmal alle seine
Feinde ausrotten würde, ihm und seinem Hause nach ihm
seine Güte nicht entziehen wolle. (Vergl. t. Sam. 20.)
Auf seine Nachforschungen wird ein Mann, namens
Iiba, zu ihm geführt, der über einen letzten Sprößling
vom Hause Sauls Nachricht geben konnte. Iiba war ein
unaufrichtiger Mann, wie seine spätere Geschichte beweist.
David fragt Ziba: „Ist niemand mehr da vom Hause
Sauls, daß ich Güte G ottes an ihm erweise?" David
hatte Jonathan innig geliebt. Jetzt, wo er zu Macht und
Würden gelangt ist, gedenkt er des Bundes mit ihm und
begehrt, „Güte Gottes" an dem Geschlecht seines Freundes
zu erweisen.
Wie erinnert uns Davids Tun an Gott selbst! Jonathans
Name bedeutet: „Den Jehova gegeben hat". Im
Himmel thronend, fragt Gott gleichsam: Ist noch jemand
da von dem gefallenen Geschlecht Adams, daß ich Güte
an ihm erweise um meines geliebten Sohnes willen, den
r7d
ich gegeben habe für das Leben der Welt? Gott ist so völlig
durch Jesum verherrlicht worden, daß es jetzt die größte
Freude Seines Herzens ist, armen, bedürftigen Sündern
den ganzen Reichtum Seiner Gnade zuzuwenden.
Drei Dinge werden von Mephiboseth mitgeteilt: zunächst
wer, dann was und schließlich wo er war.
4) Mephiboseth war der Enkel Sauls.
Saul ist das treffende Bild eines Menschen nach dem
Fleische. Er besaß alle jene natürlichen Eigenschaften, die
ihn in den Augen der Menschen wertvoll machen konnten:
alles Begehren Israels stand nach ihm. (t. Sam. d, 20.)
Gott aber hatte ihn nicht erwählt. Denn die, „welche im
Fleische sind, vermögen Gott nicht zu gefallen". Der Verlauf
der Geschichte Sauls erweist auch klar, wie hoffnungslos
der Zustand des Fleisches ist. In der Stellung, in die er
gebracht war, auf die Probe gestellt, versagte Saul restlos,
und sein Ende war Verderben und Untergang. Wie
hätte eö auch anders sein können? „Die Gesinnung des
Fleisches ist Feindschaft gegen Gott."
2) Mephibosethwarlahman beiden Füßen.
Im Kindeöalter von fünf Jahren war ihm die ängstliche
Hast seiner Wärterin verhängnisvoll geworden. Als
nämlich die Schreckensnachricht von, Tode Sauls und
Jonathans eintraf, hatte diese ihn ausgenommen und war
mit ihm geflohen. „Und es geschah, als sie ängstlich floh,
daß er fiel und lahm wurde." (2. Sam. 4, 4.) Sahen
wir in Saul ein Bild von dem Menschen im Fleisch, in seinen:
Stolz und seiner vermeintlichen Kraft, so erblicken
wir in dem lahmen Mephiboseth ein getreues Abbild von
den: Menschen, der noch nicht wiedergeboren ist „durch das
lebendige und bleibende Wort Gottes" (4. Petr. 1, 23),
— r8v —
von dem Menschen in seiner Armut und Hilflosigkeit. Nach
jeder Richtung hin auf die Probe gestellt, hat der Mensch
sich der Übertretung aller Gebote Gottes schuldig gemacht.
Er hat sich als gänzlich untauglich und unfähig erwiesen,
Gottes gerechte Forderungen zu erfüllen.
3) Mephiboseth befand sich im Hause
Makirs, dessen Name „verkauft" bedeutet, in Lodebar,
d. h. an einem Ort „ohne Weide". Wiederum welch
ein sprechendes Bild! Unwillkürlich werden wir an den
verlorenen Sohn im Gleichnis erinnert, der sich in ein
fernes Land begab und, nachdem er dort ausschweifend gelebt
und sein Vermögen vergeudet hatte, von einem Bürger
des Landes, an den er sich hängte, auf dessen Schweineacker
geschickt wurde. „Und er begehrte, seinen Bauch zu
füllen mit den Träbern, welche die Schweine fraßen; und
niema.üe gab sie ihm." — Ein Feind Gottes, ungöttlich,
ohne Kraft, in Schuld und Sünde fern von Gott — daö ist
der Zustand des Menschen, solang er noch nicht bekehrt ist.
Gleich dem jungen Manne in Luk. bS muß er erfahren,
daß all sein Bemühen, sich selbst glücklich zu machen, in
Entfremdung von Gott, in Elend und Schande endet.
In einem Lande, wo keine Weide, kein wahres Glück zu
finden sind, bleibt ihm nichts übrig als bittere Enttäuschung.
„Da sandte der König David hin und ließ ihn aus
dem Hause Makirs . . holen, von Lodebar." David „sendet",
David „läßt holen". Wie gottähnlich ist sein Tun!
Gott sandte Seinen eingeborenen Sohn in eine Welt des
Jammers, Elends und Herzeleids, um die zu befreien,
welche in Banden der Sünde und des Todes lagen, und
sie in Seiner Gegenwart zu segnen und glücklich zu machen
für Zeit und Ewigkeit. Ja, Gott gab den Geliebten Sei-
— 181 —
neö Herzens dahin, „auf daß Er durch den Tod den zunichte
machte, der die Macht des Todes hat, das ist den
Teufel, und alle die befreite, welche durch Todesfurcht
das ganze Leben hindurch der Knechtschaft unterworfen
waren". (Hebr. 2, 14. 15.) Und nicht nur frei, nein,
„heilig und tadellos" sollten die einstigen Sklaven Satans
„vor Ihm sein in Liebe". (Eph. 1, 4.) Der Arm
Dessen, der „mächtig ist, zu erretten", und „stark, zu erlösen",
hat sich ausgestreckt und hat Rettung geschafft.
Das ist Gnade, das ist Liebe! Nichts ruft so lebhaft
das Bewußtsein unserer Unwürdigkeit in uns wach, nichts
bewirkt eine so völlige Zerknirschung in dem Herzen eines
Verurteilten als die Erkenntnis einer vollkommenen Gnade
und Liebe. Mephiboseth, in die Gegenwart des Königs
gebracht, fällt auf sein Angesicht. In tiefer Beschämung
liegt er vor David im Staube. Die Erkenntnis der Person,
in deren Gegenwart er sich befindet, weckt in seinem
Herzen ein richtiges Empfinden von dem, was er ist. Er
nimmt seinen wahren Platz ein und stellt zugleich David
an den ihm gebührenden Platz. Das nämliche finden wir
bei dem Sünder, dessen Herz von der Gnade berührt wird.
Die Gnade bewirkt Aufrichtigkeit der Seele. Der Sünder
erkennt seinen wahren Zustand im Lichte Gottes und liegt
zerknirscht vor Ihm im Staube.
David ruft Mephiboseth mit Namen. Wie persönlich!
So kennt auch Gott alle Menschen mit Namen, sieht sie
und nimmt Kenntnis von ihren Handlungen. Er kennt
die lange Liste ihrer Sünden, sowohl ihrer Unterlassungs-
alö auch ihrer Tatsünden. Alles ist bloß und aufgedeckt
vor den Augen Dessen, mit dem wir zu tun haben. Und
dieser Gott ruft! Mein Leser, hast du schon auf Seinen
rs2
Ruf geantwortet, wie Jakob vor alters es tat? Der Name
„Jakob" bedeutet: Betrüger, llberlister.
Mephiboseth antwortet auf die Nennung seines Namens
mit den Worten: „Siehe, dein Knecht". Er war,
wie der verlorene Sohn, bereit, den Platz eines Knechtes
im Hause einzunehmen. Aber wenn David segnet, so tut
er es nicht gemäß der Meinung oder Erwartung Mephibo-
seths, sondern nach seinen eigenen Gedanken. Der verlorene
Sohn sagt auch: „Ich will mich aufmachen und zu
meinem Vater gehen, und will zu ihm sagen: Vater, ich
habe gesündigt gegen den Himmel und vor dir, ich bin nicht
mehr würdig, dein Sohn zu heißen, mache mich wie einen
deiner Tagelöhner". Ach! er hatte keine Ahnung von der
Gnade und Liebe, die in dein Herzen seines Vaters waren.
Es bedarf oft längerer Zeit, um die Gnade wirklich zu
fassen und zu genießen. Sie ist dem menschlichen Herzen
völlig fremd. Der Mensch kann nicht begreifen, daß Gott
ihn segnen will ohne irgendwelches Verdienst seinerseits,
und meint, er müsse doch irgend etwas tun, um den Segen
empfangen zu können.
David sucht das beschwerte Herz Mephibosethö zu erleichtern
mit der lieblichen Botschaft: „Fürchte dich nicht".
Er möchte den Sonnenschein seiner Gnade in dieses Herz
dringen lassen, um jede düstere Wolke aus ihm zu entfernen.
„Denn ich will gewißlich Güte an dir erweisen
um deines Vaters Jonathan willen, und will dir alle Felder
deines Vaters Saul zurückgeben." Das Wort war
ein Königswort. Deshalb konnte kein Schatten von Zweifel
in Mephiboseths Herz zurückbleiben.
Der Mensch hat durch seinen Fall alles verloren, was
Gottes Güte ihm einst geschenkt hatte. Er hat alle seine
— 183 —
Rechte verwirkt, und der Tod herrscht über ihn. Und ob er
auch seine ganze Kraft anspannt, die Welt wicderzugewin-
nen, indem er seine Seele dabei aufs Spiel setzt, seine Bemühungen
sind umsonst. Doch Gott sei Dank! Christus
wird in kurzem die Herrschaft über diese Erde antreten.
Sie ist Sein durch Kauf. Und wenn Er Seine Rechte an
sie geltend macht, werden die Seinigen diese mit Ihm teilen.
Ja, der Gläubige ist Miterbe von allem, was
Christus einmal in Besitz nehmen wird: Erbe Gottes, Miterbe
Christi.
„Du aber sollst beständig an meinem Tische essen",
lautet die letzte und herrlichste Zusicherung aus des Königs
Munde. Mephiboseth ist versorgt und sichergestellt für
sein ganzes Leben. Er lebt von täglicher Gnade. Die Güte
Davids macht ihn zum Teilhaber aller Segnungen seines
Hauses, und Mephiboseth wird behandelt wie einer von
den Königssöhnen.
Welch ein Gegensatz zwischen einst und jetzt, zwischen
dem fernen Lande Lodebar und dem Platz an des Königs
Tafel! Wohl hat Mephiboseth Grund, sich in den Staub
zu beugen. Und er tut daö auch. Angesichts einer solchen
Gnade nennt er sich einen „toten Hund". Welchen Wert
hat der Leichnam eines unreinen Tieres?
Doch David erhöht in seiner Gnade den armen Krüppel
nicht nur, indem er ihn an seinen Tisch setzt, sondern er
läßt ihm auch jede Sorgfalt, jede Aufmerksamkeit, jede
Darreichung in freigebigster Weise zuteil werden. Iiba
muß mit seinen fünfzehn Söhnen und zwanzig Knechten
die zurückerstatteten Ländereien Sauls bebauen und deren
Ertrag für Mephiboseth einbringen; „und alle, die im Hause
Iibaö wohnten, waren Mephiboseths Knechte". Wie erkn-
484
nert uns das wieder an Gott! Nachdem Er den Sünder
ausgenommen und gerechtfertigt hat, segnet Er ihn mit
jeder geistlichen Segnung in den himmlischen Ortern und
trifft Vorkehrungen für jeden Schritt, den er noch auf
dem Wege himmelwärts zu gehen hat. Der Heilige Geist,
der andere Sachwalter, macht Wohnung in ihm und läßt
ihn alles, was in Christo für ihn ist, genießen.
Mephiboseth blieb in sich selbst der gleiche, schwache
Mann, der er immer gewesen war. Seine Lahmheit schwand
nicht. Aber nicht dieses Gebrechen, diese seine Schwachheit
ist es, die ihn fortan beschäftigt, die Person Davids
erfüllt sein ganzes Herz. Er hat teil an der Güte des
Königs und ist glücklich in seiner Gegenwart. Alle seine
Zuneigungen sind David zugewandt, lind seine armen, lahmen
Füße entschwinden seinem Gesichtskreis.
Zn 2. Samuel 46, 4—4 ändert sich die Szene. Ein
Machträuber sitzt auf dem Throne. David, für den Augenblick
verworfen, verläßt das Land, und Mephiboseth muß
lernen, was Jerusalem ohne David ist.
So ist es auch mit dem Christen. Sein Herr und
Heiland ist von der Welt verworfen, hinausgetan, verschmäht
und gekreuzigt worden. Er ist nicht mehr hier.
Diese Welt ist der Schauplatz Seines Leidens und Sterbens
geworden, und an den Christen tritt jetzt die Frage
heran, ob er bereit ist, seinen Platz an der Seite eines verworfenen
Christus einzunehmen. Die allgemeine Christenheit
nennt sich wohl nach Christo, lehrt und bekennt, daß
Er alle Macht besitze, um zu helfen, und gibt vor, Seinen
Namen zu ehren. Aber mache einmal die Probe: predige
Christum im Konzert- oder Gesellschaftssaal, bekenne Ihn
im Geschäftshaus, in der Werkstatt, auf der Eisenbahn,
485
lind es wird sich bald Herausstellen, daß Er jetzt genau so
wenig begehrt ist wie vor ttzSO Jahren. Die religiöse Welt
hat kein Herz für Christum. Von Religion hat sie genug,
aber sie hat keinen Christus. Für den Gläubigen aber ist
Er alles; „alles an Ihm ist lieblich" für ihn, und er ist
bereit, die Schmach Christi auf sich zu nehmen und sich
von allem zu trennen, wovon Er getrennt ist.
Mephiboseth wird von Iiba, dem Heuchler, verleumdet.
Er hatte seinen Esel satteln wollen, um den König
in die Verbannung zu begleiten. Aber Ziba war ihm zuvorgekommen
und mit einem Paar gesattelter Esel zu David
geeilt, auf denen er Vorräte von Früchten und Wein zu
ihm brachte; und als der König dann nach Mephiboseth
fragte, hatte er heuchlerisch geantwortet: „Siehe, er bleibt
in Jerusalem; denn er sprach: Heute wird mir das Hauö
Israel das Königtum meines Vaters wiedergeben".
Doch Lügen haben kurze Beine, wie man zu sagen
pflegt. Bei der Rückkehr Davids (Kap. 4y, 24—30) kam
die Wahrheit ans Licht. Die ganze Erscheinung Mephibo-
seths legte Zeugnis davon ab, wie es in Wirklichkeit um
ihn stand. Er hatte während der Abwesenheit Davids getrauert.
Seine Kleider, sein ungepflegter Bart, seine
nicht gereinigten Füße, alles bekundete deutlich die Tiefe
seines Schmerzes. Jetzt, wo David zurückgekehrt ist, ist
sein Herz befriedigt. Er hat alles. Nicht die Gaben Davids
waren es, die er suchte, nichts Geringeres als David selbst
begehrte Mephiboseth. Nur er konnte die Leere seines Herzens
ausfüllen.
So ist es auch mit dem Gläubigen. In der Zeit der
Abwesenheit seines Herrn und Heilandes trauert er, ver
— r8b —
langt danach. Ihn zu sehen. Den, den er nie gesehen hat,
liebt Er und begehrt, bei Ihm zu sein. Und während er
dem herrlichen und gesegneten Augenblick entgegengeht,
da er Ihn schauen darf von Angesicht zu Angesicht, kann
er dieser armen Welt mit allen ihren Eitelkeiten und Vergänglichkeiten
den Rücken wenden, wissend: „Noch über
ein gar Kleines, und der Kommende wird kommen" und
mich aus allem Leid und Schmerz, Schein und Trug herausnehmen,
um dann für immer bei Ihm zu sein.
Einige Gedanken
über Hiob 5, 8 und 22, 21 ff.
Die Freunde Hiobs sahen was vor Augen ist und
betrachteten die Umstände, in die Gott Seinen Knecht hatte
kommen lassen, unter dem engbegrenzten Gesichtspunkt
menschlicher Überlegungen, trotzdem sie, wie wir aus ihren
Reden klar erkennen, gottesfürchtige Männer waren. Das
Besondere in der Lage Hiobs, sowie die Gedanken Gottes
bezüglich Seines Knechtes, die, wie Seine Wege, himmelhoch
höher waren als ihre Gedanken, erkannten sie nicht,
aber doch offenbaren sie ein nicht geringes Verständnis für
die Wege Gottes mit dem Menschen im allgemeinen und
über die Stellung des Gläubigen zu dem Allmächtigen
und Höchsten, soweit Er sich ihrer Erkenntnis damals geoffenbart
hatte. Wie könnte man auch anderes erwarten
von vertrauten Freunden eines Mannes, der nach dem
Urteil Gottes an Gottesfurcht und praktischer Gerechtigkeit
auf Erden' seinesgleichen nicht hatte? Und so finden
wir denn in ihren Reden und Ermahnungen, wenn wir
787
von der ihnen mangelnden Erkenntnis eines so wunderbaren
Grundzuges des Wesens Gottes, wie es die Liebe
ist, und dem daraus hervorgehenden Urteil über Hiob absehen
wollen, Aussprüche von unendlichem Wert und bleibender
Kostbarkeit auch für die Gläubigen unserer Tage.
Gottes Volk hat zu allen Zeiten da, wo der Thron
Satans ist, mit Schwierigkeiten, Versuchungen und Leiden
aller Art Bekanntschaft machen müssen, nein, wir
wollen sagen, machen dürfen. Und wohl mancher hat
dabei die Erfahrung gemacht, daß Menschen, selbst liebe,
treue Freunde und aufrichtige Kinder Gottes, bei herzlichstem
Mitgefühl sich doch nicht zu einem Verständnis
ihrer besonderen Lage und der oft wunderbaren Wege des
Vaters mit ihnen aufzuschwingen vermochten. Wie gut
deshalb für uns, daß Gott alles kennt, und daß wir das,
was Hiob in seinem bittern Schmerz nur vorausahnend
erfaßte, in dem vollendeten Werke Christi und in Seinem
Hohepriestertum erfüllt sehen dürfen!
Beschäftigen wir uns zunächst einen Augenblick mit
dem Ausspruch Eliphas', des Temamters, in Kap. 5, 8 ff.:
„Ich jedoch würde Gott suchen, und Gott meine Sache
darlegen, der Großes und Unerforschliches tut, Wunder
bis zur Unzahl, der Regen gibt auf die Fläche der
Erde usw." Hiob, der bei allen Verlusten und Prüfungen
seinen Lippen nicht erlaubt hatte wider Gott zu sündigen,
war ob der Größe seiner für ihn von Satan mit vollendeter
Grausamkeit ausgesuchten Prüfung in großer Gefahr,
seinen Glauben zu verleugnen und Gott Ungereimtes
zuzuschreiben. Seine Seele war mit Bitterkeit gesättigt.
Seine Vollkommenheit, an der er festhielt, und die er, wie
gegen seine Freunde, so auch gegen den Allmächtigen ver-
188
Leidigen zu müssen glaubte, erschien ihm im Lichte der
eigenen Gerechtigkeit der des Höchsten ebenbürtig. Da ist
wohl niemand unter uns, der in Versuchung kommen
könnte, sich mit Hiob auf einen solchen Boden zu stellen.
Die Gefahr hingegen, der wir alle ausgesetzt sind, ist, daß
wir in Leiden und Schwierigkeiten den Blick abwenden
von der vollkommenen Liebe des Vaters, der uns „züchtigt,
damit wir Seiner Heiligkeit teilhaftig werden". Statt
aus den Allmächtigen und Höchsten, dessen Kinder wir
sind, zu blicken und die vollkommene Liebe in Seinem
Vaterantlitz zu gewahren, schauen wir auf die Umstände,
die gleich unübersteiglichen Bergen sich vor uns türmen,
beschäftigen uns mit unserer Schwachheit, vergleichen uns
mit anderen usw. usw.
Als einst die drei Freunde Daniels in den Feuerofen
geworfen waren, sahen die Umstehenden, wie der Herr
selbst sich zu ihnen gesellte. Sie selbst sahen es wohl nicht,
aber im Glauben vermochten sie inmitten des Feuers zu
wandeln und unversehrt daraus hervorzugehen. Wir aber
sind manchmal in Gefahr, die Kraft des Glaubens, der sich
auf die Allmacht und Liebe Gottes stützt, zu verleugnen,
gleichen einem Petrus, der, auf die Umstände blickend,
alsbald anfing zu sinken.
Anstatt Gott zu suchen, wie EliphaS zu Hiob sagt,
um bei Ihm Kraft zu finden, sind wir schwach, vermögen
weder im feurigen Ofen, noch auf dem Meere zu wandeln.
Menschen, selbst die besten und treuesten, versagen, erweisen
sich als „leidige Tröster", ohnmächtige Helfer. Aber
unser Gott und Vater vermag alles. Er, „der Großes
und Unerfvrschliches tut, Wunder bis zur Unzahl".
Bist du in zeitlichen Schwierigkeiten, liebe gläubige
18Y
Seele, und scheint kein Ausweg sich dir zu öffnen? Suche
Sein Angesicht, lege Ihm deine Sache dar. Noch niemals
ist ein Kind Gottes zuschanden geworden, das zu Ihm
seine Zuflucht genommen hat. „Nur Er ist mein Fels
und meine Rettung, meine hohe Feste; ich werde nicht
wanken", hören wir einen David singen angesichts seiner
übermächtigen Feinde. (Ps. 62, 6.) Er, „der Regen gibt
auf die Fläche der Flur", vermag all deinen Mangel
auszufüllen in vollkommener, göttlich wunderbarer Weise.
Sei gewiß, du wirst Ihn bald preisen für den Weg, den
Er mir dir gegangen ist, und mit dem Psalmisten sagen
können: „Meine Wehklage hast du mir in einen Reigen
verwandelt, mein Sacktuch hast du gelöst, und mit Freude
mich umgürtet". (Ps. 30, 11.) Und wie wird es erst sein,
wenn wir nach vollendetem Pilgerlauf den Herrn schauen
und, zurückblickend auf unsere irdischen Wege, in Seinem
Licht erkennen werden, welch herrliche Ziele Gott bei Seinen
Wegen mit uns im Auge gehabt und auch erreicht
hat! „Jehova, mein Gott, in Ewigkeit werde ich dich preisen!"
(Ps. 30, 1.2.)
Wenden wir uns weiter zu Kap. 22, 21—30. Hier
redet derselbe Eliphas und spricht: „Verkehre doch freundlich
mit Ihm und halte Frieden; dadurch wird Wohlfahrt
über'dich kommen". Ja, wahrlich, in Seiner Gemeinschaft,
im innigen Verkehr mit unserem Herrn und
Meister, belehrt durch Sein teures, nie trügendes Wort,
ist vollkommener Friede, wahre Wohlfahrt das Teil der
erlösten Seele. Und wie meisterhaft stellt uns das aus
der Erkenntnis göttlichen Waltens hervorquellende Wort
des Temaniters den Anfang, das Wesen und die Vollendung
des Weges eines Gläubigen in Verbindung mit Gott
— ^yo —
vor die staunenden Augen! Es lenkt den Blick ab von der
Betrachtung der äußeren Umstände und des eigenen Wesens,
hin zu Dem, dessen Antlitz selbst in der härtesten
Trübsal unverändert freundlich und voll göttlicher Liebe
auf jedes der geliebten Seinigen gerichtet ist.
Möchte auch jeder, der in eigenen Wegen zuschanden
geworden ist und nun in selbstverschuldeter Blindheit in
den Wegen Gottes sich nicht mehr zurechtzufinden vermag,
die ernste Ermahnung des folgenden Verses auf sein Herz
und Gewissen anwenden und die Belehrungen des Geistes
Gottes sich zu eigen machen: „Wenn du zu dem Allmächtigen
umkehrst, so wirst du wieder aufgebaut werden,
wenn du Unrecht entfernst aus deinen
Zelten".
Für wie viele von uns treffen sie doch — mit
Betrübnis müssen wir es feststellen — den Nagel auf
den Kopf! Wie kann Wohlfahrt uns zuteil werden, wie
können wir in Seinem Frieden unsere Pfade ziehen, wenn
wir fern von Ihm auf den Wegen der Welt und des
Fleisches wandeln? wenn in unserem Geschäft oder in unserem
Privatleben nicht den unwandelbaren Grundsätzen des
heiligen Gottes, durch dessen Willen wir geheiligt sind,
Rechnung getragen wird? Gibt es nicht selbst solche in
unserer Mitte, von denen auch heute der Apostel mit Weinen
sagen müßte, daß sie „Feinde des Kreuzes Christi"
sind? Entferne Unrecht aus deinen Zelten, kehre um bis
zu Ihm hin, ruft ihnen der Geist Gottes zu. Nur so
können sie wieder aufgebaut werden.
Hat jemand im Verlässen seiner Abhängigkeit, durch
das Gehen eigener Wege die Gemeinschaft mit seinem
Herrn und Erlöser eingebüßt, so beachte er das Wort der
— iyi —
Ermahnung! Je eher er dem Rufe der suchenden Liebe,
die ihm nachgeht, folgt, um so leichter wird ihm die unumgängliche
Umkehr werden. „Durch Umkehr und durch
Ruhe würdet ihr gerettet werden, im StiUsein und im
Vertrauen würde eure Stärke sein", ruft der Prophet
Jesaja dem abtrünnigen Volke Israel zu. Aber die Umkehr
muß wahr und tief sein, das Unrecht und die Götzen müssen
restlos entfernt werden aus den Zelten. Und sollte
jemand in der Verblendung des Herzens, das „arglistig ist,
mehr als alles, und verderbt; wer mag eö kennen?"
(Jer. 17) — einer Verblendung, die so leicht die Folge
von Ungehorsam und Eigenwillen ist, die Wege Gottes
unverständlich finden und gar darüber murren, Gott Ungereimtes
zuschreiben, möchten dann die weiteren Verse ihn
belehren, die einem Hiob zugerufen werden mußten: „Lege
das Golderz in den Staub und das Gold von Ophir unter
den Kies der Bäche, so wird der Allmächtige dein Golderz
und dein glänzendes Silber sein". Dein eigenes Golderz,
das Bild deiner natürlichen, vermeintlichen Gerechtigkeit,
muß als gänzlich untauglich und wertlos verworfen,
das feine Gold von Ophir, deine in deinen eigenen Augen
erworbenen Vollkommenheiten, die deinen Blick blenden
und dir die Erkenntnis über deinen Zustand unmöglich
machen, sie müssen in den Staub, unter den Kies der
Bäche, wo kein Auge je mehr ihren trügerischen Glanz
entdecken kann.
So wie Gott deine Sünden und Ungerechtigkeiten
hinweggetan hat durch das Blut Christi und ihrer nie mehr
gedenken will, so mußt du alle Selbstgerechtigkeit und
alles eigene Wesen von dir entfernen samt dem aufgehäuften
Unrecht, wenn du wieder zurecht und in Seine Gemein
ry2
schäft kommen willst. Dann aber, o unvergleichlich kostbares
Teil! wird der Herr selbst, „der uns geworden ist
Gerechtigkeit und Heiligkeit und Erlösung", dein Golderz
und dein glänzendes Silber sein. So geheilt vom eigenen
Wesen, wirst du ungeahnte Erfahrungen machen in der
ungestörten Gemeinschaft mit Ihm. Dann werden die
weiterfolgenden Verheißungen bei dir erfüllt werden: „Du
wirst zu Ihm beten, und Er wird dich erhören, und deine
Gelübde wirst du bezahlen. Beschließest du eine Sache,
so wird sie zustande kommen, und Licht wird strahlen Überbeinen
Wegen. Wenn sie abwärts gehen, so wirst du sagen:
Empor! und den, der mit gesenkten Augen einhergeht,
wird Er retten. Selbst den Nichtschuldlosen wird Er befreien,
er wird befreit werden durch die Reinheit deiner
Hände." Ja, die Worte Salomos, daß „der Pfad des
Gerechten ist wie das glänzende Morgenlicht, das stets
Heller leuchtet bis zur Tageshöhe", werden deinen Weg
kennzeichnen. Inmitten der Versammlung wirst du Ihm
dann wieder mit glücklichem Herzen lobsingen und anderen
ein Helfer, ein Zeugnis und Wegweiser sein können
auf dem Wege des Lebens.
Mein Leser! Ist es nicht der Mühe wert?
Aus allen Briefen
B., y. April 1856.
— — Heute morgen meinte ich, meine Reise abbrechen
zu müssen. Ich war nämlich zwei Tage nacheinander
ganz durchnäßt und mußte auch noch meinen eigenen
Leib zur Trockenmaschine hergeben. Das war eine unge
— ryz —
wohnte Sache, und die letzten beiden Nächte bin ich viel
von Zahnschmerzen geplagt gewesen. Heute morgen fühle
ich mich sehr angegriffen, aber ich möchte meine Arbeit
nicht gern unterbrechen. Ich hoffe zum Herrn, daß Er
mir die nötige Kraft darreichen wird, wenn's auch sauer
fällt.
Der Herr segnet mich viel in Seinem Werke, doch
fühle ich, daß es gut und nötig wäre, überall längere
Zeit zu bleiben. Aber auch das ist dem Herrn bekannt.
Man begegnet manchen Schwachheiten unter den Brüdern,
und man könnte leicht mutlos werden, wenn Gottes
Kraft und Gnade uns nicht aufrecht hielten. Es mag wohl
durchs Gedränge gehen, aber wir können getrost sein, weil
wir die Liebe Gottes darin finden. Wir sind hier, um zu
lernen und um Seinen Namen zu verherrlichen. Wir sind
in einer guten Schule und haben den besten Lehrer. Ein
gehorsamer und aufmerksamer Schüler lernt am meisten.
Möchten wir alle recht viel und in der rechten Weise lernen!
Das will uns oft schwer werden, aber vor uns liegt die
Herrlichkeit, und unsere Hoffnung täuscht uns nicht. Hie-
nieden haben wir zu leiden, soweit es Gott gefällt, und
im Leiden Ihn zu verherrlichen. Wer am meisten auö-
harren lernt, versteht'ö am besten. Viel darüber zu grübeln,
ob dieses oder jenes Leiden besser für uns wäre,
macht den Gang nur schwerer. Das Leiden ist für uns
das beste, das Er uns auferlegt, wenn wir nur lernen
still darin zu sein.
Ich weiß, daß es eine Verleugnung für Dich ist, mich
so viel von Hause getrennt zu sehen, und so gern ich meinen
Dienst vollbringe, will es mir doch auch oft schwer werden.
Aber wir sind in der Wüste und nicht in der Hei
1Y4
mat; was können wir da anders als Entbehrungen erwarten?
Das Fleisch erwartet immer etwas, aber es findet
den Tod. Ja, ja, wir sind in der Welt, aber auf dem
Wege nach Hause, und das ist ein süßer Trost. Er wird
auch Dich trösten auf allen Deinen Wegen. Er liebt Dich,
Er trägt Dich, Er erquickt Dich. Glaube nur!
W., den 7. Mai 4856.
- Dein Brief hat mir das Herz gestärkt, und
die treue Fürsorge des Vaters hat mich zu viel Lob und
Dank getrieben.
Ja, der Herr ist gut und treu. Ich hoffe auch, daß
meine Gegenwart hier nicht ohne Segen geblieben ist. In
S. geht es ziemlich gut. Einzelne Seelen haben an Eifer
und Einfalt gewonnen, andere bestätigen die Tatsache, daß
ein junger Baum schneller wächst alö ein alter. Hier ist
viel Einfalt und brüderliche Liebe, auch ein großes Verlangen,
die Wahrheit zu hören. Im Hause von Geschwistern
L. begegnet man immer derselben großen Gastfreundschaft,
und die einzelnen haben viel am inneren Leben zugenommen.
Das Weggehen von hier wird wieder Tränen kosten.
Harre aus im Gebet und im Kampf! Gott ist mit uns.
Er ist unser Gott und Vater in Christo Jesu. Seine Gegenwart
und Gemeinschaft ersetzen und übertreffen alles.
Wie getrost können wir sein, wenn wir mit Ihm wandeln!
Dann ist Er wirklich alles für uns.
B., 5. November 1856.
- Ich habe auf dieser Reise viel an Dich und
unser Haus denken müssen, und ich preise den treuen
— ryZ —
Herrn, daß Er wieder so freundlich geholfen hat. Ja,
wir haben's gut, wenn wir uns von Seinen Händen drehen
und wenden lassen, wenn Jesus wirklich unser Alles ist.
Ich genieße auf dieser Reise viel Freude im Herrn und
war auch in den Versammlungen reichlich mit den Brüdern
gesegnet. Nichts ist köstlicher, als ein inniger Umgang
mit dem Herrn, wenn das Sehnen des Herzens,
das Ihn kennt und liebt, uns dazu treibt, und nicht etwa
die Umstände oder gar ein gesetzlicher Geist. Wie sind doch
alle Hindernisse, Schwierigkeiten und Versuchungen so
nichts, wenn wir, durch Glauben in Seiner Gemeinschaft
wandelnd, von Ihm selbst gestärkt und erquickt werden!
Er leitet uns durch die Wüste, und will das Kind vorsichtig
gehen, so muß sein Auge auf den Weg gerichtet bleiben.
Unser Weg aber ist Christus, wie Er selbst sagt. Ruht das
Auge stets auf diesem Wege, so werden wir nicht wanken;
das Ende desselben kennen wir, es liegt in der Herrlichkeit
Gottes droben. Manche suchen sich selbst einen Weg, wo
doch keiner ist; ihr Auge richtet sich suchend nach unten,
und Verwirrung ist die stete Folge. Ist unser Weg aber
Christus, so ist alles einfach. Das Licht, das uns leuchtet,
der Fels, der uns tränkt, das Manna, das uns nährt, ist
Christus. „Genug, daß Du mein Alles bist!"
Bald werden wir unseren geliebten Herrn von Angesicht
zu Angesicht sehen. O wie wird uns zumute sein, wenn
wir einmal in Sein liebendes und treues Auge schauen dürfen!
Seliger Augenblick! Fürwahr, die Freude, die Christus
kannte, und für welche Er deshalb das Kreuz erduldete
und der Schande nicht achtete, muß unaussprechlich
sein. Laß uns darum nur Ihm folgen und auöharren!
Ein jeder aber kämpfe den guten Kampf des Glaubens in
— ryb —
seiner Stellung, Du in der Deinigen, ich in der meinigen.
Wir alle dienen und arbeiten dem Herrn. Du arbeitest im
Hause, aber Du dienst darin dem Herrn. Man könnte leicht
denken, für einen solchen Dienst empfange man Essen und
Kleidung. Für die Welt ist das so, aber nicht für das Kind
Gottes. Paulus ermuntert die Knechte, ihren leiblichen
Herren treu zu dienen, „als dem Herrn"; aber er fügt
nicht hinzu: denn ihr habt Nahrung und Kleidung und
einen jährlichen Lohn von so und so viel. Diese Dinge sind
für das Kind Gottes eine reine Zugabe, seinen Lohn findet
es bei dem Herrn droben. Nimm das recht zu Herzen
und sage es auch den anderen, damit Ihr alle recht fröhlich,
mit Eifer und Treue Eure Arbeit tut, wissend, daß
Ihr dem Herrn dienet. Sage es auch der Schwester K.,
dann wird ihr Rad noch einmal so schnell herumgehen,
und sie wird sich stets im Herrn freuen.
Ich bin da ein wenig ins Lehren gekommen, aber so
geht's mir in den Briefen fast immer. Wenn ich mir auch
vornehme, als ein getreuer Mann an Dich allein zu schreiben,
— im Anfang geht's gut, aber nach und nach wird
das Herz immer weiter, bis zum Schluß das ganze Haus
drin ist. . . . Meine Zahnschmerzen sind fort, aber sie
können jeden Augenblick wiederkehren. Der Herr züchtigt
mich, weil Er mich liebt und weil ich es nötig habe; das
ist das ganze Geheimnis.
Berichtigung.
3m Iunkhest, Seite 1Z9, Zeile 7 von oben lies
statt „das Weib Michas" -- „die Mntter Michas".
Zweimal gerufen
VII.
Wir haben in unserer Betrachtung das siebente und
damit das letzte Beispiel eines Doppelrufes Gottes an den
Menschen erreicht. Mußten wir schon immer sehen, daß
die verschiedenen Zeitabschnitte, in welche die behandelten
Beispiele uns führten, sich in ihrer Eigenart
wesentlich voneinander unterschieden, so ist das in ganz
besonderer Weise diesmal der Fall. Das 9. Kapitel der
Apostelgeschichte setzt auf neutestamentlichem Gebiet
einen Markstein, wie es kaum einen zweiten, gleich bedeutsamen
gibt. Führte uns Lukas in seinem Evangelium
die wunderbare Erscheinung des eingeborenen Sohnes Gottes,
des Schöpfers aller Dinge, in Knechtsgestalt vor
Augen, erblickten wir dort „das anerkannt große Geheimnis
der Gottseligkeit: Gott, geoffenbart im Fleische, gerechtfertigt
im Geiste, gesehen von den Engeln usw."
(1. Tim. Z, 16), so stehen wir hier vor der erstaunlichen
Tatsache, daß ein Mensch, ein „in Blut und Fleisch"
auf dieser Erde erschienener Mensch, seinen Platz im Himmel,
zur Rechten der Majestät in der Höhe, eingenommen
hat und mm von dort aus mit göttlicher Machtvollkommenheit
spricht: „Ich bin Jesus". Wie wunderbar einfach
sind die Worte, und doch zugleich von solch überwältigender
Majestät! Jesus, der Jimmermannssohn von Nazareth,
der von aller Welt Verachtete, ans Fluchholz Geschlagene,
aber von Gott Erhöhte und Verherrlichte, redet.
ÜXXIV 8
— 4Y8 —
Derselbe Jehova, der einst Sein Volk durch das Rote
Meer führte und ihm vom Berge Sinai herab unter Donner
und Blitz Seine heiligen Gebote gab, Er, der Hirte
Israels und doch zugleich der „Knecht" Jehovaö, das geheimnisvolle
„Reis aus dem Stumpfe Jsais", der „Wurzelsproß
aus dürrem Erdreich", der „Mann" der Ratschlüsse
Gottes!
„Ich bin Jesus, den du verfolgst" — ein
Mensch in der Herrlichkeit droben, der aber nicht in unnahbarem
Alleinsein dort thront, sondern „Genossen" hat,
die, in ewige, unlösliche Verbindung mit Ihm gebracht,
Seinen „Leib" ausmachen, „Glieder Seines Leibes" bilden
und von Ihm „Brüder" genannt werden.
In welches Menschen Herz wäre je so etwas gekommen?
Endgültig war damit der Bruch mit dem Bisherigen
vollzogen. Das „Alte" war weggenommen, um dem
„Neuen" Platz zu machen. Daö Verhältnis zu Israel
nach dem Fleische war für immer gelöst. Um irdische Größe
oder Herrlichkeit handelte es sich fortan ebensowenig, wie
um ein weltliches Heiligtum oder um eine Religion von
Satzungen und Gebräuchen. Das Kreuz hat allen Ansprüchen
derer, die auf gesetzlichem Boden standen, für
immer ein Ende gemacht, zugleich aber auch denen die Tür-
geöffnet, die keinerlei Ansprüche nach dem Fleische besaßen,
indem es die „uns entgegenstehende Handschrift
in Satzungen, die wider uns war, aus der Mitte wegnahm".
(Kol. 2, 44.) Der „Messias", der Sohn Davids,
war für Israel gekommen; ein auf dieser Erde lebender
Christus stand mit der Erde und einem irdischen Volke
in Verbindung, aber ein gestorbener, aus den Toten auferstandener
und zur Rechten Gottes verherrlichter
— ry9 —
„Mensch" hat heute mit dem einen Volke nicht mehr zu
tun als mit dem anderen. Zn dieser Beleuchtung wird
der Ausspruch des Apostels in 2. Kor. 5, "tb leicht verständlich:
„Daher kennen wir von nun an — d. h. nach
dem Tode und der Auferstehung Christi — niemand nach
dem Fleische; wenn wir aber auch Christum nach dem Fleische
gekannt haben, so kennen wir Ihn doch jetzt nicht
mehr also". Der Messias, Christus nach dem Fleische,
ist verworfen, und damit sind alle Beziehungen zu einem
irdischen Volke abgebrochen. Dem Glaubenden sind jetzt
himmlische Verbindungen mit einem verherrlich-
t e n Christus als sein gegenwärtiges Teil geschenkt.
Doch wenden wir uns zu dem geschichtlichen Bericht,
den der Heilige Geist uns durch Lukas, den „geliebten
Arzt", von diesem so wichtigen Wechsel gibt.
„Saulus aber, noch Drohung und Mord wider die
Jünger des Herrn schnaubend, ging zu dem Hohenpriester
und erbat sich von ihm Briefe nach Damaskus an die
Synagogen, damit, wenn er etliche, die des Weges wären,
fände, sowohl Männer als Weiber, er sie gebunden
nach Jerusalem führe." (Apstgsch. 9, t. 2.)
Wer war Saulus? Lassen wir ihn selber reden: „Ich
bin ein jüdischer Mann, geboren zu Tarsus in Cilicien;
aber auferzogen in dieser Stadt (Jerusalem) zu den Füßen
Gamaliels, unterwiesen nach der Strenge des väterlichen
Gesetzes, war ich. . . ein Eiferer für Gott".
(Apstgsch. 22, 3; vergl. auch Kap. 26, 4. 5.) Oder:
„Beschnitten am achten Tage, vom Geschlecht Israel, vom
Stamme Benjamin, Hebräer von Hebräern, was das Gesetz
betrifft, ein Pharisäer, was den Eifer betrifft, ein
Verfolger der Versammlung, was die Gerechtigkeit be
200
trifft, die im Gesetz ist, tadellos erfunden". (Phil. Z, 5.
6.) Oder endlich: „Ihr habt von meinem ehemaligen Wandel
in dem Judentum gehört, daß ich die Versammlung
Gottes über die Maßen verfolgte und sie zerstörte, und in
dem Judentum zunahm über viele Altersgenossen in meinem
Geschlecht, indem ich übermäßig ein Eiferer für meine
väterlichen Überlieferungen war". (Gal. 1, 13. 14.) '
Klar und bestimmt steht die Gestalt dieses Mannes
vor unseren Augen: ein Mensch von selten aufrichtigem
Charakter und gerader Gesinnung, voll glühender Liebe zu
seinem Volke und der Religion seiner Väter, ausgestattet
mit außergewöhnlichen Eigenschaften des Herzens und
glänzenden Fähigkeiten des Geistes, ausgezeichnet vor seinen
Altersgenossen durch tadellosen Lebenswandel und rastlosen,
nie ermüdenden Eifer für Gott — so war er das
Bild eines natürlichen Menschen unter Gesetz, der mit
brennendem Verlangen bemüht ist, eine eigene Gerechtigkeit
aufzurichten, aber auf diesem Wege — zu „dem vornehmsten
der Sünder" wird, indem er wie ein wildes,
blutdürstiges Tier diejenigen verfolgt, welche die Gegenstände
der Liebe und des Wohlgefallens Gottes sind. Die
Ermordung des Stephanus, weit davon entfernt, seine
Wut abzukühlen, hatte nur dazu gedient, seinen Blutdurst
noch mehr anzufachen. Er verwüstete zunächst die Versammlung
in Jerusalem, indem er in die Häuser drang
und Männer und Weiber ins Gefängnis schleppte (Kap. 8,
Z), und erbat sich schließlich Vollmacht von dem Hohenpriester,
um auch in Damaskus, der Hauptstadt von Syrien,
das Gleiche tun zu dürfen.
Die einst von Gott selbst verordneten Autoritäten
machen sich mit Saulus eins in seinem Haß gegen Gott
— 2or —
und Seinen Gesalbten. Auf diesem Wege nun begegnet
dem vor Wut Schnaubenden die wunderbare, „heilbringende
Gnade Gottes". War schon der sterbende Räuber
ein mächtiges Siegeszeichen dieser Gnade gewesen, Saulus,
der mit tödlichem Haß erfüllte „Lästerer und Verfolger
und Gewalttäter" (k. Tim. t, tZ), war es noch
mehr! Fürwahr, ein Abgrund der Barmherzigkeit verschlang
ein Meer von Schuld und Sünde.
„Als er aber hinzog, geschah eö, daß er Damaskus
nahte. Und plötzlich umstrahlte ihn ein Licht aus dem
Himmel; und auf die Erde fallend, hörte er eine Stimme,
die zu ihm sprach:
Saul! Saul!"
Mit den Schriften und den Wegen Gottes im Alten
Testament aufs genaueste bekannt, konnte für Saulus,
abgesehen davon, daß das den Glanz der Mittagssonne
überstrahlende Licht aus dem Himmel ihn zu Boden geworfen
hatte, kein Zweifel darüber bestehen, daß ein „Gesicht"
ihm zuteil wurde, und so antwortete er denn auf
die Frage: „Was verfolgst du mich?" mit der Gegenfrage:
„Wer bist du, Herr?" Es war ihm völlig klar,
daß ein höheres Wesen mit ihm redete. Aber wer war es?
Ein Engel des Herrn? Vielleicht Jehova selbst? Und nun
hört er die Antwort:
„I ch b i n Jesus, den du verfolg st".
Wer könnte den furchtbaren Schrecken beschreiben,
den dieses Wort in dem Inneren des am Boden Liegenden
hervorgerufen haben muß? Wer es mitfühlen,
was in diesem Augenblick in dem gesetzeöstolzen, den
Namen des Nazaräers verachtenden Herzen vorging? Der
Redende war Jesus? Und zwar Jesus in der strahlen
202
den Herrlichkeit deö Himmels? Der Messias, von Seinem
Volke verworfen, von ihm selbst bisher glühend gehaßt?
Der Gekreuzigte wahrhaftig auf dem Throne
Gottes, der Sohn deö Menschen zur Rechten Gottes
erhöht, so wie er es schon aus dem Munde Seines
Jeugen Stephanus hatte bezeugen hören? Und er, der vermeintliche
Eiferer für Gott, ein Widerstreiter Gottes,
ein Lästerer Seines Gesalbten, ein Verfolger
derer, die Ihn liebten, und die dieser Jesus als Sein Ich
anerkannte? „Was verfolgst du mich?" Und gleichsam
um das Maß zum lllberfließen zu bringen, wurden diese
Worte in hebräischer Mundart, in der Sprache Seiner
Väter, nicht in dem damals gebräuchlichen Aramäisch, an
ihn gerichtet. (Vergl. Kap. 26, 44.)
Welch ein Augenblick! Wenn wir auch vielleicht annehmen
müssen, daß das Gehörte so mächtig, das auf
Saulus Einstürmende so überwältigend war, daß selbst ein
ungewöhnlicher Geist wie der seinige es nicht mit einem-
mal zu fassen vermochte, so brach doch nicht nur das Gebäude
seiner eigenen Gerechtigkeit mit einem Schlage zusammen,
sondern er erkannte auch, daß alles, woraus er
als Jude bisher vertraut und dessen er sich gerühmt hatte,
in nichts zerrann, und daß er, um Gott wohlzugefallen,
mit einem auf der Erde verworfenen, zwischen zwei Räubern
gestorbenen Christus in Verbindung kommen mußte,
mit einem Heiland, der nach vollbrachtem Werke in den
Himmel ausgenommen worden war und nun Sein Volk
dort mit sich verband.
Wunderbar ist die Wirkung, die durch die Antwort
des Herrn in dem Herzen des so plötzlich auf seinem Wege
stillgestellten Mannes hervorgebracht wurde. Er fragt:
203
„Was soll ich tun, Herr?" Dem Glauben folgt unnuttelbar
der Glaubens gehorsam, den er selbst in seinen
späterm Schriften so oft betont. Saulus fühlt unwillkürlich,
daß sein Leben, seine Kraft, sein Herz, sein Alles
fortan Dem gehören muß, der ihn „vom Himmel her"
berief. Der eigene Wille, der ihn bisher geleitet und zu
einen, so schlimmen Ende geführt hatte, mußte dem:
„Herr, was willst D u, daß ich tun soll?" Platz machen.
Wunderbar ist es auch, wie dieser außergewöhnliche
Mann in demselben Augenblick, da er bekehrt wurde, seine
Berufung zum Apostel empfing. (Lies Kap. 2b, IS—18.)
Er steht in dieser, wie in mancher anderen Beziehung wohl
einzig da. Dennoch mußte „das auserwählte Gefäß", wie
der Herr ihn Anamas gegenüber nennt, durch einen einfachen
„Jünger" die erlösende Botschaft hören: „Bruder
Saul (wie lieblich und vertrauensvoll ist diese Anrede dem
bisherigen Verfolger der Jünger Jesu gegenüber!), der
Herr hat mich gesandt, Jesus, der dir erschienen ist auf
dem Wege, den du kamst, damit du wieder sehend und
mit dem Heiligen Geiste erfüllt werdest"; und nachher:
„Und nun, was zögerst du? Stehe aus, laß dich taufen
und deine Sünden abwaschen, indem du Seinen
Namen anrufst". (Kap. 22, 16.) Der größte der
Apostel konnte auf keinem anderen Wege Frieden und Heil
finden, wie der schwächste Gläubige aller Zeiten.
Eö ist schon darauf hingewiesen worden, wie die Berufung
des Apostels der Nationen sich unter so ganz anderen
Umständen vollzog, wie die der übrigen Apostel.
Diese wurden von dem auf der Erde lebenden Messias
berufen und dann von einem Herrn hinausgesandt, der
noch nicht zu Seinem Vater aufgefahren war. Paulus
204
dagegen sah einen zur Rechten Gottes erhöhten, verherrlichten
Menschen, der, als das Haupt Seines Leibes,
der auö Juden und Heiden herausgerufenen Versammlung
(Gemeinde), Seinem Einssein mit den Seinigen hie-
nieden Ausdruck gab. Das war der Ausgangspunkt seiner
Apostelschaft und seines Dienstes. Neue, himmlische Verbindungen
mit einem verherrlichten Christus wurden jetzt
als das gegenwärtige Teil der Glaubenden geoffenbart,
Beziehungen ans Licht gestellt, wie sie bis dahin keinem
Menschen mitgeteilt worden waren. Schon in der kurzen
Frage: „Was verfolgst du m i ch?" lag keimartig die Lehre
von der Versammlung als Eins mit Ihm, der nach vollendetem
Werke nun „als Haupt über alles" droben weilt
und auf den Augenblick wartet, da Gott alle Seine Feinde
zum Schemel Seiner Füße legen wird.
Die Art der Berufung bestimmte den apostolischen
Dienst, ja, das ganze Leben Pauli in einer Weise, daß beide
sich von denen der „Zwölfe" wesentlich unterschieden, so
gesegnet und geehrt diese auch in ihrer Art sein mochten.
Paulus war der Empfänger und Verwalter ganz besonderer
Geheimnisse. Er konnte deshalb auch von „sei-
n e m" (oder, seine Mitarbeiter mit einbeziehend, von „u n-
sere m") Evangelium reden, obwohl er selbstverständlich
kein anderes Evangelium brachte, als die übrigen Apostel.
Da war kein anderer Gegenstand, kein anderes errettendes
Mittel, aber es unterschied srch von dem der anderen
Apostel sowohl durch seinen himmlischen Charakter, als
auch durch die Fülle und Unumschränktheit der in ihm geoffenbarten
Gnade.
Es hat auch wohl nie eine Bekehrung gegeben, die so
von himmlischer Herrlichkeit gekennzeichnet war wie die
205
unseres großen Apostels. „Aus dem Himmel" umstrahlte
ihn ein Licht, vor dem der Glanz der Sonne erblich. „Habe
ich nicht Jesum, unseren Herrn, gesehen?" konnte er fragen.
(t. Kor. y, 4.) Und wie hatte er Ihn gesehen?
Der „Verherrlichte" war ihn: erschienen und hatte ihn
den Platz erkennen lassen, den der Glaubende jetzt in Ihm
empfängt, sowie die Herrlichkeit der Gnade, die sich in
diesem Platze offenbart. Darum redet auch nur er von
dem „Lichtglanz des Evangeliums der Herrlich -
keit des Christus" und von dem „Lichtglanz der Erkenntnis
der Herrlichkeit Gottes im Angesicht Christi".
(2. Kor. 4, 2—6.) Nach diesem „seinem" Evangelium
findet die Gnade den Menschen „tot" in Sünden und
Vergehungen, alö ein „Kind des Zorns", „ohne Gott"
in der Welt, und versetzt den „hoffnungslos" Verlorenen
unmittelbar in die himmlische Herrlichkeit und gibt ihm
„in Christo" schon jetzt einen Platz vollkommener Annehmlichkeit
vor Gott. Das einzige, das den Glaubenden
heute noch hindert, diesen Platz voll und ganz einzunehmen,
ist der Leib der Niedrigkeit, in welchem er noch
wohnt und — „seufzt, sich sehnend, mit seiner Behausung,
die aus dem Himmel ist, überkleidet zu werden". (2. Kor.
5, 2.)
War es ein Wunder, daß Saulus keinen Augenblick
zögerte, dem Rufe von oben zu folgen, und, „nicht ungehorsam
dem himmlischen Gesicht, denen in Damaskus zuerst
und Jerusalem... und den Nationen verkündigte,
Buße zu tun und sich zu Gott zu bekehren"? (Kap. 26,
ly. 20.) War es anderseits ein Wunder, daß Leiden,
und Kämpfe aller Art ihm auf solchem Wege begegnen
mußten, wie der Herr zu Anamas sagt: „Ich werde ihm
206
zeigen, wie vieles er für meinen Namen leiden muß"?
Aber er „ging nicht mit Fleisch und Blut zu Rate", sondern
achtete mit Freuden alles für Verlust, was ihm bis
dahin Gewinn gewesen war, ja, er begehrte „die Gemeinschaft
der Leiden Christi zu erkennen", um so Ihm, dem
über alles Geliebten, völlig gleichgestaltet zu werden.
(Phil. 3.)
Wir finden das alles einer solchen Berufung angemessen.
Aber was sagen wir zu der liebevollen Ermahnung
des treuen Mannes an uns: „Seid zusammen meine
Nachahmer, Brüder, und sehet hin auf die, welche also
wandeln, wie ihr uns zum Vorbilde habt"? (Phil. 3, t7.)
Aufzeichnungen aus einer

merbriefes redet der Apostel von „dem Geheimnis, das in
den Zeiten der Zeitalter verschwiegen war, jetzt aber geoffenbart
und durch prophetische Schriften (des Neuen
Testaments) kundgetan worden ist". (Kap. 46, 26.) In
4. Kor. 2, 7 spricht er von „Gottes Weisheit in einem Geheimnis";
in Kol. 2, 2. 3 von „dem Geheimnis Gottes,
in welchem alle Schätze der Weisheit und der Erkenntnis
verborgen sind". (Vergl. Kap. 7, 26. 27.) Hier in unserem
Kapitel hören wir von „dem Geheimnis des Christus",
im 4. Kapitel von „dem Geheimnis Seines (Gottes)
Willens", im 5. Kapitel von dem Geheimnis des Verhältnisses
zwischen Christo und der Versammlung als Seinem
Weibe. (Vergl. auch 4. Kor. 45, 54; 4. Tim. 3, d.
46; Offbg. 40, 7 u. a. St.) In 4. Kor. 4, 4 nennt sich
der Apostel einen „Verwalter der Geheimnisse Gottes".
Ihm waren in ganz besonderer Weise die göttlichen Ratschlüsse
geoffenbart, die mit dem verherrlichten Menschen
im Himmel in Verbindung stehen. Den Anfang dieser
Offenbarung empfing er an den Toren von Damaskus.
(Apstgsch. y.) Hier in unserem Kapitel sagt er selbst,
daß ihm „durch Offenbarung das Geheimnis kundgetan
worden sei". Sein Inhalt ist die Einführung derer aus den
Nationen „als Miterben und Miteinverleibte und Mitteilhaber
Seiner Verheißung in Christo Jesu durch das Evangelium".
(V. 3—6.)
Wie oft erleben wir Siege, wenn wir von einem Geist des
Dankens erfüllt sind! Ich denke zuweilen, der Herr würde uns mehr
von Seinem Tun sehen und erfahren lasten, wenn wir mehr Dank-
Glauben hätten, (wenn ich mich so ausdrücken darf,) jenen Glauben
nämlich, der sich im Danken kundgibt nud der da weiß, daß Gott
wirkt, daß Ihm alle Dinge möglich sind.
215
„Liebliche Srler"
In Psalm 16 finden wir den Herrn Jesus — denn
Er ist es, von dem der Geist der Prophezeiung hier redet —
auf dem Platze völliger Abhängigkeit. „Bewahre mich,
Gott", so sagt Er, „denn ich traue auf dich!" (V. 1.) Das
war die Stellung, die Er von der Krippe bis zum Kreuze
bewahrte. Es gab keinen Augenblick in Seinem Leben,
in welchem Er nicht auf Gott geworfen gewesen wäre.
Menschliche Erwartungen, irdische Hoffnungen, die in unseren
Herzen so oft aufkommen und uns immer wieder
täuschen, kannte Er nicht. Zu allen Zeiten, an jedem Orte
und unter allen Umständen konnte Er sagen: „Die Meßschnüre
sind mir gefallen in lieblich en Ortern". Das
waren sicherlich nicht stille oder sonnige, das Auge erquickende
Orter dieser Erde, Orter, die angenehm sind fürFteisch und
Blut. Sie lagen außerhalb des Gesichtskreises der Menschen
dieser Welt, und nur ein vertrauendes Herz, ein
Wrlle, der mit dem Willen des Vaters in vollem Einklang
stand, und ein abhängiger Geist konnten sie „lieblich" finden.
Der Herr Jesus mochte mißverstanden oder mißdeutet
werden, man mochte Ihn unsinnig oder besessen
schelten; Er mochte angefeindet, verspottet, verworfen, verhöhnt
und verleumdet werden, dennoch konnte Er sagen:
„Die Meßschnüre sind mir gefallen in lieblichen Ortern;
ja, ein schönes Erbteil ist mir geworden". „Lieblich" und
„schön", so lauten die Worte, mit denen unser hochgelobter
Herr Seine „Meßschnüre" und Sein „Erbteil" beschreibt,
und dabei war Er „ein Mann der Schmerzen
und mit Leiden vertraut"! (Jes. 53.)
216
Wie war das möglich? Nur weil Gott Seine ganze
Seele ausfüllte, weil Er auf Ihn traute. Seine äußeren
Umstände, von natürlichein Gesichtspunkt aus betrachtet,
waren sicherlich weder „schön" noch „lieblich". Sein Pfad
war einsam, rauh und steinicht. Die Tiere des Feldes und
die Vögel des Himmels waren besser daran als Er. Sie besaßen,
was der Schöpfer des Himmels und der Erde
nicht besaß: eine Höhle, ein Nest. Er hatte nicht, wo Er
Sein Haupt hinlegen konnte. Für Ihn gab es in dieser
finstern Welt keine Ruhe, keine Erquickung. Selbst im Blick
auf Seine menschlichen Bedürfnisse war Er, der über die
Fische im Meer gebieten konnte, aus Gnaden völlig abhängig.
Wegen eines Trunkes Wassers in einer Stunde körperlicher
Ermattung wurde Er der Schuldner einer armen
samaritischen Sünderin. Die Frauen, die mit Ihm
aus dem verachteten Galiläa heraufgekommen waren,
„dienten Ihm mit ihrer Habe". Diese Welt hatte für den
himmlischen Gast nur eine Krippe und eine Dornenkrone,
ein wenig Essig, mit Galle vermischt, einen Speer und
ein bei Gesetzlosen bestelltes Grab. Und dennoch, trotz alledem,
konnte Er sagen, daß Ihm die Meßschnüre in „lieblichen
Ortern" gefallen, und daß Sein Erbteil „schön" sei.
Gläubiger Leser! Der einst so sprach, ist dein großes
Vorbild. Er hat dir ein Beispiel hinterlassen, daß du Seinen
Fußstapfen nachfolgen sollst. Kannst du auch sagen,
daß dir die Meßschnüre in lieblichen Ortern gefallen
sind, und daß dir ein schönes Erbteil zuteil geworden ist?
Die Beantwortung dieser Frage darfst du nicht von einer
Betrachtung der Umstände und Einflüsse, der Menschen
und Dinge, die dich gerade umgeben, abhängig machen. Du
mußt vielmehr geradeswegs zum Himmel emporblicken.
217
Dorthin sind „deine Meßschnüre" gefallen, dort liegt „dein
Erbteil". Ja, als dein Erbteil hast du die Segnungen der
himmlischen Orter und „ein unerschütterliches Reich" empfangen.
Du bist in alle Ewigkeit versorgt. Wie könntest
du da je eines Guten ermangeln? Christus ist dein Teil,
der Himmel deine Heimat, die Herrlichkeit dein unvergängliches
Gut. Die Liebe, die sich herabließ, dich wie einen
Brand aus dem Feuer zu reißen, die dich mit dem Kleide
göttlicher Gerechtigkeit bekleidet hat, will — vielleicht in
kürzester Frist — dich krönen und dich zu einer Säule
im Tempel Gottes machen, um nie wieder hinauszugehen.
(Vergl. Offbg. Z, 1.2.)
Mit Recht kannst du also sprechen von „lieblichen
Ortern" und einem „schönen Erbteil". Dein Pfad hier unten
mag rauh und dornig sein. Vielleicht wirst du augenblicklich
gerade geprüft durch Krankheit, Armut, Druck,
körperliche Schwäche, oder waö es sonst sein mag, aber
halte fest daran: deine „Meßschnüre" sind dir in den
„himmlischen Ortern" gefallen, dein „Erbteil" ist „unverweslich,
unbefleckt und unverwelklich" und wird „für dich
aufbewahrt in den Himmeln"; und inzwischen wirst du
selbst hier auf der Erde, inmitten aller Versuchungen und
Gefahren, „durch Gottes Macht durch Glauben bewahrt z»r
Errettung". Der Herr konnte sagen: „Jehova ist das Teil
meines Erbes und meines Bechers; du erhälst mein Los".
Das war genug für Sein Herz, mehr bedurfte Er nicht.
Er ruhte in Gott.
Deshalb konnte Er auch mit Gewißheit sagen: „Auch
mein Fleisch wird in Sicherheit ruhen. Denn meine Seele
wirst du dem Scheol nicht lassen, wirst nicht zugeben, daß
dein Frommer die Verwesung sehe." Diese Worte enthal-
2t8
tm eine der tiefgründigsten und kostbarsten Wahrheiten,
die unsere Aufmerksamkeit in Anspruch nehmen können,
nämlich daß der Leib deö Herrn Jesus aus dem Grabe
hervorgegangen ist, die Zeichen deö vollbrachten Sühnungö-
werkes an sich tragend, und doch ohne daß auch Nur der
Geruch deö Todes über ihn gegangen wäre. Sein heiliges
Fleisch konnte nicht von der Verwesung erreicht werden.
Das ist eine überaus wichtige Grundwahrheit, ein erhabenes
Geheimnis unseres allerheiligsten Glaubens. Unser
Herr und Heiland, der Sohn Gottes, „s chmeckte den
T o d", als Sold der Sünde, aber Er „sah die Verwesung
nich t". (Vergl. Apstgsch. 2, 2d—32.) Diese
Wahrheit ruht auf der Grundlage deö „anerkannt großen
Geheimnisses der Gottseligkeit", nämlich daß „Gott geoffenbart
worden ist im Fleische". Wie wäre es möglich
gewesen, daß der Fürst deö Lebens von der finstern Gewalt
des Todes behalten worden wäre? Weder Tod noch Verwesung
vermochten Ihm etwas anzuhaben. Derselbe
Mensch, der durch „die Kraft des Höchsten" gezeugt, von
gottlosen Händen ans Kreuz geheftet und dann entseelt ins
Grab gelegt wurde, ist von Gott auserweckt worden und
sitzt jetzt verklärt, verherrlicht auf dem Throne des Vaters
droben.
O, wenn die Kirche Gottes diese Wahrheit festgehalten
hätte, wie ganz anders würde es heute in ihrer Mitte
aussehen! Aber ach! sie hat sich nicht als „Pfeiler und
Grundfeste der Wahrheit" bewährt, und furchtbar sind die
Folgen.
— 219 —
„Sie flnd nicht von der dell"
„Ich habe deinen Namen geoffenbart den Menschen,
die du mir aus der Welt gegeben hast. Dein waren sie,
und mir hast du sie gegeben." (Joh. 1,7, 6.) So spricht
unser Herr, der Sohn Gottes, an dem letzten Abend Seines
Erdenlebens zu dem Vater. Von diesen Menschen
sagt Er, daß sie nicht von der Welt seien. Es ist bezeichnend,
daß der Herr zweimal kurz hintereinander diese große
Tatsache betont. (Vers 14 u. 16.) Und in beiden Fällen
fügt Er das unsere Beziehung zu Ihm kennzeichnende Wort
hinzu: „g l e i ch w i e i ch nicht von der Welt bin". — In
Gal. 1 heißt es: „Unser Herr Jesus Christus hat sich selbst
für unsere Sünden hingegeben, damit Er uns herauönehmc
aus der gegenwärtigen, bösen Welt, nach dem Willen unseres
Gottes und Vaters". Durch diese Schriftstellen ist
die Stellung der Gläubigen zu der Welt, so wie sie in
Gottes Augen ist, deutlich gekennzeichnet.
Der Sohn Gottes, der Mensch vom Himmel, kam
auf diese Erde, wo die Söhne Adams, des Menschen von der
Erde, des Menschen von Staub, leben. Sie sind von der
Welt und leben i n der Welt, d. h. in der Atmosphäre, in
welcher der Fürst der Welt Herr und Gebieter ist.
„Die Erde ist des Herrn und ihre Fülle." Die
Welt, dieses verderbte System, hat Satan zu ihrem Fürsten,
und mit diesem Fürsten wird die Welt einmal gerichtet
werden. Sie hat nichts anderes zu erwarten als Gericht,
denn sie ist dem Widersacher Gottes untertan, indem
sie sich mit ihm gegen Gott und gegen Seinen Christus
auflehnt. Auf des Widersachers Seite stehend, muß
sie notwendig dessen Gericht teilen. Alles, was zur Welt
220
gehört, wird gerichtet werden nach dem Lose deö Fürsten
der Welt.
Wenn wir einmal ms Auge fassen, was die Heilige
Schrift mit dem Ausdruck „Welt" bezeichnet, wird unö
der Umfang des Wortes des Herrn klar: „Sie sind nicht
von der Welt". Dann leuchtet uns ein, daß wirklich „eine
große Errettung" uns zuteil geworden ist. Wir sind aus
dieser bösen Welt h e ra u ö g e n o m m en. Doch der Nachsatz:
„gleichwie ich nicht von der Welt bin", zeigt uns
erst recht die Größe und Tragweite der Veränderung,
die „nach dem Willen unseres Gottes und Vaters"
zustande gekommen ist. Indem „unser Herr Jesus Christus
sich selbst für unsere Sünden hingegeben" hat, gehören
wir jetzt mit Leib und Seele Ihm an.
Die Worte „erlöst", „losgekauft", „um einen Preis
erkauft", erhalten besondere Bedeutung, wenn wir sie in Zusammenhang
bringen mit dem Umstand, daß wir in diese
„Welt" hineingeboren wurden und ihr einst angehörten.
Wir waren „K inder der Welt". Daö sind wir jetzt nicht
mehr. Indem wir, von der Not über unsere Sünden getrieben,
zu Jesu Zuflucht nahmen, haben wir uns von der
Welt abgewandt, haben uns und sie und ihre Lust verurteilt
und sind des Lebens aus Gott, der göttlichen Natur
und deö Heiligen Geistes teilhaftig geworden. Durch den
Tod des Herrn sind alle unsere früheren Beziehungen zu
der Welt und ihrem Fürsten gelöst worden. Alle, welche
an Jesum geglaubt haben, sind jetzt Sein, und daö Wort:
„Gleichwie ich nicht von der Welt bin", zeigt an, daß ihre
Beziehungen zu allen Dingen abhängig sind von der Stellung,
in welcher Er selbst zu diesen steht. Wir sind
Menschen Gottes, Söhne Gottes, Kinder Gottes.
222
So redet das Wort, und so dürfen wir reden und in Dankbarkeit
uns freuen, daß es also ist.
ES mag indes nützlich und notwendig sein, zu betonen,
daß dies nicht nur eine Sache der Zukunft ist. Die
Schrift sagt: „Geliebte, jetzt sind wir Kinder Gottes".
(2. Joh. Z, 2.) Wir mögen angesichts dieser Worte leider
anerkennen müssen, daß davon oft wenig zu sehen ist. Jedenfalls
aber fühlen wir alle, wenn nur etwas Verständnis
für die Bedeutung dieses Wortes vorhanden ist, daß
alles Entwürdigende mit unserer jetzigen Stellung unvereinbar
ist. Und je mehr wir im Glauben unö zueignen können,
waö Gottes Gedanken über uns sind und was Er
in Seinem Wort uns darüber sagt, umsomehr werden wir
in der Kraft des Glaubens davon verwirklichen. Denn wie
könnte uns mehr Kraft zukommen alö aus der Überzeugung
von unserer Verbindung mit einem verherrlichten
Herrn im Himmel?
„Die Welt hat sie gehaßt, weil sie nicht von der Welt
sind, gleichwie ich nicht von der Welt bin." (Verö 24.)
Deutlicher als durch diese Worte könnte es nicht zum Ausdruck
kommen, daß wir kein Teil haben mit der Welt.
Wie armselig und entwürdigend ist eö daher, wenn ein
Kind Gottes, vergessend, daß eö ein Eigentum deö Herrn
ist, vom Vater Ihm gegeben, anfängt, um die Gunst und
Anerkennung der Welt zu buhlen! Die Welt liebt „daö
Ihrige". Unö haßt sie nach dem Wort des Herrn. Möchten
wir damit stets rechnen!
Von besonderer Bedeutung ist das Wort unseres
Herrn: „sie sind nicht von der Welt" auch in Hinsicht
auf Sein Kommen für die Seinen. Es ist schon gesagt,
daß die Welt und alles, waö zu ihr gehört, gerichtet wer
222
den wird. „Gott hat einen Tag gesetzt, an welchem Er den
Erdkreis richten wird in Gerechtigkeit durch einen Mann,
den Er dazu bestimmt hat, und hat allen den Beweis davon
gegeben, indem Er Ihn auferweckt hat aus den Toten."
(Apstgsch. 1,7, 31.) Über die Furchtbarkeit dieses Gerichts
gibt das Wort Aufschluß. „Der Mann" aber, der
das Gericht ausüben wird, ist derselbe, der in bezug auf
die Seinen gesagt hat: „Sie sind nicht von der Welt,
gleichwie ich nicht von der Welt bin". Wie könnte angesichts
dieses Wortes des Herrn noch ein Zweifel bestehen,
als ob die Seinen doch wohl noch durch die Gerichte zu
gehen hätten? — „Wenn Er sich aufmacht, die Erde zu
schrecken", „wenn Seine Gerichte die Erde treffen werden",
so geschieht es, damit „Gerechtigkeit lernen
die Bewohner des Erdkreises". Und „wenn Er kommt,
um Gericht auszuführen", so gilt das Seinen Feinden
und Verächtern, um „völlig zu überführen alle ihre Gottlosen
von allen Werken der Gottlosigkeit, die sie gottlos
verübt haben, und von all den harten Worten, welche gottlose
Sünder wider Ihn geredet haben". (Zud. 15.) Wie
könnte der Herr nun diejenigen, von denen Er selbst bezeugt,
daß sienichtvon der Welt sind, die Er als solche
bezeichnet, die der Vater Ihm aus der Welt gegeben, und
für die Er sich hingegeben hat, um sie nach dem Willen
des Vaters aus der Welt heraus; «nehmen (Gal. 1,
4), — wie könnte Er, sage ich, diese an Gerichten teilnehmen
lassen, welche die Welt und ihren Fürsten und die Erde
und ihre Bewohner *) treffen werden? Heißt es doch aus­
*) Und zwar die letzteren, damit sie Gerechtigkeit lernen,
eine Sache, die ihnen, solang die Gnadcnzeit währte, verborgen
geblieben ist.
223
drücklich in bezug auf die Seinen: „Wenn wir aber gerichtet
werden (d. h. jetzt und hie r), so werden wir vom
Herrn gezüchtigt, auf daß wir nicht mit der Welt
verurteilt werden". (1.. Kor. 1.1., 32.)
Zn j e.d e m Falle und unter allen Umständen halt
also der Herr das Wort aufrecht: „Sie sind nicht von der
Welt". Wenn Er die Seinen richten muß, so tut Er es
in ernster Jucht, aber niemals in Verbindung mit den:
Urteil über die Welt.
Wenn der Herr aber eine solch scharfe, unabänderliche
Trennung zwischen uns und der Welt gemacht hat,
sollten wir dann je Worten das Ohr leihen, die jene klare
Scheidung zu verwischen trachten, welche der Herr so betont,
und die aufrecht zu halten unser gesegnetes Vorrecht
ist? Laßt uns vielmehr treu an dem Worte unseres Herrn
festhalten, indem wir, getrennt von der Welt und ihren
Dingen, mit Ihm wandeln und so darstellen, daß wir nicht
von der Welt sind! Dann wird Er auch zu Seiner Jeit
vor aller Welt offenbar werden lassen, daß wir, die von der
Welt Gehaßten, von Ihm geliebt sind als solche, die der
Vater Ihm aus der Welt gegeben hat. Und indem Er diese
Gegenstände Seiner Liebe und Seines Wohlgefallens, wie
vor alters den glaubenden Henoch, vor dem Gericht hinwegnimmt,
wird Er bezeugen, mehr als wir es im
besten Falle zu tun vermögen: „Sie sind nicht von der
Welt", und vor aller Augen wird unser Einssein mit dem
verherrlichten Menschensohn zur Rechten Gottes in die Erscheinung
treten.
Noch einmal denn: Obwohl noch in der Welt, sind
wir nicht vonder Welt. Das erinnert unö unwillkürlich an
ein Wort des Apostels Johannes im 4. Kapitel seines
224
4. Briefes: „Hierin ist die Liebe mit uns vollendet worden,
damit wir Freimütigkeit haben an dein Tage deö
Gerichts, daß, gleichwie Er ist, auch wir sind
in dieser Welt". (V. 47.) Welch eine Stellung ist
unö heute schon gegeben, während wir noch in der Welt
sind! Sie ist Zeugnis und Beweis von der V v l l e n d u n g
der Liebe in bezug auf unö. Diese vollkommene Liebe
treibt jede Furcht auö, wird aber auch da, wo sie gekannt
und genossen wird, zu einem unwiderstehlichen Antrieb
werden. Dem nun auch praktisch ähnlicher zu werden,
der unö geliebt und sich selbst für uns hingegeben hat.
Krieden
Das war mein schönster Tag hienieden,
Den je das Glück mir zugewandt,
An welchem Gottes sel'gen Frieden
Mein Herz an Jesu Herzen fand.
O sel'gcr Tag, voll Freud' und Wonne,
Wie hat er mich so reich gemacht,
Weil Jesus, meines Lebens Sonne,
Durchbrach auch meiner Sünde Nacht!
Die Stunde bleibt mir unvergessen,
Darin ich Jesu eigen ward;
Mich überwand die Liebe Dessen,
Der meiner schon so lang geharrt.
Ich schaut' Ihn an, den Mann der Schmerzen,
Das Lamm am Kreuz auf Golgatha.
Mein Herz fand Ruh' an Seinem Herzen,
Drum preis' ich Ihn, — Halleluja! H. K.
„Vr>enn wir mit Lilien sündigen"
Vor einiger Zeit schrieb ein Leser des „Botschafter":
„Wenn Paulus in Hebr. 40, 2b schreibt: „Denn wenn
wir mit Willen sündigen, nachdem wir die Erkenntnis der
Wahrheit empfangen haben, so bleibt kein Schlachtopfer
für Sünden mehr übrig, sondern ein gewisses, furchtvolles
Erwarten des Gerichts und der Eifer eines Feuers,
das die Widersacher verschlingen wird", und weiter in
Vers 29: „Wieviel ärgerer Strafe, meinet ihr, wird der
wert geachtet werden, der den Sohn Gottes mit Füßen
getreten und das Blut des Bundes, durch welches er geheiligt
worden ist, für gemein geachtet und den Geist der
Gnade geschmäht hat?" — so nimmt man doch mit Recht
an, daß dieser Brief an die gläubigen Hebräer gerichtet
ist, und daß, wenn der Apostel „wir" schreibt, es sich
um Heilige, also Erlöste handelt, um solche, die laut Vers
44 desselben Kapitels „auf immerdar vollkommen gemacht
worden sind"? Und wenn in dec Schrift von „Heiligen"
die Rede ist, daß es sich dann stets um solche handelt,
die in Gottes Augen geheiligt sind und deshalb nicht
mehr verloren gehen können? — Es würde mich und andere
hier sehr freuen, wenn wir eine recht deutliche Erklärung
hierüber empfangen könnten, die möglichst keinen
Spielraum für andere Gedanken läßt."
Der Schreiber bat um eine Beantwortung seiner
Frage in der Fragenecke. Da aber zu einer deutlichen und
4.XXIV 9
22b
einwandfreien Beantwortung dieser immer wieder auftauchenden
Frage einige kurze Bemerkungen kaum genügen
würden, möchte ich an dieser Stelle, so gut ich eö
vermag, dem Wunsche des Schreibers nachzukvmmen
suchen. Wir wollen dabei nicht vergessen, daß „das Vollkommene"
noch nicht gekommen ist, und daß wir alle
nur „stückweise erkennen", (1. Kor. 13, y. 10.)
Der Hebräerbrief ist ganz gewiß an dieGläubigcn
aus Israel geschrieben, aber nicht ohne die Tür für die
Segnung deö „Volkes" offen zu lassen, obwohl die Erlösten,
die nunmehr zu einem himmlischen Heiligtum uud
Priestertum in Beziehung getreten waren und auf dem Boden
deö „neuen Bundes" standen, jede Verbindung mit dem
ersten Bunde, dem gesetzlichen System, aufzugeben hatten.
Christus, der Messias Israels, ist „für die Nation gestorben"
(vergl. Joh. 11, 50. 51; Hebr. 13, 12), und so
ist in gewissem Sinne daö Volk, daö einst durch das Blut
deö Bockes, das am Versöhnungötage ins Heiligtum getragen
wurde, für Gott geheiligt (abgesondert) war
(3. Mose 1b), jetzt durch „das Blut des Bundes", das Blut
Christi, geheiligt. Umsomehr war das so, wenn ein
Jude „die Wahrheit erkannte" (V. 2b) und sich den
Christen anschloß. Er trat damit mit Bewußtsein auf den
Boden der durch das Blut Christi Geheiligten, ähnlich
wie heute jeder, der sich „Christ" nennt, bekenntnisgemäß
auf diesem Boden steht und dementsprechend auch verantwortlich
ist.
Wir dürfen nicht vergessen, daß das Wort „Gehei­
ligtsein" in der Schrift in verschiedener Bedeutung angewandt
wird. Wenn wir z. B. in 1. Kor. 7, 14 lesen,
daß „der ungläubige Mann durch das Weib, und das
227
ungläubige Weib durch den Bruder geheiligt ist", und
daß die Kinder der Gläubigen „nicht unrein, sondern h e i-
l i g" genannt werden, so verstehen wir ohne Mühe, daß
daö eine andere, allgemeinere Art von Heiligung oder Absonderung
sein muß, als wenn die Schrift von dem Geheiligtsein
der Erlösten oder „Heiligen" redet. Diese sind
„von Anfang erwählt zur Seligkeit in Heiligung des Geistes
und im Glauben an die Wahrheit". (2. Thess. 2, 13;
vergl. 1. Petr. 1, 2.) Sie sind nicht nur äußerlich, ihrem
Bekenntnis nach, sondern persönlich, durch und durch
für Gott abgesondert auf Grund der Rechte, die Christus in
Seinem Tode erworben hat, und die für sie zur Geltung
gekommen sind, als sie von neuem geboren und durch den
Heiligen Geist versiegelt wurden. Sie sind „durch Gottes
Willen geheiligt durch das ein für allemal
geschehene Opfer des Leibes Jesu Christi".
(Hebr. 10, 10.) Sie sind, wie die Schrift an anderen
Stellen lehrt, „in Christo Jesu", und für solche kann es
notwendigerweise keine Verdammnis geben. (Röm. 8, 1.)
Siehaben „Frieden mit Gott" (Röm. 5,1), sie habe n
„die Erlösung durch Sein Blut, die Vergebung der Vergehungen"
(Eph. 1, 7), sie „sind errettet aus der Gewalt
der Finsternis und versetzt in das Reich des Sohnes
Seiner Liebe" (Kol. 1, 13), glaubend an den Namen des
Sohnes Gottes, „h aben sie ewiges Leben" (1. Joh. 5,
13), sie gehen nicht verloren ewiglich, und niemand
kann sie aus der Hand des Vaters und des Sohnes rauben.
(Joh. 10, 28—30.)
Wir wissen aber — verlieren es nur zu leicht aus dem
Auge —, daß es neben dieser göttlichen Seite der Errettung,
die in den angeführten und vielen anderen Stellen
228
betont wird, wobei von keinem „Wenn", von keiner irgendwie
einschränkenden oder in Frage stellenden Bedingung
die Rede sein kann, auch eine menschliche Seite
gibt, und sobald diese berührt wird, muß es auch
„Wenn's" geben, mit anderen Worten muß die Verantwortlichkeit
des Menschen eingeführt werden. Da heißt es
z. B. in Kol. 1, 23 von denen, die versöhnt und infolgedessen
heilig, tadellos und unsträflich vor Gott hingestellt
sind: „wenn ihr anders in dem Glauben gegründet
und fest bleibet und nicht abbewegt werdet usw." In
Rom. 8, 1,3 wird zu den „Brüdern" gesagt: „Wenn
ihr nach dem Fleische lebet, so werdet ihr sterben". Demselben
ernsten Grundsatz begegnen wir in den Worten:
„Wer ausharrt bis ans Ende", oder: „Wer überwindet
und meine Werke bewahrt bisansEnd e", oder:
„Wenn jemand sich zurückzieht", „wenn ihr in mir
bleibet", oder: „Ich fürchte um euch, ob ich nicht etwa
vergeblich an euch gearbeitet habe" usw. Gottes unumschränkte
Macht und bedingungslose Gnade sind eine
Sache: Er kann und wird nicht zugeben, daß eines Seiner
geliebten Kinder auf dem Wege umkomme und das Ziel
nicht erreiche. Aber neben dieser einen Seite steht die an -
dere: unsere Verantwortlichkeit nämlich, nicht nach rechts
oder links von dem schmalen Pfade auszubiegen oder gar
„umzukehren von dem uns überlieferten heiligen Gebot".
Man kann „dey Weg der Gerechtigkeit erkannt haben,
den Befleckungen der Welt entflohen sein durch die Erkenntnis
des Herrn und Heilandes Jesus Christus" und
doch wieder umwenden zu dem Schmutz, den man verlassen
hatte, und es dann ärger treiben als je zuvor.
(2. Petr. 2,20—22,) Der Apostel Paulus redet von „fal
22Y
schen Brüdern, die nebeneingekommen sind", Petrus von
„falschen Lehrern, die den Gebieter verleugnen, der sie
erkauft hat", Johannes von „falschen Propheten", ja,
von „Antichristen", die aus der Mitte der Gläubigen hervorgegangen
waren.
Alle diese Stellen und Ausdrücke weisen hin auf die
beiden Seiten, von denen wir gesprochen haben, und zeigen
uns, wie weit ein Mensch, besonders in jenen ersten Tagen
der Kirche, der Segnungen und Vorrechte des Christentums
teilhaftig werden und vielleicht längere Zeit mit den
Gläubigen wandeln und als einer von ihnen anerkannt
werden konnte, um am Ende sich doch als ein falscher
Bruder, Lehrer usw. zu erweisen. Das 6. Kapitel des
Briefes an die Hebräer gibt uns da auch ein erschütterndes
Beispiel an die Hand. Der Apostel redet dort von
solchen, die „einmal erleuchtet waren, und geschmeckt
haben die himmlische Gabe, und teilhaftig
geworden sind des Heiligen Geistes und geschmeckt
haben das gute Wort Gottes und die Wunderwerke
des zukünftigen Zeitalters" (des Tausendjährigen
Reiches), und doch schließlich abfallen. Solche konnten
unmöglich „wiederum zur Buße erneuert werden". Das
Land hatte den häufig über dasselbe kommenden Regen
getrunken, aber statt „nützlichem Kraut" nur „Dornen
und Disteln" hervorgebracht. Sein Ende war deshalb
die Verbrennung. Solche Abgefallene — beachten
wir die Ähnlichkeit der Ausdrücke hier und im 10. Kapitel
— „kreuzigten den Sohn Gottes für sich selbst und stellten
Ihn zur Schau". (V. 6.)
Wie furchtbar! Um die Stelle richtig verstehen zu
können, müssen wir uns wieder vergegenwärtigen, daß wir
2Z0
den Brief an die Hebräer vor uns haben. Wenn ein
Jude, erleuchtet über die völlige Unzulänglichkeit und daö
Verderben des Judentums, dieses verlassen und sich den
Christen angeschlossen hatte und dort all der Segnungen,
die in jenen Tagen so reichlich über sie ausgegossen waren,
teilhaftig geworden war *), wiederum zum Judentum zurückkehrte,
vom Christentum ab fiel, so bezeugte er dadurch:
Das Christentum, das ich nun gründlich kennen
gelernt habe, ist ein Trug, eine Lüge, Christus ist nicht der
Messias, meine Volksgenossen haben deshalb ganz recht
getan, Ihn als einen „Verführer" ans Fluchholz zu schlagen.
Er kreuzigte den Sohn Gottes gleichsam für sich selbst
noch einmal und gab Ihn der öffentlichen Verachtung preis.
Für einen solchen gab es keine Möglichkeit mehr zur Umkehr.
Er gab den einzigen Weg der Errettung, nachdem er
ihn als solchen erkannt hatte, wissentlich und absichtlich
auf. Alle angewandten Mittel waren vergeblich
gewesen; sie hatten nichts anderes bei ihm bewirkt, als die
Aufdeckung des eigenen schrecklichen Zustandes.
*) Er hatte, was den Heiligen Geist betrifft, diesen nicht
empfangen, war nicht durch Ihn geheiligt oder ver-
siegelt, aber er hatte Seine wunderbaren Gnadcnwirkungen
angeschaut und mitgenoffen. Ähnlich war cs hinsichtlich des
„Wortes". Er hatte es „geschmeckt*, war aber nicht durch dasselbe
wiedergeboren.
Es handelte sich also, verstehen wir es wohl, nicht
um ein wenn auch ernstes Abirren oder Schwachwerden
auf dem Wege, sondern um die völlige, bewußte Aufgabe
des Christentums. Darum schließt der Apostel seine ernste
Belehrung auch mit den Worten: „Wir aber sind in
bezug auf euch, Geliebte, von besseren und mit
der Seligkeit verbundenen Dingen überzeugt, wenn wir
231
auch also reden". (V. 4.) Er mußte so reden, um den
gläubigen Hebräern den Ernst und die große Gefahr eines
solchen Umkehrens zu dem „Alten, das nichts zur Vollendung
bringen konnte", vorzustellen, obwohl sie durch die
Frucht, die sie gebracht (V. 10), bewiesen hatten, daß
wahres, göttliches Leben in ihnen war.
Wenden wir uns jetzt zu dem 10. Kapitel unseres
Briefes zurück. Der 2b. Vers steht in unmittelbarer Verbindung
mit der vorhergehenden Ermahnung, das Bekenntnis
der Hoffnung unbeweglich festzuhalten, das Zusammenkommen
nicht zu versäumen, sondern einer den anderen
zur Liebe und zum Ausharren auf dem Wege zu
ermuntern. Diese Ermahnung erhielt umsomehr Gewicht
durch die Tatsache, daß der Tag des Herrn immer näher
heranrückte — ein Tag, der für alle, die nicht in Christo
geborgen sind, Gericht mit sich bringen, ein Feuer, das
die „Widersacher" verschlingen wird. „Denn wenn wir",
— die wir auf dem Boden des Christentums zu stehen
und seiner großen Vorrechte teilhaftig geworden zu sein bekennen,
— „nachdem wir die Erkenntnis der Wahrheit
empfangen haben, mitWillen sündige n", d. h. also
daö christliche Bekenntnis aufgcbcn und vorsätzlich den Weg
der Sünde, den wir verlassen zu haben bekannten, wieder
aufsuchcn, um von neuem den Willen des Fleisches und
der Gedanken zu tun, „so bleibt kein Schlachtopfer für
Sünden mehr übrig". Es gibt eben keine andere Möglichkeit,
dem Gericht zu entrinnen, als nur in dem Opfer
Christi. Wenn darum jemand diesem kostbaren Opfer,
dessen Wert er erkannt hatte, in überlegtem Eigenwillen
den Rücken wandte, so trat er den Sohn Gottes mit Füßen,
achtete das Blut des Bundes, durch welches er geheiligt
2Z2
(abgesondert) worden war, für gemein und schmähte den
Geist der Gnade. Ec verwarf daö einzige Heilmittel Gottes,
gab daö Christentum auf und wurde zu einem „Widersacher"
(V. 27), wie das die Erfahrung schon so oft bestätigt
hat. Welch ein schreckliches Gericht, welch furchtbare
Strafe mußte aber einen solchen Verächter des Sohnes
Gottes und Schmäher deö Geistes der Gnade treffen!
„ES ist furchtbar, in die Hände des lebendigen Gottes zu
fallen." (V. 34.)
Und dieser heilige, lebendige Gott, dessen die Rache
ist und der wie ein verzehrendes Feuer Sein Volk richtet,
ist u nser Gott. (Vergl. Kap. 42, 29.) Wie sollten wir
deshalb auf der Hut sein, um treu und unbeweglich „daö
Bekenntnis festzuhalten"! (Kap. 4, 44.) Wer sich zurückzieht,
tut dies zum Verderben. „Wir aber", sagt der
Apostel, „sind nicht von denen, die sich zurückziehen
zuni Verderben, sondern von denen, die da glauben zur
Errettung der Seele." (V. 39.) Genau wie im 6. Kapitel
gibt er hier seinem Vertrauen Ausdruck, daß unter den
Gläubigen, an die er schrieb, keiner war, der mit Willen
zu einem Leben in der Sünde zurückkehren würde, wenn
er auch alle so dringend vor der Gefahr warnte und ihnen
den ganzen Ernst eines Abfallens von Christo vorstellte.
Ich wiederhole also, daß es sich hier, wie im 6. Kapitel,
nicht um ein gelegentliches Abirren vom Wege, auch
nicht um eine Handlung bewußter Untreue, des Ungehorsams
oder der Leichtfertigkeit handelt, so böse diese Dinge
sind und so tief wir uns ihrer gegebenen Falles zu schämen
haben, sondern um eine bewußte Abkehr von Christo und
Seinem Opfer, um ein bedachtes Verlassen des Bodens,
auf dem man bisher gestanden hat. Daß der Apostel von
2ZZ
„wir" spricht, wird nach dem Gesagten nicht mehr verwundern.
Er wendet sich, seine eigene Person miteinbeziehend,
an die Gesamtheit derer, die das Judentum verlassen
und ihre Zuflucht zu Christo genommen hatten, wobei
es nicht ausgeschlossen war, daß einzelne nur äußerlich
durch das Blut des Bundes abgesondert waren.
Wenn von „Heiligen und Geliebten", oder von „Heiligen
und Treuen", oder auch nur von „Heiligen" in der
Schrift die Rede ist, so sind das, wie der Fragesteller
selbst ausführt, gewiß immer solche, die nach Gottes
untrüglichem Urteil diese Bezeichnung verdienen, die Er
auch zu bewahren vermag und bei der Ankunft unseres
Herrn Jesus tadellos darstellen wird vor Seiner Herrlichkeit.
Vielleicht hilft dem Leser ein einfaches Bild, daö oft
gebraucht worden ist, um den Unterschied zwischen unserer
Verantwortlichkeit und der bewahrenden Gnade Gottes zu
erläutern. Ein Vater geht mit seinem Sohne einen sehr
gefährlichen Pfad, der oft glatt und schlüpfrig ist, zuweilen
auch an jäh abfallenden Abgründen vorbeiführt. Der Vater
ivarnt den Sohn ernstlich und ermahnt ihn, genau auf
den Weg zu achten, auf seine, des Vaters, Tritte zu sehen
und sich, besonders an gefährlichen Stellen, an seine Hand
zu klammern. Der Sohn tut das längere Zeit, und alles
geht gut. Aber allmählich wird er dreister und unvorsichtiger,
und siehe da, ehe er es sich versieht, gleitet er aus
und würde unfehlbar abstürzen, wenn nicht des Vaters
Hand, dessen Auge ihn sorgsam beobachtet hat, ihn im
letzten Augenblick griffe und hielte. Gott steht, wie wiederholt
gesagt, ganz gewiß zu Seinem Wort und wird alle
Seine Kinder bewahren bis ans Ende, wenn auch unsere
234
Torheit und Untreue, öfter als wir es vielleicht denken, ein
solch kräftiges Eingreifen Seinerseits nötig machen; aber
Er kann uns nicht sagen: „Seid nur ganz unbesorgt, ich
bringe euch schon hindurch", sondern muß uns auf die
Gefahren des Weges und die Folgen — ja, die, wenn
Seine Gnade und Treue nicht wären, notwendigen
Folgen unserer Unwachsamkeit aufmerksam machen:
„w e nn ihranders gegründet und fest bleibet, w e n n
ihr euch nicht abbewegen lasset usw." Wir singen:
Wie k o m m t's, daß ich hier sicher walle?
Weil Deine Gnad, o Gelt, mich schützt.
Wie k o m in t's, daß ich im Kampf nicht falle?
Weil Deine Lieb' mich schirmt nnd stützt.
Gott sei Dank, daß das so ist! Aber wenn es auch so
ist, wenn auch am Ende unseres Weges alles Lob Gott
und nur Gott werden wird, haben wir uns doch so zu
verhalten, als ob der endliche Erfolg, das Erreichen deö
Zieles, ausschließlich von uns und unserer Treue abhinge.
(Vergl. die ernsten Worte des Apostels in 4. Kor. y,
24—26.)
Ser Gehorsam des Christen
Adam war als Geschöpf berufen, zu gehorchen. Der
Christ ist es als Christ, aber es liegt auf der Hand, daß
ich wirklich ein Christ sein muß, bevor ich christlichen Gehorsam
beweisen kann. Ich muß mich in einer Stellung
befinden, wenn ich die Pflichten erfüllen soll, die sich mit
derselben verbinden. Ich kann die Gefühle der Liebe und
Zuneigung, die ein Verwandtschaftsverhältnis mit sich
bringt, nicht eher genießen und zum Ausdruck bringen, alö
bis ich in diesem Verhältnis stehe. Mit anderen Worten,
2Z5
ein Mensch muß in lebendige Verbindung mit Christo gekommen
sein, muß göttliches Leben haben, bevor er
auf dem Pfade des christlichen Gehorsams wandeln kann.
Wie aber erlangen wir göttliches Leben? Nur durch
die freie Gabe Gottes. „Die Gnadengabe Gottes ist ewiges
Leben in Christo Jesu, unserem Herrn." Alle gesetzlichen
Anstrengungen, Werke der Gerechtigkeit, die wir vollbracht
hätten, sind hier ausgeschlossen. Und wie ist dieses neue
Leben zu unö gekommen? Durch daö Wort und den Geist
Gottes. Von Natur sind wir „tot in Vergehungen und
Sünden". Nimm das schönste Muster menschlicher Vollkommenheit,
die gebildetste und liebenswürdigste Person,
den besterzogenen, edelsten und religiösesten Menschen, du
wirst alles Mögliche in ihm finden, nur nicht einen einzigen
Funken göttlichen Lebens. Gottes Urteil lautet: „Kinder
des Zorns", und: „Die, welche im Fleische sind, vermögen
Gott nicht zu gefallen".
Das ist sehr demütigend für den Menschen, aber eö
ist die einfache Wahrheit, wie die Heilige Schrift sie lehrt.
Von Natur Gott entfremdet und „Feinde nach der Gesinnung
in den bösen Werken", sind wir weder willig noch
fähig, einen Gott wohlgefälligen Gehorsam zu leisten. Wir
müssen eben neues Leben, eine neue Natur haben, um
den Pfad des Gehorsams betreten zu können.
Rufen wir uns einige Stellen der Heiligen Schrift
ins Gedächtnis, die unö diese ernste Wahrheit klar erkennen
lassen. Wir lesen in Joh. Z, 5: „Eö sei denn daß jemand
aus Wasser und Geist geboren werde, so kann er nicht in
daö Reich Gottes eingehen". Es ist bekannt, daß wir
unter dem Symbol des reinigenden Wassers das Wort
Gottes zu verstehen haben. So redet auch der Apostel
236
Paulus IN Eph. 5, 2b im Blick auf die Versammlung
(Gemeinde) von einer „Waschung mit Wasser durch daS
Wort", und in Jak. 1, 48 heißt es: „Nach'Seinem eigenen
Willen hat Er uns durch das Wort der Wahrheit gezeugt".
Die Wiedergeburt liegt also völlig außerhalb aller menschlichen
Anstrengung. Sie ist gänzlich von Gott und vollzieht
sich durch Seinen Willen und durch Seine Macht. Wie kein
Mensch mit seiner natürlichen Geburt irgend etwas zu tun
hat, so auch nicht mit seiner geistlichen. Die neue Geburt
ist ausschließlich Gottes Werk, sie kommt von oben her.
Und Gott sei Dank, daß es so ist!
Im ersten Brief des Apostels Petrus finden wir auch
eine Stelle, die diesen wichtigen Gegenstand sehr klar behandelt.
Es heißt dort in Kap. k, 23—2Z: „Die ihr nicht
wiedergeboren seid aus verweslichem Samen, sondern aus
unverweslichem, durch das lebendige und bleibende Wort
Gottes; denn alles Fleisch ist wie Gras, und alle seine
Herrlichkeit wie des Grases Blume. Das Gras ist verdorrt,
und seine Blume ist abgefallen; aber das Wort des
Herrn bleibt in Ewigkeit. Dies aber ist das Wort, welches
euch verkündigt worden ist."
Deutlicher könnte der Geist Gottes nicht reden. Wenn
die frohe Botschaft des Heils mit Macht ins Herz fällt,
so findet die Wiedergeburt statt. Das Wort ist der Same
des göttlichen Lebens, der durch den Heiligen Geist in die
Seele gepflanzt wird. Wir werden wiedergeboren, indem
wir erneuert werden in dem tiefsten Innern unseres Seins.
Durch den Glauben an Christum lebendig gemacht, werden
wir dann in das Verhältnis von Söhnen eingeführt, wie
wir in Gal. 4 lesen: „Als aber die Fülle der Zeit gekommen
war, sandte Gott Seinen Sohn, geboren von einem Weibe,
2Z7
geboren unter Gesetz, auf daß Er die, welche unter Gesetz
waren, loökaufte, auf daß wir die Sohnschaft empfingen.
Weil ihr aber Söhne seid, so hat Gott den Geist Seines
Sohnes in unsere Herzen gesandt, der da ruft: Abba,
Vater! Also bist du nicht mehr Knecht, sondern Sohn;
wenn aber Sohn, so auch Erbe durch Gott."
Damit tritt die Grundlage des christlichen Gehorsams
klar und deutlich ans Licht. Wir besitzen als Kinder Gottes
ewiges Leben und sind in den Genuß eines ewigen
Sohnschaft-Berhältnisses gebracht. Wir sind Kinder,
nicht Knechte, die auf der Grundlage eines Gesetzes
stehen; wir sind Söhne, die auf den gesegneten und erhabenen
Boden göttlicher Liebe gestellt sind.
Als solche sind wir zum Gehorsam berufen, und es
ist beachtenswert, daß gleichsam der erste Atemzug einer
wiedergeborenen Seele die Frage ist: „Herr, was willst
du, daß ich tun soll?" So rang es sich los aus dem
zerbrochenen Herzen Sauls von Tarsus, als er, durch die
Herrlichkeit des Sohnes Gottes niedergeschmettert, bußfertig
am Boden lag. Er hatte bis dahin in Auflehnung
und Empörung gegen diesen verherrlichten Herrn gelebt.
Von diesem Augenblick an aber wurde er ein Mensch, der
sich mit Leib, Seele und Geist einem Leben willenlosen
Gehorsams hingab. Fortan gab es keine Spur von Gesetzlichkeit
mehr in seinem Herzen. „Die Liebe des Christus",
sagt er, „drängt uns, indem wir also geurteilt
haben, daß einer für alle gestorben ist und somit alle gestorben
sind. Und Er ist für alle gestorben, auf daß die,
welche leben, nicht mehr sich selbst leben, sondern Dem,
der für sie gestorben ist und ist auferweckt worden."
(2. Kor. 5, 14.15.)
238
Hier liegt der große Beweggrund zu allem christlichen
Gehorsam. Leben ist die Grundlage, Liebe die
Triebfeder. „Wenn ihr mich liebet, so haltet meine Gebote",
sagt der Herr Jesus, und ferner: „Wer meine
Gebote hat und sie hält, der ist es, der mich liebt; wer
aber mich liebt, wird von meinem Vater geliebt werden;
und ich werde ihn lieben und mich selbst ihm offenbar
machen". Wer vermöchte die Kostbarkeit zu beschreiben,
die in einem solchen Sichoffcnbarmachen des Herrn für
das gehorsame Herz liegt? Sollten wir nicht danach verlangen,
mehr von dieser Freude zu kennen? Können wir
aber in ihrem Genusse stehen, wenn wir gleichgültig sind
gegenüber Seinen heiligen Geboten? „Wer meine Gebote
hat und s ie hält, der ist es, der mich liebt." DaS Halten
Seiner Gebote ist der Maßstab unserer Liebe. Wie
wertlos ist ein bloßes Lippenbekenntnis! Es erinnert an
den Sohn im Gleichnis, der da sprach: „Ich gehe, Herr,
rind ging nich t". Welcher Vater wird auf ein lautes
Liebeöbekenntnis eines Kindes Wert legen, das sich um
seine Wünsche nicht kümmert? Die Beteuerungen sind
leere, hohle Worte, Schein und Trug. Könnte ein solches
Kind auch wohl erwarten, viel von dem Vertrauen und
der Gemeinschaft seines Vaters zu genießen? Ist cs nicht
sogar mehr als fraglich, ob es überhaupt diese Dinge
schätzt? Es mag bereitwillig genug alles entgegcnnehmcn,
was die Hand des Vaters ihm zur Befriedigung seiner Bedürfnisse
darreicht. Aber Gaben aus der Hand eines Vaters
empfangen, und die Gemeinschaft und das Vertrauen
dieses Vaters genießen, sind zwei sehr verschiedene Dinge.
In der aus Joh. 1.4 angeführten Stelle heißt eö weiter:
„Wenn jemand mich liebt, so wird er mein Wort
2Z9
halten, und mein Vater wird ihn lieben, und wir werden
zu ihm kommen und Wohnung bei ihm machen. Wer mich
nicht liebt, hält meine Worte nicht." Wahrlich, es kann
auf Erden, diesseit des Himmels, für einen Gläubigen
nichts Höheres, nichts Begehrenswerteres geben, als daß
Vater und Sohn zu ihm kommen, um Wohnung bei ihm
zu machen. Aber wir mögen uns wohl fragen: Kennen
wir etwas davon? Haben wir schon solche Erfahrungen
gemacht? Sie sind nicht aller Teil. Nur denen, die Jesum
lieben und Sein Wort halten, werden sie geschenkt. Der
Herr spricht von „Seinen Geboten" und von „Seinem
Worte" oder „Seinen Worten". (V. 24.) Zwischen den
beiden Ausdrücken besteht ein Unterschied. Die „Gebote"
des Herrn — denn Ec hat das Recht, zu gebieten
— legen unö einzelne heilige Verpflichtungen aus, Sein
„Wort" ist mehr der Gesamtauödruck Seines Willens
und Seiner Gesinnung. Wenn ich meinem Kinde ein bestimmtes
Gebot gebe, so ist eö selbstverständlich seine
Pflicht, mir zu gehorchen, und wenn eö mich liebt, wird
eö mit Freuden das Gebot erfüllen. Doch wenn eö im
täglichen Verkehr init mir meine Wünsche und meine Gesinnung,
die sich in meinen Worten kundgebcn, kennen
lernt, wird es bemüht sein, nach meinem Willen zu handeln,
auch ohne daß ihm dieses oder jenes direkt befohlen
worden wäre. Es gibt mir damit einen viel größeren Beweis
seiner Liebe, als wenn es nur der Pflicht folgen würde.
Mein Wort ist ihm teuer, und eö gibt acht darauf, um in
allem nach meinem Willen handeln zu können. Es ist der
Geist des Gehorsams, der in Liebe in dem Kinde wirkt
und es antreibt, mein Wort zu halten.
Wir dürfen versichert sein, daß ein solches Handeln
240
auch für das Herz unseres Gottes und Vaters überaus
angenehm ist, denn es ehrt Seinen geliebten Sohn und
gibt Ihm den Ihm gebührenden Platz. Er wird auch nicht
versäumen, einen solch liebenden Gehorsam zu beantworten,
indem Er dem gehorsamen Kinde Seine besondere
Liebe zuwendet und es zum Mitwisser Seiner Gedanken
macht.
Beachten wir auch den Unterschied zwischen „mein
Wort" und „meine Worte" in den Versen 23 und 24.
Wer Jesum nicht liebt, hält Seine Worte nicht; es ist
nicht seine Gewohnheit oder seine Art, irgend einem der
Aussprüche Jesu Wert beizulegen, während für das liebende
Herz das ganze Wort des Herrn teuer ist, eben
weil es von Ihm kommt.
Doch es gibt noch mehr als das. In Joh. 45 lesen
wir: „Wenn ihr in mir bleibet und meine Worte in euch
bleiben, so werdet ihr bitten, waö ihr wollt, und es wird
euch geschehen. Hierin wird mein Vater verherrlicht, daß
ihr viel Frucht bringet, und ihr werdet meine Jünger werden.
Gleichwie der Vater mich geliebt hat, habe auch i ch
euch geliebt; bleibet in meiner Liebe." Wie kann
das aber geschehen? Der Herr selbst beantwortet die Frage,
indem Er hinzufügt: „Wenn ihr meine Gebote haltet, so
werdet ihr in meiner Liebe bleiben, gleichwie ich die Gebote
meines Vaters gehalten habe und in Seiner Liebe bleibe".
Aus diesen Worten lernen wir die wunderbare Tatsache,
daß wir auch zu derselben Art von Gehorsam berufen
sind, wie unser anbetungswürdiger Herr und Heiland
ihn dem Vater entgegengebracht hat, als Er als Mensch
auf dieser Erde wandelte. Wir sind in eine völlige Gemein
24r
schäft mit Ihm eingeführt, nicht nur hinsichtlich der Liebe,
mit der wir geliebt, sondern auch des Gehorsams, zu dem
wir berufen sind. Dies wird uns, wiederum in dem ersten
Brief des Petrus, in besonders schöner Weise durch den
Geist Gottes bestätigt, indem dort von den Gläubigen gesagt
wird, daß sie „auöerwählt sind nach Vorkenntnis
Gottes des Vaters, durch Heiligung des Geistes, zum
Gehorsam und zur Blutbesprengung Jesu Christi".
(Kap. r, 2.)
Beachten wir dieses Wort sorgfältig! Wir sind vom
Vater auöerwählt und durch den Geist geheiligt, sowohl
zur Blutbesprengung Jesu Christi, als auch zuSeinem
Gehorsam, d. h. wir sind berufen, so zu gehorchen,
wie Er gehorcht hat.
Der Herr Jesus, unser großes und herrliches Vorbild,
fand Seine Speise darin, den Willen des Vaters zu
tun. Dieser Wille war der einzige Beweggrund für Ihn, zu
handeln. „Dein Wohlgefallen zu tun, mein Gott, ist meine
Lust." (Ps. 40, 8.) Und: „Der mich gesandt hat, ist mit
mir. Er hat mich nicht allein gelassen, weil ich allezeit daö
Ihm Wohlgefällige tue". (Joh. 8, 29.) In Ihm gab es
nichts von einem widerstrebenden Geist oder nicht unterworfenen
Willen, wie dies leider bei uns so oft der Fall
ist. Dennoch, gepriesen sei Sein Name! hat Er uns in
die innigste Verbindung und in die gesegnetste Gemeinschaft
mit sich berufen, und jemehr wir diese verwirklichen,
destomehr werden wir Seine Liebe und die Liebe
des Vaters genießen und fähig werden, in Seinem Gehorsam
dem Vater gegenüber zu wandeln.
Der Herr Jesus sagt im Anfang des wiederholt angeführten
44. Kapitels des Evangeliums Johannes: „In
242
den: Hause meines Vaters sind viele Wohnungen; wenn
cs nicht so wäre, würde ich eö euch gesagt haben, denn
ich gehe hin, euch eine Stätte zu bereiten. Und wenn ich
hingehe und euch eine Stätte bereite, so komme ich wieder
und werde euch zu mir nehmen, auf daß, wo i ch bin, auch
ihr seiet." (Joh. 44, 2. Z.) Teurer Leser! noch über ein
gar Kleines, und der Herr wird Sein Wort wahr machen.
Dann werden wir bei dem Vater und dem Sohne droben
wohnen ewiglich. Die Herrlichkeit Gottes liegt vor uns!
Das Vaterhaus ist unsere Zukunft. Und die Gege n-
wart? — Während unseres Wartens hienieden, wenn
wahrer, liebender Gehorsam in uns ist, wollen der Vater
und der Sohn zuunS kommen und Wohnung bei uns
machen! — Was sollen wir hierzu sagen?
O Liebe ohne Gleichen!
Kein Sinn kann je erreichen
Die Fülle, die Du gibst.
Selbst Engel werden stehen
Und voll Anbetung sehen,
Wie Du, o Herr, die Deinen liebst.

Kragen ans dem Leserkreise
l. A. S. zu A. — Wenn wir in Matth. IZ, > lesen, daß
„Jesus an jenem Tage aus dem Hause hinausging und sich an
den See setzte", so können wir doch daraus entnehmen, daß von
dem Augenblick an der Herr sich zu den Völkern gewandt hat,
bezw. daß die Botschaft der Gnade allen gebracht wurde?
Das Wort „an jenem Tage" verbindet den Inhalt des
13. Kapitels unmittelbar mit dem Schluß des vorhergehenden, in
welchem uns erzählt wird, daß der Herr für den Augenblick jede
irdische oder natürliche Beziehung abbrechen und fortan als einziges
Band das Verhältnis zu dem Vater im Himmel anerkennen wollte,
das sich auf den Gehorsam gegenüber dem Worte und Willen
dieses Vaters gründete Er schloß damit, soweit es sich um ein
Zeugnis handelt, mit Israel ab und erkannte die Bande, die
Ihn dem Fleische nach mit diesem Volke verbanden, nicht länger
an; aber ich wiederhole: nur als Gegenstand des Zeugnisses,
im Wege des Dienstes. Tatsächlich oder geschichtlich
hat sich dieser Bruch erst am Kreuze, durch die endgültige Verwerfung
des Messias, vollzogen. Die Sendung der Siebenzig an
die Städte Israels ist wohl auch erst viel später erfolgt; denn wir
lesen in Luk. ?, ?l: „Es geschah aber, als sich die Tage Seiner
Aufnahme erfüllten usw.", und dann in Luk. 10, l: „Nach
diesem aber bestellte der Herr auch siebenzig andere usw." Ferner
wurde der Auftrag, alle Nationen zu Jüngern zu machen, erst
nach der Auferstehung des Herrn erteilt.
r. — Kann man nicht sagen, daß, so wie einst bei Noah
iro Jahre vergingen, bis die Flut hereinbrach, so auch heute ein
gleicher Zeitraum vergehen wird von dem Erwachen des Mitternachtsrufes:
„Siehe, der Bräutigam!" bis zu Seinem Kommen?
Cs muß immer wieder betont werden, daß wir im Blick auf
die Ankunft unseres Herrn zur Heimholung Seiner Braut nicht aus
„Zeiten und Zeitpunkte" angewiesen sind, noch auf „Zeichen der Zeit"
zu achten haben. Obwohl es wahr ist, daß alles um uns her
mit Macht darauf hindeutet, daß wir in den „letzten Tagen" leben,
erwarten wir doch nicht deshalb unseren Herrn. Er hat gesagt:
„Ich komme bald", und darum erwarten wir Ihn heute, nicht
morgen oder gar erst in einigen Monaten oder Jahren. Zudem
kann die zur Zeit Noahs hereinbrcchende Wasserflut, durch welche
hindurch Noah mit den Seinigen gerettet wurde, mit der Ankunft
des Herrn zu unserer Aufnahme nicht verglichen werden.
Diese wird, gleich der Entrückung Henochs, vor dem hcreinbrcchen-
den Gericht erfolgen und hat nichts mit dem „kommenden Zorn"
zu tun. _____
Ein Mensch von
gleichen Gemütsbewegungen wie wir
„Elias war ein Mensch von gleichen Gemüts:
bewegungcn wie wir; und er betet« ernstlich, daß
cs nicht regnen möge, und es regnete nicht auf der
Erde drei Jahre und sechs Monate" (Jak. 5, 17.)
Man hört oft fragen: „Wie kann man erhörlich
beten?" Diese Frage bewegt mit Recht unsere Herzen.
Eine wichtige Antwort finden wir schon in dem Wort:
„Das inbrünstige Gebet eines Gerechten vermag
viel". Eine zweite, ebenso wichtige gibt unö das Gebet
deö Elias um Aufhören des Regens. Sein Gebet war bestimmt
und klar, und es hatte eine wunderbare Wirkung.
Es griff hinein in die Geschichte eines Volkes, und kein
König vermochte etlvas wider die Kraft dieses gläubigen
Gebets.
Worin lag also das wichtige Geheimnis des erhör-
lichen Betens? Neben dem Ernst und der Inbrunst des
Betenden in der Übereinstimmung seiner Bitte mit dein
Willen Gottes, der in dem geschriebenen Worte klar geoffenbart
war. Elias hatte den Gedanken nicht aus seinen,
Herzen genommen, sondern aus dem Gesetz Gottes. Durch
Moses hatte Gott dem Volk Voraussagen lassen: „Hütet
euch, daß euer Herz nicht verführt werde, und ihr abweichet
und anderen Göttern dienet und euch vor ihnen nicder-
beuget, und der Zorn Jehovas wider euch entbrenne, und
Er den Himmel verschließe, daß kein Regen sei, und der
Erdboden seinen Ertrag nicht gebe". (5. Mose 11, 16. 1.7.)
Ja, Gott wollte bei anhaltendem Ungehorsam deö Volkes
ÜXXIV - 10
254
„ihren Himmel wie Elsen machen und ihre Erde wie Erz".
(3. Mose 26, 49.) Ein solch schlimmer, andauernder Abfall
von Gott lag nun zur Zeit deö gottlosen Königs Ahab
in Israel vor. Elias, dem der Zustand seines Volkes zu
Herzen ging, und der mit Gottes Gedanken darüber dachte,
der auch um jeden Preis die Rückkehr des Volkes zu Jehova
ersehnte, durfte sich deshalb nicht nur im Glauben
auf dieses Wort stützen, sondern auch die Erlaubnis und
Vollmacht darin finden, zu beten, „daß es nicht regnen
möge".
Wenn wir erhörlich beten wollen, so laßt uns nahe
bei Gott bleiben und nicht versäumen, in dem geschriebenen
Wort uns mit Seinem Willen vertraut zu machen.
Der Herr Jesus sagt zu Seinen Jüngern: „Wenn ihr
in mir bleibet und meine Worte in euch bleiben, so werdet
ihr bitten was ihr wollt, und es wird euch geschehen".
(Joh. 45, 7.) Ein ernstes und erforschendes „Wenn"!
Liegt daö Ausbleiben der Erhörung nicht in den meisten,
wenn nicht in allen Fällen daran, daß wir der Bedingung
nicht entsprechen? Möchten wir treuer und wahrer werden
gegen uns selbst!
Elias war indes nicht nur ein ernstlicher Beter,
er war auch ein kraftvoller Zeuge. Es gibt Menschen,
welche die Kunst der Beredsamkeit in hohem Maße besitzen,
und doch macht ihr Wort keinen Eindruck. Wiederum
gibt es andere, die keine Spur von Rednergabe haben,
und doch haften ihre Worte wie Spieße und Nägel. Woran
liegt das? Das Geheimnis können wir wiederum bei Elias
erfahren. Sein Wort drang mit Macht durch, obgleich es
einfach und ohne jedes rednerische Beiwerk war. Elias
besaß die unumstößliche, über jeden Zweifel erhabene Ge
255
wißheit, daß das, was er verkündigte, Gottes Zeugnis
lvar. Er trat mit einer Tatsache vor Ahab, die ihm felsenfest
stand, an der nicht gerüttelt werden konnte. „So wahr
Jehova lebt, der Gott Israels, vor dessen Angesicht ich
stehe, wenn es in diesen Jahren Tau und Regen geben wird,
eö sei denn auf mein Wort!" (l. Kön. 77, 7.) Elias erschien
nicht als ein kluger und gewandter Redner; er kam
aus der Gegenwart Gottes als ein Mensch, der von Gott
gesandt war und von Gott etwas empfangen hatte. Hier
liegt das Geheimnis seiner Kraft im Zeugnis.
Unsere Aufgabe mag himmelweit verschieden sein von
der des Elias, aber doch ist im Grunde das Geheimnis
eines wirkungsvollen Zeugnisses heute dasselbe wie damals.
Sind wir selbst von dem unerschütterlichen Glauben an
das, waö wir reden, durchdrungen, hat der Herr uns Klarheit
lind Gewißheit über Sein Wort schenken können, so
wird daö von uns verkündigte Wort seinen Eindruck bei
anderen nicht verfehlen. Möge der Herr die Zahl der Boten
mehren, die etwas von Eliaö' Glaubenskraft und Zeugengeist
besitzen!
Der Anfang der Geschichte deö Eliaö beantwortet uns
indes nicht nur die Frage, wie wir erhörlich beten lind
kraftvoll zeugen können, sondern zeigt uns auch, wie der
Herr uns persönlich in Seinem Dienst zu bewahren vermag.
Daö erste Auftreten eines Zeugen Gottes, besonders
in einem solchen Falle, hat seine Gefahren für diesen selbst.
Auch Eliaö, der ein Mensch von gleichen Gemütsbewegungen
war lvie wir, war diesen Gefahren ausgesetzt. Wenn
auch das Volk im allgemeinen in Unglauben und Götzendienst
verstrickt war, hätten doch Worte der Anerkennung
seitens einzelner das Ohr deö Propheten erreichen können,
256
wie z. B.: „Das war einmal ein kräftiges Wort an Ahab!
Das war doch etwas ganz anderes, als wenn die Baalspriester
reden! Welch einen Eindruck hat es gemacht!" Wir
kennen ja solche Redensarten, und die Menschen waren
damals nicht anders als heute. Anderseits hätten auch vom
Hofe Ahabs aus Versuche gemacht werden können, den
ernsten, strengen Zeugen zu beeinflussen, oder ihn zu beseitigen.
Wie manche anfangs gesegnete Zeugen Gottes sind
diesen Gefahren erlegen! Die Lobreden von Menschen
haben sie hochmütig gemacht, oder sie sind durch den Druck
weltlicher Einflüsse bestimmt worden, der Wahrheit ihre
Schärfe und Spitze zu nehmen. Gar mancher hat auf diese
Weise seine Kraft verloren und ist ein Menschenknecht geworden.
Elias entging diesen Gefahren. Gleich nach seinem
ersten Auftreten führte Gott ihn in eine gründliche Stille
an den Bach Krith. Dort war er nicht nur vor Ahabs
Zorn, sondern auch vor jedem schädlichen Einfluß bewahrt.
Sehen wir uns den Aufenthalt Elias' am Bache Krith
ein wenig an. Hier kämpfte er nicht vor König und Volk
gegen den Abfall einer ganzen Nation. Hier gab es eine
andere Aufgabe für ihn. Ehe Eliaö den Kampf auf dein
Karmel in aller Öffentlichkeit auöfechten konnte, mußte er
in der Stille, wo kein Mensch ihn sah, im eigenen Herzen
Feinde überwinden. Zwei besondere Gefahren lagen ihm
dort nahe: Sorgengeist und Ungeduld.
Zunächst der Sorgengeist. Er hatte nichts weniger
als eine, wie man es nennt, „menschlich gesicherte Stellung".
Raben brachten ihm seinen Unterhält. Der Bach,
dem er das im Morgenlande besonders wichtige Trink-
rvasser entnahm, wurde täglich kleiner. Im Blick aus die
257
immer spärlicher fließenden Wasser konnte er in die Macht
des Sorgengeistes geraten. Hier galt es, von menschlichen
Bürgschaften weg auf den Herrn zu schauen, und der Herr
gab zur rechten Zeit, wenn der Bach austrocknete, einen
neuen Wink zur Versorgung. Erfahrung ist immer ein
besserer Lehrmeister als bloße Theorie.
Ungeduld war die zweite Gefahr. Ausharren und
Stillesein ist eine schwere Lektion, wenn die Hilfe verzieht.
Ein Mann, der später am Karmel furchtlos vor König,
Baalspriester und Volk hintrat und die Massen mit seinem
Wort im Jaume hielt, mußte hier lange Zeit ohne jede
Tätigkeit still liegen! So konnte neben dem Sorgengeist
auch die Ungeduld ihn fortzureißen suchen. Auch das kennen
einzelne von uns aus Erfahrung. Elias aber blieb still.
Wenn Gott Zeit hatte, so hatte auch er Zeit. Wenn Gott
seine Tätigkeit nach außen hin jetzt nicht brauchte, so
drängte er sich nicht in die Arbeit, lief nicht eigenmächtig
vom Krith an den Königshof, sondern wartete auf Gottes
Stunde. Wohl denen, die auch in solch verborgenen Proben
überwinden!
Schließlich schickt „das Wort Jehovas" ihn nach Jar-
path. (r. Kön. 77, 8 ff.) Es gilt mit Recht als unpassend,
wem, ein Mensch, besonders ein Knecht Gottes, verlangt,
daß man ihm zuerst zu essen gebe, wenn er gar in dem
Rufe steht, anspruchsvoll zu sein. Wir sollten stets bescheiden
und anspruchslos auftreten, auch wenn es einmal
Selbstverleugnung und Entsagung für uns bedeutet, und
nicht meinen, wir müßten immer zuerst bedacht werden. -
Wenn Elias in dem vorliegenden Falle die Witwe ersuchte,
ihm zuerst ein Gebackenes zu bringen, so war das keines­
wegs ein unbescheidenes Sichvordrängen, sondern vielmehr
258
göttliche, erzieherische Weisheit. Nicht zur schnelleren
Stillung seines Hungers verlangte Elias das Brot zuerst,
nein, der Glaube der Witwe sollte dadurch.auf die Probe
gestellt werden. Bevor sie die herrliche Durchhilfe in der
Zeit der Not erfuhr, mußte sie den Glaubcnsschritt wagen
und ihren letzten Vorrat nach dem Worte des Propheten
verwenden. Die einzige Stütze, auf die sie sich für ihr
Durchkommen noch verlassen konnte, mußte sie abbrechen
und ihr Vertrauen ganz allein auf die durch Elias gegebene
Verheißung gründen. (V. t4.) Erst nachdem das geschehen
war, durfte sie die Hilfe mit Augen schauen. Der Weg
>var nicht leicht, die Forderung, sich und dem einzigen
Kinde daö Letzte zu nehmen und einem Fremdling hinzugeben,
erschien fast grausam; aber Jehova, der Gott Israels,
hatte gesprochen. Und wenn Elias zuerst auch als
ein fordernder Gast auftrat, ohne den Schein der Selbstsucht
zu fürchten, war er in Wahrheit doch nur der gebende
und helfende Besucher.
Wie Elias die Witwe zum Glauben erzog, so möchte
der Herr es mit uns tun. Auch Er stellt oft scheinbar harte
Forderungen. Gehen wir aber auf Seinen Willen ein, so
merken wir bald, daß Er, wie Elias, viel weniger der Fordernde,
als der gebende Helfer ist. Wie jene Witwe eü nie
bereut hat, daß sie Elias vertraute und folgte, so wird es
noch viel weniger jemand gereuen, dem Worte des Herrn
Jesus unbedingt vertraut und gehorcht zu haben. Auch
ihm wird es nie mangeln.
Die Witwe wurde versorgt. Aber woher, wozu und
nüe lang bekam sie ihren Unterhalt? — Zunächst: Woher
bekam sie ihn? Wohl mögen die Nachbarn in Zar-
path bisweilen gefragt haben: „Wie kommt es doch, daß
259
diese Frau immer ihren Tisch decken kann? Hat sie geheime
Wohltäter? oder verborgene Vorräte?" Mancher gäbe viel
darum, wenn er eine Quelle kännte, die ihn auch in Not-
und Teuerungszeiten nicht im Stiche läßt. Hier sehen wir
diese Quelle. Das Geheimnis des nie leeren BrotschrankeS
und Olkruges war ein Wort Jehovas. Wenn wir auch
den näheren Vorgang des Wunders nicht kennen, ähnlich
wie bei der Speisung der Tausende in der Wüste zur
Zeit des Herrn Jesus, wird uns doch das Wichtigste gezeigt:
Gottes Wort war die Ursache und Quelle der Hilfe.
Gott hatte durch Elias Seinen klaren Willen dem Weibe
kundgetan. Das genügte. Wenn Gott sagt: „Das Mehl
im Topfe soll nicht ausgehen, und das Ol im Kruge nicht
abnehmen", dann mögen die Mehl- und Olpreise noch so
hoch steigen, Sein Wort wird sich bewähren. Hätte die
Witwe ihren Blick von Gott weg auf die vertrockneten
Felder hin gerichtet, oder auf den leeren Schrank und
die leere Kasse geblickt, so hätte ihr bange werden müssen.
Wenn sie aber kindlich dem durch EliaS gegebenen Wort
Jehovas vertraute, konnte sie getrost in die Zukunft blicken.
Es kommt darauf an, daß wir Gottes Wort durch den
Heiligen Geist im lebendigen Glauben in das Herz auf-
»ehmen. Dann müssen die Sorgen fliehen wie Nebel vor
der Morgensonne. Dann haben wir eine göttliche Bürgschaft
der Versorgung, wie jene Witwe sie hatte. (Vergl.
?uk. 1.2, 22—31.)
Und nun zweitens: Wozu bekam die Witwe ihren
Unterhalt? Viele Menschen wünschen gleich ihr wunderbare
göttliche Gaben zu empfangen. Doch sie vergessen,
daß Gott Seine Gaben nur zu bestimmten göttlichen
Zwecken geben will. Wozu bekam denn die Witwe ihren
260
wunderbaren Unterhalt in der Teuerung? Etwa um träge
und bequem dahinleben und mit den Nachbarinnen die
Zeit verplaudern zu können? Nein, der Gott, der ihr durch
Sein Wort die äußere Hilfe darreichte, gab ihr zugleich
eine Aufgabe: sie sollte für EliaS sorgen, (t. Kön. q?, y.)
Gewiß wäre eö verkehrt, wenn nur, die göttliche Quelle
äußerer Versorgung kennen lernend, von der damit verbundenen
Aufgabe nichtö wissen wollten. Beides gehört
zusammen. Gottes Wort gab der Witwe göttliche Hilfe
und göttliche Aufgabe miteinander. Die höchste Stelle in
Ägypten wurde Joseph nicht zuteil, um in Ehren und
Pracht zu leben, sondern um sein Volk zu erretten und zu
versorgen. Nabal irrte sehr, wenn er meinte, er dürfe sein
reiches Einkommen für herrliche Mahlzeiten und ein genußreiches
Leben benutzen und brauche David und seinen
Knechten nichts mitzugeben. (^. Sam. 25.) Wehe denen,
die das, was Gott gibt, nur in eigennütziger Weise verwenden
wollen! Wohl denen, die Seine Befehle damit
auszurichten suchen!
Drittens: Wie lang bekam die Witwe ihren Unterhalt?
Die Dauer ihrer wunderbaren Ernährung hat unö
gewiß auch etwas zu sagen. Nicht für ihr ganzes Leben
sollte sie durch ein göttliches Wunder ernährt werden, sondern
nur „bis auf den Tag, da Jehova Regen geben
würde auf den Erdboden", d. h. also solang die Notwendigkeit
für eine solch besondere Durchhilfe vorlag. Sobald
der Regen eintrat, die Erde ihren Ertrag wieder gab und
man durch fleißige Bewirtschaftung des Bodens die nötige
Speise gewinnen konnte, hörte die wunderbare Vermehrung
von Mehl und Ll auf. Als es wieder möglich wurde,
auf dem gewöhnlichen Wege der äußeren Arbeit Mehl und
26r
Dl zu erlangen, ging das Mehl im Topfe aus, und das
Dl im Kruge nahm ab.
Dies sagt uns, daß wir wohl unter besonderen Umständen
den: Herrn zutrauen dürfen, daß Er uns auch auf
außergewöhnliche Weise die nötige äußere Versorgung zuteil
werden lassen kann, aber wir wollen doch niemals in
falscher Weise nach Wundern der Versorgung auöschaucn,
wenn der gottgewollte Weg der Arbeit uns vorgezeichnet
ist. (Vergl. 2. Lhess. Z, 10—t2.)
Auch in Jarpath gab es ernste Schläge, deren Segnungen
und Gefahren zum Vorschein kamen. Den Namen
Jarpath deutet man „Schmelzofen" oder „Schmelzhütte".
Vielleicht haben hier phönizische Schmelzhütten gestanden,
in welchen die Kunstarbeiter ihre schönen Glasgefäße herstellten.
Wir aber blicken hier in eine Schmelzhütte des göttlichen
Meisters hinein, der Seine Herrlichkeitsgefäße in
Leidenözeiten zubereitet. Es war gewiß eine Schmelzofenzeit
im Hause der Witwe, als ihr einziger geliebter Sohn
an schwerer Krankheit starb. Manche kennen diesen
Schmerz aus Erfahrung. In einer Schmelzofenzeit kommt
manches, was im Herzen steckt, ans Licht. Auch bei der
Witwe zeigt sich dies. Bei ihr tritt zweierlei zutage, einerseits
ein Segen, anderseits eine Gefahr.
Zunächst ein Segen. Es erwacht ein anscheinend
tiefes Sündenbewußtsein bei ihr. Die Heimsuchung läßt
die Mutter an ihre „Ungerechtigkeit" denken. Die schwere
Zeit bringt ihr in besonderer Weise zum Bewußtsein, daß
sie vor Gott nicht rein und schuldlos dasteht.
Wenn wir durch schwere Schläge dahin geführt werden,
einen verkehrten Weg zu erkennen und einzugestehen,
so ist schon viel gewonnen. Wie oft geht es noch heute so,
262
daß mitte» i» schweren Stunden vergangene Dinge ins
Gedächtnis kommen und in ein ganz neues Licht gerückt
werden! In ihrer Angst denken Josephs Brüder an die
alte Schuld ihrem Bruder gegenüber. (1. Mose 42, 21;
Klagel. 1, 14.)
Doch neben dem Segen zeigt sich auch eine Gc-
f a b r. Nicht nur Sündenbewußtsein klingt aus den Worten
der Witwe heraus, sondern auch Unmut und Unzufriedenheit.
Gewissermaßen macht sie den Propheten verantwortlich
für den Jammer, der sie betroffen hat. Ihr Gedanke
mag gewesen sein: Wäre Elias niemals über die
Schwelle meines Hauses gekommen, so wäre das schreckliche
Ereignis nicht eingetreten.
Das ist die Gefahr, die in schweren Zeiten stets nahe
liegt: ärgerlich und unzufrieden zu werden, ja, innerlich
zu hadern. Wie oft kommt es vor, daß man mit Gott und
Menschen unzufrieden ist! Wir sind aber niemals auf der
rechten Fährte, wenn wir in ernsten Schmerzensstunden
gegen andere Menschen Vorwürfe erheben. Und nun gar
gegen Gott?! Laßt uns deshalb in Zeiten des Dunkels
auf der Hut sein, um weder gegen Gott noch Menschen
zu murren, sondern laßt uns unter Seine Hand beugen und
Ihm zutrauen, daß Er dennoch alles richtig hinausführen
wird.
Das Verhalten des Eliaö gegenüber der Witwe bei
ihren unmutigen Worten: „Was haben wir miteinander
zu schaffen, Mann Gottes?" ist schön. Er hätte empfindlich
werden und aus den Worten Anlaß nehmen können,
das Haus der Witwe zu verlassen. Was mußte der treue
Knecht Gottes sich doch gefallen lassen! Er sollte schuldig
sein an dem Tode des Knaben! Und so sprach gerade die
263
Frau, die so viel äußeren und inneren Segen durch ihn
empfangen hatte! Durfte EliaS sich einen so ungerechten
Vorwurf gefallen lassen? Nur ein hartes Wort von ihm,
und die Entfremdung zwischen ihm und der Witwe wäre
dagewesen und aller Segen in Frage gestellt worden. Aber
Gott sei Dank! dazu kam eö nicht. Statt sich gekränkt
zu fühlen und den Beleidigten zu spielen, antwortete EliaS
in voller Ruhe: „Gib mir deinen Sohn her", und dann
betete er für ihn, bis Gott ihn wieder ins Leben zurückrief!
Auf die erregten Worte der Witwe hätte es keine
bessere Antwort geben können. Wir bewundern den Mut
des Elias auf Karmel. Aber laßt uns die kleinen häuslichen
Auftritte nicht gering anschlagen, in welchen EliaS sich als
Gottes Knecht erwies durch Geduld und Sanftmut!
Ernste Trübsalszeiten sind nie ohne inneren Gewinn.
Als die Witwe die schwere Zeit überstanden hatte und
ihren Sohn lebendig in ihren Armen hielt, sprach sie:
„Nunmehr erkenne ich, daß du ein Mann Gottes bist, und
daß das Wort Jehovas in deinem Munde Wahrheit ist".
Damit gab sie zu verstehen, daß sie erst jetzt ganzen, unbedingten
Glauben an das Wort Gottes durch Elias habe.
Trübsalszeiten offenbaren auch bei uns den Unterschied
zwischen Theorie und Praxis, zwischen Lehre und Verwirklichung.
In der Probe zeigt es sich, ob wir nur schön reden
können über Glauben, oder ob wir ihn wirklich üben zur
Ehre des Herrn. Die Erweckung ihres Sohnes aus dem
Tode nahm den letzten Rest des Unglaubens und Zweifels
aus dem Herzen der Witwe. — Ein Zweck der Trübsal
ist wohl auch, daß wir erfahrungsgemäß sagen können:
Des Herrn Wort ist Wahrheit!
264

„Und Er nahm ein leinenes Tuch und
umgürtete sich"
Die Stellung, die unser Herr und Heiland in Joh.
13, *l —'ld einnimmt, läßt uns Seine Liebe zu den Seinen
in ihrer ganzen Unendlichkeit erkennen. Wir sehen Ihn,
nachdem Er sich mit einem leinenen Tuch umgürtet hat,
ein Waschbecken zur Hand nehmen und sich niederbeugen,
um Seinen Jüngern die Füße zu waschen. Ja, der Sohn
Gottes, der Schöpfer und Erhalter deö Weltalls, legt hier
Seine heiligen Hände an ihre beschmutzten Füße, um jede
Verunreinigung zu entfernen, die sie sich, vielleicht ihnen
selbst unbewußt, auf dem Wege zugezogen hatten. Die
persönliche Würde und Herrlichkeit des also Handelnden
erhöhen noch die wunderbare Gnade, die sich in der Handlung
kundgibt. Könnte es etwas Höheres geben als den
Platz, von welchem Christus ausgegangen war? oder etwas
Niedrigeres, alö die beschmutzten Füße eines Sünders?
Doch so groß ist die Herrlichkeit der Person Christi,
daß Er den ganzen weiten Abstand zwischen beidem ausfüllt.
Er kann die eine Hand an den Thron Gottes legen
und die andere an die Füße Seiner Jünger, um so daö
geheimnisvolle, kostbare Bindeglied zwischen beiden zu
bilden. „Jesus, wissend, daß der Vater Ihm alles in die
Hände gegeben, und daß Er von Gott ausgegangen war
und zu Gott hingehe, steht von dem Abendessen auf und
legt die Oberkleider ab; und Er nahm ein leinenes Tuch
und umgürtete sich. Dann gießt Er Wasser in das Waschbecken
und fing an, die Füße der Jünger zu waschen und
270
mit dein leinenen Tuch abzutrocknen, mit welchem Er um-
gürter war."
Beachten wir die Worte! In dem vollen Bewußtsein,
daß alle Dinge in Seine Hände gegeben waren, und daß
Er zu Gott zurückkehre, von wo Er ausgegangen war, vollzieht
Jesus an Seinen Jüngern das tief bedeutsame Werk
der Fußwaschung. Immer wieder finden wir, wie Jesus
unö in liebender Fürsorge mit alledem zuvorkommt, dessen
wir auf jeder neuen Entwicklungsstufe unseres geistlichen
Lebens bedürfen. Im Anfang, wenn unsere Sündenschuld
uns zu Boden drückt, begegnet Er uns mit Seinem kostbaren
Blut und versenkt die furchtbare Last in die mächtigen
Fluten göttlicher Vergessenheit. Nachher kommt Er
uns Tag für Tag mit dem Waschbecken und leinenen Tuch
entgegen, um unablässig den Schmutz zu entfernen, der
sich unvermeidlich beim Durchschreiten einer unreinen Welt
an unsere Füße hängt. Nur so können wir Teil mit Ihm
haben, da wo Er jetzt ist, nur so die Höfe des Heiligtums
droben betreten. Unser Gewissen reinigt Er durch
Sein Blut, unsere Füße durch Sein Wort.
Welch eine Ruhe gibt unseren Herzen das Bewußtsein:
Jesus hat unö rein gemacht, und Jesus erhält
uns rein! Nicht ein Fleckchen von Sünde ist mehr auf
dem Gewissen, und nicht ein Fleckchen von Sünde darf
an den Füßen deö Gläubigen haften bleiben. Beides muß
den hohen Anforderungen des Heiligtums entsprechen.
Alles, was Gott auf meinem Gewissen sah, i st abgewaschen
durch daö Blut; und alles, was Er auf meinen
Wegen sieht, wird abgewaschen durch das Wort. Uber diese
kostbare Wahrheit belehrt uns der Herr in Joh. tZ, 7
bis 10, und sie bewahrt unseren Seelen den Frieden. Die
271
Tätigkeit mit dem Waschbecken und leinenen Tuch kann
nie für einen Augenblick unterbrochen werden. Auf dem
Wege durch diese Welt der Sünde zur Herrlichkeit droben
werden unsere Füße notgedrungen immer wieder beschmutzt.
Was sollten wir beginnen, wenn wir nicht auf
Gruno des göttlichen Wortes wüßten, daß dieser Schmutz
durch daö Wirken der göttlichen Gnade immer wieder entfernt
wird? Wir müßten entweder Zweifeln und Befürchtungen
aller Art Raum geben, oder wir hätten eine sehr
geringe Vorstellung von der Heiligkeit unseres Pfades, zu
dem wir hienieden zur Verherrlichung Gottes berufen sind.
Doch das Auge des Glaubens sieht Jesum umgürtet, mit
dem geheimnisvollen Waschbecken in Seiner Hand, in ununterbrochenem
Liebesdienst für die Seinigen beschäftigt.
E r gießt Wasser in das Becken, d. h. Er wendet den Teil
des Wortes auf uns an, der zu unserer Reinigung nötig
ist. Er bringt unser praktisches Tun durch dieses
Wort ins Licht, läutert und klärt es, führt uns
zur Erkenntnis und zum Selbstgericht. Er wäscht,
und Er trocknet ab, damit wir so der erhabenen
Stellung, in die Sein Blut uns gebracht hat, wieder angepaßt
werden. Welch ein Friede erfüllt unsere Herzen,
wenn wir erkennen und erfahren, daß derselbe Herr, der
am Kreuze für uns starb, um unö in jene herrliche Stellung
zu bringen, jetzt allezeit für uns umgürtet ist, um
»ms in dieser Stellung zu erhalten!
So sicher wie der Herr Jesus bei jenem letzten Abendessen
die Füße derer wusch, die um Ihn versammelt waren,
so sicher wäscht Er heute unsere Füße. Und Er wird
damit fortfahren, bis wir alle jene Stadt erreicht haben
werden, deren „Straße reines Gold ist, wie durchsichti-
272
geö Glas". (Offbg. 21, 21.) „Da Er die Seimgen, die
in der Welt waren, geliebt hatte, liebte Er sie bis ans
Ende." Ja, fort und fort bleibt Seine Liebe dieselbe.
Durch alle Veränderungen des stets wechselnden Schauplatzes
um uns her bleibt uns diese Liebe bis zum Ende
hin gewiß. Es ist nicht die Liebe eines Tages, auch nicht
eines Monats oder eines Jahres. Sie ist ewigdauernd,
unveränderlich. Was der Herr vor 1900 Jahren an den
Seinen tat, das tut Er heute noch und wird damit fortfahren,
bis wir es nicht mehr nötig haben werden. Und
dann will Er wiederum „sich umgürten" — die Liebe
kann nicht anders als ewiglich dienen — und wird
Seine treuen Knechte „sich zu Tische legen lassen und
wird hinzutreten und sie bedienen". (Vergl. Luk. 12, 37.)
Geliebter gläubiger Leser, auch du stehst mit unter,
dem Segenöstrom dieses göttlichen Gnadenwirkens, wie
es uns in Joh. 13 vorgestellt wird, geradeso wie du in
die herrliche Fürbitte Jesu in Joh. 17, 20 miteinbegriffen
bist. Von dem letzteren bist du überzeugt durch Seine eigenen
Worte: „Aber nicht für diese allein bitte ich, sondern
auch für die, welche durch ihr Wort an mich glauben",
und von dem ersteren darfst du überzeugt sein durch die
Zusicherung, daß Er die Seinigen, die in der Welt waren,
bis ans Ende liebt. Deshalb erinnere dich stets daran:
Jesus wäscht meine Füße. Einmal gebadet, hast du nicht
nötig, noch einmal ganz gewaschen (wiedergeboren) zu werden.
Doch deine Füße, deine Wege bedürfen immer wieder
neu der Reinigung. Und Er trägt Sorge dafür, daß
diese Reinigung stattfindet, morgens, mittags, abends, zu
aller Zeit. Immerfort ist Er um dich bemüht, weil du
eö immerfort bedarfst — und zwar nicht nur wenn dein
273
Gewissen dich von einer Sünde überführt; auch von „verborgenen
Sünden" — und wie mannigfach sind sie! —
bedarfst du der Reinigung. Wenn Er dich nicht wüsche,,
so hättest du kein Teil mit Ihm.
Petrus erfaßte, gleich so vielen in unseren Tagen,
nicht die hohe Bedeutung von dem, was der Herr in Gnaden
an ihm tat. Er sah augenscheinlich eine Herabwürdigung
seines hochgelobten Herrn in der Beschäftigung mit
seinen Füßen, während sie in Wirklichkeit nur eine wunderbare
Offenbarung Seiner Liebe und Herrlichkeit war.
In einem Sinne ließ selbst der Berg der Verklärung die
Herrlichkeit Ehristi nicht in hellerem Lichte erstrahlen als
das, was durch daö Waschbecken und das leinene Tuch in
Joh. 73 dargestellt wurde. Doch der eifrige Petrus sah
diese Herrlichkeit nicht und wollte nicht zulassen, daß der
Herr seine Füße wasche. Belehrt über die Folgen, die seine
Weigerung, sich waschen zu lassen, für ihn haben würde,
ruft er bestürzt aus: „Herr, nicht meine Füße allein, sondern
auch die Hände und das Haupt". DaS war nur ein
neuer Irrtum, aber er diente dazu, uns aus dem Munde
des Herrn eine neue, kostbare Belehrung empfangen zu
lassen. Die Jünger waren (mit Ausnahme von Judas
Jskariot) schon rein um des Wortes willen, das Jesus zu
ihnen geredet hatte (vergl. Kap. 75, 3), sie hatten deshalb
nicht nötig, wieder und wieder ganz gewaschen zu werden.
„Ihr seid rein", sagt der Herr, „aber nicht all e."
Ach! „Er kannte den, der Ihn überliefern würde", der
n o ch in ihrer Mitte war, in Joh. 75 nicht mehr.
Was also macht die Fußwaschung nötig? Wir wiederholen
eö: Der Gläubige, in sich selbst ein armes, schwaches,
fehlendes Geschöpf, hat eine unreine Welt zu durchschrei
274
ten, wobei Verunreinigungen unausbleiblich sind. Wie uw
auösprechlich kostbar ist es daher für ihn zu wissen, daß
der Herr Jesus um seinetwillen immer umgürtet ist, um
jeden Flecken, den er sich in seinem täglichen Wandel zuzieht,
fortzuwaschen, sodaß er praktisch in der Reinheit der
Stellung, in die er ein für allemal gebracht ist, erhalten
bleiben kann! Dem Herrn sei Lob und Dank, daß Er eine
so wunderbare Vorsorge für uns getroffen hat! Wir mögen
wohl singen: „Du, o Jesu, machtest alles gut!"
Möchten wir alle mehr und mehr in die Tiefen dieser
Wahrheit einzudringen begehren, ihren Wert erkennend,
um dann auch fähig zu sein, dem Beispiel, das unser „Herr
und Lehrer" uns gegeben hat, zu folgen! „Ich habe euch
ein Beispiel gegeben", sagt Er, „auf daß, gleichwie i ch
euch getan habe, auch ihr tuet." (V. 75.) Wie vermögen
wir das? Nur durch ein treues Wandeln in der Gemeinschaft
mit Ihm, dem Heiligen. Nur so werden wir fähig
sein, einander die Füße zu waschen, d. h. einander in Liebe
zu dienen durch das Wort. Sehe ich einen Bruder, eine
Schwester einen verkehrten Weg verfolgen, einer schlechten
Gewohnheit dienen, eine unreine Verbindung eingehcn
usw., so sollte ich ihnen in dienender Liebe, mit dem leinenen
Tuch umgürtet, d. h. selbst in praktischer Gerechtigkeit
wandelnd, das Wort nahezubringen suchen, das
sie von dem Übel zu erlösen vermag.
„Wenn ihr diesH wisset, glückselig seid
ihr, wen n ihr eS tut!"
275
Aus alten Briefen
L—, 77. Jnni 7852. *)
*) Der Brief ist an zwei Schwestern H. gerichtet, die nach
langer Pilgerfahrt längst in Frieden hcimgegangen sind.
.... Wie es uns bis dahin ergangen ist, werdet
Ihr schon von meiner lieben Frau erfahren haben. Der
Herr ist mit uns, und wir sind sehr getrost. Wohin Er unö
von hier weiterführen wird, wissen wir nicht; wir sind
aber bereit, Ihm überallhin zu folgen, und wissen auch,
daß wir überall durch Seine Gnade und Liebe getragen
werden. Wir hoffen aber auch, daß Eure Gebete uns
stets begleiten.
Es ist doch ein köstliches Ding, den Frieden Gottes zu
besitzen und zu bewahren. Da ist dann nichts, was uns
Unruhe macht; wir befehlen alles unserem geliebten Vater.
Ach, kämen doch die Gläubigen alle zu der Überzeugung,
daß in Jesu die ganze Fülle wohnt, und daß sie außer Ihm
nichts mehr bedürfen! Ihr wißt das, geliebte Schwestern.
Ich bitte Euch, bewahret diesen Schatz, und laßt das Auge
immer in Einfalt auf Jesum gerichtet sein! Nahet Euch
dem Vater mit aller Freimütigkeit deö Glaubens! Ich
freue mich über Euch, so oft ich an Euch denke; denn
Eure Erkenntnis ist nicht fruchtleer. Euer Glaube beweist
sich in der Liebe und Lauterkeit des Wandels. Dadurch wird
der Vater geehrt und Seine Gnade in Christo Jesu gepriesen.
Werdet nur immer völliger im Werke des Herrn;
einst werden wir ernten ohne Aufhören. Möchten wir überall
durch Wort und Wandel beweisen, was die Kraft der
Auferstehung Jesu Christi in uns vermag, und daß wir
27b
als Mitgestorbene und Mitauferstandene nicht mehr der
Sünde dienen, sondern der Gerechtigkeit! Wird der Name
des Vaters und des Sohnes in und durch uns verherrlicht,
so erfüllen wir unsere Aufgabe und wandeln würdig unserer
hohen und heiligen Berufung. Jesus ist das Licht
der Welt, und wer in diesem Lichte wandelt, kann nicht
irren; er tut gewisse Tritte, und sein Herz wird immer
mehr befestigt in dem Bewußtsein seiner Berufung und
Erwählung. Es ist etwas ungemein Erfreuliches in dieser
Zeit der Verwirrung, Brüder und Schwestern zu finden,
die in Einfalt und Lauterkeit wandeln und unbeirrt im
Kampfe des Glaubens beharren.
So freuet Euch denn allewege und laßt Euer Herz
durch nichts beschwert werden! Jemehr wir die Liebe Gottes,
mit der wir in Christo Jesu geliebt sind, erkennen,
destomehr freut sich unser Herz, und die Liebe Christi
dringt uns, auch andere zu lieben. So laßt uns denn stets
im Gebet verharren für solche, die sich durch den Betrug
der Sünde betören lassen! Satan ist immer beschäftigt,
die Gewissen zu verwirren. Manches habe ich auch hier
gehört und erfahren, was mich betrübt und ins Gebet
getrieben hat. Ach! wenn manche Geschwister mehr er-
kännten, welch teures Lösegeld für sie bezahlt ist, so würden
sie gewiß einen ganz anderen Ernst in allem beweisen.
Die List und Bosheit Satans würden sie antreiben, mit
Furcht und Jittern ihre Errettung zu bewirken und einander
auf betendem Herzen zu tragen.
Wer ausharrt bis ans Ende, der wird errettet werden.
Bald kommt der Herr und wird Seine Braut heimholen;
wie sehr werden sich dann alle freuen, die in Keuschheit
und Gottesfurcht vor Ihm gewandelt haben! Wie werden
277
sie jubilieren, wenn das Zeugnis Gottes durch sie bewahrt
worden ist! Ich bitte Euch in brüderlicher Liebe um Jesu
willen, daß Ihr doch von allem ab auf Ihn sehet und nur
an Seine Ehre und an Sein Werk denket. Eure Eltern
traget mit kindlicher Liebe und predigt ihnen mehr durch
einen einfältigen und keuschen Wandel als durch viele
Worte. Es könnte dem Herrn gefallen, sie Euch über kurz
oder lang zu schenken.
Grüßet auch recht herzlich die teuren Geschwister bei
Euch und bittet sie, im Gebet für uns zu beharren. Sie
stehen, wie ich höre, wacker im Herrn, und das ist meine
Freude und die Freude unseres Gottes.
Die Gnade und der Friede Gottes in Christo Jesu
widerfahren Euch reichlich!
W—, 76. Mai 7863.
.... Bis jetzt ist auf meiner Reise alles gut gegangen,
dem Herrn sei Dank! Wohl bin ich in den letzten
Tagen durch anstrengende Märsche etwas ermüdet worden,
doch fühle ich mich wohl.
Die Versammlung in B. steht schwach; der Geist der
großen Stadt klebt ihr an, und jeder denkt viel an sich
selbst. Die Herzen sind noch enge, doch habe ich Hoffnung,
daß sie allmählich weiter werden. Überhaupt ist das Christentum
in den hiesigen Gemeinschaften noch schwächer
und oberflächlicher als bei uns. Bis jetzt sind in B. sechzehn
Geschwister in Gemeinschaft, aber manche stehen
nahe. Am sogenannten Himmelfahrtstage war ich in S.
und L., wo der Herr einige hinzugetan hat. Die Seelen
dort sind einfältiger. Es gibt aber überall viel Widerspruch,
und man warnt vor den Brüdern. Dennoch scheint
daö Werk ruhig voranzugehen, wenn auch nicht alle so
278
eifrig sind, wie sie sein könnten. Manche können auch, gleich
den Kindern Israel in Ägypten, vor Druck und harter
Arbeir sich wenig beteiligen. Die Armut hier ist groß, fast
alles läuft barfuß.
Gestern bin ich hier in W. angekommen. Die hiesige
Versammlung ist klein, aber in der Wahrheit befestigt.
Von den übrigen Versammlungen kann ich noch nichts
sagen, nur daß es gut wäre, wenn der Herr hier einen
treuen Arbeiter erwecken würde. Doch der Herr hat bis
hierher geholfen und wird es auch ferner tun. Er wolle
auch Gnade geben, daß meine Arbeit hier nicht vergeblich
ist, und daß die Seelen wirklich erbaut werden! Ich lerne
immer besser, wie alles von Ihm allein abhängig ist. Es
ist Sein Werk, und jede Seele ist Sein. Möchte Seine
Gesinnung gegen die Seinigen sich immer mehr in meinem
Herzen und in meiner Arbeit offenbaren! Er bewahre unö
alle vor Lauheit und Trägheit in den Dingen des Herrn!
D—, 72. September 7863.
.... Es geht mir gut, obschon ich verschiedene harte
Märsche hinter mir habe und seit vier Tagen immer erst
um t Uhr nachts ins Bett gekommen bin. Die Bibelstunden
werden von Gläubigen und Unbekehrten fleißig besucht.
Am Sonntag findet wieder eine größere Versammlung
auf dem hiesigen Rathause statt. Gestern mittag habe
ich auf einer Erzgrube (2 Stunden von hier) den Bergleuten,
die von 72—2 Uhr Ruhestunde hatten, das Evangelium
verkündigen dürfen. Bruder Jacques, der zwei
Tage hier war, durfte vorgestern mittag auf einer anderen
Grube dasselbe tun. An beiden Orten waren die Zuhörer
sehr aufmerksam und nahmen auch die verteilten Schriften
dankbar an. Gestern abend waren wir an einem Ort,
279
wo es viele Gläubige gibt, die aber Furcht vor unö haben.
Sie hatten am Tage vorher gehört, daß wir sie besuchen
wollten, und uns Nachricht geschickt, das nicht zu tun.
Diese Nachricht war aber nicht zu uns gelangt, und als
wir nun kamen, fanden wir doch sechzig bis siebzig aufmerksame
Zuhörer, die uns später sehr freundlich entließen.
Viele bezeugten ihre Liebe und Dankbarkeit durch
einen herzlichen Händedruck. Die Wahrheit von der Befreiung
deö Gläubigen und der Ankunft des Herrn vor den
Gerichten wird hier immer mehr angenommen, trotz eifrigen
Entgegenwirkens von verschiedenen Seiten. Der Herr
läßt sich durch nichts aufhalten, gelobt sei Sein Name!
Kragen aus dem Leserkreise
I. — Ist es nach den Gedanken Gottes, in demselben Gebet
zum Vater und zum Sohn zu beten? Ist es nicht nach den Gedanken
Gottes, wenn z. B. in einer Gebetstunde das einleitende
Lied die Herzen auf die Person Jesu hingelcnkt hat, ein Gebet an
den Vater zu richten? —
Es ist gut, nicht z u kritisch zu werden in der Beurteilung
dessen, was in der Versammlung geschieht. Das gilt ganz besonders
im Blick auf das Beten. Wenn man den Eindruck hat, daß der
Betende in Einfalt und Aufrichtigkeit betet, so sollte man seine Art
oder seine Ausdrücke nicht einer scharfen Kritik unterziehen.
Warum sollte es nicht möglich sein, in einem Gebet sich
an Gott, den Vater, und an den Herrn Jesus zu wenden? Selbstverständlich
darf das nicht so weit gehen, daß die angeredcte Person
fortwährend wechselt. So wird der Geist Gottes wohl niemals leiten.
Aber sollte Er uns nicht, um nur eins zu nennen, in einein und
demselben Gebet zunächst mit der Liebe des Vaters beschäftigen
können, die den Sohn gab, und dann mit der Liebe, die den Sohn
trieb, das Erlösungswerk auszuführen? Oder umgekehrt?
Die Hauptsache ist, daß Gottesfurcht unsere Herzen erfüllt und
uns beim Beten leitet. Auch im Vorschlägen von Liedern sollten
wir nicht zu eilig sein und achthaben auf die Leitung des Geistes; es
kann durch das Vorschlägen eines im Augenblick nicht paffenden
Liedes der gesegnete Verlauf einer Versammlung völlig gestört werden.
Aber wiederum darf man nicht sagen, daß nach einem Liede,Idas
280
auf die Person Jesu hingelenkt hat, niemals ein Gebet an den Vater
gerichtet werden dürfe, besonders in der Gebetstunde, wo wir uns ganz
naturgemäß gewöhnlich im Namen Jesu an den Vater wenden.
(Vergl. Joh. 15, 16; 16, 25-27.) Niemand kann da eine für alle
Fälle gültige Regel aufstellen. Man kommt sonst in Gefahr, aus
Furcht vor Menschlichem erst recht menschlich zu werden. Gott schenke
uns allen viel Einfalt, Demut und gegenseitige Tragsamkeit! Zugleich
aber auch Besonnenheit und geistliches Zartgefühl!
2. — Ist unter dem geschmückten Hause und den sieben bösen
Geistern in Luk. N, 24—26 die bekennende Christenheit zu verstehen,
oder das Judentum, oder ist das Gesagte persönlich auf-
zufaffen? -
Wir dürfen wohl annehmcn, daß in dec Geschichte eines
einzelnen Menschen sich etwas so Schreckliches vollziehen kann; aber
der Herr will Seinen Zuhörern ohne Frage bild- oder gleichnisartig
die Geschichte Israels vor Augen stellen. Darum lesen wir in
Matth. 12, 45 am Schluß der gleichen Mitteilung: „Also wird
es auch diesem böseit Geschlecht ergehen".
Was im Blick auf Israel unter dem unreinen Geist zu
verstehen ist, kann für einen aufmerksamen Schriftforscher kaum
fraglich sein. Es ist der Geist des Götzendienstes. Dieser Geist
hat in dem Volke vor der Wcgführung nach Babylon so gewirkt,
daß das Gericht hereinbrechen mußte. Nach der Rückkehr aus
der Gefangenschaft hat Israel nie wieder in der alten Weise den
Götzen gedient, ja, zur Zeit des Herrn war das Haus „leer, gekehrt
und geschmückt". Man ging regelmäßig zur Synagoge,
brachte im Tempel die vorgeschriebenen Opfer dar, feierte gewissenhaft
die Feste, war eifrig bemüht, andere zum Judentum zu bekehren
usw. usw. Äußerlich gab es also keinen Anstoß, kein Ärgernis.
Aber der unreine Geist wird zurückkehren, und zwar nicht wie früher
allein, sondern mit der vollen Mackt Satans, mit sieben
anderen Geistern, böser als er selbst.
Die Erfüllung dieses Wortes liegt noch in der Zukunft. Der
letzte Zustand Israels, am Ende der Tage, bevor Gott sich Seines
Volkes wieder annimmt, wird schrecklicher werden als je zuvor.
Der Becher ihrer Übertretungen wird überfließcn. — An die bekennende
Christenheit ist an dieser Stelle nicht zu denken.
Sie Braut, das VL><rib des Lammes
„Ist Israel die Braut des Lammes?" — Eine
eigentümliche Frage! wird mancher Leser denken. Sie
wäre Auch vor Jahren, nachdem man den Unterschied zwischen
Israel und der Kirche und den diesbezüglichen Ratschlüssen
und Wegen Gottes wieder kennen gelernt hatte,
kaum denkbar gewesen. Seitdem es aber dem Feinde
gelungen ist, den durch Gottes Gnade geklärten Blick mancher
Gläubigen bezüglich ihrer himmlischen Berufung und
ihrer Beziehungen zu dem verherrlichten Menschensohn droben
von neuem zu trüben, ist die Frage wieder aufgetaucht
und wird besprochen — zum Schaden für viele. Der
Wunsch nach einer möglichst einfachen, aber überzeugenden
Behandlung dieser Frage ist in letzter Zeit wiederholt
laut geworden. Im Aufblick zu Dem, der allein Weisheit
und Verständnis zu geben vermag, sei der Versuch
dazu gemacht. Es liegt in der Natur der Sache, daß dabei
manches längst Bekannte berührt werden muß.
Eö gibt zwei große Gegenstände in dem weiten Bereich
des göttlichen Zeugnisses: ein irdisches und ein himmlisches
Volk, oder die Juden und Gottes Absichten mit
ihnen als einer auserwählten, abgesonderten Nation, und
die Kirche oder Versammlung (Gemeinde) und Gottes Ratschluß
über sie „in Christo". Gott entfaltet Seine Herrlichkeit
im ersten Falle in irdischen, im zweiten in himm-
l.xxiv s
282
lischen Dingen. Liegt der Anfangs- oder Ausgangspunkt
dort in der Erschaffung von Himmel und Erde: „von
Grundlegung der Welt a n", so liegt er hier in der Ewigkeit:
„vor Grundlegung der Welt". Dementsprechend
führt uns das „Im Anfang schuf Gott Himmel und Erde"
des Alten Testaments (t. Mose t, t) zu dem Beginn alles
Sichtbaren, das „Im Anfang war das Wort" (Joh. 4, t)
des Neuen Testaments vor die Uranfänge der Erde,
in „die Tage der Ewigkei t". Das Alte berichtet uns
die Geschichte des ersten Adam, seinen Fall, seine Erprobung,
erst ohne, dann unter Gesetz, und schließlich sein und
seiner Rasse endgültiges Verderben; das Neue erzählt uns
von der Erscheinung des letzten Adam, des Fleisch gewordenen
Wortes, von Seinem Gehorsam bis in den Tod und
von Seiner Erhöhung zur Rechten Gottes als Haupt eines
neum Geschlechts.
Der geheimnisvolle Ratschluß Gottes im Blick auf
Christum und die Versammlung konnte unmöglich im Alten
Testament geoffenbart werden. Vor den Zeitaltern zu
unserer Herrlichkeit bestimmt, „in den Zeiten der Zeitalter
verschwiegen", blieb er den Geschlechtern der Menschen
verborgen, bis der Heilige Geist nach dem Tode und
der Verherrlichung Christi hemiederkam und die Apostel
und Prophetm des Neuen Testaments „in die Tiefen Gottes"
hineinschauen ließ. (t. Kor. 2; Röm. 46, 25. 26.)
Dem Apostel Paulus ist vor allen anderen „das Geheimnis
durch Offenbarung kundgetan worden" (Eph. 3, 4. 5),
und er hat es dann weitergegeben, „nicht in Worten, gelehrt
durch menschliche Weisheit, sondern in Worten, gelehrt
durch den Geist, mitteilend geistliche Dinge durch
geistliche Mittel". (4. Kor. 2, 43.)
28Z
Aber weil dieses Geheimnis dem Herzen Gottes so
überaus teuer war, hat es Ihm gefallen, es auch im Alten
Testament in Bildern und Schatten wieder und wieder
zur Darstellung kommen zu lassen, in Bildern, die das
erleuchtete geistliche Auge heute mit Bewunderung und Anbetung
betrachtet, und durch welche das Herz des Gläubigen
tiefe, wunderbare Belehrungen empfängt. Der Geist
Gottes, der im Alten Bunde nicht persönlich auf der Erde
weilte, aber damals wie heute die Tiefen Gottes erforschte
und durch Menschen und Geschehnisse redete, hat auf diesem
Wege dem Wohlgefallen Gottes mannigfaltigen Ausdruck
gegeben. So erblicken wir schon gleich in dem ersten
Menschen „ein Borbild des Zukünftigen". (Röm. S, 14.)
Aus der Seite des in tiefen Schlaf versunkenen Adam
(Bild des Todes Christi) nimmt Gott das Weib und stellt
es vor ihn als seine Gehilfin und Teilhaberin an dem Besitz
und der Beherrschung alles dessen, was Gott ihm gegeben
und unterstellt hatte. Geradeso ist die Versammlung
(Gemeinde) gleichsam aus dem gestorbenen Christus genommen,
„von Seinem Fleisch und von Seinen Gebeinen"
(Eph. 5, 30), und wird bald, in Herrlichkeit vor Ihn gestellt,
mit Ihm alles teilen, was Ihm von jeher gehörte,
was Er aber als Mensch auf Grund Seines Werkes von
Gott empfangen hat und deshalb ihr mitteilen kann. „Die
Herrlichkeit, die du mir gegeben hast, habe ich ihnen gegeben."
(Joh. 17, 22.) — Adam und Eva wurden auch
zusammen „Mensch" genannt, obwohl Eva in einem Sinne
Adam untergeordnet war und nach ihm geschaffen wurde,
geradeso wie Christus und die Versammlung in 1. Kor.
12,12 „d e r Christus" — eine geheimnisvolle Person —
genannt werden.
284
In dem Opfer Abels, der Entrückung Henochs, der
Erwählung Abrahams, der Opferung Isaaks, der Berufung
Rebekkas usw. usw. haben wir weitere, bekannte Bilder
oder Abschattungen neutestamentlicher Wahrheiten, aber sie
waren, gleich dm späteren gesetzlichen Einrichtungen, eben
doch nur „Schatten der zukünftigen Dinge", während „der
Körper Christi ist". (Kol. 2, 47.)
Christus ist nach vollendetem Werke hinaufgestiegen
in die Höhe. Aus dm Toten auferweckt durch die überschwengliche
Kraft Gottes, ist Er zur Rechten Gottes in
den himmlischen Ortern gesetzt worden über jedes Fürstentum
und jede Gewalt und Kraft und Herrschaft, und
Gott „hat alles Seinen Füßen unterworfen und Ihn als
Haupt über alles der Versammlung gegeben, welche Sein
Leib ist, die Fülle Dessen, der alles in allem erfüllt".
(Eph. 4, 4Y—23.) Und seitdem Er dort ist, vollzieht sich
die Sammlung der Glieder dieses Seines Leibes auö allen
Völkern der Erde vermittelst der Wirksamkeit des persönlich
herniedergekommenen Heiligen Geistes, des anderen
Sachwalters, der in dm also Gesammelten wohnt und
in Ewigkeit bei ihnen bleibt. (Joh. 44, 46. 47.) Von
dem Vater gesandt, holt Er, wie einst Elieser, für den
eingeborenen Sohn aus fernem Lande die Braut, für die
Christus al'es aufgegcbm hat, und weckt ihre Liebe und ihr
Verlangen nach Ihm dadurch, daß Er von Seiner Herrlichkeit
zeugt und von dem Seinen nimmt und ihr verkündigt.
(Joh. 46, 44; vergl. 4. Mose 24, 22. 53.) In Verbindung
damit lesm wir in Eph. 5, 34. 32 die wunderbaren
Worte: „Deswegen wird ein Mensch seinen Vater und
seine Mutter verlassen und seinem Weibe anhangen, und
die zwei werden ein Fleisch sein. Dieses Geheim
285
nis ist groß; ich aber sage es in bezug auf Christum
und auf die Versammlung."
Doch der Leser möchte ungeduldig einwenden: Alles
daö ist gut und schön; aber was hat eö mit unserer Frage
zu tun? Ich antworte mit dem Apostel in Röm. Z, 2:
„Viel, in jeder Hinsicht". Es zeigt uns zunächst, daß Gottes
Ratschluß, Seinem Sohne eine Braut, ein Weib zuzuführen,
von den Zeiten „vor Grundlegung der Welt"
her — also lang bevor Israel einen Platz in Gottes
Gedanken fand — bestanden hat, ferner, daß dieser Ratschluß
wohl in dem Vaterherzen verborgen blieb, bis der
Sohn Seine Herrlichkeit aufgab und Mensch wurde, daß
Gott aber, menschlich gesprochen, eö nicht über sich gewinnen
konnte, ganz davon zu schweigen. Menschen und Umstände
mußten, wie weiter oben bemerkt, dazu dienen, wurden
so gebildet und geleitet, daß sie immer wieder, wenn
auch schwache, so doch überaus liebliche Bilder von diesem
Ratschluß vor das Auge des Vaters hinstellten. Weiter lernen
wir, daß der ganze Plan Gottes bezüglich der Erwerbung
eines Weibes für Seinen Sohn mit der Menschwerdung
Christi in Verbindung steht, ja, diese zur
unerläßlichen Bedingung hat. Eö ist der Mensch gewordene
Sohn Gottes, für den die Braut gesucht wird. Er
selbst kommt und stirbt für sie, um sie aus ihrem elenden
Zustande zu befreien. Zn Seiner Liebe verkauft Er alles,
was Er hat, wird arm, gibt sich selbst für sie, um sie zu
heiligen und sie am Ende sich selbst verherrlicht darzustellen.
(Eph. 5, 25—27.)
Erst nach dem Tode und der Auferstehung des Herrn
konnte der Heilige Geist, wie bereits gesagt, hernieder
28b
kommen, um die Braut zu sammeln. Der verherrlichte
Menschensohn, der als solcher das Haupt bildet über alles,
was im Himmel und auf Erden ist, führt die Braut heim
ins Vaterhaus, wohin sie als Sein Weib gehört. Dort wird
die Hochzeit des „Lammes" gefeiert. Ihr, dem nunmehrigen
„Weibe des Lammes", wird gegeben, sich in „feine,
glänzendreine Leinwand" zu kleiden; die Gerechtigkeiten der
Heiligen, mit anderen Worten alles, was die Braut in
ihrer Wartezeit hienieden für ihren himmlischen Bräutigam
sein und tun durfte, bilden ihr Hochzeitskleid, ihren
Schmuck. Dann begleitet sie „den König der Könige und
Herrn der Herren" auf Seinem Siegeszuge, um mit Ihm
die Welt zu richten und über alles zu herrschen; und endlich,
nach Beendigung der tausendjährigen irdischen Segnung,
wenn das Gericht der Toten vollzogen ist und die
alte Schöpfung dem neuen Himmel und der neuen Erde
Platz gemacht hat, kommt sie aus dem Himmel hernieder
„wie eine für ihren Mann geschmückte Braut", d. h. in
derselben unvergänglichen Schönheit und Pracht, wie sie
Ihm einst bei ihrer Entrückung dargestellt wurde. Dann
wird Der, der auf dem Throne sitzt, sagen: „Siehe, ich
mache alles neu". Von Ewigkeit zu Ewigkeit wird Gott
in der Erfüllung Seines Ratschlusses ruhen und in Seiner
„Hütte" (die Versammlung behält allezeit diesen bevorzugten
Platz) bei Seinem „Volke", den Menschen der
neum Erde, wohnen. (Offbg. 1.Y, 6—21, 8.)
Daß die heilige Stadt, das neue Jerusalem, das in
Offbg. 2t, 2 „aus dem Himmel herniederkommt von
Gott", die Braut, das Weib des Lammes ist, wird im
y. und ro. Verse desselben Kapitels unzweideutig gesagt.
Eö darf unö nicht Wunder nehmen, daß sie unö unter die
287
sem Bilde gezeigt wird. Eine Stadt ist das Bild einer geordneten
Verwaltung und Regierung, und wir wissen, daß'
die Braut dazu berufen ist, dereinst mit ihrem Geliebten
zu herrschen, ja, sogar Welt und Engel zu richten.
(7. Kor. 6, 2. 3.) Schon in Hebr. 72, 22 lesen wir von
„der Stadt des lebendigen Gottes, dem himmlischen Jerusalem";
so auch in Offbg. 3, 72 von „dem neuen Jerusalem,
das aus dem Himmel herniederkommt von Gott",
und in Gal. 4, 26 von „dem Jerusalem droben, welches
unsere Mutter ist". Es liegt auf der Hand, daß diese Bezeichnungen
den irdischen, einst unter Israel bestehenden
Verhältnissen entnommen sind, zugleich aber auch, daß sie
völlig andere, dem Früheren entgegengesetzte Dinge
beschreiben sollen. Es ist daö Jerusalem droben, daö
neue oder himmlische Jerusalem, das an die Stelle
des irdischen tritt und im Tausendjährigen Reich zugleich
mit und über diesem besteht. (Vergl. Jes. 4, 5. 6.)
Iu der Braut, dem späteren Weibe des Lammes, gehören
nur wahre Gläubige, nur solche, die mit Christo in
Seinem Tode und Seiner Auferstehung einsgemacht worden
(verwachsen) sind, nur solche/ die, durch den Geist zu
einem Leibe getauft, als Glieder dem Leibe Christi em-
gefügt sind. Darum eiferte Paulus auch „mit Gottes
Eifer" für die Gläubigen in Korinth, da er sie „einem
Manne verlobt hatte, um sie als eine keusche Jungfrau
dem Christus darzustellen". (2. Kor. 77, 2.) Das Verhältnis,
von Gott selbst zwischen Christo, dem auferstandenen
Menschen, und den himmlischen Heiligen gebildet,
ist unlöslich. Es gründet sich nicht auf eine äußere Berufung,
sondern ist Gottes Werk in Christo Jesu.
------------------- (Schluß folgt.)
288
Unsere Aufgaben
lm Licht der Schöpfungstage
(r. Mose r.)
Wir sind auserwählt vor Grundlegung der Welt.
(Eph. 4.) Ehe Gott Himmel und Erde schuf, dachte Er
an uns und liebte uns. Sein ganzes, mächtiges Schaffen,
wie es uns im 4. Kapitel Seines heiligen Buches beschrieben
wird, ist deshalb auch schon ein Sorgen für uns. Es
ist gleichsam die Grundsteinlegung des großen Bauplanes
Gottes, der erste Schritt zur Verwirklichung Seiner „Ratschlüsse
von fern her".
Unter diesem Himmel, den Gott schuf, sollte der
Sohn Gottes leiden, und diese Erde trug Sein Kreuz! So
können wir sagen, daß schon das erste Blatt der Bibel
uns heute an die Opferfreudigkeit und den Gehorsam
Dessen erinnert, dessen Nachahmer wir sein sollen, und
der uns zuruft: „Folget mir nach!"
„Im Anfang schuf Gott die Himmel und die Erde."
(Vers 4.) Das war ein guter Anfang! Alles was Gott anfängt,
oder was mit Gott angefangen wird, kann ein guter
Anfang genannt werden. Deshalb sollte es stets unsere einzige
Sorge sein, mit Gott anzufangen, mit Gott auch alles
zu tun und zu Ende zu bringen. Ein solches Leben ist gesegnet
und segensreich.
Mit Gott fang an.
Mit Gott hör' auf.
Das ist der beste Lebenslauf.
Aber nicht nur Himmel und Erde mußte Gott
schaffen, nein, auch das Kleinste will Er in deinem Leben
wirken. Tag für Tag, Stunde für Stunde will Er tätig
28Y
sein für dich, ja, Tag für Tag m u ß Er tätig sein, wenn
anders etwas von göttlichem Werte geleistet werden soll.
Das ist ja die Größe Gottes, daß Er mit derselben Sorgfalt
und Weisheit das kleinste Werk besorgt wie das größte.
Und das ist die Torheit des Kindes, daß es dem Vater
immer wieder etwas aus der Hand nehmen, selbst groß
sein und handeln will. Wie Gott das Erste, Himmel und
Erde, geschaffen hat, so muß Er alles wirken bis zuletzt.
t. Tag.
Aber merken wir es uns, das erste Wort, das uns in
der Heiligen Schrift als aus Gotteö Munde kommend
berichtet wird, heißt: „Es werde Licht!" (V. 3.) Gott ist
Licht, und gar keine Finsternis ist in Ihm; aber „F in st e r-
n i s war über der Tiefe". So schuf Gott zuerst Licht.
Bringe auch Licht, göttliches Licht, in dein Denken,
Handeln, Leben! Versuche nicht, vor Gott etwas zu verbergen!
Gott haßt die Finsternis, ist ein Feind jedes lichtscheuen
Wesens.
Wir sind Kinder deö Lichts, und als solche berufen,
im Lichte zu wandeln. „Wenn jemand am Tage wandelt,
stößt er nicht an." (Joh. U, y.) „Dein Wort ist Leuchte
meinem Fuße und Licht für meinen Pfad." (Ps. rry, tos.)
„Alle Kinder Israel hatten Licht in ihren Wohnungen."
(2. Mose ro, 23.) Sei wahr, ehrlich, offen, aufrichtig,
so wird Gott dir's gelingen lassen. Bringe Ordnung in
alle deine Verhältnisse, Haus und Hof, Familie, Bücher
usw. Gott besieht alles!
„Und Gott sah das Licht, daß es gut war." (V. 4.)
Ja, Gott besieht alles. Er besieht Seine, aber auch
deine Werke, und alles soll nicht anders als „gut" sein.
290
Gut! Das ist das Zeugnis, das Gott auch über unser Wir­
ken ausstellen möchte. „W ohl, du guter und treuer
Knecht!" lesen wir in Matth. 25, 2k. Nur müssen wir da
auch stets fein säuberlich „scheiden zwischen Licht und Finsternis".
Wir können das, denn wir besitzen Sein Wort
als Licht und Leuchte, und wir haben den Heiligen Geist.
Als wir Söhne des Lichtes wurden, begann der erste Tag
eines neuen Lebens, und so geziemt es uns, auch „in
Neuheit des Lebens zu wandeln". (Röm. 6, 4.) Was
hat es für einen Zweck, die Begriffe zu verwischen, schwarz
weiß und weiß schwarz zu nennen? „Gott nannte das
Licht Tag, und die Finsternis nannte Er Nacht."
So ward aus Abend und Morgen der erste Tag der
Welt! Und nach denselben Grundsätzen wird sich unser
ganzes Leben abwickeln, wenn wir vor Seinen Augen wan­
deln.
2. T a g.
Ein Tag folgt dem anderen. Jeder Tag soll
aufs neue Gott verherrlichen. Ach, daß das
morgens unser erster Gedanke wäre, der uns den ganzen
Tag hindurch begleitete bis zum Abend! Aber soll das der
Fall sein, so müssen wir wieder auf Gottes Wort warten,
Ihn wirken und walten lassen. Er will das Tag für Tag
gern tun. Er will wieder sprechen, will fortsetzen, will
das Angefangene weiterführen, bis zur Vollendung!
Gott sprach (Vers 6), Gott machte (Vers 7),
Gott nannte. (Vers 8.) So sollte Gott gefunden werden
in unserem ganzen Leben. Überlassen wir doch alles
Ihm, dem Gott, der Welten schuf und dec den Sohn uns
gab! Wenn wir Gott „sprechen" und „machen" lassen
den ganzen Tag, wenn es s o Abend und Morgen wird, ein
— 244 —
weiterer Tag vorübergeht, dann sind wir ein gut Stück
vorwärtsgekommen. Das Herz bleibt glücklich, der Geist
frisch, und mit Friede und Mut im Innern sehen wir in
die dunkle und vor Gott doch lichtvolle Zukunft und erwarten
ohne Bangen und Sorgen den anderen Tag.
Z. T a g.
Es gibt viele und vielerlei Wasser unter dem Himmel.
Über unseren Herrn und Heiland sind alle Wogen
und Wellen hingegangen; die Tiefe rief der Tiefe beim
Brausen der Wassergüsse. (Ps. 42, 7.) Auch viele Tränen
werden auf Erden geweint, denn die Wasser sind unterhalb
des Himmels, der sich hoch oben über uns wölbt, der
Heimat des Christen. Einmal werden sie getrocknet werden.
Ja, es kommt die Zeit, wo Trauer und Schmerz,
Trennung und Unruhe nicht mehr sein werden. „Und ich
sah einen neuen Himmel und eine neue Erde; denn der
erste Himmel und die erste Erde waren vergangen, und
das Meer ist nicht mehr." (Offbg. 2t, 4.)
„Es werde sichtbar das Trockene!"
(Vers y.) Wunderbar ist Gottes Wirken für den Menschen.
Er vermag „große" Wasser auszutrocknen und
„stolze" Wasser zu beruhigen. Sicher, „Erwirb auch Wege
finden, wo dein Fuß gehen kann". Und stets wirst du sehen,
daß alles gut war. (Vers 40.)
Gott erwartet Frucht. Ium Fruchtbringen ist alles
geschaffen, ein jegliches nach seiner Art. Auch wir, du und
ich, sind gesetzt, auf daß wir Frucht bringen, immer mehr
Frucht, viel Frucht, bleibende Frucht (Joh. 45, 2.
4. 8. 46), dreißig-, sechzig-, hundertfältige Frucht (Mark.
4, 20) — jedes Kind Gottes nach seiner Art. Gott läßt
292
den Seinen ihre Eigenart, jeder von ihnen hervorgebrach-
tcn Frucht ihre eigene Farbe, ihre eigene Form, ihren eigenen
Duft, ihren eigenen Geschmack. Nur daß es immer
Seine Frucht sei, mannigfaltig und reich!
Da meinen manche Christen, wenn dieser Bruder oder
jene Schwester nicht genau das gleiche tue wie sie selbst,
oder eö nicht genau so mache wie sie, wenn sie vielmehr
die Dinge nach ihrer Art anfassen, daß diese Geschwister es
dann falsch machten. Aber seien wir vorsichtig in unserem
Urteil. Nirgend in der Schöpfung sehen wir Schablonen-
tum. Jedes Blatt unterscheidet sich von dem anderen. Da
gibt eö tausenderlei Farben und Formen, alle Arten von
Lauten, Abtönungen von Stimmen. Jedes wirkt, schafft,
tönt nach seiner Art. Ähnlich ist's im Geistlichen. Nur daß
jedes Herz gestimmt sei zu Gottes Ehre, und Gottes Geist
und Liebe sein Inneres durchglühe! Dann wird all daö
Verschiedene in wunderbarer Harmonie zusammenklingen
vor Gott, dem Herrn. Jedes Kind Gottes nach seiner Art
— jedes einzelne „nach dem Maße der Gabe des Christus".
So ward einst aus Abend und Morgen der dritte Tag.
Und seitdem bringt jeder Tag seine Frucht, und Gott sieht,
ob sie gut ist.
4. Tag.
„Und Gott sprach: Es werden Lichter an der Ausdehnung
des Himmels, um den Tag von der Nacht zu
scheiden." (Vers 44.)
Auch wir sollen scheiden zwischen Tag und
Nacht, sollen stets unserer himmlischen Bestimmung treu
sein. Wir sollen in der Nacht leuchten als himmlische Wesen
und als das Licht der Welt. (Matth. 5, 44; vergl.
Phil. 2, 45.)
2YZ
„Und es war als o."
Ist es auch bei uns also? Wie kennen alle den herrlichen
Spruch: „Der Pfad der Gerechten ist wie das glänzende
Morgenlicht, daö stets Heller leuchtet bis zur Tageshöhe".
(Spr. 4, 48.) Aber stimmt er im Blick auf uns?
Die beiden Lichter, welche Gott schuf, Sonne und
Mond, sollten zur Beherrschung des Tages und der Nacht
dienen. (Vers 4b.) Neben ihnen machte Er auch die
Sterne. — Auch wir sollen die Nacht beherrschen, wie
der Mond mit seinem milden Licht die Nacht durchleuchtet.
Das große Licht des Tages ist Christus, und Er ist es,
der die kleineren, Mond und Planeten, zu leuchten befähigt.
Auch da gibt es verschiedene Kräfte, Farben, Größen. So
bringt jeder Tag neue Aufgaben, neue Pflichten, für jeden
verschieden. Erfüllen wir sie, in Abhängigkeit von Ihm,
gleichmäßig treu, ruhig, selbstlos, neidlos?
5. Tag.
Leben, reichliches, sichtbares Leben tritt jetzt hervor,
in der Luft, im Wasser, in und auf der Erde. Wunder
über Wunder! Doch daö Wunderbarste von allem ist göttliches
Leben in der Seele eines Menschen.
Gott sprach (Vers 20), Gott schuf (Vers 24),
Gott segnete. (Vers 22.) Er schuf „groß und
klei n". Keines von all den unzähligen Wesen bestimmte
selbst seine Art, seine Größe, seine Gestalt. Gott bestimmte
alles, und alles war gut! Darum seien wir zufrieden und
dankbar! Nicht auf die Größe, Gestalt oder Kraft kommt
es an, nein, auf den Segen Gottes. Und wie gütig und
freundlich ist Gott, ja, „groß an Güte"! Selbst die Tiere
segnet Er. An Gottes Segen ist alles gelegen.
2S4
6. Tag.
Nachdem die Welten geschaffen waren, — „nicht als
eine Lde hat Er sie geschaffen, um bewohnt zu werden
hat Er sie gebildet" (Jes. 45, 48) — wird der Mensch
in die paradiesische Schöpfung eingeführt. Die ganze Gottheit
war bei seiner Erschaffung beteiligt: „Lasset uns
Menschen machen in unserem Bilde, nach unserem Gleichnis".
(Vers 26.) Und Gott schuf den Menschen in Seinem
Bilde, nach Seinem Gleichnis: Herr über alles, ein vernunftbegabtes
Wesen, rein und aufrichtig (Pred. 7, 2d),
Gott untertan. In einen herrlichen Garten setzte Er ihn,
eine Gehilfin gab Er ihm, Speise reichte Er ihm dar.
Und Er segnete Mann und Weib!
Sieh die rührende Sorgfalt und Zuneigung Gottes.
Wie hat Er seitdem die Kinder des ersten Menschenpaares
getragen, ihnen Geduld und Liebe erwiesen! Wie hat Er
inzwischen den Sohn gegeben und am Kreuze von Golgatha
für das gefallene Menschengeschlecht gerichtet! Da sind wir
in die Gemeinschaft des Vaters und des Sohnes eingeführt
worden in Glauben und Liebe, und unser Blick ist von der
Erde zur Heimat über den Sternen droben hingelenkt worden,
dorthin, wo der Sohn uns eine Stätte bereitet hat.
Und so viele Abende geworden und so viele Morgen
gekommen sind seit jenen ersten Schöpfungstagen, unser
freundlicher Gott, nunmehr unser Vater in Christo, ist stets
der Gleiche geblieben. Und bald wird auch der letzte Abend
vergehen, und ein ewiger Morgen wird anbrechen. Und
wenn wir dann in der Herrlichkeit droben zurückblicken
werden auf Gottes Handlungen und Wege in den vergangenen
Jahrtausenden und mit Jesu hineinwandern werden
in die Ewigkeiten, so wird von aller Lippen der Ruf er-
295
tönen: „Du bist würdig!" Alles anschauend, was
Gott gemacht hat, werden wir erkennen und jubelnd bekennen:
„Siehe, es ist sehr gut!" (Vers 3t.)
7. Tag.
„Und Gott ruhte am siebenten Tage von all Seinem
Werke, das Er gemacht hatte. Und Gott segnete den siebenten
Tag und heiligte ihn." (Kap. 2, 2. 3.)
Gott ruhte. Er konnte in Seinem Werk ruhen,
denn es war makellos, Ihm entsprechend. Leider währte
dieser herrliche Zustand nicht lang. Der erste Mensch fiel,
alles kam unter die Befleckung und die furchtbaren Folgen
der Sünde, und Gottes Ruhen in dieser Schöpfung war
dahin. Aber nicht umsonst hat Gott den siebenten Tag gesegnet
und geheiligt; „es bleibt noch eine Sabbath-
ruhe dem Volke Gottes aufbewahrt". (Hebr. 4, 9.) In
dem Tode und der Auferstehung deszweiten Menschen
hat Gott die Grundlagen zu einer neuen Schöpfung
gelegt, die ewiglich nicht wieder verdorben werden wird.
Nachdem das erlöste Israel, das irdische Volk Gottes,
zur Ruhe gebracht ist und eine tausendjährige Sabbathruhe
auf dieser Erde genossen hat, eine Ruhe und Freude, die
wir im Laubhüttenfest vorgebildet finden, wird der achte,
große Tag dieses Festes, der Tag der Ewigkeit, an-
brcchen, an welchem Gott wiederum ruhen wird in Seinen
vollendeten Werken, und bei Seinem himmlischen
Volke wohnen wird von Ewigkeit zu Ewigkeit. „Und der
auf dem Throne saß sprach: Siehe, ich mache alles
neu...Und Er sprach zu mir: Es ist geschehen."
„Laßt uns nun Fleiß anwenden, in jene
Ruhe einzugehen!"
296
Aufzeichnungen aus einer Betrachtung
über Epheser 3—4, r6
IV.
Wir kommen jetzt zu den Wirkungen des Geistes Gottes
inmitten der Versammlung, die aber hier als Gaben
betrachtet werden, welche der Herr, das Haupt des Leibes,
darreicht. Diese Gaben waren im Anfang von mancherlei
Art. Da gab es neben solchen, die zur Berufung
der Gläubigen aus der Welt und ihrer Auferbauung nötig
waren, auch andere, die zur Bestätigung und zur Zierde
des Zeugnisses dienen sollten: Wunderkräfte, Gaben der
Heilungen, Arten von Sprachen. (I. Kor. 12, 28.) Diese
sollten „aufhören", wenn ihr Zweck erreicht war; jene werden
„weggetan werden", wenn der Herr kommt, die Seinen
wegnimmt und dann nur noch ein lebloser, bekennender
Körper zurückbleibt. (Vergl. 1. Kor. 1Z, 8.)
Zu den Gaben, die „aufhören" oder nicht bleiben
sollten, gehören auch die Apostel und Propheten des Neuen
Testaments. Ihr Dienst ist vollendet. Nach Kap. 2, 20
bilden sie die „Grundlage" des Hauses Gottes, (dessen
„Eckstein" Christus ist), auf welcher der ganze Bau aufgeführt
wird. Welch eine Torheit ist es daher, wenn man
heute noch Apostel und Propheten erwartet, sie gar durch
vermeintliche Weissagung usw. ernennen will! Es ist gerade
so, als wenn man auf das Dach eines nahezu vollendeten
Hauses ein neues Fundament legen wollte. Die „zur Vollendung
der Heiligen, für das Werk des Dienstes und zur
Auferbauung deö Leibes Christi" notwendigen Gaben:
Evangelisten, Hirten und Lehrer, werden bleiben bis zur
Wiederkunft des Herrn.
297
Wir dürfen an dieser Stelle nicht an die zwölf Apostel
denken, die der Herr während Seines Dienstes hienieden
berief, wenngleich sie, Judas ausgenommen, später zu
ihnen gehört haben mögen, sondern es handelt sich um
Apostel und Propheten, die der Herr nach Seiner Verherrlichung
droben gab.
„Jedem einzelnen von uns ist die Gnade gegeben
worden nach dem Maße der Gabe des Christus." (V. 7.)
Wie nach 7. Kor. 72, 77 der Heilige Geist einem
jeden auöteilt, wie Er will, und nach Vers 78 Gott die
einzelnen Glieder des Leibes so gesetzt hat, wie es Ihm gefällt,
ist hier derHerr der Austeilende. E r bestimmt das
Maß der Gabe. Der Mensch ist in jedem Falle völlig ausgeschlossen.
Die im nächsten Verse aus Ps. 68 angeführte Stelle
zeigt uns den wunderbaren Weg, auf welchem die Austeilung
dieser Gaben ermöglicht worden ist. Wir alle lagen
hoffnungslos verloren in den Banden der Sünde und deö
Satan. Da trat Christus auf den Schauplatz. Der Sohn
des Menschen unternahm den Kampf mit dem Fürsten der
Finsternis und siegte ob. Doch wie war der Sieg möglich?
Nur indem Er in die unteren Teile der Erde, ins Grab,
Hinabstieg (V. 9) und durch den Tod den zunichte machte,
der die Macht deö Todes hat. Es ist schon wiederholt vergleichsweise
an den Kampf Davids mit Goliath erinnert
worden. Durch das Kreuz hat unser David einen Triumph
gehalten über die Fürstentümer und Gewalten, unter
die wir geknechtet waren, dort hat Er sie „ausgezogen", d. h.
ihres ganzen furchtbaren Rüstzeugs beraubt (Kol. 2, 75),
und, als Sieger aus Tod und Grab hervorkommend.
2Y8
hat Er „die Gefangenschaft", d. h. das was uns gefangen
hielt, „gefangen geführt und den Menschen Gaben gegeben".
(V. 8.) Er konnte das, wie gesagt, nur tun, indem
Er alle Folgen unseres Falles auf sich nahm und Gott im
Blick auf die Sünde vollkommen verherrlichte.
Nur auf diesem Wege, d. i. also auf gerechter Grundlage,
konnten Leben und Unverweslichkeit ans Licht gebracht
werden. Der Fürst des Lebens mußte wirklich und
wahrhaftig sterben, Sein Leib mußte in die Gruft gelegt
werden. Welch ein Weg für Ihn vom Throne Gottes herab
bis an die Stätte der Verwesung! Er betrat diese Stätte,
stieg bis zu ihr hinab, ohneaber, beachten wir eö wohl,
dieVerwesungzusehen!Er war das Heilige, der
Sohn Gottes. Zugleich war es Gott Seiner Herrlichkeit
schuldig, Den, der Ihn verherrlicht hatte, wiederum zu
verherrlichen. Er ist auferweckt worden „durch die Herrlichkeit
des Vaters". (Röm. 6, 4.) Anderseits konnte nur
der Mensch Christus Jesus die Sache des Menschen
übernehmen und zu einem siegreichen Ende führen. Als
der verherrlichte Mensch, das Haupt der neuen Schöpfung,
hat Er, hinaufgestiegen in die Höhe, sich gesetzt zur
Rechten der Majestät droben. Als solcher — „im Menschen",
wie es in Ps. 68, 48 heißt — hat Er nun Gaben
von Gott empfangen und sie den Menschen gegeben.
(V. 8.)
Satans Macht ist überwunden, die Ketten sind gesprengt,
und die aus seiner Macht Befreiten können Hin-
gehen und die Kunde von dem Siege ihres mächtigen Herrn
überall hintragen. „Gaben", nicht irdische Segnungen,
sondern geistliche Gaben sind ihnen als Zeichen Seines
Sieges geschenkt. Im 4. Kapitel hörten wir von geistlichen
299
Segnungen, hier von geistlichen Gaben. Da gibt eö „Evangelisten",
die auö dem Reiche Satans die Gebundenen
herausholen. Einst selbst Sklaven der Sünde, Knechte Satans,
treten sie jetzt ihrem einstigen Gebieter furchtlos entgegen
und rauben ihm seine Beute. Da sind „Hirten und
Lehrer", die die Befreiten stärken und trösten, ermahnen
und lehren und sie durch die Welt, deren Gott und Fürst
Satan ist, hindurchzuleiten suchen bis hin zu der Herrlichkeit,
die ihr Befreier für sie erworben hat. Diese zur Vollendung
der Heiligen notwendigen Gaben werden, wie schon
bemerkt, der Versammlung (Gemeinde) erhalten bleiben
bis ans Ende.
Beachten wir auch, daß der Herr diese Gaben nicht
nur für eine bestimmte Anzahl der Seinigen, für gewisse
Kreise oder besonders Bevorzugte gegeben hat; nein, sie
sind für den ganzen Leib bestimmt, nicht an Ort oder
örtliche Gemeinde gebunden, sondern „jedem einzelnen"
nach dem Maße der Gabe deö Hauptes gegeben, damit sie
allen Heiligen zugute kommen und allenzur Auferbauung
und Vollendung dienen. Wie furchtbar sind doch demgegenüber
die Folgen des Verfalls! In welch einer Beleuchtung
erscheinen uns da all die Hecken und Zäune, die
der Mensch ausgerichtet hat, und durch welche die Ausübung
der Gaben auf so traurige Weise unterbunden, ja,
vielfach ganz unmöglich gemacht ist! Überall in den verschiedenen
Körperschaften zerstreut, sind sie in ihrer Wirksamkeit
gehindert, nicht selten völlig lahmgelegt. Ach, wie
ist es Satan gelungen, durch die Entzweiung der Herzen
und die daraus hervorgehende Zersplitterung großen
Scharen von Gläubigen den Segen zu rauben, der ihnen
zufließen würde, wenn die Einheit des Geistes bewahrt
— Zoo —
worden wäre in dem Bande des Friedens! Fürwahr, diese
Erkenntnis sollte uns tief in den Staub beugen und uns
anspornen, wenigstens unserseits alles Hinwegzutun,
was da hindernd und schadend in den Weg getreten ist.
In Hebr. 4, 44 lesen wir, daß der Herr „d urch die
Himmel gegangen", in Kap. 7, 26, daß Er „höher als
die Himmel geworden", hier, daß Er „in die Höhe hinaufgestiegen
ist — über alle Himmel". In den Briefen
des Apostels Paulus begegnen wir immer wieder der daö
Christentum so bedeutsam kennzeichnenden Wahrheit, daß
jetzt ein Mensch im Himmel ist, ein Mensch, der Gott
vollkommen verherrlicht und als Sieger über Tod und
Satan Seinen Platz zur Rechten Gottes eingenommen hat.
Derselbe, der freiwillig aus der Herrlichkeit herniederkam
und bis dahin hinabsiieg, wohin die Sünde den Menschen
gebracht hatte, ist, nachdem Er „durch Gottes Gnade für
alles den Tod geschmeckt hat", nun hinaufgestiegen über
alle Himmel, „auf daß Er alles erfüllte". Wohin wir
blicken, ob unser Auge hinabdringt bis in die unteren Teile
der Erde, oder hinauf bis über alle Himmel — überall
erblicken wir Christum. Seine Person erfüllt alles.
Der erste Mensch fiel unter die Gewalt Satans, mit
ihm die Erde, die Gott den Menschenkindern gegeben hatte
(vergl. Ps. 445, 4b), ja, die ganze Schöpfung. Der zweite
Mensch hat Satan diese Gewalt wieder entrissen, und die
Zeit ist nicht mehr fern, wo „selbst die Schöpfung freigemacht
werden wird von der Knechtschaft des Verderbnisses
zu der Freiheit der Herrlichkeit der Kinder Gottes". (Röm.
8, 24.) Viele, — einst verlorene, geknechtete Menschenkinder
befinden sich, bereits freigemacht, aus dem Wege zum
— ZVI —
Himmel, wo der zweite Mensch Seinen Platz eingenommen
und ihnen eine Stätte bereitet hat. Durch die Vermittlung
der Gaben sollen sie alle immer mehr hinwachsen
zu der Einheit des Glaubens und zur Erkenntnis des Sohnes
Gottes, zu dem Maße des vollen Wuchses der Fülle
des Christus.
Ob dieses Ziel jemals erreicht wird, ist nicht die Frage,
aber ihm sollen wir nachstreben, nichts Geringeres wird
lins vor Augen gestellt.
Iemehr wir uns praktisch diesem Bilde des „erwachsenen
Mannes" nähern, desto weniger werden wir durch
die listigen und bösen Lehren betrügerischer Menschen umhergetrieben
werden, sondern imstande sein, mit Verständnis
die Wahrheit festzuhalten in Liebe. Und so wie jedem
einzelnen die Gnade gegeben worden ist nach dem Maße
der Gabe des Christus, so soll auch jeder einzelne Teil des
Leibes nach seinem Maße mittätig sein zum Wohle deö
Ganzen. (V. 12—16.) Alles geht von dem Haupte aus,
von Christo, aber jedes Glied, auch das kleinste und unscheinbarste,
ist berufen, an der Selbstauferbauung deö
Leibes in Liebe beizutragen. Da ist keinö überflüssig, keinö
kann entbehrt werden. Neben den vorhin genannten besonderen
Gaben gibt es auch „Bande" und „Gelenke der Darreichung",
die zur Jusammenfügung und Verbindung des
Ganzen dienen. (Vergl. Kol. 2, 14.)
In einer Maschine sind neben Rädern, Zylindern,
Kolben usw. auch Verbindungsteile, Gelenke, ferner Teile,
die den besonderen Reibungsstellen das nötige Ol zufüh-
ren. Das Fehlen eines einzigen Schräubchens kann unter
Umständen die ganze Maschine zum Stillstand bringen.
Ähnlich ist es hier. In seiner wunderbaren Beschreibung
Z02
des Leibes Christi in 1.. Kor. 12 sagt uns der Apostel, daß
die Glieder, die schwächer zu sein scheinen, notwendig
sind, und daß Gott den mangelhafteren sogar reichlichere
Ehre gegeben hat. (V. 22 ff.)
Welch ein tiefernstes Gefühl der Verantwortlichkeit
würde es erwecken, wenn in jedem Gläubigen das Bewußtsein
lebte: Ich bin ein Glied des ganzen Leibes, schwach
und mangelhaft vielleicht, aber an meinem Platz notwendig
zur Selbstauferbauung des Leibes in Liebe; und wie mit
mir, so ist es mit meinem Bruder und mit meiner Schwester.
Denn Mann und Weib kommen hier nicht in Betracht.
Sind Dienst und Tätigkeit beider naturgemäß auch ganz
verschieden, so sollen doch beide „nach ihrem Maße"
wirksam sein. Und wahrlich, die Felder der Tätigkeit
sind mannigfaltig genug. Denken wir nur an Gebet, Fürbitte,
gegenseitige Ermunterung, Ermahnung, Tröstung,
Unterweisung usw. Wie oft kann da auch eine Schwester
ein „Tröpflein Al" zugießen, wenn nur das Herz in Liebe
und Teilnahme für daö Ganze wie für jeden einzelnen Teil
schlägt. Möchten wir uns deshalb alle mehr fragen, wo
Gott uns unser Plätzchen angewiesen hat, und wie wir
uns bemühen sollten! Tun wir das wirklich, so werden
wir weder „uns selbst gefallen", noch den Dienst des anderen
übersehen. Das „Ich bedarf deiner nicht" (1. Kor.
12, 21) wird ebenso wenig gehört werden, wie eine Überschätzung
der eigenen Wichtigkeit sich lähmend auf unser
Tun legen.
Wie schlimm und verhängnisvoll ist es, wenn Geschwister
statt dessen gleichgültig nebeneinander hergehen,
nicht liebend aufeinander achthaben, vielleicht gar einander
grollen und feind sind!
— Z0Z —
Ernst ist es anderseits auch, wenn Brüder meinen,
sie müßten am Worte dienen, obwohl die Versammlung
keine Erbauung empfängt. Obwohl die Korinther „in
allem reich gemacht worden waren, in allem Wort und
aller Erkenntnis", und „in keiner Gnadengabe Mangel
hatten", mußten sic doch alle auf die Leitung des Geistes
achten und einander unterwürfig sein in der Furcht Christi.
Alles mußte „zur Erbauung" geschehen. Sprach einer, und
einen: anderen, der dasaß, wurde eine Offenbarung, so
mußte der erste schweigen. Er konnte nicht sagen: „Ja,
aber...". Gott ist ein Gott der Ordnung und deö Friedens,
und Christus ist die Quelle von allem, (t. Kor. 42.)
Der Ausgangspunkt alles Dienstes sollte die Liebe sein,
die nie an sich selbst denkt oder sich selbst sucht, sondern
nur für das Wohl deö anderen besorgt ist. (l. Kor. tZ.)
Der Herr gibt, wie wir sahen, etliche als Evangelisten
und etliche als Hirten und Lehrer. Nicht daß ein Bruder
nicht verschiedene Gaben haben könnte, aber meist wird
doch die eine oder andere besonders ausgeprägt sein, und
jeder sollte wissen, was der Herr ihm anvertraut hat, und
in Einfalt und Demut seine Gabe auszuüben suchen, vordem
Angesicht seines Herrn, ohne Neid, Eifersüchtelei oder
Nachahmungssucht. Jeder Kriecht ist verantwortlich für
das, was er hat, nicht für das, was er nicht hat.
Wie gern und freundlich knüpft der Herr auch an das
an, was vorhanden ist, so gering es erscheinen mag! Die
Witwe in 2. Kön. 4 „hatte gar nichts im Hause als nur
einen Krug Ol"; der Diener des Propheten am Ende desselben
Kapitels fragt im Blick auf die geringen Vorräte
an Brot und Korn: „Wie soll ich dieses hundert Männern
Z04
vorsetzen?" und die Jünger, hinschauend auf die fünf
Brote und zwei Fische und auf die Tausende von Menschen
um sie her, rufen zweifelnd: „Was ist das unter so
viele?" Aber in jedem Falle segnete der Herr das Wenige.
„Man aß und ließ übrig." Dieselben Erfahrungen werden
wir heute machen, wenn wir nicht auf Menschen und ihre
Gaben, sondern im Glauben auf den Herrn blicken. Das
Werkzeug kann nur in der Hand des Meisters seinen
Dienst in der rechten Weise tun.
Sehr wichtig ist in dieser Beziehung auch die Fürbitte.
Selbst der große Apostel fordert am Schluß unseres
Briefes die gläubigen Epheser auf, für ihn zu flehen, „daß
ihm Rede verliehen werde im Auftun seines Mundes, um
mit Freimütigkeit kundzutun das Geheimnis des Evangeliums".
(Kap. 6, 49; vergl. Röm. 45, 30; 2. Kor. 4, 44;
Kol. 4, 3; 4. Thess. 5, 25 u. a. St.) Brüder und Schwestern
sollten stets betend hinter den dienenden Brüdern
stehen. Wir hörten schon von dem Gebet als einem wesentlichen
Mittel zur Förderung des Wachstums des Leibes.
Sicher würde mehr Segen auf uns alle Herabfließen, mehr
„Darreichung" erfahren werden, wenn „jeder einzelne
Teil" in dieser Hinsicht „wirksamer" wäre. Alle diese
stillen, verborgenen Tätigkeiten sind so nötig für den Leib,
wie die Gelenke und Bande für die Glieder. Gott vermehre
sie in unserer Mitte!
Unser Herr kennt alle unsere Bedürfnisse. Selbst die Haare
unseres Hauptes sind gezählt. Und in welcher Weisheit handelt
Er mit uns! Wir wandeln nicht nach einer toten Regel, sondern
durch einen lebendigen Herrn. Manchmal gibt Er uns Überfluß,
manchmal sind wir bedürftig. Er belehrt uns, in allen Umständen
zufrieden zu sein, damit wir wissen, „sowohl erniedrigt zu sein
als Überfluß zu haben, sowohl satt zu sein als zu hungern".
305
Aus alten Briefen
G—, 22. Mai r86Z.
.... Gestern bin ich hier in G. angekommen. Ich
habe fünf Stunden auf einem Bollerwagen (wie man im
Wuppertal sagt) zugebracht, und da es fast den ganzen
Tag regnete und recht kalt war, bin ich heute stark erkältet
und infolge dessen wohl etwas schwermütig. Ich wohne
hier in einem großen Saale, doch ist das Bett nicht ganz
so groß wie ich bin, und ein alter Glaöschrank, der mir
zugleich als Schreibpult dient, ist mein Spiegel. Die Geschwister
aber sind recht herzlich und tun, was sie können.
Es haben hier in der letzten Zeit mehrere Seelen Frieden
gefunden, und in einigen anderen hat der Herr Sein
Werk. Das ist gewiß sehr erfreulich, aber leider gibt es
in der Versammlung manche Schlaffheit. Man kommt
der vielen Arbeit wegen nur des Sonntags zusammen,
und wenn das Herz die ganze Woche mit irdischen Dingen
beschäftigt gewesen ist, so ist es naturgemäß am Tage
des Herrn träge. Mein Wirken hier ist von ganz besonderer
Art. Ich bete viel, und wir kommen auch an den Wochenabenden
zum Gebet zusammen. Gott muß wirken; das
ist, was hier not tut. Ihr habt also keine Ursache, Euch
eine große Vorstellung von meinem Wirken hier zu
machen; doch tut Ihr wohl, viel für das Werk hier zum
Herrn zu flehen.
Ich sagte schon in meinem vorigen Briefe, daß es
gut wäre, wenn der Herr hier einen oder mehrere Arbeiter
erwecken möchte. Die gelegentlichen Besuche genügen nicht.
Mein Herz, das zuweilen recht traurig war über das, was
ich hörte und sah, ist doch auch wieder glücklich und ge-
— ZOb —
tröst in Dem, der die Liebe ist. Er bleibt immer derselbe,
und wenn das Herz in Ihm ruht, so hat es nichts zu
fürchten. Gibt es auch vieles im Werke des Herrn oder in
der Familie, was niederdrücken will, das Bewußtsein der
Gnade und Liebe Gottes hält mich aufrecht. Der treue
Herr, der bis hierher geholfen hat, wird auch weiter helfen,
sodaß uns am Ende nichts anderes übrigbleiben wird, alö
mit glücklichem Herzen Seine Wege zu bewundern und
Seinen Namen zu preisen. Er übt uns im Ausharren und
im Erkennen Seiner Wege und wartet mit Seiner Hilfe
oft, bis gar keine Stützen mehr da sind, und wir keinen
Ausweg mehr sehen. Er will, daß unser Vertrauen allein
auf Ihn sich stütze. Das Feuer ist es, worin unser Glaube
geläutert und bewährt wird. Deshalb sei gutes Mutes und
laß Dein Ausharren, wie Jakobus sagt, ein vollkommenes
Werk haben! „Nicht mehr lange wird eö währen,
und die Nacht ist ganz vorbei." Im himmlischen Kanaan
wird ewige Ruhe, ewige Freude, ewiger Lobgesang unser
Teil sein. Wenn unser himmlischer Josua uns durch den
Jordan des Todes geführt, ja, trockenen Fußes hindurchgeführt
haben wird, wenn das Sterbliche vom Leben verschlungen
worden ist, dann werden wir uns ewiglich mit
Ihm in Seiner Herrlichkeit freuen. Der Herr sei mit Dir!
S—, 24. Februar 4864.
.... Laß unö nicht müde werden, für unsere Kinder
zum Herrn zu flehen! Unser Vertrauen darf nie auf
dem ruhen, was wir an den Kindern sehen, sondern auf
dec Liebe und Gnade unseres Gottes und Heilandes. Er
übt uns dabei in der Geduld, und Geduld ist eine köstliche
Frucht deö Geistes, die zu erlernen der Mühe wert ist. Zu
307
gleich läßt Er uns fühlen, wieviel Geduld Er mit uns
hatte und noch hat. Was auch die Wege unseres Gottes
und Vaters mit uns sein mögen, am Ende aller Seiner
Wege werden wir ausrufen müssen: „Du hast alles
wohlgemacht, weit über Bitten und Verstehen'."
Welch einen guten Herrn wir haben, der alles weiß
lind unö immer nahe ist, daö habe ich heute in aller Frühe
schon erfahren. Gegen 2 Uhr bekam ich heftige Rückenschmerzen,
die bis 6 Uhr fortwährend zunahmen. DaS
wollte mir anfänglich schlecht gefallen, da ich heute morgen
mehrere Briefe schreiben wollte, wozu ich in den nächsten
Tagen keine Gelegenheit hatte, und auch für heute
abend schon eine Versammlung in G. angesagt war. Nun
hätte ich gern jemand gehabt, der mir Tücher gewärmt
und Watte besorgt hätte; aber ich war auf meinem Dachstübchen
ganz allein, konnte auch nicht aufstehen, um jemand
zu rufen. Da blieb mir denn niemand als Jesus
allein, zu dem ich mich wandte; und siehe da, alsbald
nahmen die Schmerzen ab, und jetzt sitze ich am Schreibtisch!
Fürwahr, Er ist ein guter und treuer Herr! Er ruft
uns immer zu: „Sei gutes Mutes!" Das gilt auch Dir.
Unsere Reife ist bis jetzt gut und, ich denke, nicht
ohne Segen verlaufen. Die vielen Fußmärsche haben
meine Glieder steif gemacht. Zweimal mußten wir an
einem Tage sieben Stunden wandern bei sehr schlüpfrigem
Wege über Berg und Tal, da das eingetretene Tauwetter
die obere Bodenschicht erweicht hatte. Abends war ich gewöhnlich
so steif, daß Bruder Sch. mir die Strümpfe auö-
und anziehen mußte, und dann mußten wir noch immer
bis 72 Uhr nachts mit den Brüdern verkehren. Aber das
Bewußtsein, im Dienst des Herrn zu sein, und der Genuß
Z08
Seiner Liebe macht alles leicht. Es ist mir eine Freude, ja,
eine große Freude, die Herzen meiner Brüder erquicken
und in der Gnade Gottes befestigen zu dürfen.
Kragen aus dem Leserkreise
r. — Weshalb fürchtete Kain, erschlagen zu werden, und worin
bestand das Zeichen?
Ein böses Gewissen macht einen Menschen zu einem Feigling,
der sich vor einem raschelnden Blatt fürchtet. Auch war Kain
sich bewußt, daß seine Mordtat eine solche Bestrafung verdiente.
Aber wo waren die Menschen zu ihrer Ausführung? Man darf
nicht vergessen, daß Kain und Abel gereifte Männer waren, als
sic ihre Opfer darbrachten, und daß ihre Eltern außer ihnen gewiß
noch manche Kinder besessen haben werden. Überhaupt mehrte sich
die Zahl der Menschen rasch. Neben den wenigen, die mit Namen
genannt werden, um die Geschlechtsregister durchzufllhren, wurden
viele Söhne und Töchter geboren. (Vergl. Kap. Z, 4. 7. 10 usw.)
Aus ihnen konnte also, wenn Gott es zuließ, wohl ein Rächer
Abels aufstehen. —
„Jehova machte an Kain ein Zeichen, auf daß ihn nicht erschlüge,
wer irgend ihn fände." Damit müssen wir uns bescheiden.
Wenn es Gott nicht gefallen hat, uns Näheres mitzuteilen, so wäre
es nutzlos, Mutmaßungen aufstellcn zu wollen.
2. — Was will Lamech damit sagen, daß sein Blut sieben-
undsiebenzigfältig gerächt werden würde? (1. Mose 4, 24.)
Diese Stelle wird verschieden ausgelegt. Lamech war offenbar
ein eigenwilliger, leidenschaftlicher Mann. Er war der erste, soweit
uns berichtet wird, der zwei Weiber nahm, und er selbst rühmt
sich, für jede ihm beigebrachte Wunde oder Strieme blutige Rache
genommen zu haben. Nun ist die am meisten verbreitete Meinung
die, daß er auch im 24. Verse seiner hochmütigen Gesinnung Ausdruck
gebe und eine ihm angetane Vergeltung noch elfmal höher
einschätze, als Gott in dem Falle Kains.
Nach der anderen Auslegung liegt in Lamechs Worten: „Einen
Mann erschlug ich für meine Wunde und einen Jüngling für meine
Strieme", nicht eine Ruhmredigkeit, sondern ein Bekenntnis
oder doch eine bedauernde Anerkennung seines Tuns, und in
Übereinstimmung damit sieht man dann in dem Inhalt des 24.
Verses ein Rechnen Lamechs »auf Gottes gnadenvolle Bewahrung
und ernste Bestrafung dessen, der Vergeltung an ihm üben würde.
Sie Braut, das V>elv des Lammes
ii.
Auf welch einen völlig anderen Boden treten wir,
wenn wir uns jetzt zu Israel wenden!
An die Stelle von Ewigkeit und Himmel treten Zeit
und Erde. Israel war das von Gott auserwählte irdische
Volk, eine Nation, die als solche durch
Bündnisse und Verheißungen sowie durch äußere Mittel:
das Blut des Passahlammes, die Beschneidung, das Gesetz,
den Dienst usw., von allen anderen Völkern der
Erde abgesondert war — ein Volk, das, wiederum als
s o l ch e s, zu I eh o va, seinem Bundesgott, in Beziehung
stand und auch am Ende der Tage wieder in Beziehung
stehen wird. Die innere geistliche Verbindung, die zwischen
den wahren Gläubigen in der Mitte Israels und Gott
bestand, hatte nichts mit dieser allgemeinen äußeren Beziehung
zu tun. Jehova betrachtete Sein Volk, ob gläubig
oder nicht gläubig, als Sein „Weib", das unter Ihm
war und Ihm Gehorsam und Anerkennung Seiner Rechte
als „Mann" schuldete. Wandte es sich von Ihm ab zu
anderen „Männern", d. h. zu den Götzen der übrigen
Völker, so wurde es eine „Ehebrecherin". Es trieb
„Hurerei" in geistlichem Sinne. Daß diese Sünde auch
in ihrer buchstäblichen Bedeutung in der Mitte des Volkes
im Schwange war und im Laufe der Zeit furchtbare Formen
annahm, ist bekannt, kommt aber hier nicht in Betracht.
— 310 —
Israel war also als Volk das „Weib Jehovas".
Wird Israel denn niemals „Braut" genannt? Doch.
Als das Volk Ägypten verlassen, das Rote Meer durchschritten
hatte und nun als das Eigentumsvolk Jehovas
durch die Wüste zog, da betrachtete Jehova es als Seine
„Braut", das will sagen, es war noch nicht voll und ganz
in das neue Verhältnis zu seinem Gott eingeführt. Im
Blick auf diese Zeit lesen wir in Jer. 2, 2. 3: „So spricht
Jehova: Ich gedenke dir die Zuneigung deiner Jugend,
die Liebe deines Brautstandes, dein Wandeln hinter
mir her in der Wüste, im unbesäten Lande. Israel war
heilig dem Jehova, der Erstling Seines Ertrags." *) Herrliche,
gnadenreiche Worte! Aber ach! gleich nachher muß
Gott klagend ausrufen: „Was haben eure Väter Unrechtes
an mir gefunden, daß sie sich von mir entfernt haben
und der Nichtigkeit (d. h. den nichtigen Götzen) nachgegangen
sind? . . . Hat irgend eine Nation die Götzen vertauscht?
und doch sind sie nicht Götter; aber mein Volk
hat seine Herrlichkeit vertauscht gegen das was nichts nützt.
Entsetzet euch darüber, ihr Himmel, und schaudert, starret
sehr! spricht Jehova." Und im nächsten Kapitel: „Für-
wahr, wie ein Weib ihren Freund treulos verläßt, so habt
ihr treulos gegen mich gehandelt, Haus Israel, spricht Jehova".
(Kap. 2, 5. rr. t2; z, 20.)
*) Auch in den Evangelien wird auf das bräutliche Verhältnis
angespielt. Johannes der Täufer sagt: „Der die Braut hat,
ist der Bräutigam; der Freund des Bräutigams aber, der da steht
und ihn hört, ist hoch erfreut über die Stimme des Bräutigams".
(Joh. 3, 29.) Aber in dieser Stelle, wie auch in den anderen, wo
Jesus von den „Söhnen des Brautgemachs" redet (Matth. 9, 4S;
Mark. 2, 49; Luk. S, 34), handelt es sich wohl nur um ein liebliches
Bild, ein Gleichnis; und selbst wenn man dasselbe weiter
ausführen wollte, würde man doch wiederum nur den Jehova-
Messias und Sein irdisches Volk darin finden können.
Immer und immer wieder reden die Propheten in
ähnlicher Weise, indem sie Juda oder Israel, oder beide,
oder auch Jerusalem eine Hure, ein ehebrecherisches Weib
nennen, das ihrem Manne (Jehova) die Treue gebrochen
hat und darum von Ihm ihr gerechtes Urteil empfängt:
Entlassung und Überantwortung in die grausamen Hände
ihrer Buhlen. (Vergl. Jes. 50, 1; Hes. 16; 23; Hos. 2,
2—5; 3, 1.) Zugleich aber verkünden sie auch in ergreifender
Weise die reuevolle Umkehr des Volkes „am Ende
der Tage" zu seinem „ersten Mann", nachdem es „Zwiespältiges
für alle seine Sünden empfangen hat" (Jes. 40,2),
und Jehova sich ihm in Erbarmen wieder zuwendet. In der
Zwischenzeit befindet sich Israel im „Witwenstand", sie
ist eine Vereinsamte, Unfruchtbare, gleicht einem verstoßenen
Weibe usw. Im Zorneserguß hat Jehova Sein Volk
für einen kleinen Augenblick verlassen. Aber auch verstoßen?
„Das sei ferne!" ruft Paulus in Röm. 11, 1
aus. Nein, der Schilderung der Verwerfung des Messias
in Jes. 53 und Seiner Leiden um der Sünden Seines
Volkes willen folgen sofort im nächsten Kapitel die wunderbaren
Worte: „Jubele, du Unfruchtbare, die nicht geboren,
brich in Jubel aus und jauchze, die keine Wehen
gehabt hat! denn der Kinder der Vereinsamten sind mehr
als der Kinder der Vermählten, spricht Jehova... Fürchte
dich nicht, denn du wirst nicht beschämt werden..., sondern
du wirst... der Schande deiner Witwenschast nicht mehr gedenken.
Denn der dich gemacht hat ist dein Mann, —
Jehova der Heerscharen ist Sein Name — und
der Heilige Israels ist dein Erlöser: Er wird der Gott
der ganzen Erde genannt werden. Denn wie ein verlassenes
und im Geiste betrübtes Weib ruft dich Jehova, und wie
312
em Weib der Jugend, wenn sie verstoßen ist, spricht dein
Gott." (Lies Jes. 54, 1—10.)
Noch viele andere, ähnliche Stellen könnten angeführt
werden, vor allem Hos. 2, 14—23, aber sie alle
zeigen auf den ersten Blick den gewaltigen Unterschied zwischen
dem Verhältnis des Volkes Israel als Braut oder
Weib zu Jehova, seinem Gott, und dem gegenwärtigen
bräutlichen Verhältnis der Gläubigen zu Christo, dem
verherrlichten Menschensohn zur Rechten Gottes, oder dem
späteren als „Weib des Lammes". Es ist schwer zu
verstehen, wie es überhaupt möglich ist, beide miteinander
zu verwechseln und zu der Frage zu kommen, ob etwa Israel
die Braut des Lammes sei; umsomehr als es sich ausnahmslos
in dem einen Falle um irdische Verhältnisse
und Segnungen (vergl. u. a. Hos. 2, 21—23), in dem
anderen um himmlische handelt. Zugleich ist der von
Israel zu seiner Befreiung Erwartete nicht etwa der erhöhte
Menschensohn, von welchem der Heilige Geist gegenwärtig
zeugt, — die Juden, auch selbst der Überrest
zur Zeit der Endgerichte, kennen Ihn so ja gar nicht, glauben
nicht so an Ihn, sondern sie erwarten Jehova
auf dem Pfade Seiner Gerichte. (Jes. 26, 8; vergl. Kap.
25, y; Mich. 7, 7—10.) Ein Rufen, wie es in Offbg.
22, 17 gemeinsam von dem Geist und der Braut ertönt,
kann gar nicht auf Israel angewandt werden aus dem
einfachen Grunde, weil zur Zeit des Endes, wenn dieser
Ruf aus dem Munde des jüdischen Überrestes ertönen
könnte, der Geist gar nicht mehr auf der Erde ist.
Nachdem Er die himmlische Braut dem Bräutigam entgegengeführt
hat, wird er nach Joel 2, 28 ff. erst wieder
ausgegossen werden, nachdem die große Drangsals-
— 313 —
zeit vorüber ist und Gott sich Seines Volkes wieder angenommen
hat. Wie könnte also, von allem anderen abgesehen,
der Geist m it den Gläubigen aus Israel gemeinsam
rufen: „Komm!"?
Viele Male begegnen wir auch in den prophetischen
Büchern dem Ausdruck „an jenem Tage". Es ist der
Tag, von dem „nur der Vater weiß", wie der Herr
Jesus in Mark. 13, 32 sagt, den Gott festgesetzt hat
zur Ausführung Seiner Gerichte an den Völkern der Erde
und Seiner Gnadenabsichten mit Israel. Mit ihm stehen
Zahlen, „Zeiten und Zeitpunkte" (Apstgsch. 1, 7; 1. Thess.
5, 1. 2) in Verbindung, werden in dem Buche Daniel
und in der Offenbarung Jahrwochen, Jahre, Monate und
Tage genannt. Der Braut des Lammes wird dagegen nur
vom Herrn gesagt: „Ich komme bald!" Sie erwartet
die Erfüllung ihrer Hoffnung täglich, stündlich, und wenn
diese dann plötzlich eintritt, so ist tiefe Befriedigung und
frohlockende Freude ihr Teil, wie es für eine Braut bei
der Rückkehr des so lang abwesend gewesenen Bräutigams
natürlich ist.
Aber „jener Tag"? Er kommt nicht nur wie ein
Dieb in der Nacht, als ein plötzliches Verderben über die
sich sicher wähnenden Völker, sondern er bringt auch
schmerzliche Reue, bitterliches Klagen und Jammern über
den Überrest Israels. Wohl wird die Erscheinung deö Erretters
sie aus der Gewalt ihrer Feinde für immer befreien
und „ewige Freude" über ihr Haupt bringen
(Jes. 35, 10), aber zunächst werden sie sehen, daß der
zu ihrem Heil Kommende Der ist, den sie verworfen und
ans Kreuz geschlagen haben. (Vergl. Sach. 12, 10—14.)
Der Freude geht tiefes, bitteres Leid voraus. Wie ganz
— 344 —
anders ist es, wie gesagt, mit der Braut! Wäre wohl anzunehmen,
daß sie jemals fragen könnte: „Was sind das
für Wunden in deinen Händen?" Nein, wir singen mit
Recht: „Er ist's! frohlockt dann jeder Mun d".
Wir werden in seliger, unvermischter Freude Ihm begegnen,
den wir schon so lang gekannt, geliebt und erwartet
haben, und „werden Ihm gleich sein, denn wir werden
Ihn sehen, wie Er ist", (4. Joh. 3, 2.)
Noch eins: wenn in Hos. 2, 46 gesagt wird, daß „an
jenem Tage" Jehova von Israel wieder „Mein Mann"
genannt werden wird, und Er sich Seinem Volke verloben
wird in Ewigkeit, in Gerechtigkeit und Gericht und
in Güte, Barmherzigkeit und Treue, so endet das Ganze
mit den Worten: „Und du wirst Jehova erkennen", und:
„Und ich will zu Lo-Ammi sagen: Du bist mein Volk,
und es wird sagen: Mein Gott". Immer wieder begegnen
wir dem tiefgehenden, grundsätzlichen Unterschied
zwischen Israel und der Kirche, zwischen dem nach langer
Entlassung wieder angenommenen Weibe Jehovas und
der Braut Christi, dem Weibe des L a m m e ö.
Wenn dieser Unterschied allgemein erkannt und festgehalten
würde, so würde wohl auch niemand daran denken,
das Buch der Offenbarung, wie es zuweilen geschieht,
ein Buch für Israel oder gar ein „jüdisches Buch" zu
nennen. Das Gegenteil ist der Fall. Wenn wir auch in
der Offenbarung die Kirche nicht in der Weise dargestellt
finden wie in den Schriften des Apostels Paulus, in
ihrem vertrauten Verhältnis zu Christo als Haupt, noch
auch den innigen Beziehungen begegnen, die zwischen Gott,
dem Vater, und Seinen Kindern bestehen, ist doch das
ZIS
ganze Buch nicht nur eine unmittelbare Mitteilung an die
„Versammlungen" (Kap. t, tt; 22, ttz), sondern enthält
auch neben überaus ernsten und kostbaren Belehrungen
für die Kirche in ihrer Verantwortlichkeit hienieden eine
prophetische Darstellung ihrer Geschichte bis ans Ende.
Die Offenbarung ist ein Buch der Gerichte, der richterlichen
Wege Gottes, und zwar zunächst mit der bekennenden
Kirch e als einem auf dieser Erde errichteten System,
wo sie verantwortlich ist, das Zeugnis Gottes aufrecht zu
halten, und dann mit der Welt. Dementsprechend ist
auch der Charakter, in welchem Christus sich im Anfang
des Buches offenbart, durchaus irdisch: Er ist der treue
Zeuge, der Erstgeborene der Toten und der Fürst der Könige
der Erde. Von dem, waö Er jetzt im Himmel ist, ist
gar keine Rede. Auch werden „Engel" als Vermittler der
Botschaften Gotteö, Vollstrecker Seiner Befehle usw. eingeführt,
wie bei den Wegen Gottes mit dieser Erde im
Alten Testament, und wir begegnen vielen Bildern, die
unö aus jener Zeit wohlbekannt sind. Die Frage, warum
die Heimholung der Braut nur in geheimnisvoller Weise
erwähnt wird, findet ihre Beantwortung wieder in dem
Umstand, daß das ganze Buch ein Zeugnis Gotteö über
die Erde und ihre Bewohner ist, in welchem die Entrückung
der Kirche in den Himmel eben keinen Platz hat. Im 4.
und 5. Kapitel erscheinen die himmlischen Heiligen im
Himmel, und im Anfang des 2t. Kapitels erblicken wir
das Volk Gottes, die Menschen der neuen Erde, um die
„Hütte Gotteö" geschart, aber in beiden Fällen wird uns
nicht gesagt, wie sie dahin gekommen sind.
Selbstverständlich gedenkt Gott allezeit Seines irdischen
Volkes und Seiner Beziehungen zu ihm (Kap. tt,
— 316 —
1—13. 1Y) und bewahrt einen Überrest durch die Gerichte
hindurch (Kap. 7, 1—8; 14, 1—5), aber das läuft nur
nebenher, ist nicht der eigentliche Gegenstand des Buches.
Indes mag es gut sein, noch einiger Einzelheiten zu
gedenken. Im 21. Kapitel von Vers d—27 wird uns,
wie wir schon sahen, die Braut, das Weib des Lammes,
unter dem Bilde einer Stadt, des neuen oder himmlischen
Jerusalem, gezeigt. Daß wir dabei nicht an eine Stadt im
buchstäblichen Sinne denken dürfen, geht schon daraus hervor,
daß sie zwölftausend Stadien lang und breit und
h o ch ist, also einen gewaltigen Würfel bildet. Von einer
solchen „Stadt" können wir unö gar keine Vorstellung
machen. Alles ist symbolisch in dieser Beschreibung:
die Zahlen und Maße, die Perlentore, die Mauern von
Jaspis, die Straße von reinem Golde wie durchsichtiges
Glas, die Grundlagen usw., und alles ist vollkommen.
Einen Tempel enthält sie nicht, Gott selbst ist ihr Tempel
und das Lamm — wieder ein Beweis, daß an Israel hier
gar nicht zu denken ist.
Aber, wendet man ein, auf die Tore der Stadt sind
die Namen der zwölf Stämme Israels geschrieben. Ja,
zunächst wohl aus dem einfachen Grunde, weil das Heil,
wie der Herr Jesus selbst sagt, aus den Juden ist. Zugleich
aber deuten diese Namen an, daß das neue Jerusalem,
wie wir schon sahen, am Ende der Tage in Beziehung
stehen wird zu dem wiederhergestellten Israel. Auf den
Grundlagen der Stadt stehen aber die Namen der
zwölf Apostel des Lammes, mit denen Israel als Volk gar
nichts zu tun hat, während wir in Eph. 2, 20 lesen, daß
die Apostel und Propheten des Neuen Testaments die
Grundlage der Behausung Gottes bilden.
— Z17 —
Im Id. Kapitel wird uns die Hochzeit des Lammes
beschrieben, zu welcher Sein Weib sich bereitet hat. Die
beiden vorhergehenden Kapitel schildern in erschreckenden,
aber deutlichen Bildern die furchtbaren Endgerichte,
die über die „Mutter der Huren", die untreue Kirche,
das geistliche Babylon, kommen, woraufhin der ganze
Himmel in Jubel auöbricht: „Halleluja! das Heil und die
Herrlichkeit und die Macht unseres Gottes! denn wahrhaftig
und gerecht sind Seine Gerichte; denn Er hat „die
große Hure" gerichtet, welche die Erde mit ihrer Hurerei
verderbte usw." (Kap. 1.9, 1.—s.) Mit einem zweiten
Halleluja, daö wie mächtiges Donnerrollen durch die Himmel
hallt, und der Aufforderung: „Laßt uns fröhlich sein
und frohlocken und Ihm Ehre geben!" wird dann die Hochzeit
des Lammes angekündigt. Seine Braut, Sein Weib,
war längst bei Ihm, aber jetzt erst, nachdem ihr entsetzliches
Zerrbild auf der Erde gerichtet und entfernt ist, wird sie
in die vollen Rechte ihrer Stellung eingeführt.
Wie gewaltig und ergreifend, aber auch wie einfach
und folgerichtig ist das alles! Man muß dem Worte geradezu
Gewalt antun, wenn man an dieser Stelle Israel
einführen will. Und so ist es immer wieder in diesem
Buche, mit Ausnahme der wenigen Israel betreffenden
Abschnitte, die wir bereits andeuteten.
Ganz besonders unverständlich aber ist es, wenn man
Kap. 22, 17 mit dem Volke Israel in Verbindung bringen
will. Wir machten schon weiter oben darauf aufmerksam.
Nachdem unser geliebter Herr sich im vorhergehenden
Verse als die Wurzel und das Ges ch lecht Davids
(Gott und Mensch in einer Person) und als der
glänzende Morgenstern angekündigt hat, lesen
348
wir: „Und der Geist und die Braut sagen: Komm! Und
wer eö hört, spreche: Komm! Und wen da dürstet, der
komme; wer da will, nehme das Wasser des Lebens umsonst."
Alles atmet hier Frieden, Liebe und Gnade, wie
es bei der Stellung und Erwartung der himmlischen Braut,
der Kirche Christi, auch nicht anders erwartet werden kann.
Welch ein anderer Geist aber weht uns entgegen,
sobald von der Hoffnung Israels am Ende der Tage die
Rede ist! Durch wen und wann wird für den Überrest
Israels Rettung kommen? Durch den „Gott der Rach e",
der Vergeltung gibt Seinen Feinden und die Blutschulden
Jerusalems hinwegfegt durch den Geist des Gerichts
und des Vertilgens. Erst wenn das geschehen ist, werden
die in Zion llbriggebliebenen und in Jerusalem
llbriggelassenen, alle, die „zum Leben eingeschrieben
sind in Jerusalem", dem Herrn heilig heißen. (Jes.
4,2—4.) Es ist schon oft auf den Unterschied hingewiesen
worden, der auch in dieser Beziehung besteht zwischen dem
Kommen des Herrn zur Einholung Seiner himmlischen
Braut und Seiner Erscheinung zur Befreiung Seines irdischen
Volkes. Während im ersten Falle alle, die zur Braut
gehören, entrückt, hinweggenommen werden und die Ungläubigen
zurückbleiben, um dem kommenden Zorn zu begegnen,
werden im zweiten Falle gerade umgekehrt die Ungläubigen
im Gericht hinweggerafst und die Gläubigen
auf dieser Erde zurückgelassen werden, um in die Segnungen
deö Reiches einzugehen. Die llb r i g b l e ib e n d e n
sind also im letzten Falle die Gesegneten. Es wird gerade
so sein wie in den Tagen Noahs oder Lots: die Gottlosen
werden genommen, die Gerechten gelassen. (Vergl.
Luk. 47, 26—35.)
— 349 —
Auch im ZS. Kapitel deö Propheten Jesaja, das uns
in farbenreichen Bildern die Herrlichkeit des Tausend­
jährigen Reiches schildert, werden die, welche unter dem
Druck der letzten Drangsale zaghaften Herzens geworden
sind, ausgefordert, die schlaffen Hände zu stärken und
die wankenden Kniee zu befestigen, und dann mit den Worten
getröstet: „Seid stark, fürchtet euch nicht! Siehe, euer
Gott kommt, Rache kommt, die Vergeltung
Gottes! Er selbst kommt und wird euch retten."
(V. 3.4.) Und im 64. Kapitel desselben Propheten ruft der
Überrest: „O daß du die Himmel zerrissest, herniederführest,
daß vor deinem Angesicht die Berge erbebten, wie
Feuer Reisig entzündet, Feuer die Wasser wallen macht
... indem du furchtbare Taten vollziehst, die wir nicht erwarteten!"
Und in Psalm 94,4. 2: „Gott der Rache,
Jehova, Gott der Rache, strahle hervor! Erhebe dich, R i ch-
ter der Erde, vergilt den Hoffärtigen ihr Tun!"
(Vergl. Jes. 59, 47—24; Ps. 80 u. a. St.)
Größere Gegensätze, als sie bestehen zwischen der Entrückung
der Braut, der Erscheinung des „glänzenden Morgensterns",
und der Erlösung Israels, dem Aufgehen der
„Sonne der Gerechtigkeit mit Heilung in ihren Flügeln"
(Mal. 4, 2), könnte es also gar nicht geben. Charakteristischerweise
beschließt deshalb auch das eine das Alte Testament,
die andere das Neue, und während die Ers ch e i-
nungdesHerrnvon gewaltigen Naturereignissen und
Gerichten eingeleitet und begleitet ist, und Engel das Reich
des kommenden Königs von allen Ärgernissen reinigen
(Matth. 43, 44), vollzieht sich Seine Wiederkunft
zur Abholung Seiner Braut, die durch die Auferstehung der
„Toten in Christo", der „durch Jesum Entschlafe
320
nen" und die Verwandlung der dann auf Erden noch lebenden
Gläubigen eingeleitet wird, ganz in der Stille, ohne
alle auffallenden äußeren Erscheinungen, genau so wie seinerzeit
Seine eigene Auferstehung und Entrückung in den
Himmel. Und während in dem letzten Falle die Aussicht,
„allezeit bei dem Herrn zu sein", da wo Er jetzt ist, der
Braut zur höchsten Ermunterung dienen soll (4. Thess.
4, 43—48), wird in dem ersten die Regierung eines „Königs"
in Gerechtigkeit und Frieden verheißen, und wenn
dieser König dann herrschen wird „von Meer zu Meer
rind vom Strome bis an die Enden der Erde", wird „Fülle
von Frieden sein, bis der Mond nicht mehr ist".
Die „Königin" (Jerusalem), nicht die Braut, wird
zur Rechten des „Königs" stehen in „Gold von Ophir",
und irdischer Glanz, zeitliche Segnungen werden ihr
verheißen, eine Herrschaft, solang die Sonne besteht.
(Vergl. Jes. 32; Ps. 45, y; 72, 7; 8d, 3b. 37.)
Gott erhalte unser Auge einfältig und unser Herz
nüchtern und gebe uns, allezeit „das Wort der Wahrheit
recht zu teilen", damit wir vor allem Jrregehen bewahrt
bleiben!
„Ich wM"
Ich will. — Wie ist dieses Wort uns allen so gut
bekannt! Wie früh schon kommt es über die Lippen des
jungen Menschenkindes, Kunde gebend von seiner verderbten
Natur, von seinem eigenwilligen Sinn! Vermag auch
der Mund die sprachlichen Laute nur erst stammelnd hervorzubringen,
für dieses Wort findet er gar bald die nötige
Geschicklichkeit. Und was will der Mensch nicht alles!
321
So kennzeichnend aber das „Ich will" für die Gesinnung
und die Wege des ersten Menschen ist, so selten
begegnen wir ihm in der Geschichte deö zweiten. Der Wille
deö zweiten Menschen war zu allen Zeiten und Gelegenheiten
vollkommen gut, konnte ja nicht anders sein; trotzdem
stand Sein ganzes Leben und Wirken unter dem Wort:
„Ich suche nicht meinen Willen, sondern den Willen
Dessen, der mich gesandt hat". (Joh. 5, 30.) Schon als
zwölfjähriger Knabe konnte Er Seine Eltern fragen:
„Wußtet ihr nicht, daß ich in dem sein muß, was meines
Vaters ist?" und dann gleich darauf mit ihnen nach
Nazareth zurückkehren, um ihnen untertan zu sein. (Luk.
2, 4d—51.) Er konnte sagen: „Der mich gesandt hat ist
mit mir; Er hat mich nicht allein gelassen, weilichalle-
zeitdas Ihm Wohlgefällige tu e". (Joh. 8,2d.)
In der Ausführung dieses wohlgefälligen Willens Gottes,
der unsere Errettung bezweckte, war Ihm der verderbteste,
tiefst gefallene Mensch nicht zu schlecht. Willig und liebevoll
nahm Er alle auf, die der Vater Ihm in den Weg sandte.
Für die große Sünderin hatte Er Worte des Trostes und
selbst der Rechtfertigung dem selbstgerechten Pharisäer
gegenüber. Mit dem Weibe am Jakobsbrunnen redete Er
geduldig so lang, bis ihr Gewissen erreicht war und sie
Ihn als den Christus erkannte; und dang wollte Er nicht
essen, weil Er eine Speise genossen hatte, die Seine Jünger
nicht kannten. Von einer Maria Magdalene trieb Er
sieben Dämonen aus, und einem Räuber am Kreuz öffnete
Er Sein liebendes, vergebendes Herz. Um alle Gerechtigkeit
zu erfüllen, hatte Er sich von Johannes taufen lassen,
obwohl es nach dm Worten des Täufers umgekehrt hätte
sein sollm usw. usw.
Z22
Den höchsten Beweis von der Unterwürfigkeit Seines
Willens Unter den Willen des Vaters gab der vollkommene
Diener aber im Garten Gethsemane, als Satan Ihm den
Kelch vor Augen stellte, den Er am Kreuze trinken mußte,
wenn anders der Wille Gottes in der Heiligung unreiner
Sünder zur Ausführung kommen sollte. (Vergl. Hebr.
1.0, 9. 10.) Es scheint zwar ein Widerspruch darin zu liegen,
daß Er im Anfang Seines Weges sagt: „Siehe, ich
komme, um deinen Willen zu tun", und am Ende: „Abba
Vater, alles ist dir möglich; nimm diesen Kelch von mir
weg; doch nicht was ich will, sondern was du willst".
(Mark. 14, 3b.) Aber in Wirklichkeit ist es nicht so. Unser
hochgelobter Herr war gekommen, um den Willen des Vaters
zu tun, und täglich war es Seine Lust und Speise,
ihn auszuführen; aber wenn dieser Wille nur geschehen
konnte, indem Er selbst, zur Sünde gemacht, in die Nacht
des Verlassenseins von Gott geführt wurde, so schreckte
alles, was in Ihm war, davor zurück. In Seiner heiligen
Seele konnte der Gedanke an den tiefen Schlamm, in den
Er versinken mußte (Ps. by, 2), an die Wogen und Wellen,
die über Ihn hingehen würden (Ps. 42,7), nur Schreiben
und heiliges Widerstreben Hervorrufen. Wie hätte Er
wollen können, von Gott verlassen zu werden, dessen
Gegenwart und Gemeinschaft Sein Leben, Sein Alles war?
Nichts zeigt uns so die vollkommene Menschheit unseres
Herrn, wie gerade die Szene in Gethsemane. Obwohl
Er wußte, daß es keine Möglichkeit gab, auf einem
anderen Wege den Willen deö Vaters zu erfüllen, als
durch den Kreuzestod, fleht Er doch: „Abba, Vater, alles
ist dir möglich; nimm diesen Kelch von mir weg!"
Er bringt als der abhängige, gehorsame Mensch die ver
323
zehrende Not Seiner Seele vor den Vater, dessen zärtliche
Liebe Er kennt, und dann fügt Er in vollkommener
Ergebenheit hinzu: „Doch nicht was i ch will, sondern was
d u willst". Er nimmt, wenn gar kein anderer Ausweg
gefunden werden kann, den bitteren Kelch aus der Hand
des Vaters. „Den Kelch, den mir der Vater gegeben
hat, soll ich den nicht trinken?" (Joh. 1,8, 11.)
So war unser Jesus. Umso auffallender ist es, Ihn
zweimal Seinen Willen in ausgeprägter Weise zum Ausdruck
bringen zu hören. Selbstverständlich stand er auch
dann in vollkommener Übereinstimmung mit dem Willen
des Vaters, aber doch begegnen wir einem bestimmten:
„I ch wil l". Den meisten Lesern werden die beiden Fälle
wohl schon bekannt sein. Der eine liegt in der ersten Hälfte,
der andere ganz am Ende des Dienstes des Herrn. Das
eine „Ich will" richtet sich an einen Menschen, das andere
an den Vater. Das eine gilt für diese Jeit, das andere für
die Ewigkeit.
„Als Er aber von dem Berge herabgestiegen war,
folgte Ihm eine große Volksmenge. Und siehe, ein Aussätziger
kam herzu und warf sich vor Ihm nieder und
sprach: Herr, wenn du willst, kannst du mich reinigen.
Und Er streckte Seine Hand aus, rührte ihn an und sprach:
Ich will; sei gereinigt! Und alsbald wurde sein Aussatz
gereinigt." (Matth. 8, 1—3.)
In Mark. 1, 40—45, wo unö dieselbe Geschichte
erzählt wird, lesen wir: „Jesus aber, innerlich bewegt,
streckte die Hand aus, rührte ihn an usw." Und der
Evangelist Lukas berichtet uns, daß der Mensch „voll Aussatz"
war. (Luk. 5, 12.) Der Aussatz, unheilbar und verunreinigend
wie er war, ist ein bekanntes Bild der Sünde
Z24
in ihren verheerenden und verunreinigenden Wirkungen.
Zur Zeit deö Herrn gab es viele Aussätzige in Israel.
Dieser hier war ein treffendes Bild von dem Zustand des
ganzen Volkes vor Gott: „er war voll Aussatz" — „daö
ganze Haupt krank, das ganze Herz siech, von der Fußsohle,
bis zum Haupte nichts Gesundes an ihm". (Jes.
t, 6.) Auf dem Berge hatte der Herr die heiligen Grundsätze
des Reiches der Himmel entwickelt; herabsteigend begegnet
Er dem armen, unreinen Menschen. Welche Gegensätze!
Würde der Reine, Heilige, der große König Seines
Reiches, sich nicht voll Abscheu von dem Jammerbilde
vor Ihm abwenden? Nein, „innerlich bewegt" schaut Er
auf den vor Ihm Knieenden nieder. „Herr!" so tönt es
Ihm entgegen, du vermagst alles; wenn du willst,
kannst du mich reinigen! Bei einer anderen Gelegenheit
sagt der Herr zu einem Manne, der Sein Können mit
den Worten in Frage stellte: „Wenn du etwas kannst,
so erbarme dich unser und hilf uns" —: Das „wenn
du kannst", ist, wenn du glauben kannst". (Mark.
9, 22. 23.) Dem Bittenden fehlte eö an Glauben; in
dem vorliegenden Falle aber war Glaube vorhanden: daß
Jesus helfen konnte, stand für den Aussätzigen völlig
fest, er wußte nur nicht, ob Er sich wirklich einem so
Elenden, wie er war, zuwenden wollte. Er zweifelte
daran, ob die Liebe und Gnade des Herrn für ihn
ausreichen möchten.
O Israel, wenn du es auch so gemacht hättest wie
dieser arme Unreine aus deiner Mitte! Wie würden dir
Heilung und Frieden zugeslossen sein wie ein Strom! Aber
ach! du hast an deinem Tage, den Gott dir gegeben, nicht
erkannt, was zu deinem Frieden diente. Selbst wenn der
Z25
Geheilte sich dem Priester, der ihn ja genau kannte, zeigte
und die vorgeschriebenen Opfer darbrachte, dir zum Zeugnis,
daß Jehova, dein Arzt, in deinen Grenzen weilte, hast
du es nicht beachtet, sondern dein Herz verhärtet!
Einer solchen Berufung auf Seine Bereitwilligkeit,
zu helfen, konnte der Herr unmöglich widerstehen. Entsprach
sie doch so völlig Seinem Herzen der Liebe und
den Absichten Seines Kommens! „Ich will; sei gereinigt!"
kommt es als unmittelbare Antwort über Seine
Lippen, und alsbald wich der Aussatz von dem Kranken,
und er war gereinigt.
Wie kostbar ist doch dieses „Ich will!" unseres gnadenreichen
Herrn! Eö stellt sich lieblich und ernst neben
die Frage an den Kranken am Teiche Bethesda: „Willst
du gesund werden?" Ja, an Seinem Willen, zu helfen,
zu reinigen, zu retten, kann niemand mehr zweifeln.
Sein Herz ist innerlich bewegt. Der Ärmste, Kränkste,
Elendeste und Unreinste ist Ihm willkommen, heute wie
damals. „Jesus Christus ist derselbe gestern und heute
und in Ewigkeit." (Hebr. rz, 8.) Aber, mein Leser, willst
du? Diese Frage richtet sich, wenn auch in verschiedenem
Sinne, an alle Menschen, bekehrt oder unbekehrt. Aber
des Herrn Liebeöwille begegnet selbst bei den Seinigen oft
einer zögernden Annahme, zuweilen selbst bestimmter Zurückweisung.
Wir kommen jetzt zu dem zweiten „Ich will" unseres
Herrn. Richtet sich das erste an einen noch nicht Gereinigten,
das zweite hat Gereinigte zu seinem Gegenstand.
Die Jünger waren schon rein um des Wortes willen, das
Jesus zu ihnen geredet hatte. So sagt Er selbst zu ihnen,
nachdem Judas Jskariot von ihnen „hinausgegangen"
326
war. (Joh. 15, 3.) Für sie tritt Er gleich nachher bittend
ein, übergibt sie der Liebe und bewahrenden Sorge des
Vaters, gibt ihnen die Herrlichkeit, die der Vater Ihm
auf Grund Seines vollbrachten Werkes gegeben hat, und
sagt dann: „Vater, ich will, daß die, welche du mir
gegeben hast, auch bei mir seien, wo i ch bin, auf daß sie
meine Herrlichkeit schauen". (Joh. 17, 24.)
Wie würdig reiht sich dieses zweite „Ich will" dem
ersten an, es herrlich vollendend! Die Gereinigten sollen
nicht nur Seinen Liebeswillen kennen im Blick auf ihre
Bedürftigkeit, ihre Armut und Unreinigkeit, sondern auch
in bezug auf Ihn selbst und Seine Herrlichkeit. Seine
Liebe ist nicht damit befriedigt, sie aus ihrem finsteren Elend
heraus in die strahlende Herrlichkeit droben einzuführen,
nein, sie sollen Seine persönliche Herrlichkeit schauen,
sollen Ihn kennen als Den, den „der Vater vor Grundlegung
der Welt geliebt hat". Dieser Liebe kann nichts
Geringeres genügen, als daß die um den Preis Seines
Lebens Erkauften Ihn auch ganz besitzen, ganz kennen,
bei Ihm weilend von Ewigkeit zu Ewigkeit. Dazu hat der
Vater sie Ihm ja auch aus der Welt gegeben! So steht
Sein Wille, wie eö nicht anders sein kann, wiederum in
vollkommenem Einklang mit dem Willen des Vaters.
O Liebe ohnegleichen!
Kein Sinn kann je erreichen.
Wie du, o Herr, uns liebst.
Vergaßest deine Schmerzen,
Trugst die nur auf dem Herzen,
Die du so unaussprechlich liebst.
Z27
Aus alten Briefen
Elberfeld, 6. November 7860.
Lieber Karl!
Es kommt mir so vor, als bewege sich Dein Herz
zu viel in einer Atmosphäre, die ungesund ist, indem sie
das Gemüt niederdrückt, den Unglauben nährt und das
Vertrauen auf Gott schwächt. Gesunde und reine Luft
weht nur da, wo Jesus ist. Diese Luft erquickt und stärkt
das Herz, belebt und erfrischt den Geist. Und wenn es hier
unten am verwirrtesten aussieht, ist es für uns am notwendigsten,
da zu weilen, wo Jesus ist. Denn wenn wir schon
mit unserem Seufzen und Sorgen nichts auözurichten vermögen,
wenn alles um unö her leidlich in Ordnung ist,
was werden wir dann fertigbringen, wenn Mängel und
Gebrechen aller Art sich offenbaren? Weilen wir aber durch
den Glauben droben, wo es nichts für uns zu tun, aber
alles zu genießen gibt, und der Gott der Macht und Liebe
ist hienieden tätig, wo alles zu tun, aber nichts zu genießen
ist, dann ist alles am gehörigen Platz, und der Ausgang
wird gut sein. Wollen wir unseren Geschwistern hienieden
nützlich sein, so müssen wir durch Glauben d a festen Fuß
fassen, wohin wir "gehören, d. h. da, wo Jesus ist. Anders
seufzen und arbeiten wir umsonst und bringen alles nur
noch mehr durcheinander. Das ist nicht die rechte Weise.
Unglauben und Mutlosigkeit sind Geschwisterkinder,
und wenn sie zusammengehen, bewirken sie nur Jammer
und Herzeleid. Wenn aber Glauben und Ausharren sich
miteinander vereinigen, so gibt's Frieden und Segen die
Fülle. Vergiß es nie, lieber Karl, daß der Apostel sagt:
„Seid um nichts besorgt". (Phil. 4, b.) Das Wort
328
gilt auch heute noch, und es gilt im Blick aus alles.
Aber auch der Nachsatz gilt noch, den Du ja kennst. Wird
dieser Nachsatz übersehen, so ist daö Nicht sorgen freilich
nur Leichtfertigkeit. Ja, mein lieber Junge, der Spruch
ist schön, und ich möchte ihn wahrlich nicht missen. Aber
ich weiß auch aus Erfahrung, daß er gelernt werden muß.
Damit wir verlernen, in eigener Kraft zu wandeln, und
wirklich lernen, unö auf Gott zu stützen, genügt es oft
noch nicht, daß uns einige Rippen entzweigeschlagen werden,
Gott muß unö auch noch die Hüfte verrenken.
Übrigens ist mir Dein Briefchen recht zum Segen gewesen.
Es gibt nämlich auch hier in der Gegend manches
Betrübende, und die Beschäftigung damit wollte auch meinen
Glauben ein wenig zum Sinken bringen. Da kam
Dein Brief mir zu Hilfe. „Schöne Arbeiter im Werke
des Glaubens!" dachte ich und schämte mich. Aber dabei
blieb es nicht. Durch Glauben habe ich da wieder festen
Fuß gefaßt, wo es allein gut für uns ist, und mein Herz
ist glücklich. Wohl sehe ich noch alle die traurigen Umstände,
und ich sehe sie mit Mitgefühl und brüderlicher
Teilnahme, aber ich ruhe an dem Herzen, in welchem vollkommenes
Erbarmen und Mitgefühl, vollkommene Liebe
und Macht für mich und alle ist. O lieber Karl! Bei Jesu
ist's gut inmitten der Umstände, da ist Ruhe und Trost
inmitten aller Verwirrung.
Du sagst in Deinem Briefe, daß Du im allgemeinen
wenig Vertrauen zu Kinderbekehrungen habest. Ich teile
Dein Mißtrauen nicht. Alles, was der Heilige Geist wirkt,
ist gut, aber der Mensch vernachlässigt oder verdirbt dieses
Werk leider oft. Ich glaube, daß es viel zu schwach von
uns gefühlt wird, daß die Bewahrung und daö Ausharren
— Z2Y —
der Gläubigen ebensogut daö alleinige Werk der Gnade
Gotteö ist wie die Bekehrung. Wie seufzen und flehen
gläubige Eltern oft um die Errettung ihrer Kinder, ermatten
aber gar bald in ihrer Sorge und Fürbitte, wenn sie
errettet sind! Leider bringt auch wohl der Wandel der Eltern:
geistliche Trägheit, Weltförmigkeit, irdischer Sinn
usw., die gläubigen Kinder zum Erschlaffen gegen Christum.
Nicht selten fehlt auch zwischen Eltern und Kindern
die rechte Offenheit und Vertraulichkeit. Das Zurückgehen
des Jünglings, von dem Du schreibst, hat mich tief geschmerzt
und tut eö noch; zugleich hat eö meine Gebete für
ihn erweckt. Ich bin aber auch überzeugt, daß eö eine
ernste Züchtigung für seine Eltern ist. Der Herr hat
schon oft mit ihnen geredet, und jetzt redet Er in besonders
schmerzlicher Weise.
Weiter schreibst Du von dem Mangel an geistlichem
Wachstum bei den jüngeren Geschwistern. Aber, l. Karl,
wo liegt die Schuld? Wird diesen Kindlein in Christo wirklich
die Nahrung dargeboten, durch die sie wachsen können?
Ich denke nicht daran, sie zu entschuldigen, denn sie sind
für ihre Trägheit und Gleichgültigkeit selbst Gott verantwortlich;
aber ich wünsche doch sehr, daß auch die älteren
Geschwister ihre Verantwortlichkeit in dieser Beziehung
mehr fühlen möchten. Ich kann mir gut denken, daß in
der dortigen Versammlung eine Seele ermatten kann. Es
ist wenig geistliche Kraft vorhanden, mehr Schein als
Leben, und es mangelt an Entschiedenheit, um das irdische,
weltliche Wesen aufrichtig vor Gott zu richten und
damit zu brechen. Möchte der Herr der ganzen Versammlung
ein tiefes Gefühl davon geben!
Man seufzt auch manchmal über Gläubige, die den
330
gegenwärtigen Zeitkauf wieder liebgewonnen haben oder
sich gar aufs neue der Sünde in die Arme werfen, und
man hat gewiß alle Ursache dazu; was hilft es aber, wenn
es in dec Versammlung nicht Beugung und Demütigung
vor dem Herrn hervorruft? „Ihr seid aufgeblasen und habt
nicht vielmehr Leid getragen", ruft Paulus der Versammlung
in Korinth zu. Müßte man nicht heutzutage dasselbe
mancher Versammlung zurufen? Und doch würde der Ruf
bei den meinen G.iede.n ungel ört verhallen. — Mcin lieber
Karl, wenn wir alles so in seiner nackten Wirklichkeit betrachten,
dann könnte es uns wohl schwindlig vor den
Augen werden, und wir könnten dahin kommen zu sagen:
„Ach, es nützt alles nichts mehr!" Aber das wäre die
Sprache des Unglaubens und der Verzagtheit, woran unser
Gott kein Wohlgefallen hat. Sein Arm ist nimmer zu
kurz, und Seine Gnade und Liebe bleiben stets überströmend.
Sollte Er Menschen, die unrein, blind und tot sind,
rein, sehend und lebendig machen können, und das Gleiche
nicht vermögen, wenn Seine Kinder sich dem wieder zuwenden,
was sie verlassen haben? Laß uns mit Vertrauen
zu Ihm aufschauen und alles mit der Zuversicht Ihm ans
Herz legen, daß Er bereit ist, in allem zu helfen! Wir
wollen nicht vergessen, daß Er Liebe ist, und der Reichtum
Seiner Gnade unerforschlich.
Ich brauche Dich nicht aufzufordern, mich mit Deinen
Gebeten zu begleiten. Ich weiß, daß Du es ohnehin tust.
Aber bitte auch alle darum, denen das Werk des Herrn
am Herzen liegt.
— ZZI —
Jesus Ist Sieger
Jesus ist Sieger, Er führte im Tode gefangen
Den, der uns hielt von der Knechtschaft der Sünde umfangen.
Uns zu befrein,
Mußte Sein Leben Er weih'n,
Sterbend am Kreuz für uns hangen.
Lasset uns daran die Liebe des Heilands erkennen,
Lasset die Herzen in Dankbarkeit freudig entbrennen!
Folget Ihm nach,
Geht's auch durch Kampf und durch Schmach,
Alle, die Sein sich nun nennen'. H. K.
Kragen sus dem Leserkreise
1. — Sind „die beiden Söhne des Ols" in Sach. 4, 44
gleichbedeutend mit den „zwei Zeugen" in Offbg. 44, die um ihres
Zeugnisses willen getötet werden?
Zur Beantwortung dieser Frage bedarf es einer etwas weiteren
Aushölung. Der siebenarmige goldene Leuchter in Sach. 4, 2 ist,
wie der in 2. Mose 25 erwähnte, zunächst ein Bild von Christo und
Seinem Zeugnis. Jin weiteren Sinne ist er aber auf diejenigen
anwendbar, die jeweils im Laufe der Zeit als Christi Zeugen und
Lichtträger in dieser Welt gestanden haben oder stehen werden. Der
Herr sagt nicht nur von sich: „Ich bin das Licht der Welt",
sondern auch von Seinen Jüngern: „Ihr seid das Licht der
Welt". (Joh. d, 5; Matth. 5, 44.) In Offbg. 4 erscheinen auch
die sieben Versammlungen unter dem Bilde von sieben goldenen
Leuchtern. Sie sind vom Herrn dazu gesetzt, um in dieser finsteren
Welt Licht zu verbreiten.
Licht bedarf aber des Oles als der Quelle, die es speist, mit
anderen Worten: des Heiligen Geistes, der im Alten Testament
immer wieder unter dem Bilde des Ols gesehen wird. Beide Kapitel,
Sach. 4 und Offbg. 44, versetzen uns in die Zeit des Endes,
wann Israel in sein Land zurückgekehrt ist, und der gläubige Überrest
unter großer Bedrängnis als Gottes Zeugnis dastehen wird. Das
volle Licht wird leuchten, wenn Christus als der wahre Melchi-
sedek (Priester und König) auf Seinem Throne sitzen wird. (Vergl.
Sach. 6, 42. 43.) Die beiden Charaktere, unter welchen Christus
am Ende der Tage in besonderer Weise hervortreten wird, Priestertum
und Königtum — vorgebildet in Josua (Kap. Z) und Serub
— ZZ2 —
kabel (Kap. 4) —, werden uns wohl in den beiden Olivenbäumen
(Olsohnen) zur Rechten und Linken des Leuchters vorgestellt. Das
von ihnen ausgehende Ol wird auch dem schwachen Überrest, der,
kurz vor Beginn der Regierung Christi, noch in Jerusalem weilt,
Speise und Kraft zum Zeugnis darreichen. Insofern könnte man
die beiden Olsöhne und die zwei Zeugen wohl als gleichbedeutend
betrachten.
Cs ist möglich, daß in jenen Tagen der Herrschaft
des Antichrists tatsächlich zwei Personen auftreten werden in der
Weise und dem Charakter von Mose und Clia (Offbg. tt, b), aber
es könnten auch ebensogut zweihundert oder mehr sein. Der wichtige
Punkt ist wohl der, daß Gott noch einmal ein letztes, vollgültiges
Zeugnis ablegen lassen will: „aus zweier oder dreier Zeugen
Mund wird jede Sache bestätigt werden". Mose wird „König in
Jeschurun" genannt, und Elia war Prophet und Priester zugleich.
(Vergl. 5. Mose ZZ, 5 und 4. Kön. 48.)
2. — Ist es möglich, daß ein Kind Gottes wieder in die Welt
gehen und Gott verlassen kann? Oder ist das ein Beweis, daß die
Bekehrung nicht echt war?
Wenn die Möglichkeit nicht bestände, daß ein Gläubiger wieder
umwenden könnte zu den Wegen der Welt und Sünde, die er »erlassen
hat, würden die vielen ernsten Ermahnungen zum treuen
Ausharren, zur Wachsamkeit und Nüchternheit, zur Bewahrung des
Glaubens, zum überwinden bis ans Ende usw. nicht nötig sein.
Sie beweisen, daß die Gefahr, müde zu werden und abzuirren,
stets und für alle Gläubigen vorhanden ist. Aber selbstverständlich
liegt keine Notwendigkeit zu solchem Abirren vor. Kein Cbrist
muß sündigen. Wenn er es tut, begibt er sich freiwillig wieder unter
die Herrschaft der Sünde, welcher er durch die Gnade entronnen ist.
Wie sollte jemand, der der Sünde gestorben ist, noch in ihr leben?
(Röm. S, 2 ff.)
Satan, der Lügner von Anfang, sucht freilich den Gläubigen zu
betören. Zunächst lullt er ihn in Sicherheit oder täuscht ihm vor,
es sei nicht so schlimm, sich dies oder das zu erlauben, „dies oder
jenes wieder mitzumachen"; hat er ihn dann aber dahin gebracht,
wo er ihn haben will, und der Abgeirrte kommt wieder zur Besinnung
und Umkehr, so flüstert er ihm zu (besonders wenn die
Verirrung länger gewährt hat): „Du hast es zu arg getrieben!
Für einen solchen Menschen gibt es keine Vergebung mehr!" oder:
„Deine Bekehrung war nicht echt, du hast dich und andere getäuscht".
— Aber er lügt!
Januar 1926