Botschafter des Heils in Christo 1928

02/06/2024
von Christ-und-Buch Günter Arhelger
Botschafter des Heils in Christo Inhaltsverzeichnis: 1928Seite
Gottes Wort und Gebet.1
Aus einer Betrachtung über das Buch Ruth12
„Gett alles in allem"22
Heimfahrt (Gedicht).28
Unabhängigkeit auf kirchlichem Gebiet29
Fragen aus dem Leserkreise.56
Der alte unb ber neue Bund57
Seine und unsere Stunde64
Die wahre Gnade Gottes, in welcher ihr stehet.72
Ein Spruch von Martin Luther.84
Belehrt oder überzeugt.85
Bereit.91
Geistliche Trägheit92
„Gottseligkeit mit Genügsamkeit ist ein großer Gewinn110
Laß es Gottes Sorge sein (Gebicht).112
Wenn es euch gut dünkt"113
Christ und Politik130
Ein Gewissen ohne Anstoß136
Der Ausweis150
An meine Brüder!169
Hinzutreten - Hinausgehen172
Zu viele.177
Der Gläubiger und seine beiden Schuldner.184
Vom Kreuze zum Paradies189
Die Regierungswege Gottes mit Seinen Kindern192
Die Auserwählung.197
Die Reise nach Samaria.208
Gehe hinaus, den Spuren der Herde nach"215
Dein Wort ist Wahrheit (Gedicht)220
Ich rufe... Er antwortet"221
Aus alten Briefen237
Die Verantwortlichkeit des Christen.240
Umgürt' uns mit der Wahrheit.249
Folge mir nach!"253
In Gleichgestalt des Fleisches der Sünde.264
Die Wahrheit festhaltend in Liebe"276
Furcht vor dem Übel279
Schilt nicht! (Gedicht)280
Die Quasten mit der blauen Schnur.281
Um einen Preis erkauft"303
Hosea - Josua.305
Johannes 16, 33 (Gedicht)308
Moses in Agypten und Moses in Midian309
„Der Jünger, welchen Jesus liebte"321
Frauendienst.327
Gebetsluft.329
D Herr, zu Deinen Füßen! (Gedicht).332

Botschafter
des
Heils in Christo
„Der Herr ist nahe" (Phil. 4, 5)
Sechsundsiebzigster Jahrgang
Elberfeld
Verlag von R. Brockhaus
19 2 8
Druck: F. u. D. Blockbaus, K.-G., Elberfeld.
Inhaltsverzeichnis
Seite
Gottes Wort und Gebet ....... 4, 44
Aus einer Betrachtung über das Buch Ruth
42, 4d, 79, 402, 459
„Gott alles in allem" ......................................22
Heimfahrt (Gedicht) ......................................28
Unabhängigkeit auf kirchlichem Gebiet .... 29
Fragen aus dem Leserkreise .... 56, 4Z9, 495
Der alte und der neue Bund ....... 57
Seine und unsere Stunde .................................................. 64
Die wahre Gnade Gottes, in welcher ihr stehet . . 72
Ein Spruch von Martin Luther ...... 84
Belehrt oder überzeugt . ............................... 85, 42Z
Bereit ........................................................ 94
Geistliche Trägheit ...................................... 92
„Gottseligkeit mit Genügsamkeit ist ein großer Gewinn".
............ 440
Laß es Gottes Sorge sein (Gedicht) ..... 442
„Wenn es euch gut dünkt" ...... 443, 444
Christ und Politik .......... 430
Ein Gewissen ohne Anstoß ........ 436
Der Llusweis........................................................................ 450
An meine Brüder! . .......................................... . 469
Hinzutretcn — Hinausgehen ....... 472
Zu viele............................................................................... 477
Der Gläubiger und seine beiden Schuldner. . . 484
Vom Kreuze zum Paradies ....... 489
Die Regierungswege Gottes mit Seinen Kindern . 192
Die Auserwählung ...............................197, 225, 292
Die Reise nach Samaria ......... 208
„Gehe hinaus, den Spuren der Herde nach" . . 215
Dein Wort ist Wahrheit (Gedicht) ..... ^20
„Ich rufe...Er antwortet"..........................................221
Aus alten Briefen ............................................................ 237
Die Verantwortlichkeit des Christen.............................. 240
Umgürt' uns mit der Wahrheit ...... 249
„Folge mir nach!" ............................................................253
Zn Gleichgestalt des Fleisches der Sünde . . . 264
Friede ................................................................................ 270
„Die Wahrheit festhaltend in Liebe" . . . . 27b
Furcht vor dem Übel ......... 279
Schilt nicht! (Gedicht) ......... 280
Die Quasten mit der blauen Schnur ..... 281
„Um einen Preis erkauft" . ..........................................303
Hosea — Josua........... 305
Johannes 16, 33 (Gedicht) . .................................... 308
Moses in Ägypten und Moses in Midian . . . 309
„Der Jünger, welchen Jesus liebte"..............................321
Frauendienst . . .......... 327
Gebetsluft.................................... 329
O Herr, zu Deinen Füßen! (Gedicht) ..... 332
Gottes Vstort und Gebet
i.
Gottes Wort und Gebet — sieh da, mein
Leser, die beiden Hauptfaktoren für den Wandel des Gläubigen
durch diese Welt. Ohne sie wäre er geradeso hilflos
wie der Schiffer, der in steuerlosem Schifflein, ohne Segel
und Kompaß, auf der öden Wasserfläche des Meeres
dahintreibt.
Die nachstehenden einfachen Gedanken entstammen
der Feder eines älteren Gläubigen, der mit dem Niederschreiben
derselben vornehmlich seinen jüngeren Weggenossen
einen Dienst erweisen wollte; aber ich denke, daß auch
manche ältere sie gern und mit Nutzen lesen werden.
Doch bevor wir beginnen, sei zunächst ein Wort gesagt
über die Frage: Was ist das Wort Gottes?
Jeder Versuch, diese Frage zu beantworten, muß
allerdings von vornherein den Stempel menschlicher
Schwachheit und Unzulänglichkeit tragen.
Das geschriebene Wort — denn um dieses handelt
es sich — ist die Offenbarung, die der große, allmächtige
Gott uns über sich selbst und Seine Wege gegeben
hat. Er wollte uns schwachen Menschenkindern nicht
nur sich kundtun in Seiner Schöpfung und Seinen Regierungswegen
mit dieser Erde und ihren Bewohnern, sondern
es hat Ihm auch gefallen, uns mitzuteilen, was Er
UXXVI l
2
in sich s elbst ist, damit wir Ihn kennen, uns in Ihm
erfreuen und Ihn verherrlichen könnten; und weiter, daß
wir als Gläubige Seine Größe, Weisheit und Liebe verstehen
und auf dem Wege durch dieses Leben mit allen
seinen Schwierigkeiten und Gefahren mittelst der göttlichen
Gnade, Weisheit und Treue bewahrt bleiben möchten.
Beginnend mit der Erschaffung aller Dinge und des
Menschen durch das lebendige Wort (Christus), führt
es uns durch die ganze Geschichte des im Bilde Gottes geschaffenen,
aber gefallenen Menschen hin bis zu dem ewigen
Zustand, wenn Gott „alles neu machen" und selbst
„alles in allem" sein wird. Es macht uns bekannt mit
den Ratschlüssen Gottes für Zeit und Ewigkeit, mit dem
Zustand des sündigen Menschen und mit dem wunderbaren
Heilsplan Gottes, um diesem Zustand in Christo
zu begegnen, mit den Gedanken und Wegen Gottes, sowohl
bezüglich Seines irdischen Volkes Israel und dessen
Königs, als auch der himmlischen Braut Seines Sohnes,
der Versammlung (Gemeinde), des Leibes Christi
in Verbindung mit seinem Haupte.
Vollkommenheit kennzeichnet das Wort Gottes als
Ganzes wie auch in seinen einzelnen Teilen. Obwohl Menschen
als Werkzeuge gebraucht worden sind, um es niederzuschreiben,
hätt« der Mensch als solcher es doch niemals
so zusammenstellen, nie die Notwendigkeit jedes einzelnen
Teiles voraussehen können. E i n Geist, der Geist Gottes,
hat das Ganze gegeben und durchweht es vom 1. Buche
Mose bis zum Buche der Offenbarung. Jemehr der gläubige
Sinn es durchforscht, jemehr das geistliche Verständnis
wächst, umso tiefer und gewaltiger werden die Eindrücke
von der göttlichen Harmonie und Vollkommenheit
z
des ganzen Wortes, wie der Wahrheit und Notwendigkeit
jedes einzelnen Teiles.
Welch ein Vorrecht, welch eine Gnade ist es, eine
solche Offenbarung Gottes zu besitzen! Daß sie mit dem
natürlichen Verstände nicht erfaßt werden kann, ist kaum
nötig zu bemerken. „Der natürliche Mensch nimmt nicht
an, was des Geistes Gottes ist, denn es ist ihm eine Torheit,
und er kann es nicht erkennen, weil es geistlich beurteilt
wird; der geistliche aber beurteilt alles." (1. Kor.
2, 14. 15.) So wie der Geist Gottes allein die Tiefen
Gottes erforscht und uns „die Dinge, die uns von Gott
geschenkt sind", durch Seine dazu erwählten Werkzeuge
mitgeteilt hat, und zwar „in W^^en, gelehrt
durch den Geist", so können dieMWsrilunaen wiederum
nur durch die Belehrung verstanden
werden. Aber, Gott sei gepriesen! dieser Geist ist dem
Kinde Gottes, auch dem einfältigsten, gegeben und wohnt
und wirkt in ihm.
Hören wir jetzt, was der oben genannte Schreiber
uns zu sagen hat:
Eine aufrichtige, tiefe Liebe zum Worte Gottes sollte
jeden Gläubigen kennzeichnen. Unser Wachsen in der Gnade
und in der Erkenntnis unseres Herrn und Heilandes ist
in weitestem Maße davon abhängig. Der 119. Psalm
läßt uns in besonderer Weise erkennen, wie eng das Wort
mit der ganzen Entwicklung des geistlichen Lebens eines
Gläubigen verbunden ist. Einige der Aussprüche des
Psalmisten sind geeignet, uns, die wir heute die ganze
göttliche Offenbarung besitzen, tief zu beschämen. Bleiben
nicht viele von uns nxit hinter diesem alttestamentlichcn
4
Gläubigen zurück, der nur die Anfänge dieser Offenbarung
kannte und dennoch dem Worte des Herrn einen so
hohen, bevorzugten Platz in seinem Herzen einräumte?
Er sagt: „An deinen Satzungen habe ich meine Wonne;
deines Wortes werde ich nicht vergessen... Deine
Zeugnisse sind meine Wonne, meine Ratgeber...
Ich werde meine Wonne haben an deinen Geboten, die
ich liebe." (V. 46. 24. 47.) Und, seine Sprache noch
steigernd, ruft er aus: „W ieliebeich dein Gesetz! es ist
mein Sinnen den ganzen Tag... Darum liebe ich deine
Gebote mehr als Gold und gediegenes Gold." (V. Y7.
427.) Auch Hiob bezeugt: „Ich habe die Worte Seines
Mundes verwahr mehr als meinen eigenen Vorsatz".
(Kap. 23, von jenen alten Tagen an bis heute
sind in allen enWn, geistlichgesinnten Seelen die gleichen
Charakterzüge gefunden worden: Liebe zum Worte Gottes
und in Verbindung damit Hingabe an den Herrn.
Wie wichtig und bedeutungsvoll das Wort für uns
ist, werden wir noch klarer erkennen, wenn wir kurz miteinander
die verschiedenen Gesichtspunkte betrachten, unter
denen es vor unsere Blicke gestellt wird.
4. Das Wort ist das Mittel zur Wiedergeburt.
Jakobus sagt: „Nach Seinem eigenen Willen hat
Er uns durch das Wort der Wahrheit gezeugt"
(Kap. 4, 48), und in 4. Petr. 4, 23 lesen wir: „Die ihr
nicht wiedergeboren seid aus verweslichem Samen, sondern
aus unverweslichem, durch das lebendige und
bleibende Wort Gottes". Der Herr Jesus belehrt
uns gleichfalls über diese Wahrheit, wenn Er in Joh.
3, 5 sagt: „Es sei denn daß jemand aus Wasser *) und
*) das bekannt? Symbol des Wortes.
5
Geist geboren werde, so kann er nicht in das Reich Got-
res eingehen".
2. Wie das Mittel zur Wiedergeburt, so ist das Wort
Gottes auch die rechte Nahrung für die neue
Natur. „Wie neugeborene Kindlein", sagt Petrus, „seid
begierig nach der vernünftigen, unverfälschten Milch (des
Wortes), auf daß ihr durch dieselbe wachset zur Errettung,
wenn ihr anders geschmeckt habt, daß der Herr gütig
ist." (t. Petr. 2, 2. 3.) Und ebenso lesen wir in
5. Mose 8, Z: „...und Er speiste dich mit dem Man,
das du nicht kanntest..., um dir kundzutun, daß der
Mensch nicht von Brot allein lebt, sondern daß der Mensch
von allem lebt, was aus dem Munde Jehovas
hervorgeh t". (Vergl. auch Matth. 4, 4.) Das Wort
also ist die geeignete Nahrung für das geistliche Leben.
Es dient zu unserer Förderung und Kräftigung, während
wir durch die Wüste schreiten, von wo aus wir der Rückkehr
unseres geliebten Herrn entgegenharren, oder envar-
ten „abzuscheiden, um bei Christo zu sein". Die Schriften,
Alten wie Neuen Testaments, zeugen von Christo, und Er
selbst ist unser« Nahrung. Er ist sowohl das Manna als
auch das Getreide des Landes. Um das „Manna" für
unseren täglichen Bedarf einzusammeln, müssen wir die
Evangelien und die Briefe lesen, in welchen wir Ihn als
den im Fleische gekommenen, erniedrigten Christus
vorgestellt finden, der „sich selbst zu nichts machte
und Knechtsgestalt annahm, indem Er in Gleichheit der
Menschen geworden ist, und, in Seiner Gestalt wie ein
Mensch erfunden, sich selbst erniedrigte, indem Er gehorsam
ward bis zum Tode, ja, zum Tode am Kreuze".
Wollen wir uns von Ihm als dem „Getreide des Lan
6
des" nähren, so müssen wir uns zu den Schriften wenden,
die Ihn als den verherrlichten Christus
vor unsere Seelen stellen. (Vergl. Kol. Z; Phil. Z usw.)
Die Schriften sind die grünen Auen, auf denen der gute
Hirte Seine Herde lagert, und die frischen Wasser, an
denen Er sie tränkt.
3. Das Wort ist unser alleiniger Führer.
„Dein Wort ist Leuchte meinem Fuße und Licht für meinen
Pfad", lesen wir wiederum im 77Y. Psalm. (V. 705.)
Und als Josua im Begriff stand, das Volk Israel nach
Kanaan zu führen, ermahnte ihn der Herr: „Sei sehr
stark und mutig, daß du darauf achtest, zu tun nach dem
ganzen Gesetz, welches mein Knecht Mose dir geboten hat.
Weiche nicht davon ab zur Rechten noch zur Linken, auf
daß es dir gelinge überall, wohin du gehst. Dieses Buch
des Gesetzes soll nicht von deinem Munde weichen, und
du sollst darüber sinnen Tag und Nacht, auf daß du darauf
achtest, zu tun nach allem was darin geschrieben ist; denn
alsdann wirst du auf deinem Wege Erfolg haben, und
alsdann wird es dir gelingen." (Jos. "l, 7. 8.) Und wie
im Alten, so werden wir auch im Neuen Testament immer
wieder belehrt, daß das Wort Gottes unser Führer ist.
ES ist der Maßstab, die einzige Richtschnur für unseren
Wandel hieniedcn. „Alle Schrift ist von Gott eingegcben
und nütze zur Lehre, zur Überführung, zur Zurechtweisung,
zur Unterweisung in der Gerechtigkeit, auf daß der
Mensch Gottes vollkommen sei, zu jedem guten Werke
völlig geschickt." (2. Tim. 3, 76. 77.) Wenn Paulus
in Milet von seinen geliebten Ephesern Abschied nimmt,
sagt er: „Ich befehle euch Gott und dem Worte Seiner
Gnade, welches vermag aufzuerbauen und euch ein Erbe
7
zu geben unter allen Geheiligten". (Apstgsch. 20, 32.
Vergl. auch 2. Thess. 3, 74; 2. Petr. 7, 75; 7. Ioh.
2, 27; Judas 3 usw.)
4. Das Wort Gottes ist unsere Bert eidi-
gungs- und Angrifföwaffe gegen Satan in
allen seinen Anläufen und Versuchungen. Es wird deshalb
auch das Schwert des Geistes genannt. (Eph.
6, 77.) Als solches benutzte es unser hochgelobter Herr,
als Er in der Wüste von dem Teufel versucht wurde. Jeden
Angriff, mit dem Satan sich Ihm nahte, — und er
versuchte Ihn auf alle Weise — schlug Jesus nieder mit
den Worten: „Es steht geschrieben". Vom ersten bis zum
letzten Augenblick war das Schwert des Geistes in Seiner
Hand. Er äußerte als Mensch nicht Seine eigenen
Gedanken, sondern redete das, was Er von dem Vater
gehört hatte. Er stellte sich völlig auf den unerschütterlichen
Boden des Wortes Gottes. Dadurch wurde es Satan
unmöglich gemacht, jemals einen Fußbreit Boden zu
gewinnen. Auch in der Wüste mußte er sich überwunden
und beschämt zurückziehen. Heute ist es nicht anders. Satan
ist ebenso machtlos wie damals, wenn wir ihm nur
in derselben Weise begegnen wie der Herr. Er kann einem,
abhängigen, dem Worte unterworfenen Kinde Gottes
nichts anhaben. Möchten wir uns alle, ob alt oder jung,
dieser Tatsache stets erinnern!
5. Gottes Wort ist die einzige Nichts ch n u r
fürLehre und Wandel. In seinem klaren Licht haben
wir alles zu prüfen. „Weissagungen verachtet nicht",
schreibt Paulus an die Thessalonicher, „prüfet aber
alles, das Gute haltet fest." (7. Thess. 5, 27.) Heute,
nachdem das Wort Gottes „vollendet" ist (Kol. 7, 2S),
8
gilt uns die Ermahnung, die in den sieben Sendschreiben
der Offenbarung immer wiederkehrt: „Wer ein Ohr hat,
höre, was der Geist den Versammlungen sagt". Der Zustand
der einzelnen Gemeinden und ihr Verhalten wurden
an dem unfehlbaren Maßstab der Worte des Geistes Gottes
gemessen. Mit demselben Ernst fordert der Apostel
Paulus die gläubigen Phi.'ipper auf, alles zu erwägen und
zu tun, was er sie gelehrt, was sie gehört und empfangen
und an ihm gesehen hatten. (Phil. 4, 9.) Und die Thessalonicher
ermahnt er: „Also nun, Brüder, stehet fest und
haltet die Überlieferungen, die ihr gelehrt worden seid,
sei es durch Wort oder durch unseren Brief". Oder:
„Wenn aber jemand unserem Worte durch den Brief nicht
gehorcht, ben bezeichnet und habet keinen Umgang mit ihm,
auf daß er beschämt werde". (2. Thess. 2, 45; 3, 44.
Bergl. auch Gal. 4, 8. 9; 4. Kor. 45, 4—44.)
6. Das Wort ist das Mittel zu unserer praktischen
Heiligung. Wenn der Herr Jesus in Seinem
Gebet die Seinigen dem Vater befiehlt, sagt Er: „Heilige
sie durch die Wahrheit: dein Wort ist Wahrheit". (Jvh. 47.)
Nur die beständige Anwendung des Wortes auf uns selbst,
auf unser Tun und Lassen, unser Handeln und Ruhen bewahrt
uns vor dem Bösen und sondert uns immer mehr
ab. „Denn das Wort Gottes ist lebendig und wirksam
und schärfer als jedes zweischneidige Schwert"; es scheidet
haarscharf zwischen Seele und Geist, dringt durch bis
aufs Mark und beurteilt die verborgensten Gedanken und
Beweggründe des Herzens. Es ist wie das allsehende Auge
Gottes, vor dem alles bloß und aufgedeckt ist. (Hebr.
4, 42. 43.) Der Herr selbst, als unser großer Sachwalter
bei dem Vater, ist bemüht, uns immer wieder die Füße
9
zu waschen, indem Er uns Sein Wort durch Seinen Geist
nahebringt. Aber wenn Er in Seiner reichen Gnade auch
so für und mit uns handelt, sollten w i r doch nie vergessen,
daß wir verantwortlich sind, das Wort in stetem, aufrichtigem
Selbstgericht in der Gegenwart Gottes auf uns
anzuwenden. Wieviele schmerzliche Züchtigungen könnten
wir uns ersparen, wenn wir in dieser Hinsicht treuer wären!
Denn „wenn wir uns selbst beurteilten, so würden
wir nicht gerichtet". (1. Kor. 1t, 31.) lind wenn der
Psalmist fragt: „Wodurch wird ein Jüngling seinen Weg
in Reinheit wandeln?" so lautet die Antwort:. „Indem
er sich bewahrt nach deinem Worte". (Ps. 119, 9.) An
einer anderen Stelle betet David: „Ich habe mich durch
das Wort deiner Lippen bewahrt vor den Wegen des Gewalttätigen".
(Ps. 17, 4.) Nur auf dem Wege ernster
Prüfung lernen wir den guten und wohlgefälligen und
vollkommenen Willen Gottes kennen. (Röm. 12, 2.) Nur
so werden wir von dem, was Seinem Geist entgegen ist,
getrennt und mit Ihm selbst in Übereinstimmung gebracht,
und in demselben Maße schreiten wir fort in der
Heiligung, deren Vollkommenheit wir in Ihm, dem verherrlichten
Christus zur Rechten Gottes, erblicken.
7. Endlich möchte ich daran erinnern, welch großen
Wert der Herr auf den Gehorsam SeinemWorte
gegenüber legt. Er hat gesagt: „Wenn jemand mich
liebt, so wird er mein Wort halten, und mein Vater wird
ihn lieben, und wir tverden zu ihm kommen rind Wohnung
bei ihm machen". (Joh. 14, 23.) Welch eine wunderbare
Segnung wird damit von unserem Halten Seines
Wortes abhängig gemacht! Nur auf diesem Wege —
möchten wir es doch nicht übersehen! — wirb uns die be-
— ro -
sondere Liebe des Vaters verheißen, sowie das Kommen
des Vaters und des Sohnes, um Wohnung bei uns zu
machen. Im nächsten Kapitel sagt der Herr Jesus: „Wenn
ihr meine Gebote haltet, so werdet ihr in «reiner Liebe
bleiben, gleichwie ich die Gebote meines Vaters gehalten
habe und in Seiner Liebe bleibe". (V. 40.) Er erwartet
nicht nur, daß wir die Mitteilungen, die Er uns
gegeben hat, schätzen und wertachten, sondern Er rechnet
auch darauf, daß unsere Herzen Wohlgefallen haben an
jedem Worte, das aus Seinem Munde gegangen ist,
ja. Er hat den Gehorsam gegenüber Seinem Worte zu
den: höchsten Beweis unserer Liebe gemacht. „Wenn ihr
mich liebet, so haltet meine Gebote." (Joh. 44, 45.) Zu
unserer Ermunterung und zu unserem Ausharren im Glauben
läßt Er uns am Schlüsse der Offenbarung zurufen:
„Siche, ich komme bald. Glückselig, der da bewahrt die
Worte der Weissagung dieses Buches!" (Kap. 22, 7.)
Zum Schluß noch einige praktische Bemerkungen.
Es ist vor allem notwendig, mit dem Worte vertraut
zu sein. Wie könnten wir z. B. Angriffe seitens
der Menschen, Versuchungen des Feindes usw. abschla-
gcn, wie der Herr Jesus es tat, wenn wir das Schwert
des Geistes nicht in der rechten Weise zu gebrauchen
verstehen? Auch ist in unseren Tagen die Gefahr besonders
groß, „durch mancherlei und fremde Lehren" fort-
gerissen zu werden, wenn wir nicht auf dem unerschütterlichen
Felsen der Wahrheit zur Ruhe gekommen und darauf
gegründet sind. Eine der ersten Pflichten des Gläubigen
ist es daher, „die Schriften zu untersuchen", um mit den
Gedanken Gottes bekannt und vertraut zu werden. Ja,
— 11 -
wir sollten Gottes Wort eifrig erforschen. „Mein
Lohn, wenn du...dein Ohr auf Weisheit merken läßt,
dein Herz neigst zum Verständnis; ja, wenn du dem Verstände
rufst, deine Stimme erhebst zum Verständnis; wenn
du ihn suchst wie Silber, und wie nach verborgenen Schätzen
ihm nachspürst, dann wirst du die Furcht Jehovas verstehen
und die Erkenntnis Gottes finden. Denn Jehova
gibt Weisheit; aus Seinem Munde kommen Erkenntnis
und Verständnis." (Spr. 2, 1—6.) In diesem Geiste
sollten wir forschen und die Schriften systematisch studieren.
So werden wir „zu jedem guten Werke völlig
geschickt" sein. (2. Tim. Z, 1.7.) Ich sage nicht: Lies kein
anderes Buch! Doch ich betone: Mache die Bibel zu deinem
vertrautesten Gefährten und beschränke dich so viel wie
möglich auf solche Bücher, die dir zum besseren Verständnis
der Schrift nützlich sind. Bedenke, daß du wohl in
der Zeit, aber nicht für die Zeit, sondern vor allem für
die Ewigkeit hienieden leben sollst. Jemehr du das tust,
desto mehr wirst du es als dein vornehmstes Ziel betrachten,
mit den Gedanken und dem Willen deines himmlischen
Vaters immer besser bekannt zu werden.
Lies nie, ohne über das Gelesene zusinnen. „Nicht
brät der Lässige sein Wild." (Spr. 1.2, 27.) Er findet
sein Vergnügen an der Jagd, aber hat er ein Wild erlegt,
so ist er zu träge, um es zum Genuß zuzubereiten. Ähnlich
ergeht es vielen, wenn sie Gottes Wort lesen. Sie
haben ihre Freude am Lesen und am Wachsen ihrer Erkenntnis,
aber indem sie dabei stehen bleiben, gehen sie
des eigentlichen Segens verlustig. In der oben schon angeführten
Schriftstelle sagt der Herr zu Josua: „Dieses
Buch des Gesetzes soll nicht von deinem Munde weichen,
12
mW du sollst darüber sinnen Tag und Nacht". (Vergl.
auch Ps. 1, 2; Spr. 22, 17. 18; 1. Tim. 4, 15 usw.)
Nur bei dem Sinnen in der Gegenwart Gottes entfaltet
sich vor uns die ganz« Lieblichkeit, Schönheit und Kraft
des Wortes. Versäume daher nie, die Schrift, die du liest,
sinnend zu betrachten!
Endlich denke stets daran, daß du zum richtigen Verständnis
der Schriften völlig von der Unterweisung des
Geistes Gottes abhängig bist. „Denn wer von den Menschen
weiß, was im Menschen ist, als nur der Geist des
Menschen, der in ihm ist? Also weiß auch niemand, was
in Gott ist, als nur der Geist Gottes." (1. Kor. 2, 11.)
Wenn du dich befleißigst, die Schrift so zu lesen und dir
das Gelesene zu eigen zu machen, wirst du täglich mehr
mit der Wahrheit vertraut und so in immer engere Gemeinschaft
gebracht werden mit dem Vater und mit Seinem
Sohne Jesus Christus.
Rus einer Betrachtung über
das Buch Ruth
i.
Die Einleitungswort« des Buches Ruth versetzen uns
sofort in die Zeit, in welcher die in ihm berichteten Ereignisse
sich abspielten: „Und es geschah in den Tagen, als
die Richter richteten". Aber obwohl es sich so unmittelbar
an das Buch der Richter anschließt, steht es inhaltlich
doch in unmittelbarem Gegensatz zu diesem. Wird uns in
dem Buche der Richter der traurige Niedergang des Volkes
Israel geschildert, nachdem es unter der Führung Jo-
— 43 —
suaö das Land Kanaan eingenommen hatte, und dieser
samt den Altesten, die das ganze große Werk Jehovas
für Israel gesehen hatten, gestorben war, so erzählt uns
das Buch Ruth von wunderbaren Gnadenwirkungen Gottes.
Sehen wir in dem einen das Volk als Gesamtheit in
einem Zustand erschreckender Gottentfremdung, in Götzendienst
und sittlichem Verfall, so zeigt uns das andere, was
Gott selbst inmitten eines solchen Verfalls in einzelnen
Seelen zu wirken vermag, und wie Er trotz der Gerichte,
die das Ganze treffen müssen, die segnet, welche sich vor
Ihm beugen und glaubend zu Ihm aufschauen. Die Gnade
feiert ihre Triumphe angesichts des scheinbar hoffnungslosen
allgemeinen Verderbens und weckt eine umso größere
Treue und Entschiedenheit in den einzelnen.
In diesem Sinne ist das Buch Ruth ein hervorragend
charakteristisches Buch; selbst die Namen sind charakteristisch.
Elimelech — mein Gott ist König, verläßt
infolge einer Hungersnot seine Heimat: Bethlehem ----
Haus des Brotes, unbewandert auö nach Moab! In dem
sonst so reichgesegneten Lande Jehovas, des Königs Israels,
gibt es kein Brot mehr, selbst nicht in Juda, dem
Gebiet des königlichen Stammes. Bethlehem, aus welchem
Der hervorkommen sollte, „dessen Ausgänge von der Urzeit,
von den Tagen der Ewigkeit her sind" (Mich. 5, 4),
wird mit dem Lande vertauscht, aus dessen Bewohnern
auch nicht das zehnte Geschlecht in die Gemeinde Israels
kommen sollte! (5. Mose 23, 3. 4.) Noomi --- Liebliche,
wandelt selbst ihren Namen um inMara — Bitterkeit,
und die Namen ihrer beiden Söhne Machlon und
Kiljon bedeuten Schwachheit und Vernichtung.
So trübe und ernst aber der Anfang unseres Buches
— r4 —
sein mag, so hell und freundlich ist der Fortgang und der
Schluß. Ein Gemälde, friedlich und lieblich, wie es kaum
ein zweites in der Schrift gibt, entrollt sich vor unseren
Blicken. Mit Recht hat man es deshalb ein freundliches
Idyll inmitten der düsteren Geschichte Israels genannt,
das einen umso tieferen Eindruck auf uns macht, weil es
auf ein Buch folgt, das mit Schuld und Schande und mit
einem furchtbaren, blutigen Bruderkriege schließt.
Aber so eindrucksvoll der Inhalt des Buches geschichtlich
betrachtet ist, geradezu ergreifend wirkt es erst, wenn
man seine vorbildliche Bedeutung erkennt und in den einzelnen
Menschen und Ereignissen die Vorbilder und Schatten
kommender Personen und Dinge erblickt. Dann
wächst das kleine, nur drei Kapitel zählende Büchlein mit
einem Male zu einem Bande von unermeßlichem Umfang,
Gottes Wege mit Seinem irdischen Volke, in Verbindung
mit Christo, dem Sohne Davids, dem wahren Obed
(Diener), entwickeln sich vor unseren staunenden Blicken,
und wir werden mit Macht daran erinnert, daß alle
Schrift, auch dieses unscheinbare Büchlein, von Gott eingegeben
ist und von Jesu, dem Sohne Seiner Liebe,
zeugt.
In Noomi, der armen, kinder- und hoffnungslos
heimkehrenden Witwe, tritt das Bild Israels vor uns,
wie es, von Gott dahingegeben — Elimelech — mein Gott
ist König, ist gestorben, und seine beiden Söhne sind gestorben
— heute in der Fremde umherirrt, aber am Ende
der Tage, wenn Gott Sein Volk wieder besucht, wie ein
verlassenes, betrübtes Weib heimkehren und auf ganz
neuer Grundlage, auf dem Boden bedingungsloser Gnade,
Annahme und Segen finden wird. Noomi selbst, frucht
— rs —
leer und ohne jede Aussicht, je Nachkommenschaft zu ha-r
den, aber Ruth, ihre Schwiegertochter — obwohl sie als
Moabitin ohne alle Ansprüche war, außer denen, welche
Gnade und Glaube ihr gewährten — an ihrer Stelle
eingeführt und als Weib des Boas aller verlorenen Vorrechte
und Segnungen wieder teilhaftig werdend! Welch
ein treffendes Bild von Israel, das auf dem Boden des
Alten Bundes durch eigene Schuld alles eingebüßt hat,
aber dereinst auf Grund einer schrankenlosen Gnade im
Glauben nicht nur zu dem Verlorenen zurückkehren, sondern
eine Segensfülle genießen wird, wie sie nur in
Christo, dem wahren Boas, möglich ist.
Begleiten wir einen Augenblick die drei Frauen auf
ihrer einsamen Wanderung. Ach, der Weg des eigenen
Willens ist immer bitter. Sein Ende kann nur Beschämung
und Verurteilung sein. Was mochte in dem Herzen der
armen Noomi Vorgehen? Voll war sie gegangen, leer
kehrte sie zurück. Mann und Söhne hatte sie sterben sehen.
Ihre beiden Schwiegertöchter waren bis dahin kinderlos
geblieben. Still und einsam wanderte das arme Weib in
das Land ihrer Väter zurück. Die reichen Gefilde Moabs,
in denen sie Zuflucht gesucht Hatte, waren zur Begräbnisstätte
all ihrer Hoffnungen geworden. Kein Lichtblick, kein
Hoffnungsstrahl erhellte das Dunkel. Wohl hatte sie gehört,
„daß Jehova Sein Volk heimgesucht habe, um ihnen
Brot zu geben" (V. 6), aber was wartete ihrer, die ohne
Hilfsquellen, als eine schwer gezüchtigte Übertretern, der
Gebote Gottes heimkehrte? Was ihrer heidnischen Schwiegertöchter,
die keinerlei Anrecht an den Gott Israels hatten?
Schweren Herzens, zögernden Schrittes zog sie ihre
Straße.
— rs —
Ja, die Straße des Ungehorsams und Eigenwillens
ist schwer, „der Treulosen Weg ist hart". Im Dunkel beginnend,
führt er in immer tiefere Finsternis. Mancher
von uns hat es erfahren, und wie tief wird es der jüdische
Überrest am Ende der Tage fühlen müssen! Gott bewahre
unsere Füße deshalb auf dem Pfade des Gehorsams und
der Abhängigkeit! Dem „Aufrichtigen" geht Licht auf in
der Finsternis. — Beachten wir auch, daß wir der Schule
und Jucht Gottes niemals entlaufen, auch nicht durch Auswanderung!
Man hat gesagt, das Buch Ruth sei das achte in
der Reihenfolge der Bücher des Alten Testamentes und,
wohl anknüpfend an den „achten" Tag, den „großen"
Tag des Laubhüttenfestes, oder den Tag der Auferstehung
des Herrn, es ein Buch der Gnade genannt, in welchem
wohl nicht von ungefähr an dreißigmal von Lösung und
eineni Löser die Rede sei — ein Hinweis darauf, wie Gott,
trotz der im Buche der Richter geschilderten Untreue Seines
Volkes, Seinerseits Seines Bundes und Seiner Verheißungen
eingedenk bleibe und sich Seines verarmten Volkes
nach 3. Mose 25 ff. annehmen werde. Dann wird auch
der durch Sein« Gnade in dem Überrest gewirkte Glaube
dem Herzen Gottes und des wahren Boas gerade so kostbar
sein wie hier der Glaube der armen Moabitin. Gnade
und Glaube gehen immer Hand in Hand, und in Verbindung
damit zeigen sich in dem Glaubenden die Tugenden
des neuen Lebens, Bescheidenheit, Demut, Fleiß usw. und
geistliches Verständnis, wie hier in Ruth.
Beachtenswert ist auch der Umstand, daß zur Zeit des
Buches Ruth „kein König in Israel war; ein jeder tat,
was recht war in seinen Augen". (Richt. 2k, 25.) Im
17
1. Buche Samuel wird uns gleich im Anfang erzählt, wie
das Priestertum, das bis dahin die Beziehungen des Volkes
zu Jehova aufrecht gehalten hatte, sich dazu als untüchtig
erwies, und wie das Prophetentum für eine kurze
Zeit an dessen Stelle trat, um dann dem Königtum Platz
zu machen. Samuel, der letzte Richter und der Prophet
Gottes, wies aus den kommenden König hin. Es war
Gottes Absicht, Seinem Volke einen König zu geben, David,
den Mann nach Seinem Herzen, das bekannte Vorbild
von Christo, dem wahrhaft Ruhebringenden (Schilo)
aus dem Stamme Juda. (1. Mose 49, 10.) Saul, der
Mann nach dem Herzen des Menschen und von dem Volke
mit Jauchzen begrüßt, war dieser König nicht.
Ruth, das Weib des Boas, wird die Stammutter
Davids. So bildet unser Buch gleichsam auch den Übergang
aus der Zeit allgemeiner Verwirrung, des Verfalls
und Abfalls, zu den glorreichen Tagen des Königtums.
Gegenwärtig ist Israel auch ohne König, ohne Prophet,
ohne Anbetung. Christus, sein König, ist von ihm verworfen,
für das Volk tot; es selbst befindet sich als Witwe
in der Mitte der Nationen. Aber die Zeit naht heran, wo
es hören wird, daß Gott Sein Volk heimgesucht hat, und
wo der gläubige Überrest „umkehren" wird, um dann
auch „unter die Begnadigung zu kommen" (Röm. 11, 31)
und so auf dem gleichen Boden, wie wir heute, die ihm
in den Vätern verheißenen Segnungen zu empfangen.
Noch eine kurze, praktische Bemerkung über Elinie-
lech, ehe wir weitergehen. Hätte dieser Mann geschätzt, was
Jehova Seinem Volke gegeben, so wäre er trotz der Hungersnot
in Bethlehem, dem Erbteil seiner Väter, geblieben.
Andere gingen nicht nach Moab und verhungerten doch
48
nicht; Gott brachte sie durch. Was können wir daraus
lernen? Gott hat auch uns Herrliches anvertraut, hat uns
zu dem zurückgeführt, was Er den Seinigen im Anfang
geschenkt hatte. Der Feind ruht nicht, uns durch allerlei
Schwierigkeiten zur Aufgabe dieses bevorzugten Platzes zu
bewegen. Manche haben ihn aufgegeben und sind, wie Eli-
melech, nie zurückgekehrt. Elimelech kam, fern von Bethlehem,
auf dem selbstgewählten Wege um. Wie ernst ist
das!
Na both, der Jisreelit, handelte zu seiner Zeit anders.
(4. Kön. 2t.) Der König Israels wollte ihm seinen
Weinberg abkaufen oder ihm einen „besseren" dafür geben.
Aber nichts konnte ihn dazu bewegen, das Erbtest
seiner Väter aufzugeben. „Das lasse Jehova fern von mir
sein!" sagt er zu Ahab. Seine Treue brachte ihm den Tod.
Aber Gott nahm Kenntnis davon. Jabez (4. Chron.
4, 40) ging noch einen Schritt iveiter und rief zu dem
Gott Israels, daß Er ihn segnen und seine Grenze erweitern
möge. — Wie machen wir es? Ist uns das
von Gott Anvertraute auch so teuer wie einst dem Na-
both? Rufen wir zu Gott, daß Er unser geistliches Verständnis
erweitern und uns erleuchtete Augen des Herzens
geben möge, um das, was Er uns in Christo geschenkt
hat, immer besser verstehen und verwirklichen zu können?
Würd? Er nicht auch uns wohlgefällig annehmen und
„kommen lassen, was wir erbeten haben"?
Der Untreue des Menschen gegenüber strahlt die
Gnade Gottes umso Heller und lieblicher. Nach dem Tode
der beiden Söhne Elimelechs läßt Er Noomi vernehmen,
daß Er Seinem Volke wieder Brot gegeben habe. Er gedenkt
der armen, verwaisten Frauen und wirkt in den
Herzen der beiden Schwiegertöchter, daß sie mit der Mutter
ziehen, wenn auch nicht mit dem gleichen Herzensentschluß.
Dies tritt ans Licht, wenn Noomi sie nach einiger
Zeit auffordert, in das Haus ihrer Mutter zurückzukehren.
Bei dieser Gelegenheit erscheint Noomi nicht im besten
Licht. Erst nach und nach kommt sie wieder zurecht, wie
es ja wohl immer so sein wird, wenn eine Seele sich weit
verirrt hat. Die Wiederherstellung erfolgt nur schrittweise.
Man verliert sehr rasch den richtigen Boden, gewinnt ihn
aber nur langsam wieder. Ehe Noomi eine Führerin für
Ruth werden kann, muß sie erst durch demütigende Proben
gehen und sich selbst besser kennen lernen.
Beide Schwiegertöchter erklären weinend, daß sie die
Mutter nicht verlassen und mit ihr ins Land Juda ziehen
wollen. Aber anstatt diesen Entschluß mit Freuden zu begrüßen,
hält Noomi sie zurück und stellt ihnen aufs eindringlichste
das Törichte ihres Beginnens vor Augen. Gab
es denn nach menschlichem Ermessen noch irgend welche
Hoffnungen für sie? Konnt« Noomi selbst ihnen etwas
bieten oder in Aussicht stellen, sie, der es Gott noch viel
bitterer gemacht hatte, als ihnen? Nein, das einzig Verständige
und Ratsame war, umzukehren zu ihrem Volke
und zu ihren Göttern. (V. ^5.)
Und Orpa kehrte um. Sie bestand die Probe nicht,
weil es ihr an Glauben fehlte. So verkehrt Noomiö Verhalten
war, benutzt« Gott es doch dazu, die Herzen offenbar
zu machen. Er stand hinter allem und lenkte es zum
Heil für Noomi und Ruth. Doch welch ein getreues Bild
ist Noomi hier wiederum von dem jüdischen Überrest in
den letzten Tagen! Entblößt von allem, was ihm einst geschenkt
war, verurteilt durch das Gesetz und das eigene
20
Gewissen, jeder Hoffnung bar, bitterlich betrübt, so wird
er znrückkehren, um am Ende des prüfungöreichen Weges
zu entdecken, daß die Gnade alles für ihn getan und geordnet
hat, und daß Gottes Gedanken sich nimmer ändern.
Warum wußte Noomi später, daß es ein Lösungsrecht
in Israel gab? Warum dachte sie jetzt nicht daran?
Lauter Dinge, die uns zeigen, wie ernst und verhängnisvoll
ein eigener Weg, der Weg in die Welt ist. Darf man sich,
wenn Eltern einen solchen Weg einschlagen, darüber wundern,
daß die Kinder ihnen folgen, und daß sie selbst
schließlich jedes Verständnis, alle geistliche Kraft verlieren
und ihren Angehörigen sogar ein Hindernis werden,
den richtigen Weg zu finden? Selbst Abraham, der Vater
der Gläubigen, brachte, als er den Weg des Gehorsams
und der Abhängigkeit verließ, sich mit seinem Weibe in
große Bedrängnis und wurde erst wieder glücklich, als er
Ägypten den Rücken gekehrt und den Ort wieder erreicht
hatte, wo einst sein Altar gestanden.
Wie schön ist Ruths Entschiedenheit dem Wankelmut
Orpas und der Untreue Noomis gegenüber! Für-
wahr, der von Gott gewirkt« Glaube hat eine wunderbare
Kraft. Wenn Noomi ihr zuredet, es doch auch so zu
machen wie Orpa, antwortet sie: „Dringe nicht in mich,
dich zu verlassen, hinter dir weg umzukehren", und trotz
der ganzen Hoffnungslosigkeit ihrer Lage fügt sie die bekannten,
herrlichen Worte hinzu: „Wohin du gehst, will
ich gehen, und wo du weilst, will ich weilen; dein Volk
ist mein Volk, und dein Gott ist mein Gott...nur der
Tod soll scheiden zwischen mir und dir." (V. 16. 17.)
Für den Glauben sind die Götzen wertlos und alle Schwierigkeiten
gegenstandslos. Er wendet sich zu dem lebendi-
21
gen, allein wahren Gott; Ihm und Seinem Volke muß
er sich anschließen, koste es was es wolle. Für ihn gibt
es nur einen Weg, und diesen geht er, alles Weitere
Gott überlassend.
Glückliche, beneidenswerte Ruth! Wie beschämt uns
diese Fremde aus den Gefilden Moabs, und wie erquickend
war ihr Glaube für das Herz Gottes! Sie trat in die
Fußtapfen der Patriarchen, von denen das Wort bezeugt,
„daß sie ein Vaterland suchten. Und wenn sie an jenes gedacht
hätten, von welchem sie ausgegangen waren, so
hätten sie Zeit gehabt zurückzukehren. Jetzt aber trachten
sie nach einem besseren, das ist himmlischen. Darum
schämt sich Gott ihrer nicht, ihr Gott genannt zu werden,
denn Er hat ihnen eine Stadt berei et." (Hebr. 11,14—16.)
A lch Boas erkennt nachher das Tun Ruths rühmend
an. Es hat seine Bewunderung erregt, sein Herz für sie
gewonnen. „Es ist mir alles wohl berichtet worden, was
du an deiner Schwiegermutter getan hast nach dem Tode
deines Mannes, indem du deinen Vater und deine Mutter
verlassen hast und zu einem Volke gezogen bist, das
du früher nicht kanntest. Jehova vergelte dir dein Tun
usw." (Kap. 2, 11. 12.)
Geben auch wir wohl in ähnlicher Weise Gott Veranlassung,
unser Tun zu vergelten?
Berichtigung
In der Derember-Nummer des „Botschafter" Seite Z24 ist
leider durch die Unachtsamkeit des Setzers in letzter Stunde ein
grober, sinnWrcndcr Fehler in den Text gebracht worden, peile >2
von oben muß lauten:
im Fleische verurteilte." (Röm. 8, 2. 2.) Die
Ersatzzeilcn zum Überkleben der Stelle stehen auf Wunsch gern
zur Verfügung.
22
„Gott alles in allem"
Immer wieder wird gefragt, was der Ausdruck: „auf
daß Gott alles in allem sei", zu bedeuten habe, und viele
falsche, irreführende Gedanken sind schon darüber geäußert
worden. Wollen wir den Ausdruck richtig verstehen, so
müssen wir zunächst den Zusammenhang beachten, in welchem
er vorkommt. Der Apostel redet in t. Kor. 45, 24 ff.
von dem „Ende", wann Christus „das Reich dem Gott
und Vater übergibt, wenn Er alle Herrschaft und alle Gewalt
und Macht weggetan haben wird", mit einem Worte,
wenn die Zeit vorüber ist und der ewige Zustand beginnt.
Christus ist als Mensch der hochgeborene Mann, der
in ein fernes Land gezogen ist, „um ein Reich für sich zu
empfangen". (Luk. 49, 42.) Gegenwärtig weilt Er noch
dort, „wir sehen Ihm noch nicht alles unterworfen".
(Hebr. 2, 8.) Aber wenn Gott den Erstgeborenen wieder
in den Erdkreis einführt, wird Er nicht nur zum Erbteil
haben die Nationen und zum Besitztum die Enden der Erde,
sondern Er wird herrschen über alle Werke der Hände Gottes.
(Vergl. Ps. 2, 8 mit 8, 5—7.) Und Er wird als
Mensch das Ihm übertragene Reich in Wahrheit und Gerechtigkeit
verwalten, indem Er alle entgegenstchenden
Herrschaften, Gewalten und Mächte zu Boden wirft und
hinwegtut. Mit dem Wegtun des Todes, des letzten Feindes,
wird die Unterwerfung aller Seiner Gegner vollendet
sein. „Alles" wird Ihm dann zu Füßen liegen. Und
dann wird der einzig Vollkommene und Würdige das Reich
dem Gott und Vater übergeben.. Er „empfängt" das
23
Reich, verwaltet es tausend Jahre in Abhängigkeit von
Gott und „übergibt" es dann wieder in derselben Vollkommenheit,
wie Er es empfangen hat. Alle früheren Verwalter
haben sich als untreu oder unvollkommen erwiesen,
nicht einer hat das wieder übergeben, was er empfangen
hatte. Christus ist in dieser wie in jeder anderen Beziehung
der einzig Vollkommene.
„Wenn Ihm aber alles unterworfen sein wird, dann
wird auch der Sohn selbst Dem unterworfen sein, der Ihm
alles unterworfen hat, auf daß Gott alles in allem
sei." Die Menschheit, die einmal von Ihm angezogen wurde,
wird Er niemals kvieder beiseite legen. „Jesus Christus
istderselbe gestern und heute und in Ewigkeit." (Hebr.
Z3, 8.) Aber alle Ihm als Mensch übertragene Autorität
wird aufhören, und der Sohn wird dann selbst unterworfen
sein. Er wird in diesem Sinne aufhören zu „herrschen",
niemals aber wird Er aufhören, „Mensch" oder
„Sohn" zu sein. Die Stelle will uns also, wie gesagt, nur
zeigen, daß alle Ihm „übertragene" Autorität aufhören
wird. Wenn die Hand Gottes einen Schauplatz schaffen
wird, der Ihm völlig entspricht, den neuen Himmel und
die neue Erde, wenn Er sagen wird: „Siehe, ich mache
alles neu", und: „Es ist geschehen", und dann ruhen
wird in Seiner Liebe von all Seinem Werk, dann wird
gleichsam Gott allein, in Seiner Natur und in all den
Vollkommenheiten Seines Wesens- gesehen werden und
die Ruhe der Menschen wie der ganzen neuen Schöpfung
bilden von Ewigkeit zu Ewigkeit.
„Gott wird alles in allem sein." Beachten wir, daß
es nicht heißt: der Vater, sondern Gott, d. i. Vater,
Sohn und Heiliger Geist, wird alles in allem sein, an
24
Stelle des Reiches des Menschen in dem erhöhten und
zum Herrscher berufenen Christus. So wird denn zunächst
der Mensch in der Person Christi über alles Geschaffene
regieren, und dann wird Gott alles in allem sein da,
wo die Gerechtigkeit nicht mehr zu herrschen braucht, sondern
wo sie ihre Heimstätte hat, wo sie wohnen wird
in nie endendem Segen und Frieden.
Das Tausendjährige Reich ist der Gegenstand der
Ratschlüsse Gottes und der Prophezeiung. Es ist der Zeitabschnitt,
den der Apostel Paulus in Eph. l, rv „die
Verwaltung der Fülle der Zeiten" nennt. Zn ihm wird
Gott alles unter ein Haupt zusammenbringen in dem
Christus, alles wird dann dem zweiten Menschen anvertraut
und von Ihm in Vollkommenheit verwaltet werden.
Der ewige Zustand, der neue Himmel und die neue
Erde, ist nicht Gegenstand der Prophezeiung. Nirgendwo
im Alten Testament ist er geoffenbart. Er ist gleichsam
das Ergebnis dessen, was Gott in sich selbst ist: Licht
und Liebe. Im Tausendjährigen Reiche erblicken wir die
Erfüllung der Ratschlüsse und Absichten Gottes hinsichtlich
der Verherrlichung Christi und der Segnung des Menschen.
In dem ewigen Zustand wird alles Zeugnis ablcgen
von der bedingungslosen Vollkommenheit des oben besprochenen
Ausdrucks: „Gott wird alles in allem sein".
Im Tausendjährigen Reiche gibt es noch Böses und darum
Anlaß für die Gerechtigkeit, zu „herrschen". Der Sünder,
d. h. der Mensch, der in grober, offenkundiger Weise
die göttlichen Gebote übertritt, wird verflucht und mit
dem Tode bestraft werden, und „jeden Morgen" werden
die Gesetzlosen des Landes vertilgt und alle, die Frevel tun,
aus der Stadt Jehovas ausgerottet werden. (Jes. öS, 20;
25
Ps. 101, 8.) Der Zustand ist also noch nicht vollkommen.
In der neuen Schöpfung, dem ewigen Zustand, aber wird
alles bedingungslos gut sein, die Sünde, nicht nur ihre
Folgen, ist aus immerdar abgeschafft, und darum wird in
dem neuen Himmel und auf der neuen Erde Gerechtigkeit
„wohnen". (2. Petr. 3, 1.3.)
, Den vollsten und umfassendsten Bericht über den
ewigen und unbedingt vollkommenen Zustand, der dem
Tausendjährigen Reiche folgen wird, finden wir in Offbg.
21, 1—s. Alle Zeitunterschiede und -Bestimmungen sind
vorüber. Wir sind in die Ewigkeit eingetreten. Himmel und
Erde sind entflohen vor dem Angesicht Dessen, der auf dem
Throne sitzt. (Kap. 20, 11.) Der Tag ist vorüber, an welchem,
wie Petrus sagt, „die Himmel vergehen werden mit
gewaltigem Geräusch, die Elemente aber im Brande werden
ekufgelöst und die Erde und die Werke auf ihr verbrannt
werden". (2. Petr. 3, 10.) „Der große weiße Thron" ist
aufgerichtet worden, und „die Toten, die Großen und die
Kleinen", sind vor ihm erschienen, um von den Lippen
des Richters ihr endgültiges und unwiderrufliches Urteil
zu vernehmen. Bis dahin aufbewahrt durch die Macht Gottes,
sind sie nun auferweckt, um nach Vollendung der
Zeit ihr ewiges Gericht zu empfangen.
„Und ich sah einen neuen Himmel und eine neue
Erde". (Kap. 21,1.) Psalm 102,2b ist in Erfüllung gegangen.
Der alte Himmel und die alte Erde sind vergangen oder,
wohl richtiger gesagt, „verwandelt", alles ist neu geworden.
Doch wie es im Tausendjährigen Reich einen Unterschied
geben wird zwischen himmlischen und irdischen Heiligen,
so wird auch im ewigen Zustand ein ähnlicher Unterschied
bestehen. Die Braut wird ihr Glück darin finden,
26
daß sie des Bräutigams ist, während die Freunde des
Bräutigams, wenn wir sie so nennen dürfen, sich Seiner
unmittelbaren Gegenwart erfreuen werden. (Vergl. Joh.
Z, 29.) Aber die Segnung wird auf ewig fester Grundlage
ruhen. Die Braut kommt von Gott in diese neugeschaffene
Welt herab, um „als die Hütte Gottes bei den Menschen"
hier ihren Aufenthalt zu nehmen.
„Und ich sah die heilige Stadt, das neue Jerusalem,
aus dem Himmel herniederkommen von Gott, bereitet
wie eine für ihren Mann geschmückte Braut." Die letzten
Worte, in Verbindung mit den Versen 9 und 10 unseres
Kapitels, zeigen uns deutlich, was unter dem Bilde dieser
heiligen Stadt zu verstehen ist. Es ist die Braut, das
Weib des Lammes, immer noch geschmückt mit ihren Hochzeitsgewändern
(Kap. 19, 7—9), die Braut, die nach
Verlauf der „tausend Jahre" in derselben Frische und
Schönheit ihrer bräutlichen Zuneigungen und der vollzogenen
Verbindung in den ewigen Zustand eintritt, wie sie
beim Hochzeitsmahle des Lammes gesehen wurde. Gott
wird dann bei den Menschen wohnen, nicht mehr über
ihnen, wie im Reiche (vergl. Kap. 7, 15; Hes. Z7, 27),
und zwar in Seiner Hütte, der Kirche oder Gemeinde.
„Der Tag Gottes" ist angebrochen. (2. Petr. 3, 12.)
In dieser neuen Schöpfung gibt es keinen Raum
mehr für ein auöerwähltes irdisches Volk (Israel), noch
für Nationen oder Völker der Erde; das Alte ist vergangen.
Da ist nur ein Volk, die Menschen der neuen Erde,
Gottes Volk, und inmitten dieses Volkes eine Hütte,
ein Tempel, in welchem Gott b e i Seinem Volke wohnt.
Ein weiteres bemerkenswertes Kennzeichen des völlig
„Neuen" ist das Fehlen des Meereö. „Daö Meer ist nicht
27
mehr" — ein Beweis nicht nur dafür, daß alles Trennende
und Unbeständige für immer hinweggetan sein wird, sondern
auch für die völlige Umordnung der Dinge im Blick
auf den leiblichen Zustand und das Dasein des Menschen.
Während das Meer heute für das Leben der Menschen
und das Bestehen der ganzen Schöpfung unentbehrlich ist,
wird es dann nicht mehr notwendig sein, weil der inmitten
Seiner neuen Schöpfung wohnende Gott ihr Leben,
ihre Ruhe, ihre Freude, ihr Alles ausmachen wird. „Gott
alles in allem" — selbst das Lamm wird hier nicht erwähnt.
Gott redet, Gott schmückt, Gott wohnt in
Seiner Hütte, bei Seinem Volke, Gott wischt die
Tränen ab, Gott macht alles neu, von Gott kommt
alles.
„Und Er wird jede Träne von ihren Augen abwischen,
und der Tod wird nicht mehr sein, noch Trauer, noch Geschrei,
noch Schmerz wird mehr sein; denn das Erste ist
vergangen." (V. 4.) Die Braut hatte schon tausend Jahre
lang und länger nicht mehr geweint, aber im Reiche auf
dieser Erde waren immer noch Tränen geflossen, und welch
einen Schrecken, welches Geschrei wird das letzte furchtbare
Gericht über diese Erde und ihre Bewohner bringen,
wenn Feuer aus dem Himmel herniederkommt von Gott
und sie alle verschlingt! (Kap. 20, 7—40.)
Welche Feder könnte die Herrlichkeit dieses Zustandes
auSmalen, welcher menschliche Geist sie nur ahnen! Die
Sünde mit allen ihren furchtbaren Folgen ist für immer
hinweggetan, abgeschafft durch das Blut des Lammes!
Gott selbst wird dem Ganzen den Stempel Seiner unendlichen
Vollkommenheiten aufdrücken. Alles, was uns an
die Welt, ihre Wege, ihre stets wechselnden Szenen, ihre
28
Sünden und Schmerzen erinnern könnte, wird aus diesem
Bereich unvergänglicher Freude und unerschütterlichen Friedens
verbannt sein. „Gott alles in allem" — „siehe, ich
mache alles neu." Möchte der Heilige Geist diese beiden
Worte tief in unsere Herzen schreiben!
„Und Er spricht zu mir: Schreibe, denn diese
Worte sind gewiß und wahrhaftig."
Heimfahrt
Der Wimpel webt vom Maste,
Die Heimat ist nicht fern;
Mein Schifflein, mmmer raste,
Sich dort den Morgenstern!
Schon will's im Osten tagen
In Farben, licht und zart.
Voraus denn, obne Zagen!
Bald endet ja die Fahrt.
Ging's auch durch Sturm und Fluten,
Ost knapp vorbei am Njff —
In guten Händen ruhten
DaS Steuer und das Schiff.
Drum auf, mein Schifflcin, eile!
Dein Führer nimmer weicht;
Noch eine kleine Weile,
Dann ist das Ziel erreicht.
Bald geht dein Anker nieder
In ew'gen Ankergrund,
Dann machen frohe Lieder
Das Glück der Heimat kund. R. B.
Unabhängigkeit auf kirchlichem Gebiet *)
*) Nach „Ein Wort über kirchliche Unabhängigkeit" von
I. N. Darby. Vergl. „Botschafter" 188Z, S. 85—Y8.
Ehe wir auf unseren eigentlichen Gegenstand eingehen,
sei ein kurzes Wort gesagt über zwei Dinge oder Begriffe,
die mit ihm in Verbindung stehen und, obwohl
grundverschieden in sich selbst, immer wieder miteinander
verwechselt oder doch nicht genügend auseinander gehalten
werden. Diese beiden Dinge heißen persönliches Urteil
und Gewissen. Die Verschiedenheit derselben festzustellen
ist nicht schwer. Die Autorität eines Vaters wird
allgemein anerkannt. Ein Kind ist verpflichtet, dem Vater
zu gehorchen. Wenn es sich aber um Gewissenssachen handelt,
bei welchen die Autorität Christi oder des Wortes
Gottes in Frage kommt, kann die väterliche Autorität unter
Umständen nicht beachtet werden. Ein Christ soll den
Herrn mehr lieben, als selbst Vater und Mutter. Wollte
aber ein Kind die Autorität seines Vaters in allem verwerfen,
worin sein persönliches Urteil von dem des Vaters
abweicht, so wäre es mit aller väterlichen Autorität
vorbei. Es mag Fälle geben, in denen man sorgfältig, ja,
ängstlich untersuchen muß, worin die vorliegende Pflicht
besteht, Fälle, in denen nur ein geistliches Unterscheidungsvermögen
zu einem richtigen Urteil kommen kann; aber
das ändert nichts an dem Grundsatz.
Solche Auönahmefälle kommen in dem ganzen christlichen
Leben vor. Wir müssen geübte Sinne haben, um
30
zwischen gut und böse zu unterscheiden. „Seid nicht töricht,
sondern verständig", schreibt Paulus an die Epheser,
„was der Wille des Herrn sei". (Eph.
5, H.) Derartige Übungen sind unerläßlich und nützlich.
Doch eine Vermengung des Urteils, das ich mir über
irgend eine Sache bilde, mit dem, wozu das Gewissen
mich verpflichtet, ist im Grunde nichts anderes als eine
Vermengung vonWille und Gehorsam. Ein aufrichtiges,
wahres Gewissen ist immer gleichbedeutend mit Gehorsam
gegen Gott. Wenn ich aber mein Urteil, das
was ich erkenne oder ei ns ehe, zur Grundlage meines
Handelns mache, es für genügend erachte zur Bestimmung
meines Tuns, so habe ich den Boden des Gehorsams
verlassen, das eigene Ich und der eigene Wille sind
auf dem Thron.
Wenden wir dies auf die Sache an, von der wir reden
wollen. Gott hat Seiner Versammlung (Gemeinde) auf
dieser Erde die Pflicht auferlegt und die Macht verliehen,
Zucht auözuüben. „Ihr, richtet ihr nicht die drinnen sind?
. . . tut den Bösen von euch selbst hinaus." (d. Kor.
5, r2. 13.) Nehmen wir nun den Fall an, in einer Versammlung
ist jemand wegen einer bösen Sache ausgeschlossen
worden. Alle erkennen an, daß ein solcher, wenn
er wahrhaft gedemütigt ist, wiederzugelassen werden sollte.
Die Versammlung glaubt nun, daß er gedemütigt sei; ich
aber bin nicht davon überzeugt. Man läßt ihn wieder
zu. Soll ich mich nun weigern, mich der Handlung der
Versammlung zu unterwerfen, mich gar von ihr zurück-
ziehen, weil sie nach meiner Meinung irrt?
Nehmen wir den umgekehrten Fall an, einen Fall,
der das Herz noch mehr auf die Probe stellt, daß ich
— zr —
nämlich von der Demütigung des Betreffenden überzeugt
bin, während die Versammlung es nicht ist. Was soll ich
jetzt tun? Soll ich meine Meinung der Versammlung aufzudrängen
suchen? Nein, ich unterwerfe mich einfach ihrem
Urteil, obwohl ich es für irrig halte, und warte auf den
Herrn, daß E r es berichtigen möge. Das ist Demut, die
dem eigenen Ich den ihm gebührenden Platz gibt und die
eigene Meinung anderen gegenüber nicht durchzusetzen
sucht, obwohl man für sich überzeugt sein mag, daß man
im Recht ist.
Damit steht eine andere Frage in Verbindung, daß
nämlich die Handlungen der einen Versammlung für die
andere bindend sind. Von unabhängigen Versammlungen
weiß die Schrift nichts. Da ist nur ein Leib, der
Leib Christi, und alle wahren Gläubigen sind Glieder dieses
Leibes. Ferner stellt eine Versammlung an einem
Orte, wenn sie anders auf dem Boden der Wahrheit steht,
die ganze Versammlung (Gemeinde) Gottes dar und handelt
in ihrem Namen. Darum werden in der Anrede des
ersten Korintherbriefcs, der diesen Gegenstand behandelt
und sich an „die Versammlung Gottes in Korinth" wendet,
alle Christen miteingeschlossen. Zugleich aber wird
auch die örtliche Versammlung als der Leib betrachtet —
„ihr aber seid Christi Leib und Glieder insonderheit"
(Kap. 72, 27) — und verantwortlich gemacht, die Reinheit
der Versammlung aufrecht zu halten. Der Herr wird
als in ihr gegenwärtig gesehen, und was getan wurde, geschah
in dem Namen unseres Herrn Jesus
Christus. (Kap. 5, 4.) Diese Tatsache wird völlig
außer acht gelassen, wenn man, wie es oft geschieht, im
Blick auf eine Versammlung von sechs oder sieben fähi-
32
gen, einsichtsvollen Brüdern redet, während man die anderen
als mehr oder weniger unwissend betrachtet. Man
setzt damit die Gegenwart des Herrn in der Mitte einer
Versammlung beiseite. Aber, wendet man ein, kann das
Fleisch nicht wirksam sein? Gewiß, aber warum setzt man
die Wirksamkeit desselben in einer Versammlung voraus
und vergißt, daß es in einer einzelnen Person wirken kann?
Ferner spricht man davon, daß man zunächst dem
Herrn und dann erst der Versammlung gehorchen müsse.
Aber wenn der Herr in der Versammlung ist, so stellt
man durch ein solches Reden doch sein eigenes, persönliches
Urteil dem Urteil einer Versammlung entgegen, die in dein
Nomen Jesu mit Seiner Verheißung (Matth. 1.8,18—20)
zusammenkommt — wenn sie das n i ch t tut, so kann ich
sie überhaupt nicht als eine Versammlung Gottes anerkennen.
Der obige Ausspruch macht also aus Christo und
der Versammlung zwei Parteien. Sicherlich darf ich einer
Versammlung gegenüber meine Meinung äußern und
kann ihr in der einen oder anderen Weise behilflich sein,
eben weil ich ein Glied Christi bin und als solches, wenn
es sich anders um eine Versammlung in dem eben angedeuteten
Sinne handelt, zu ihr gehöre; aber wenn ich an-
nchme, daß Christus nicht in ihr ist, so leugne ich damit,
daß sie überhaupt eine Versammlung Gottes ist. Ich
frage dann auch nicht, ob ein Wort der Schrift für den
behandelten Fall vorliegt, sondern sage einfach: „Ich denke
anders darüber", oder: „Ich sehe nicht ein, daß man
so und so handeln mußte". Ich traue somit meinem eigenen
Urteil mehr zu, als dem der Versammlung, und zwar
in Dingen, die Gott ihrer Sorge anvertraut hat. Daß
auch eine Versammlung irren kann, sagten wir schon, aber
— 33 —
wird dadurch die Treue des Herrn aufgehoben, oder die
Bereitwilligkeit des Heiligen Geistes, in einem solchen
Falle zu Hilfe zu kommen? O wenn wir nur mehr auf
diese Treue rechnen und in Einfalt und Demut auf diese
Hilfe warten wollten! Wir würden gesegnete Erfahrungen
machen und kostbare Gebetöerhörungen erleben.
Wir sagten im Anfang, daß die Schrift von „unabhängigen"
Versammlungen nichts wisse. Wenn eine Versammlung
mit Ruhe und Ernst eine Juchtfrage behandelt
und zur Entscheidung gebracht hat, so sollten die anderen
Versammlungen diese Entscheidung annehmen und die
Handlung anerkennen. Wenn der Böse in Korinth hinausgetan
war, sollte er dann in Ephesus zugelassen werden?
Wo wäre da die Einheit? Was würde aus der Gegenwart
des Herrn in der Mitte der Versammlung? Was die meisten
von uns aus den verschiedenen kirchlichen Systemen
herausgeführt hat, ist gerade die Wahrheit von der Einheit
des Leibes. Denn die Leugnung dieser Wahrheit kennzeichnet
jene Systeme. Vergessen wir deshalb nicht, daß jede
Versammlung (mag sie auch ihrem Bekenntnis nach auf
dem Boden der Absonderung stehen), die unabhängig von
der anderen handelt, indem sie von ihr unter Jucht gestellte
Personen aufnimmt, jene Einheit verwirft. Ihr unabhängiges
Handeln hebt die Einheit des Leibes in praktischem
Sinne auf.
Es wird oft behauptet, „daß die Anerkennung Christi
als Herr das Band der Einheit zwischen den Versammlungen
bilde". Aber wo findet sich in der Schrift ein Beleg
für diese Behauptung? Herrschaft ist etwas durchaus Persönliches;
die Schrift redet nie von einem Herrn deö
Leibes. Christus ist Herr über einzelne, aber nicht
34
über den Leib. Er ist das Haupt des Leibes, Haupt über
alle Dinge. Einheit besteht ebensowenig durch Herrschaft,
wie in der Vereinigung von Versammlungen. Wenn es
sich um Einheit handelt, spricht die Schrift nie von Versammlungen,
auch nicht von einem Bande zwischen
den Versammlungen. Sicher wird der Gehorsam dem
Herrn und Seinem Wort gegenüber, wie jede andere
christliche Tugend, zur Bewahrung der Einheit beitragen,
aber die Einheit ist eine Einheit des Geistes, und zwar in
dem Leibe, nicht aber in so und so vielen Leibern. Die
hie und da aufgetauchte Meinung, daß die einzelnen Versammlungen
als solche Glieder des Leibes seien, ist
durchaus schriftwidrig. Sowohl der Epheserbrief als auch
die beiden Korintherbriefe lehren klar und bestimmt, daß
die Einheit in dem Geiste und durch den Geist ist, und
daß Christus in dieser Beziehung den Platz des Hauptes,
nicht aber des Herrn hat. Der letzte Titel steht,
wie gesagt, mit uns als Personen in Verbindung.
Ein besonders beliebter Einwurf, den man immer
wieder hört, lautet: „Kein Mensch ist unfehlbar, auch eine
Versammlung nicht". Recht. Aber warum spricht man so?
Um seiner Verantwortlichkeit zu entgehen. Man verwechselt
Unfehlbarkeit mit Autorität. In hundert
Fällen kann man verpflichtet sein zu gehorchen, wo Unfehlbarkeit
gar nicht in Frage kommt. Wäre es anders,
so könnte in der Welt von keiner Ordnung mehr die Rede
sein. Wir sprachen bereits von dem Verhältnis eines Vaters
zu seinen Kindern. Ein Vater ist nicht unfehlbar, aber
er besitzt eine ihm von Gott anvertraute Autorität, und
es ist Pflicht, sich dieser zu unterwerfen. Ein Polizeibeam
35
ter ist nicht unfehlbar, aber soweit seine Befugnisse reichen,
ist man seinen Anordnungen Gehorsam schuldig. Die
Frage ist eben, ob und inwieweit man zu etwas befugt,
nicht ob man unfehlbar ist.
Die Autorität mag mißbraucht werden, es mag Mittel
gegen einen solchen Mißbrauch geben, oder in gewissen
Fällen, wie wir bereits andeuteten, auch eine Verweigerung
des Gehorsams am Platze sein — wir sollen Gott
mehr gehorchen, als den Menschen — aber niemals wird
in der Schrift dem menschlichen Willen als solchem Freiheit
gegeben. Wir sind geheiligt zu dem Gehorsam Jesu
Christi, (r. Petr, r, 2.) Wandeln wir auf diesem Pfade,
indem wir Gottes Willen in einfältigem Gehorsam zu
erfüllen begehren, ohne daß wir jede Frage, die erhoben
werden könnte, persönlich zu lösen suchen, so wandeln wir
in Frieden. Es ist der Pfad der Weisheit Gottes, und deshalb
verfehlen ihn so viele, die sich selbst für weise halten.
Die Einführung der Unfehlbarkeitsfrage verrät den
Wunsch, einen freien Willen zu haben, sowie ein Vertrauen
auf das eigene, persönliche Urteil. Es gibt in der
Kirche Gottes eine richterliche Autorität, eine Pflicht und
eine Macht, Jucht auszuüben; wenn es nicht so wäre,
würde schließlich jede Sünde und Ungerechtigkeit durch den
Namen Christi geheiligt werden. Wie schrecklich wäre das!
Aber leider wird so etwas von manchen gesucht und verteidigt.
Man sagt: Welche Ungerechtigkeit oder welcher Sauerteig
auch in einer Versammlung geduldet werden mag, die
Versammlung selbst wird nicht davon durchsäuert. So böse
solche Behauptungen sind, haben sie doch auch wieder ihr
Gutes, indem aufrichtigen, das Gute liebenden Seelen dadurch
die Augen aufgehen.
Wir hörten schon, daß der Versammlung Gottes in
Korinth das Wort zugerufen wird: „Ihr, richtet ihr nicht
die drinnen sind? Die aber draußen sind richtet Gott; tut
den Bösen von euch selbst hinaus." (t. Kor. 5, t2. dZ.) Die
Versammlung war und ist also berufen, eine richterliche
Autorität auszuüben. Tut sie das nicht, so wird sie, ich
wiederhole es, letzten Endes zur Beglaubigen» aller Art
von Sünde und Schlechtigkeit. Übt sie aber ihre Autorität
im Gehorsam gegen Gottes Wort gus, so sind andere verpflichtet,
ihre Handlungen zu beachten und zu ehren. Erweist
sich das Fleisch in einer Versammlung wirksam, so
gibt es, wie gesagt, in der Gegenwart des Geistes Gottes
und in der bedingungslosen Autorität des Herrn Jesus
Mittel, um dieser Wirksamkeit zu begegnen. Jedenfalls
aber liegt das Heilmittel nicht in der Behauptung, daß
jede christliche Versammlung oder Gemeinschaft, als eine
freiwillige Vereinigung, von den anderen unabhän-
g i g sei. Diese Behauptung ist schriftwidrig und leugnet die
Einheit des Leibes Christi, sowie die Gegenwart und Tätigkeit
des Heiligen Geistes in ihm.
Suchen wir uns die Sache an einem Beispiel klarzumachen.
Wir alle haben wohl schon von dem Bunde oder
der Gesellschaft der „Freimaurer" gehört. Über viele Länder
hin verbreitet, aus zahlreichen örtlichen Verbänden,
„Logen" genannt, bestehend, bildet der ganze Bund doch
grundsätzlich eine Einheit, nur eine Loge. Denken wir
uns nun, eine örtliche Loge habe eines ihrer Mitglieder
aus irgend einem Grunde ausgeschlossen. Einige andere
Logen, in der Meinung, dem Betreffenden sei unrecht geschehen,
würden nun, anstatt die erste Loge um eine nochmalige
Prüfung des Falles zu ersuchen, den AuSgeschlosse
37
nen ohne weiteres, auf ihre eigene Autorität hin, aufneh-
mcn — wo wäre dann die Einheit des Freimaurersystems?
Sie hätte offenbar aufgehört zu bestehen. Eine jede Loge
wäre eine unabhängige, für sich selbst handelnde Körperschaft.
Es wäre nutzlos zu behaupten, daß ein Unrecht geschehen,
und daß keine Loge unfehlbar sei. Die Einheit des
Ganzen wäre dahin. ES mag für derartige Schwierigkeiten
Vorsorge getroffen sein, aber das was die unzufriedenen
Logen täten, wäre nichts anderes als eine Bevormundung
der einzelnen Loge, sowie die Leugnung ihres
Rechtes, ihre Angelegenheiten zu ordnen, und müßte
schließlich die Auflösung des ganzen Ordens herbeiführen.
Geradeso hat eine Versammlung nicht das Recht,
über eine andere zu Gericht zu sitzen bezw. sich über deren
Handlungen hinwegzusetzen. Es wäre das eine Leugnung
der ganzen Art und Weise, wie die Versammlung oder Gemeinde
Gottes zusammengefügt ist. Daß jede Versammlung
selbständig und deshalb verantwortlich ist, die
göttliche Ordnung in ihrer Mitte aufrecht zu halten, bedarf
keiner weiteren Erörterung; aber wenn man behauptet,
daß jede Versammlung eine Körperschaft für sich bilde,
deren Handlungen keine bindende Kraft für die übrigen
habe, so schafft man damit ein System des Jndependen-
tismus, der Unabhängigkeit. Viele mögen einem
solchen System das Wort reden, weil sie unabhängig zu
urteilen lieben, aber die ganze Sache wird durch die Schrift
verurteilt. Wenn in den ersten Tagen der Kirche die Versammlung
in Antiochien Gläubige aus den Heiden zuließ,
ohne die Beschneidung von ihnen zu fordern, so dachte
niemand daran, daß die Versammlung in Jerusalem diese
zurückweisen, und daß doch alles nach der Ordnung der
38
Versammlung Gottes vorangehen könnte. (Vergl. Apstgsch.
15.) Von solcher Unabhängigkeit und Unordnung findet
sich in dem Worte keine Spur. Es enthält vielmehr alle
möglichen tatsächlichen Beweise dafür, daß es nur einen
Leib auf der Erde gab, in welchem nur e i n Geist wirkte
und leitete, und dessen Segensgrundlage gerade jene Einheit
bildete, deren Bewahrung die Pflicht jedes einzelnen
Gläubigen war. Und wie es damals war, so ist es heute
noch. Der Eigenwille mag wünschen, daß es sich anders
verhalten möchte, nicht aber der demütige Gehör-
s a m gegen das Wort.
Es mögen sich Schwierigkeiten erheben, die nicht von
einen! apostolischen Mittelpunkt, wie er sich damals in
Jerusalem befand, geordnet werden können. Wir haben
einen solchen Mittelpunkt nicht mehr; aber unsere Zuflucht
ist die Wirksamkeit des Geistes in der Einheit des Leibes,
die Tätigkeit der Gnade und hilfreicher Gaben, sowie die
Treue eines gnädigen Herrn, der verheißen hat, uns nie
zu verlassen noch zu versäumen. Und diese kostbaren Dinge
werden uns bleiben bis ans Ende.
Wie die Tätigkeit des Heiligen Geistes in der Zeit
von Apostelgesch. 15 sich in der Einheit des Leibes entfaltete,
so wird sie es immer tun. Vergessen wir auch nicht,
daß die Belehrungen des Apostels Paulus sich, wie schon
bemerkt, nicht nur an die örtliche Versammlung in Korinth
richteten, sondern an „alle, die an jedem Orte
den Namen unseres Herrn Jesus Christus anrufen". Sie
sind also bindend für alle Christen, damals wie heute.
Ich wiederhole noch einmal: Hätte wohl der Mann, der in
Korinth ausgeschlossen worden war, an irgend einem anderen
Orte, sagen wir in Ephesus oder Antiochien, aufge
39
nommen werden dürfen, sodaß jene Handlung nur für
Korinth wirksam gewesen wäre und jede andere Versammlung
nach Belieben hätte handeln können? Welchen Zweck
hätten dann die ernsten Anweisungen des Apostels gehabt?
Und jene Anweisungen haben auch heute noch für
uns bindende Kraft, sie sind Gottes Wort.
Vielleicht wird man wieder einwenden: „Das alles
ist recht und gut, wenn nur das Fleisch nicht vorhanden
wäre". Zeh kann darauf nur antworten: Daß das Fleisch
in Tätigkeit treten kann, ist zweifellos. Die Erfahrung
hat es oft und schmerzlich genug gelehrt. Aber das was
die Einheit der Versammlung leugnet, was sich eigenwillig
erhebt und sie in viele unabhängige Körperschaften zersplittert,
ist nichts als Fleisch. Erweist sich das
Fleisch wirklich tätig, so werden demütige Seelen von den
genannten Heilmitteln, der Hilfe des Geistes und der
Sorge ihres treuen Herrn, dankbaren Herzens Gebrauch
machen und werden erfahren, daß sie es nicht umsonst tun.
Ium Schluß noch ein kurzes Wort über einen Punkt,
der auch schon oft Schwierigkeiten bereitet hat. Wenn
zwei oder drei Gläubige an einem Orte sich als solche regelmäßig
versammeln, so bilden sie offenbar eine Versammlung,
und wenn sie dem Worte gemäß versammelt
sind, eine Versammlung Gottes. Man kann sie aber, (auch
im letzten Falle) und wenn neben ihnen keine andere
Versammlung an diesem Orte besteht, nicht die Versammlung
Gottes nennen, weil die Versammlung Gottes
an einem Orte alle dort wohnenden Gläubigen umfaßt.
Durch die Annahme jenes Titels oder Namens würde
man den allgemeinen Verfall der Kirche aus dem Auge
40
verlieren und in die Gefahr kommen, sich etwas zu dünken,
was man nicht ist. Wenn aber irgendwo eine solche
Versammlung besieht, und es wird, in bewußter Unabhängigkeit
von ihr, eine zweite aufgerichtet, so ist
diese zweite nicht eine Darstellung der Versammlung Gottes.
Sie kann es nicht sein aus dem einfachen Grunde,
weil sie, in Unabhängigkeit von der Einheit des Geistes,
nach dem Gutdünken des Menschen aufgerichtet worden
ist. Nachdem die Wahrheit von der Einheit des Leibes in
unseren Tagen wieder zur Darstellung gekommen und als
schriftgemäß bekannt geworden ist, muß Unabhängigkeit
auf kirchlichem Gebiet in verschärftem Maße zu einem
Übel in den Augen Gottes werden.
Unkenntnis der Wahrheit oder doch ein
mangelhaftes Erkennen derselben ist unser gemeinsames
Los in vielen Beziehungen; aber Widerstand gegen
die Wahrheitist etwas ganz anderes. Man behauptet
zwar immer wieder, der Verfall der Kirche sei gegenwärtig
so groß, daß eine schriftgemäße, der Einheit des Leibes
entsprechende Ordnung gar nicht mehr aufrecht gehalten
werden könne. Aber man sagt in Wirklichkeit damit, daß
es unmöglich sei, das Abendmahl in der richtigen, Gott
wohlgefälligen Weise zu feiern; denn die Schrift sagt:
„E i n Brot, e i n Leib sind wir, die Vielen, denn wir alle
nehmen teil an (od. genießen von) dem einen Brote".
Wir bekennen also, so oft wir das Brot brechen, ein
Leib zu sein, die Schrift weiß von nichts anderem. Wer
also in obiger Weise spricht, behauptet, daß eine solche
Feier heute nicht mehr möglich ist, und zieht eine schrift-
widrige Ordnung, oder richtiger Unordnung, der von
Gott geschaffenen und gewollten vor.
- 41 —
Gott sei gepriesen, daß menschliche Gedanken, Vernunftgründe
und dergleichen Seine Wahrheit nicht umstoßen
können! Sie bleibt zu allen Zeiten und unter
allen Umständen unveränderlich dieselbe. Und glücklich
der Mensch, der da „zittert vor Seinem Wort"! Auf ihn
„will Gott blicken". (Jes. 66, 2.) Er kann, auf dem
schmalen Pfade der Wahrheit wandelnd, stets auf Gott
rechnen und alle etwa entstehenden Folgen Ihm getrost
überlassen.
Gottes VL>ort und Gebet
ii.
Wir sahen im vorigen Abschnitt, wie wichtig es für
den Gläubigen ist, mit dem geschriebenen Worte Gottes
vertraut zu sein, als seiner Speise, der Quelle seiner Kraft,
dem hell leuchtenden Licht auf seinem Wege, als seinem
Tröster und Ratgeber, dem Schwerte des Geistes usw.
Doch es gibt noch etwas anderes, das für die Entwicklung
des geistlichen Lebens außerordentlich wichtig ist — das
Gebet. Gottes Wort und Gebet sind eng miteinander
verbunden. Liebe und schätze ich das eine, so kann ich gar
nicht anders, als von dem anderen fleißig Gebrauch zu
machen. Ja, je mehr ich Gottes Wort verstehen lerne,
je tiefer ich in die Gedanken Gottes eindringe, desto mehr
wird das Bedürfnis meiner Seele zum Gebet wachsen,
desto mehr werde ich auch das Vorrecht schätzen, allein oder
mit anderen Zwiesprache mit Gott halten und alle Anliegen
vor Ihm kundwerden lassen zu dürfen. Wiederholt
lesen wir von unserem hochgelobten Herrn, daß Er sich
am Abend, nach einem ermüdenden Tagewerk, oder am
42
frühen Morgen, „als es noch sehr dunkel war", also vor
Beginn Seiner Tätigkeit, zurückzog, um an einem „öden
Ort" mit Gott allein zu sein im Gebet. Ganze Nächte verbrachte
Er im Gebet zu Gott, ja. Er konnte sagen: „Ich
bin stets im Gebet". (Ps. 40y, 4.)
Wie wichtig das Gebet auch in den Augen der Apostel
war, geht aus ihren Worten hervor, als sich nach Pfingsten
in der Versammlung die Schwierigkeit betreffs der
Verteilung der Gaben erhob. Sie sagen: „Es ist nicht gut,
daß wir das Wort Gottes verlassen und die Tische bedienen.
... Wir aber werden im Gebet und im Dienste
des Wortes verharren." (Apstgsch. 6, 2—4.) Auch Paulus
zeigt in seiner Beschreibung der „ganzen Waffenrüstung
Gottes", daß Gottes Wort und Gebet unmittelbar zusammengehören.
Wenn er sagt: „Nehmet auch den Helm
des Heils und das Schwert des Geistes, welches Gottes
Wort ist", so fügt er sogleich hinzu: „zu aller Zeit betend
mit allem Gebet und Flehen in dem Geiste".
(Eph. 6, 47. 48.)
Es fehlt auch nicht an unmittelbaren Ermahnungen
zum Gebet, wie z. B.: „Im Gebet haltet an"; „beharret
im Gebet und wachet in demselben mit Danksagung";
„betet unablässig"; „betet auch für uns..." (Röm.
42, 42; Kol. 4, 2; 4. Thess. 5, 47; Kol. 4, Z; siehe
auch Luk. 48, 4—8.) Wie treu der Apostel Paulus diesen
seinen Ermahnungen selbst nachgekommen ist, geht aus
seinen Briefen hervor. Betrachtet man seine Wirksamkeit
in der Apostelgeschichte, so möchte man meinen, er habe
nichts anderes getan, als predigen; liest man die Eingänge
seiner Briefe, so ist man versucht zu glauben, er habe
nichts anderes getan als beten. Dem Beispiel seines Herrn
43
in rastloser Tätigkeit nacheifernd, lernte er die Notwendigkeit
eines beständigen Wartens auf Gott kennen.
So ist auch für jedes Kind Gottes das Gebet eine
Notwendigkeit. In uns selbst arm, schwach, unvermögend
und hilflos, ist unser Gebet der Ausdruck unserer
Abhängigkeit von Dem, an welchen wir uns wenden.
Gerade unsere Nöte sind es, die uns in die Gegenwart
Gottes treiben; und da wir auf Grund unserer Stellung
in Christo und unseres Kindschaftsverhältnisses zu Gott
Zugang haben, so nahen wir „mit Freimütigkeit zu dem
Thron der Gnade, auf daß wir Barmherzigkeit empfangen
und Gnade finden zur rechtzeitigen Hilfe". (Hebr.
4, 46.)
Der Herr selbst belehrt Seine Jünger (und alle, „die
durch ihr Wort an Ihn glauben") über die Art, wie sie
nach Seiner Rückkehr zum Vater beten sollten. „Was irgend
ihr bitten werdet in meinem Namen, das werde ich
tun...", sagt Er, und: „Wenn ihr etwas bitten werdet
in meinem Namen, so werde ich es tun". (Joh. 44, 43.
44.) Der Name Christi ist unsere Gewähr, vor den Vater
hintreten zu dürfen. In Ihm haben wir das Recht des
Herzunahens, und Er hat gesagt: „Ich sage euch nicht,
daß i ch den Vater für euch bitten werde, denn der Vater
selbst hat euch lieb". Welch ein Vertrauen gibt uns daö!
Müßten wir an uns selbst denken, an unsere Unwürdigkeit
und unser Jukurzkommen in allen Dingen, so würden wir
uns nie in die Gegenwart Gottes wagen. Doch unser Auge
ist auf Christum gerichtet. In Seinem Namen, d. h. in
alledem, was Er für Gott und für uns ist, dürfen wir
vor Gott erscheinen, und wir können verstehen, daß wir
darin Gott wohlgefällig sind, daß es Sein Vaterherz er
44
freut, wenn wir alle unsere Anliegen vor Ihn bringen und
unsere Herzen im Vertrauen vor Ihm ausschütten.
Doch im Namen Christi beten dürfen ist mehr als
ein Anrecht. Es ist nichts Geringeres als das Erscheinen
vor Gott in all dem Wert und der Kraft dieses Namens.
Wenn ich bei einer Bank einen Scheck vorlege, so ersuche
ich dadurch um den Wert des Schecks in dem Namen
dessen, der ihn ausgestellt hat. Ähnlich ist es, wenn ich
auf Grund der Verheißung Christi in Seinem Namen
vor Gott erscheine und meine Anliegen in dem Werte dieses
Namens vor Ihn hinlege. Gott will dann allen meinen
Bitten entsprechen, weil es die Freude Seines Herzens ist,
Semen Sohn zu verherrlichen. „Was irgend ihr bitten
werdet in meinem Namen" — die Verheißung ist bestimmt
und ohne jede Einschränkung. Wie ist das möglich?
Aus dem einfachen Grunde, weil nichts wirklich in dem
Namen Christi erbeten werden kann, was nicht auch in
Übereinstimmung mit Seinem Willen und deshalb auch
mit dem Willen Gottes ist. Wie könnten wir Seinen Namen
für irgend eine Forderung gebrauchen, die nicht durch
Seinen Geist in uns erzeugt wäre? Wie groß und ernst
macht diese Erwägung unser Bitten in dem Namen Christi!
Im nächsten Kapitel empfangen wir noch weitere
Belehrungen über diesen Gegenstand. „Wenn ihr in mir
bleibet, und meine Worte in euch bleiben, so werdet ihr
bitten, was ihr wollt, und es wird euch geschehen."
(Joh. 45, 7.) Damit steht eine andere Schriftstelle im
Einklang: „Und dies ist die Zuversicht, die wir zu Ihm
haben, daß, wenn wir etwas nach Seinem Willen bitten,
Er uns hört". (4. Joh. 5, 44.) „Nach Seinem Wil -
len", damit ist alles, was diesen Charakter nicht trägt,
45
ausgeschlossen. Die beiden Stellen bringen einen sehr wichtigen
Gesichtspunkt des Gebets vor uns. Die Zusage der
Erfüllung unserer Bitten ist bedingt. „Wenn ihr in mir
bleibet und meine Worte in euch bleiben", das heißt mit
anderen Worten: wenn ihr, eurer beständigen Abhängigkeit
von mir euch bewußt, in meiner Gemeinschaft bleibet,
wenn meine Worte die Richtschnur für eure Herzen sind,
sodaß ihr euch nach meinem Geiste bildet, so werdet ihr
als notwendige Folge meine Gedanken und meine Wünsche
zum Ausdruck bringen. Das „was ihr wollt" ist dann,
wiederum notwendigerweise, „nach Seinem (Gottes) Willen".
Die Kraft und Erhörlichkeit unserer Gebete hangen
also von unserem geistlichen Zustand ab. Das ist ein unumstößlicher
Grundsatz. Johannes schreibt: „Wenn unser
Herz uns nicht verurteilt, so haben wir Freimütigkeit zu
Gott, und was irgend wir bitten, empfangen wir
von Ihm, weil wir Seine Gebote halten und
das vor Ihm Wohlgefällige tun". (4. Joh.
z, 24. 22.) Und Jakobus sagt: „Das inbrünstige
Gebet eines Gerechten vermag viel". (Jak. 5, 46.)
Wie sollte uns das zu denken geben! Wenn wir in
geistlicher Beziehung nachlässig sind, so büßen wir die
Freude an der Gemeinschaft mit Gott ein, unsere Gebete
werden kalt und leblos. In Wiederholungen bekannter
Wahrheiten oder leerer Worte ausartend und so alle Kraft
verlierend, sinken sie zu einer toten Form herab. Man
betet, um das Gewissen zu befriedigen, aber keine mit
dem Herzen empfundenen Bitten werden ausgedrückt, kein
aufrichtiges Verlangen der Seele nach Gott tut sich kund.
Solche Gebete finden keine Antwort. Sie reichen, wie ein
alter Diener des Herrn sich auszudrücken pflegte, nur bis
46
an die Decke des Zimmers. Hüten wir uns ernstlich vor
einem solchen Zustand! Er ist der Anfang eines völligen
Rückgangs und endet, wenn ihm nicht durch die Gnade
Gottes Einhalt geschieht, in offener Schande und Verunehrung
des Namens des Herrn.
Der Nutzen des Gebets ist sehr vielseitig. In erster
Linie genießen wir das Vorrecht, mit dem Herrn selbst,
hinsichtlich Seiner eigenen Wünsche, vereinigt zu sein. Ja,
unsere Gemeinschaft ist mit dem Vater und mit Seinem
Sohne Jesus Christus. (4. Joh. 4, Z.) Gott rechnet auf
unsere Liebe, um mit uns in bezug auf alles, was Seinem
eigenen Herzen teuer ist, Gemeinschaft zu haben. Er hat
Seine Interessen zu den unsrigen gemacht, und deshalb
wünscht Er, daß wir auf sie eingehen und sie zum Gegenstand
unserer Gebete machen. Welch ein Vorrecht! Wir
sind gewürdigt, an allen Seinen Vorsätzen, wie sie uns
durch Sein Wort geoffenbart sind, Anteil zu nehmen, ihre
Entwicklung zu beobachten, indem wir mit Freuden erkennen,
wie sich alles um den einen Mittelpunkt dreht,
wie alles von der Person Jesu ausstrahlt und wiederum
einen wunderbaren Glanz auf Seinen Namen zurückwirft.
Ach, wenn wir uns nur mehr durch die Macht des Geistes
befähigen ließen, in diese gesegnete Stellung einzutreten!
Wahrlich, wir würden nie der Beweggründe noch der Gegenstände
zum Gebet ermangeln.
Weiterhin dürfen wir die mannigfaltigen Nöte unserer
Herzen im Gebet vor Gott bringen. „Seid um
nichts besorgt, sondern inallem lasset durch Gebet und
Flehen mit Danksagung eure Anliegen vor Gott kundwerden,
und der Friede Gottes, der allen Verstand über
47
steigt, wird eure Herzen und euren Sinn bewahren in
Christo Jesu." (Phil. 4, 6. 7.) Dieses Wort steht in
demselben Kapitel, in welchem der Apostel uns versichert:
„Mein Gott aber wird alle eure Notdurft erfüllen nach
Seinem Reichtum in Herrlichkeit in Christo Jesu". (V. 4Y.)
Obwohl wir das in völligem Vertrauen festhalten
dürfen, wünscht Gott doch, daß wir mit aller Freimütigkeit
unsere Anliegen vor Ihn bringen und alles Weitere
Seiner Liebe und Weisheit überlassen. Tun wir das,
so werden wir erfahren, daß Sein Friede ins Herz einzieht
und unsere Sinne bewahrt in Christo Jesu. So wird durch
unser Reden mit Gott unser Vertrauen befestigt und die
unschätzbare Gewohnheit gebildet, Ihm rückhaltlos alles
mitzuteilen, was das Herz bewegt. Die Innigkeit unserer
Gemeinschaft mit dem Vater und mit Seinem Sohne
wird gefördert. In Übereinstimmung damit ruft schon
der Psalmist aus: „Vertrauet auf Ihn allezeit, o
Volk! schüttet vor Ihm aus euer Herz!" (Ps. 62, 8.)
Und Petrus fordert uns auf, alle unsere Sorge auf Ihn
zu werfen, denn Er ist besorgt für uns. (4. Petr. 5, 7.)
Aus dem Gesagten geht hervor, daß nur das Gebet
des Glaubens vor Gott Wert hat. So lesen wir denn
auch im Hebräerbrief: „Ohne Glauben ist es unmöglich,
Ihm wohlzugefallen, denn wer Gott naht,
muß glauben, daß Er ist, und denen, die Ihn suchen,
ein Belohner ist". (Kap. 44, 6.) Und der Herr Jesus sagt
in Mark. 44, 24: „Alles, um was irgend ihr betet und
bittet, glaubet, daß ihr es empfanget, und es wird
euch werden". Auch Jakobus fügt seiner Ermahnung,
Weisheit von Gott zu erbitten, hinzu: „Er bitte aber im
Glauben, ohne irgend zu zweifeln" (Kap. 4, 6), und
48
weiter sagt er, daß das Gebet des Glaubens den
Kranken heilen werde. (Kap. 5, 45.) Gott hat sicherlich
ein Recht, auf unser Vertrauen in Seine Liebe, Seine
Treue und die Zuverlässigkeit Seines Wortes zu rechnen,
nachdem Er sich uns in der Person Seines Sohnes so
herrlich geoffenbart hat. Mit Zweifeln Ihm nahen würde
daher Seinen Namen verunehren. Und wie Er auf uns e r
Vertrauen und unseren Glauben rechnet, so möchte Er
auch, daß wir aufSeine Treue und Seine Liebe rechnen.
„Euer Vater weiß, was ihr bedürfet, ehe ihr Ihn
bittet" (Matth, 6, 8), sagt der Herr, und Paulus ruft
uns zu: „Er, der doch Seines eigenen Sohnes nicht geschont,
sondern Ihn für uns alle hingegeben hat: wie
wird Er uns mit Ihm nicht auch alles schenken?" (Röm.
8, 32.) So ist die Gabe Seines eigenen Sohnes, diese
größte aller Gaben und der vollkommenste Beweis Seiner
Liebe, zugleich die Grundlage, auf der wir ruhen können
in der vollen Gewißheit, daß Er uns nicht nur nichts Gutes
vorenthalten wird, sondern daß es Seine Freude ist,
nach der Liebe Seines Herzens und nach Seiner
Kenntnis unserer Not uns zu segnen.
Schließlich muß alles wahre Beten in und durch den
Heiligen Geist geschehen. (Siehe Röm. 8, 26. 27; Phil.
Z, 3; Jud. 20.) Er ist die wirksame Kraft des Gebets,
wie jeder anderen Offenbarung des geistlichen Lebens. So
sind wir denn bei unserem Beten gänzlich abhängig: 4) von
dem Herrn Jesus, als unserem Wege zu Gott, 2) von den:
Heiligen Geist, als der Kraft zum Gebet, und 3) von
Gott, dem Vater, hinsichtlich der Segnungen, die wir begehren.
Gepriesen sei Sein Name dafür, aber möchten
wir auch nie vergessen, daß es so ist!
49
„Beharret im Gebet und wachet in demselben mit
Danksagung!" Laßt uns das hohe Vorrecht, Gottes Angesicht
zu suchen, ja, es „beständig" zu suchen, nicht gering
achten! Regeln in bezug auf Zeit und Häufigkeit des Gebets
aufzustellen, ist wohl nicht richtig. Aber dessen dürfen
wir versichert sein: wir können nicht zu oft
im Gebet sein. Und weilst du in der Gegenwart
Gottes, so wirst du nicht nur Neigung zum Gebet verspüren,
sondern auch die Gelegenheit dazu finden. Wir sind
verantwortlich, unablässig zu beten, allezeit und ununterbrochen
das Bewußtsein unserer Abhängigkeit und unseres
Bedürfnisses der göttlichen Gnade zu bewahren. So werden
wir allezeit auf Gott geworfen sein, allezeit Freimütigkeit
des Herzens in Seiner Gegenwart genießen und folglich,
in dem beständigen Entgegennehmen von Gnaden,
Segnungen und Barmherzigkeiten als Antwort auf unser
Rufen, immer neue Ursache zu Dank und Anbetung finden.
Aus einer
Betrachtung über das Buch Ruth
ii.
Es ist lieblich zu sehen, wie Gott die Schritte der
beiden Frauen, Noomi und Ruth, lenkt. Sie kommen
nach Bethlehem zurück „beim Anfang der Gerstenernte".
Gerste ist nicht das beste Getreide, Weizen ist besser. Aber
wenn Gott der von ihrem Irrwege heimkehrenden Seele
auch nicht sofort die ganze Fülle Seiner Segnungen wieder
zuteil werden lassen kann, — die Wiederherstellung erfordert
Zeit — so gibt Er ihr doch, was sie zunächst bedarf:
die so lang entbehrte Nahrung. Ja, Er ist ein Gott,
50
„der willig gibt und nichts vorwirft". (Jak.
"l, 5.) Kann Er die Seele auch nur schrittweise wieder zur
Ruhe bringen, gleichsam „von ferne ihr erscheinend",
so läßt Er die Umkehrende doch wissen, daß Er sie mit
ewiger Liebe geliebt hat und ihr deshalb Seine Güte
fortdauern läßt. (Vergl. Jer. zr, 2. Z.) Wunderbarer
Gott!
Anderseits kann Gott sich nicht verleugnen. Er ist
treu, sich selbst und Seinem Volke gegenüber. Wir
müssen die Frucht unserer eigenen Wege ernten, und die
verlorene Gemeinschaft kann nur auf dem demütigenden
Pfade des Selbstgerichts wiedererlangt werden. Als die
beiden Frauen sich Bethlehem, der einst im Unglauben
verlassenen Wohnstätte, näherten, „da geriet die ganze
Stadt ihretwegen in Bewegung, und sie sprachen: Ist
das Noomi" ---- die Liebliche? (V. ty.) Ach, wie ganz
anders war sie einst ausgezogen! An der Seite ihres Mannes
und zweier hoffnungsvoller Söhne, sie selbst wohl
noch ein jugendlich starkes und frisches Weib. Und nun?
Einsam, gebeugt, mit tiefer Bitterkeit in der Seele, eine
alternde, kinder- und hoffnungslose Witwe, so kehrt sic
zurück! „Nennet mich nicht Noomi", antwortet sie den
Fragenden, „nennet mich Mara, denn der Allmächtige
hat es mir sehr bitter gemacht."
Noch einmal sei es wiederholt: Welch ein Bild von
der einzelnen Seele sowohl, als auch im weiteren Sinne
von Israel, das einmal ebenso zurückkehren wird als ein
von ihrem Manne verlassenes Weib, jeder einzelne von
ihnen in der Bitterkeit seiner Seele sich vor Gott beugend
und seine Schuld bekennend! Der Allmächtige hatte
es Noomi so bitter gemacht. E r war wider sie gewesen und
— sr —
hatte ihralles genommen. Dav erkennt und bekennt sie.
Es war nötig für sie und kann dereinst auch Israel nicht
erspart bleiben. Aber dann wartet Gottes Erbarmen auch
auf sie. Seine Güte hat nicht aufgehört. Nicht Vorwürfe,
so berechtigt sie gewesen wären, begegnen ihr, sondern nur
vergebende, wiederherstcllende Gnade. Wie ergreifend tritt
uns diese Gnade auch am Ende der Tage entgegen in der
Antwort des Herrn auf die Frage: „Was sind das für
Wunden in deinen Händen?" Er wird sagen: „Es sind die
Wunden, womit ich geschlagen worden bin im Hause
derer, die mich lieben" — die mich gehaßt haben,
sollte man erwarten, aber nein, die Ihn einst gehaßt haben
werden nun von Ihm anerkannt als solche, die Ihn lieben.
(Vergl. Sach, 73, 6.)
Fürwahr, das ist überströmende Gnade! Und diese
Gnade liebt es, ein ganzes Werk zu tun. Sie führt
nicht nur zurück, stellt wieder her und sorgt für die Bedürfnisse
der Seele, nein, sie gibt auch dem Herzen volles
Genüge, volle Befriedigung in einer Person, und zwar
in der Person eines Lösers.
Das führt uns zu dem zweiten Kapitel.
Kapitel 2. — Es ist bemerkenswert, daß diese
große Sache von vornherein vor dem Herzen der armen
Moabitin gestanden zu haben scheint. Unser Kapitel beginnt
mit den Worten: „Und Noomi hatte einen Verwandten
ihres Mannes, einen vermögenden Mann aus
dem Geschlecht Elimelechs, und sein Name war Boas".
Wieder ein Mann von charakteristischer Bedeutung. Eine
der beiden Säulen im Tempel Salomos erhielt später den
Namen „Boas"; derselbe bedeutet: „In ihm ist Stärke".
(Vergl. z. Kön. 7, 27.)
52
In unmittelbarer Verbindung mit der Einführung
dieses vermögenden Mannes lesen wir dann: „Und Ruth
... sprach zu Noomi: Laß mich doch aufs Feld gehen und
unter den Ähren lesen hinter dem her, in dessen
Augen ich Gnade finden werd e". Und siehe da,
Gott läßt sie gerade den Mann finden, in welchem sich
Reichtum und Stärke mit einem Herzen voll Liebe und
Güte verbanden. Das war der richtige Mann für die
schwachen Frauen, der passende Löser für die arme junge
Moabitin. „Zufällig", so lesen wir, traf sie das Feld des
Boas, der aus dem Geschlecht Elimelechs war. „Zufällig",
so schien es, aber Gott selbst hatte Seine Hand
öarin. Für den Glauben gibt es in Wirklichkeit keinen
„Zufall".
Die ganze Erzählung ist von solch lieblicher Einfachheit
und Schönheit, daß sie unsere Herzen ergreift und uns
an den wahren Boas, den reichen, vermögenden Mann
erinnert, der um unsertwillen arm wurde, auf daß wir
durch Seine Armut reich würden, an Ihn, der auch unserem
schwachen Glauben in solch wunderbarer Güte entgegengekommen
ist und weit über alles Erwarten und Verstehen
hinaus an uns getan hat und tut.
Der Glaube in Ruth mochte unklar sein, aber er
war doch so stark, daß er sie ein bestimmtes Ziel suchen
ließ; und wie und wo ihr Glaube sich offenbaren mochte,
immer war eine Antwort für ihn bereit, die weit über das
Maß des Erwarteten hinausging. Schon bei ihrer ersten
Begegnung mit Boas ist sie gezwungen zu sagen:
„Warum habe ich Gnade gefunden in deinen Augen,
daß du mich beachtest, da ich doch eine Fremde bin?", und:
„Mein Herr, du hast mich getröstet und hast zum Herzen
deiner Magd geredet, und doch bin ich nicht wie eine deiner
Mägde". (V. 10. 13.) Und Schritt für Schritt wird sie
weitergeführt, bis der Herr, unter dessen Flügeln Zuflucht
zu suchen sie gekommen ist (V. 12), ihr unter den Flügeln
dieses reichen Mannes einen sicheren Bergungsort
gibt. Mag es sich hier auch zunächst nur um irdische Segnungen
handeln, so bleiben doch die göttlichen Grundsätze
immer dieselben, und wie eindringlich und ermunternd
reden sie zu uns!
Kostbar sind die verschiedenen geistlichen Tugenden,
die sich in lieblicher Reihenfolge in Ruth offenbaren. Sie
verbindet mit dem Glauben die geistliche Energie,
den Fleiß. Der Knecht des Boas, der über die Schnitter
bestellt war, — manche Ausleger glauben in ihm ein Bild
des Heiligen Geistes zu erkennen — berichtet seinem Herrn
auf dessen Frage: „Wem gehört dieses Mädchen?", daß
sie mit Noomi aus den Gefilden Moabs zurückgekehrt sei
und ihn gebeten habe, unter den Garben hinter den Schnittern
her auflesen zu dürfen, und fügt dann hinzu: „So
ist sie gekommen und da geblieben vom Morgen an bis
jetzt; was sie im Hause gesessen hat ist wenig". (V. 5—7.)
Der frühe Morgen fand sie schon in Tätigkeit, und mochte
die Sonne heißer und heißer scheinen, sie ermattete nicht.
Schön ist auch ihre Bescheidenheit und Demut.
Sie ist nur eine „Fremde", die sich mit den Mägden
des Boas nicht zu vergleichen wagt. S i e redet kein
Wort von ihren Beziehungen zu Noomi oder von ihrem
Herzensentschluß, um jeden Preis, bis in den Tod, in
dem Lande Jehovas und bei dem Volke ihrer Schwiegermutter
zu weilen. Das überläßt sie anderen, und Boas
verfehlt nicht, ihr Tun gebührend zu würdigen. Niemand
54
sollte höher von ihr denken, als „was er an ihr sah oder
von ihr hörte". (2. Kor. 42, 6.) Wie sehr gerade das geeignet
war, die Zuneigung des Boas für sie zu gewinnen, brauchen
wir nicht zu sagen; aber wir wollen es zu unseren
Herzen reden lassen. Auch unser Boas liebt eine solche Gesinnung
und belohnt sie mit Seiner Anerkennung.
Ihrem Fleiß und ihrer Demut fügte Ruth auch das
Auöharren hinzu. Das Lob des reichen Mannes machte
sie ebensowenig stolz, wie seine Herablassung und Güte
ihren Fleiß erlahmen ließen. „Sie las auf dem Felde
auf bis zum Abend, und sie schlug aus was sie aufgelesen
hatte, und es war bei einem Epha Gerste".
(V. 47.) In der Tat, jetzt schon war ihr Lohn von Jehova
voll (V. 42), aber er sollte noch viel voller werden. In
2. Mose 46, 4b lesen wir, daß die Kinder Israel von
dem Manna täglich einen Ghomer für den Kopf zu sammeln
hatten. Ein Ghomer war aber nur der zehnte Teil
eines Epha. So hatte Ruth zehnmal mehr gesammelt als
ein Israelit einst in der Wüste. Man mag einwcnden,
„Gerste" sei mit „Manna" nicht zu vergleichen, aber es
handelt sich hier auch nur um die Menge, und in der
Schrift ist keine Bemerkung bedeutungslos oder überflüssig.
Ihr demütiges Verhalten, verbunden mit ihrem Fleiß,
bringt Ruth auch in die nähere Gemeinschaft mit
Boas. Jur Zeit des Essens — es gibt eine Zeit der Arbeit
und eine Zeit der Ruhe, Stunden angestrengter Tätigkeit
und Stunden des friedlichen Genusses — fordert Boas
sie auf, mit seinen Knechten und Mägden zu essen und zu
trinken, ja, er selbst reicht ihr geröstete Körner, „und sie
aß und wurde satt und ließ übrig". (V. 44.) Wahrlich,
sie hatte Gnade gefunden in seinen Augen, und ihr, der
55
Fremden, wurde zuteil, was die Knechte und Mägde wohl
noch nie erfahren hatten. Sie aß von dem, was Boas persönlich
ihr reichte, und sie sättigte sich und brachte am
Abend von dem, was sie übriggelassen hatte, Noomi mit.
Die Liebe ist nicht selbstsüchtig.
O die Gemeinschaft mit dem Herrn, der Genuß Seiner
Gegenwart und der Segnungen, die Er der Seele zur
Zeit des Essens darzureichen vermag — wer könnte diese
Dinge würdig beschreiben! Und wem werden sie zuteil?
Dem einfältigen Glauben, dem emsigen Fleiß, dem demütigen
Sinn. Und zwar „zur Zeit des Essens" — möchten
wir das nicht übersehen und diese Zeiten nicht versäumen!
Es ist nicht immer Essenszeit. Die Stunden stiller,
verborgener Gemeinschaft mit Ihm oder des gemeinsamen
Essens und Trinkens zur Seite der Schnitter und doch
auch dann wiederum des persönlichen Genusses dessen, was
Er darreicht — wie sollten wir sie schätzen und suchen!
Reich gestärkt erhebt sich Ruth, und wir haben schon
gehört, wie überraschend das Ergebnis ihrer Tätigkeit war.
Die Verbindung mit der Quelle erhält frisch, stark und
bringt anderen Segen. Und wie wird in all dieser Zeit das
Auge des vermögenden Mannes mit steigendem Wohlgefallen
und wachsender Zuneigung auf der armen Moa-
bitin geruht haben! Schon im Anfang hatte er den Knaben
ihretwegen geboten und sie selbst aufgefordert, auf
keinem anderen Felde aufzulesen; jetzt sagt er seinen Knechten:
„Auch zwischen den Garben mag sie auflesen, und
ihr sollt sie nicht beschämen; und auch sollt ihr selbst aus
den Bündeln Ähren für sie herausziehen und sie liegen
lassen...und sollt sie nicht schelten".
5b
Kragen aus dem Leserkreise
4. Gibt cs eine Auferstehung des Fleisches? Im Katechismus
heißt es: „Auferstehung des Fleisches und ewiges Leben".
Die Schrift redet nicht von einer Auferstehung des Fleisches,—
der Ausdruck ist wohl den Worten Hiobs (Kap. 4d,
25. 26) entlehnt — sondern nur von einer Auferstehung des
Leibes. Unsere sterblichen Leiber sollen lebendig gemacht
werden. (Röm. 8, Id; vergl. Matth. 27, 52. 53.) „Cs wird gesät
ein natürlicher Leib, es wird auferweckt ein geistiger L e i b."
(4. Kor. 45, 44.) Wir erwarten den Herrn Jesus Christus, „der
unseren Leib der Niedrigkeit umgestalten wird zur, Gleichförmigkeit
mit Seinem Leibe der Herrlichkeit". (Phil. 3, 20. 24.) —
„Fleissch und Blut können das Reich Gottes nicht ererben."
(I. Kor. 15, 50.)
2. In Luk. 22, Z2 sagt der Herr zu Simon Petrus: „Und du,
bist du einst zuriickgekehrt, so stärke deine Brüder". Luther und
andere übersehen: „Und wenn du dermaleinst dich bekehrest, oder
bekehrt hast". — Wie ist das zu verstehen?
Das griechische Wort bedeutet „sich umwenden, zurückkehren,
umkehren, sich bekehren". (Vergl. Apstgsch. 46, 48; Matth. 42, 44;
Apstgsch. d, 35; 44, 24 usw.; 4. Thess. 4, d; 2. Kor. 3, 46.)
Beide Übersetzungen sind also möglich, und es handelt sich nur
um die Frage, welche von beiden dem Zusammenhang der Stelle
entspricht. Petrus war ohne Frage schon seit mehreren Jahren „bekehrt"
(vergl. Luk. 5, 8—44) und liebte seinen Herrn mit der
ganzen Kraft seiner Seele. Er konnte also nicht noch -einmal „sich
bekehren". Aber er kannte sich selbst nicht und mußte als Gläubiger
auf schmerzlichem Wege die Erfahrung machen, was das
Fleisch ist und wie weit man abirren kann, wenn man Vertrauen
auf Fleisch seht. Wäre es auf ihn angekommen, so hätte
er den Weg zu seinem Herrn nie wieder zurückgefunden. Aber Jesus
hatte für ihn gebetet, auf daß sein Glaube nicht aufhöre, und
Petrus war der erste, den Er nach Seiner Auferstehung aufsuchte.
(Vergl. Luk. 24, 54; l. Kor. l 5, 5.)
Nach einer solchen Niederlage, nach solch tief demütigenden,
aber notwendigen und gesegneten Erfahrungen von erschreckender
Verirrung, gnädiger Wiederherstellung und gründlicher
Umkehr war Petrus später imstande, seinen Brüdern in ähnlichen
Versuchungen und Erfahrungen stärkend und zurechthelfend
zur Seite zu stehen.
Ser alle und der neue Bund
„Gehört die Versammlung zum neuen Bunde?"
(Luk. 22, 20) und: „Inwiefern war Paulus ein Diener
des neuen Bundes?" (2. Kor. Z, 6) — diese beiden, von
einem langjährigen Leser des „Botschafter" gestellten Fragen
haben schon häufiger die allgemeine Aufmerksamkeit
beschäftigt, und es lohnt sich wohl der Mühe, ihnen einige
Augenblicke unsere Beachtung zu schenken.
Der „alte" oder der „erste" Bund war auf gesetzliche
Verpflichtungen gegründet. Nachdem Mose das Buch des
Bundes mit dein ernsten Worte Jehovas: „Wenn ihr
fleißig auf meine Stimme hören und meinen Bund halten
werdet, so sollt ihr mein Eigentum sein usw.", vor den Ohren
des Volkes gelesen hatte, „sprachen sie: Alles was
Jehova geredet hat, wollen wir tun und gehorchen". Dann
nahm Mose von dem Blute der zur Besiegelung des Bundes
dargebrachten Opfer, sprengte es auf das Volk und
sprach: „Siehe, das Blut des Bundes, den Jehova mit
euch gemacht hat über alle diese Wort e". (2. Mose
49, 5—8; 24, 7—8; vergl. Hebr. 9, 48 ff.)
Dieser Bund war also auf den Gehorsam des Menschen
gegründet. „W e n n ihr usw.", sagte Gott. Daraus
ergab sich von vornherein seine Mangelhaftigkeit, ja, seine
völlige Hoffnungslosigkeit. Unmöglich konnte auf solchen
Boden eine friedevolle Beziehung des Menschen zu Gott,
ein bleibendes Verhältnis zwischen dem Heiligen und dem
58
sündigen, gefallenen Geschöpf aufgebaut werden. Wohl
floß, wie wir hörten, auch Blut bei der Einweihung dieses
Bundes, aber es war nur Stier- und Bocksblut, das niemals
Sünden hinwegnehmen konnte. Wohl trat auch der
Tod ein, aber es war nicht der Tod eines heiligen Menschen,
eines vollkommenen Erlösers, der die Verantwortlichkeit
des Schuldigen auf sich nehmen und ihn nach
vollendetem Werke mit sich in eine ganz neue himmlische
Stellung versetzen konnte. Das Blut des alten Bundes besiegelte
nur die Verantwortlichkeit des Menschen, „a l l e
Worte Gottes zu halten und zu gehorche n".
Die Segnungen des alten Bundes waren also von
dem Gehorsam des Menschen abhängig, seine Grundlage
war Blut von Stieren und Böcken, das von einem lebenden
Mittler dargebracht wurde. Der neue Bund dagegen
gründet sich auf den Tod des Mittlers
selbst und auf S ei n e n G eh o r s a m bis in den Tod,
ja, bis in den Tod am Kreuze; ihm dient als unerschütterliche,
ewig sichere Gnadengrundlage das Blut Jesu
Christi, des Sohnes Gottes. Der alte Bund
verhieß Segen, wenn der Mensch den Geboten Gottes
folgen würde; der neue Bund bringt Segen, und zwar
Segen, der sich auf keinerlei an den Menschen gestellte Bedingungen
gründet, sondern ausschließlich aus der Unum-
schränktheit Gottes, aus den Ratschlüssen Seiner Gnade
hervorfließt.
Der alte Bund vorn Berge Sinai wurde mit dem
Volke Israel geschlossen. Nun liegt die Annahme nahe,
daß der neue Bund mit uns, den Christen, gemacht
worden sei. Dem ist aber nicht so, sondern der neue Bund
steht gleichfalls mit dem Volke Israel in Verbindung,
— zy —
wird aber erst am Ende der Tage mit ihm geschlossen werden.
Der neue Bund ist also noch nicht vollzogen.
Diese Tatsache wird vielfach übersehen, obwohl
die Schrift im Alten wie im Neuen Testament in nicht
mißzuvcrstehender Weise darüber redet. „Siehe, Tage
kommen, spricht Jehova, da ich mit dem Hause Israel
und mit dem Hause Juda einen neuen Bund
machen werde: nicht wie der Bund, den ich nut ihren
Vätern gemacht habe an dem Tage, da ich sie bei der
Hand faßte, um sie aus dem Lande Ägypten herauszuführen,
welchen meinen Bund s i e gebrochen haben; und
doch hatte ich mich mit ihnen vermählt, spricht Jehova.
Sondern dies ist der Bund, den ich mit dem Hause
Israel machen werde usw." (Jer. 3t, 3t—33.) Diese
Stelle wird von dem Schreiber des Hebräerbriefeö im
8. Kapitel angeführt, und zwar mit der bedeutsauren Änderung
oder genaueren Fassung des Wortlauts: „Siehe,
es ksmmen Tage,..da werde ich in Bezug auf das
Haus Israel und inBezug auf das Haus Juda einen
neuen Bund vollziehen", und nachher: „Dies ist der
Bund, den ich dem (nicht: mit dem) Hause Israel
errichten werde usw." (V. 8. tO; vergl. Kap. tv, tb.)
Der neue Bund wird auf dem Boden bedingungsloser
Gnade errichtet werden: „Denn ich werde ihre Missetat
v e r g e b e n und ihrer Sünde nicht mehr geben-
k e n". (Jer. 3t, 34.) Er ist also eigentlich nur einseitig,
d. h. die eine der beiden Parteien übernimmt alle Verpflichtungen,
die andere keine einzige, sie empfängt
nur. Darum kann auch nicht von einem gemeinsam
geschlossenen Bunde, von einer Vereinbarung miteinander
gesprochen werden, der Bund wird in Be
— bv —
z u g aus die beiden Häuser Israels vollzogen, oder den
beiden Häusern von feiten Gottes errichtet. Alles
ist Gnade und muß Gnade sein, wenn es anders Bestand
haben soll, „Gnade, die durch Gerechtigkeit herrscht zu
ewigem Leben durch Jesum Christum, unseren Herrn".
(Röm. S, 2k.)
Ich wiederhole also: Der neue Bund ist noch nicht
vollzogen. Der Boden für ihn ist gelegt, seine
Grundlage und sein Siegel sind der Tod Christi. Aber
wir genießen heute schon seine Segnungen, während seine
Wirkungen für Israel noch nicht zu sehen sind. Die Tage
seiner Vollziehung sind noch zukünftig. Der alte Bund
stellt vorbildlich wohl alles das vor unsere Augen,
was dem neuen Bunde zur Grundlage dient, aber der
Mensch war, wie wir gesehen haben, außerstande, ihn zu
halten. Der alte Bund ist durch die Schuld Israels für
immer gebrochen worden, und der neue, von Gott verheißene
Bund bildet die einzige Hoffnung für das irdische
Volk Gottes sowie für alle Bewohner der „zukünftigen"
Erde.
Inzwischen vollzieht sich ein anderer Ratschluß Gottes.
Als der Messias zum letzten Male mit dem kleinen
Überrest aus Israel das Passahfest feierte, brach Er alle
Beziehungen zu dieser Erde ab. Er wollte fortan nicht
mehr von dem Gewächs des Weinstocks trinken, lenkte
aber die Blicke Seiner Jünger auf bessere Tage, in welchen
sie die Genossen Seines Glückes sein und den Wein
der Freude neu mit Ihm trinken sollten, ja, nicht neuste,
sondern auch viele andere mit ihnen. Ohne diese
anderen näher zu bezeichnen, deuten die Worte des Herrn
doch darauf hin, daß neben Israel viele der wunder
6g
bare» Wirkungen und Folgen Seines Todes teilhaftig
werden sollten. Dieser Tod machte einen völligen Bruch
mit der Vergangenheit, in ihm wurden die Grundlagen des
neuen Bundes gelegt, er brachte Israel und den Heiden
eine bedingungslose Vergebung der Sünden.
Am Ende der Tage, wenn Gott, eingedenk Seiner
unbereubaren Berufungen und Gnadengaben, sich Israel
wieder zuwenden und die herrliche Verheißung von
Jer. 3l, Zk ff. in Erfüllung gehen lassen wird, werden,
wie schon angedeutei, die Völker der Erde die Segnungen
des neuen Bundes mit Israel genießen. Die ganze Erde
wird voll sein der Erkenntnis Jehovas. Gegenwärtig aber
führt Gott einen anderen Ratschluß aus. Er beruft ein
anderes Volk, das nicht mit dem König Israels, sondern
mit dem verherrlichten Menschensohne zu Seiner
Rechten in Verbindung steht. Er sammelt durch Seinen
Geist eine Braut für Seinen Geliebten, „das Weib des
Lammes". Himmlische Dinge und Beziehungen sind
geoffenbart. Das wunderbare, von den Zeitaltern her verborgene
„Geheimnis des Christus" entfaltet sich. Aus
allen Völkern der Erde, aus Juden und Heiden, wird
durch die Wirksamkeit des Heiligen Geistes ein Leib gebildet,
die Versammlung (Gemeinde), die mit ihrem
Haupte, dem verherrlichten Christus, bald droben vereinigt
werden wird.
Dieser Leib, die Versammlung, gehört nicht zum
neuen Bunde. Er kann nicht zu ihm gehören, weil er in
ganz anderen Beziehungen zu Gott und zu Christo steht,
als Israel oder die Gläubigen der Endzeit je stehen werden.
Die einzelnen Glieder dieses Leibes sind Kinder
Gottes, die, durch den Geist geleitet, „Abba, Vater!"
62
sagen können. Sie bilden eine Genossenschaft mit Christo,
„dem Erstgeborenen vieler Brüder", sind das himmlische
Volk Gottes, sind ins Heiligtum droben eingeführt usw.
Sie stehen wohl auf dem Boden des neuen Bundes,
„indem das Blut des neuen Bundes" für sie geflossen ist,
aber sie stehen nicht in einem Bundeöverhältnis zu Gott,
Segnungen ganz anderer, höherer Art sind ihr Teil. Der
Mittler des neuen Bundes ist als der Auferstandene ins
Heiligtum droben eingegangen, und die himmlischen Dinge
selbst, deren Vorbilder im alten gesehen wurden, sind jetzt
dem Glauben erschlossen. Der Vorhang ist zerrissen, und
wir haben Freimütigkeit zum Eintritt ins Heiligtum durch
das Blut Jesu, auf dem neuen und lebendigen Wege.
Dort sind wir jetzt schon in und mit Christo gesegnet, dort
liegt unser Teil. Bei der tatsächlichen Vollziehung des
neuen Bundes wird aber der Hohepriester, der jetzt für
Israel verborgen ist, aus dem Heiligtum zurückkchren
und Sein Volk hieniedenin die Segnungen des neuen
Bundes einführen.
Nach dem Gesagten wird es uns nicht schwer werden,
die Worte des Herrn in Verbindung mit dem Abend-
mahlökelch zu verstehen: „Dieses ist mein Blut, das des
neuen Bundes, welches für viele vergossen wird" (Matth.
26, 28; Mark. 14, 24), oder auch die in Luk. 22, 20:
„Dieser Kelch ist der neue Bund in meinem Blute, das
für euch vergossen wird". Eine bessere Befreiung und Errettung
auf unendlich besserer Grundlage sollten fortan
das Teil der Jünger sein, als der alte gesetzliche Bund
mit seinen Bedingungen sie ihnen je bieten konnte.
Ium Schluß noch ein kurzes Wort über die zweite
Frage: „Inwiefern war Paulus ein Diener des neuen
63
Bundes?" (2. Kor. 3, 6.) Die Antwort liegt eigentlich
schon in dem, was wir bisher miteinander betrachtet
haben. Paulus und seine Mitarbeiter standen nicht auf
dem alten Boden „des Buchstabens, der tötet",
sondern auf dem neuen „des Geistes, der lebendig
macht". Das was das alte, gesetzliche System nie hatte
zur Vollendung bringen können, wurde jetzt in dem Evangelium
der Gnade allen Menschen verkündigt. Der tote
und tötende Buchstabe hatte dem Geiste, d. h. den
wahren Gedanken Gottes, die in den äußeren Formen
des alten Bundes verborgen lagen, Platz gemacht. An die
Stelle des Dienstes der „Verdammnis" war der Dienst
der „Gerechtigkeit" getreten. Obwohl also der neue Bund
in buchstäblichem Sinne erst den beiden Häusern Israels
errichtet werden wird, sind seine geistlichen Grundsätze doch
heute schon im Christentum klar ans Licht gebracht worden,
und diese Grundsätze verkündigte Paulus.
Beachtenswert ist wohl auch, daß an der vorliegenden
Stelle vor dem Worte „neuer Bund" im Grundtext
das Geschlechtswort fehlt, sodaß man auch übersetzen
kann: „der uns zu Neuenbundeö-Dienern tüchtig gemacht",
d. h. der uns Tüchtigkeit verliehen hat, in dieser
neuen Bundes-Ordnung, dem Sinne des Geistes entsprechend,
zu dienen.
Christus, für unsere Sünden gestorben, und wir, durch
den Glauben an Ihn gerechtfertigt im B fitz des Friedens mit
Gott, in Semer Gnade stehend, vor uns die Herrtichk.it Gottes
— das ist der erste T.il der Lehre des Römcrbriefes.
Cbristus, der Sünde gestorben, und wir, durch Glauben,
mit Ihm gestorben, losgemacht von der Herrschafi der Sünde,
dem Gesetz gestorben und eines Änderen geworden, des aus den
Toten Auferstandenen, nicht mehr „im Fleische", sondern „im Geiste"
— das ist der zweite Teil.
— 64 —
Seine und unsere Stunde
Jesus mit Seiner Mutter und Seinen Jüngern an
einem Hochzeitssest — das ist daö Bild, das sich unö in
dem ersten Abschnitt von Johannes 2 bietet. Die Gegenwart
des Herrn verhinderte jedoch nicht, daß der Wein,
wie es scheint, völlig zur Neige ging, aber zugleich war
sie geeignet, den Mangel durch neue n und besseren
Wein zu ersetzen. So war eö, und so ist es oft, allerdings
nicht immer (siehe Elias bei der Witwe). Des Herrn
Weilen bei uns bedeutet nicht immer ein Verschontbleiben
von Mangel und Not, von Gefahr und Trübsal; vielleicht
wendet sie nicht einmal das Schlimmste, das am
meisten Gefürchtete von uns ab. Aber Seine Gegenwart
dient stets dazu, den Mangel und die Bedürfnisse zu
stillen, den Gefahren zu begegnen und ans der Trübsal
zu erretten, wann und wie Er es will. Tausende
wurden trotz Seiner Gegenwart hungrig und matt;
aber Er speiste sie. Ein heftiger Sturm erhob sich auf
dem See, über welchen Er und Seine Jünger gerade
fuhren, und Er erlaubte den Wellen, in daö Schiff hin-
einzuschlagen, in welchem Er sich mit den Jüngern befand;
aber Er brachte den Sturm und auch die Wellen
zur Ruhe. So sagte auch einst eine Martha von Bethanien:
„Herr, wenn du hier gewesen wärest, so
wäre mein Bruder nicht gestorben". (Joh. ld, 24.) Aber
es war Seine Absicht, es in diesem Falle bis zum Äußersten
kommen zu lassen; Er verhinderte den Tod des Lazarus
nicht, wiewohl Er Ähnliches manchmal, selbst für
Fremde, getan hatte. Und selbst bezüglich der Auferwek-
65
kung des Lazarus wartete Er auf die Stunde, die der
Vater Ihm zeigen würde.
Wie schön ist es aber anderseits, wenn die Scini-
gen, voll Vertrauen zu Ihm aufschauend, ihr Herz vor
Ihm ausschütten in der Erwartung Seiner Hilfe, wenn
sie auch Seine Absichten sowie Seine Stunde noch nicht
kennen. Die Stunde des beginnenden Mangels, der her-
cinbrechenden Trübsal, die Stunde des Bittens ist unsere
Stunde, Seine Stunde ist die der Hilfe zur rechten
Zeit. (Daß und wie Seine Stunde auch die unsrige
wird, muß erst gelernt werden.) „Sie haben keinen Wein",
und: „Herr, siehe, der, den du lieb hast, ist krank", so
wenden sie sich vertrauensvoll an Ihn. Was wird der
Schöpfer des Weines und der Herr über Krankheit, Leben
und Tod tun? Wird Er aller Verlegenheit, aller Sorge,
allem Zittern und Bangen ein schnelles Ende bereiten und
mit Seiner Liebe und Macht eingreifen? — Nein. „Meine
Stunde ist noch nicht gekommen", muß Maria in Kana
hören, und in Zoh. 11 lesen wir: „Als Er nun hörte,
daß er krank sei, blieb Er noch zwei Tage an dem Orte,
wo Er war".
Hier begegnen wir einer anderen Stunde, als der
unsrigen — Seiner Stunde — einem anderen Willen,
Seinem Willen, der „allezeit das dem Vater Wohlgefällige
tat" (Joh. 8, 29), der also der Wille des Vaters
war; einem anderen Wege, als die Menschen ihn
gehen wollten; einer Weisheit, deren Tiefe wir erst am
Ende, wenn alles an unseren erstaunten Blicken vorübergezogen
ist, ein wenig verstehen lernen, und einer Liebe,
die wir ebenfalls zunächst, vielleicht überhaupt nicht verstehen,
und deren Tun sich doch so voll von Herrlichkeit
66
erweisen wird. Wer möchte nicht ehrfurchtsvoll und ergeben
vor diesen Dingen, ja, vor dieser erhabenen Person
stillstehen und, wenn es gilt, warten, in dem Bewußtsein,
daß Er handeln wird, wenn Seine Stunde
gekommen ist? Das tat Maria, die Mutter des Herrn
Jesus. Sie sprach: „Was irgend Er euch sagen mag,
tut". Diese Worte sind uns ein schöner Beweis dafür,
daß sie verstanden hatte, was der Herr mit Seiner Antwort
sagen wollte: „Meine Stunde ist noch nicht gekommen".
Wie die gläubigen Frauen bei den beiden angeführten
Gelegenheiten, so erfahren auch wir immer wieder —
handle es sich um Freude oder Leid, Hochzeit oder Krankheit
und gar Tod, um Vereinigung oder Trennung —
daß wir Seiner bedürfen. Die Unzulänglichkeit der Freude,
wie der Druck des Mangels und der Trübsal erinnern uns
an Ihn, lassen uns nach Ihm und Seiner Hilfe ausschauen
und öffnen uns Herz und Mund. Wir alle haben
Ihn schon ein wenig kennen gelernt, selbst wenn wir, wie
Maria, noch kein Zeichen von Ihm gesehen haben, und
in Hoffnung und Vertrauen wenden wir uns an Ihn.
Er wird ja helfen!
Täuschen wir uns darin? Wahrlich nicht! Und doch
sind in einem Sinne schon viele an dem Herrn irre geworden,
manche haben sich sogar schon eine Zeitlang an
Ihm geärgert und sind für die betreffende Zeit der verheißenen
Glückseligkeit verlustig gegangen. Woran lag
das? Zwei Dinge können in besonderer Weise die Ursache
bilden: man bedenkt wenig oder vielleicht garnicht, daß
Seine Art und auch Seine Zeit, zu helfen und zu
handeln, oft ganz andere sind, als wir es denken und
67
wünsche«. Wir «ersuchen gleichsam den Herrn von der
Höhe und Erhabenheit Seiner Gedanken und Pläne
über und mit uns herunterzuziehen zu der Niedrigkeit
und Unvollkommenheit, ja, zu der Torheit und Fehlerhaftigkeit
unserer Gedanken. Weigert Er sich dann in
Seiner unendlichen Liebe und Weisheit, unse r e n Gedanken
zu entsprechen und zu unserer Zeit zu handeln, so
sind wir sehr enttäuscht und meinen vielleicht gar, Erhübe
einen Fehler gemacht. Wir möchten dann auch Seine
Hand fassen, wie einst Joseph die seines Vaters Jakob
ergriff, als dieser, ganz entgegen den Berechnungen und
Vorkehrungen seines Sohnes, seine Arme plötzlich kreuzte,
und rufen gleich ihm aus: „Nicht also, mein Vater!"
(Lies 1. Mose 48, 8—22, besonders V. 47—4y.)
Doch wir wollten weniger über die Art und Weise,
als über die Stunde Dessen reden, mit dem wir es zu
tun haben. Es kann sein, daß beides von unseren Begriffen
und Wünschen abweicht; zuweilen ist nur daö eine
der Fall. Immer aber ist es demütigend für uns und
zeigt uns, was für ein Gebilde wir sind. Doch Er ist dessen
eingedenk, daß wir Staub sind, und trägt uns mit wunderbarer
Geduld und Langmut.
Warum aber zieht Er Seine Stunde oft lang hinaus?
Damit Er tun kann über Bitten und Verstehen,
„über alles hinaus, über die Maßen mehr,
als was wir erbitten oder erdenken" (Eph.
Z, 20), und damit wir alsdann mit dem Apostel aus
tiefstem Herzensgründe ausrufen können: „Ihm sei die
Herrlichkeit!" (V. 24.) Alle, die uns dann hören, werden
ihr „Amen" zu unserer Danksagung sprechen. Der
K8 —
Herr sucht stets Seine Verherrlichung, und diese
erreicht Er nur aus dem Wege der Segnung der Seinigen
nach Seiner Art und zu Seiner I e i t. Darum oft
tiefes Schweigen, wo wir baldige Antwort erwarteten.
Darum göttliche Erhörung, wo wir töricht oder fleischlich
baten. Darum manchmal zunächst tieferes Dunkel,
wo wir so sehnlichst Lichtblicke begehrten.
Gottes Wege gehen über unsern Sinn hinaus,
Wo wir Unglück sehen, baut Er oft ein neues Haus
Seiner Gnad' und Wahrheit. — Eins ist ja gewiß:
Nur bei Gott ist Klarheit, bei uns Finsternis!
Doch noch ein anderer Grund läßt den Herrn oftmals
mit Seiner Hilfe zögern. Sein allsehendes Auge
sieht hinein bis in die verborgensten Falten unserer Herzen,
sieht da Dinge, die wir vielleicht nicht richten wollen,
weil sic uns lieb geworden sind, oder bestenfalls Dinge,
die wir noch nicht erkannt haben, die es aber gilt uns zum
Bewußtsein zu bringen, damit sie vor Gott gerichtet und
hinweggetan und wir so geheilt werden. Es ist verhältnismäßig
leicht, äußere, vor aller Augen offenbare Schäden
zu erkennen, zu verurteilen und ihre Beseitigung zu suchen,
wie einst ein Hiob in der Asche saß und sich mit
eineni Scherben die (nach außen hin sichtbaren) Geschwüre
schabte Aber wieviel Zeit und Mühe kostet es Gott oft,
lins die Aligen zu öffnen über unseren innere n Zustand!
Er allein hat lins erforscht und erkannt, kennt unser Sitzen
lind Aufstehen, versteht unsere Gedanken von ferne, sichtet
unser Wandeln und Liegen und ist vertraut mit allen unseren
Wegen. (Psalm lZ9.) Wie könnte Er den Tiegel
zu früh vom Feuer der Läuterung wegnehmen und so Seinen
Zweck verfehlen, ja, vielleicht alles Vorangegangene
nutzlos machen?
- Hy -
Wohl uns, daß wir uns in Seiner Hand befinden,
und daß Er Seine Stunde kennt! Fragst du nun:
Wann kommt denn die Stunde? — Dann, wenn dir's
am meisten frommt. Und: „Dauert'ö noch ein wenig an,
wohlgeharrt ist wohlgetan". Ja, wie bedürfen wir in soleben
Zeiten des Ausharrens!
Doch wenn der Herr Trübsal sendet oder mit Seiner
Hilfe verzieht, liegt die Ursache dann nicht immer darin,
daß wir uns in einem nicht guten Zustande befinden?
Nein; schon die Gefahr, in einen solchen Zustand hincin-
zukommen, und der Wunsch, bei uns die Frucht zu vermehren,
wird Ihn handeln lassen, wie Er es für gut befindet
und wie es für uns erforderlich ist. Das Aufwachen
des Nordwindes wie das Wehen des Südwindes harrt
Seines Winkes und Seiner Zeit, damit als Ergebnis
die Wohlgerüche des Gartens träufeln mögen, und Er
in Seinen Garten kommen könne, um die Ihm köstliche
Frucht zu essen. (Hohel. 4, 46.) Die Heide, dürr und
tot, und morgen blütenrot, der Wald mit kahlem Haupt,
und wieder frisch belaubt, der Himmel, gleich der Nacht,
und dann voll Sternenpracht — das und vieles andere
predigt dir den Wechsel von Freud und Leid,, doch alles
fein zu Gottes Zeit.
„Seine Stunde ist nicht unsere Stunde, aber die
Seinige sollte die unsrige werden." So schrieb in einem
Briefe einst ein Knecht des Herrn. Wieviel Segen würde
uns das bringen! Allerdings auf dem Wege des Aufgebens
des eigenen Willens und des Sich-stille-fügens in
Seinen Willen, durch Verurteilung alles Fleischlichen,
durch die Erkenntnis unserer eigenen Ohnmacht und völligen
Unwissenheit — erst wenn wir keinen Rat mehr wissen,
70
kommt der Herr mit Rat und Tat — durch Wandeln in
Unterwürfigkeit und Gehorsam. „Joseph wurde zum
Knechte verkauft. Man preßte seine Füße in den Stock,
er kam in das Eisen, bis zur Ieit, da Sein Wort eintraf;
das Wort Jehovas läuterte ihn." (Ps. 105,17—1Y.)
Nicht zur Zeit der Befreiung des Obersten der Schenken
schlug die erhoffte Stunde Gottes zur Befreiung Josephs,
sondern erst zwei Jahre später.
Moses und Gottes Stunde lagen einst, wenn es sich
um den Beginn des Dienstes Moses für das Volk Israel
handelt, vierzig Jahre auseinander, und es war nicht
Grttes Absicht und Stunde, Elia von dieser Erde zu nehmen,
als dieser, unter dem Ginsterstrauch liegend, zu sterben
begehrte. Nacht und Tag flehten Paulus und seine
Mitarbeiter, daß sie das Angesicht der Thessalonicher sehen
lind vollenden möchten, was an ihrem Glauben mangelte.
(1. Thess. 3, io.) Aber Jahre vergingen, bis ihr Gott
und Vater und ihr Herr Jesus ihren Weg zu ihnen richteten,
wie er es gewünscht hatte. (V. 11.) Darum, mag
es sich handeln um Erneuerung der Freude, wenn es an
Wein gebricht (Joh. 2), oder um Krankheit und Tod, wie
in Joh. 11, um Errettung aus lang anhaltender Prüfung,
wie bei Joseph, oder um den Eintritt eines Knechtes Gottes
in den Dienst, wie bei Mose, oder endlich darum, w i e
der Herr Seine Knechte führt im Dienst, wie bei Paulus
und seinen Mitarbeitern, oder was es irgend anderes sei,
immer haben wir es mit Seiner Stunde zu tun. So
ist es auch mit dem Ende unseres Pilgerlaufes. Wie viele
Kranke, Leidende und Alte sehnen sich, des Pilgerns müde,
nach dem Ablegen ihrer Hütte, um bei Ihm zu sein! Jede
Stunde wäre die ihrige, aber die Seinige verzieht, und
71
jeder neue Tag erfordert neues Ausharren, neue Geduld
und neue Kraft. Doch auch s i e wird kommen, geprüfter
Mitpilger. Deshalb laßSeine Stunde die deinige wer -
d e n: „In Deiner Hand sind meine Zeiten". (Ps. ZI, 15.)
Ähnlich wird es auch dereinst mit Israel sein. Eine
Zeitlang wird Er sich von dem Überrest fernhalten, wie
einst von Seiner Mutter, und wie wir es heute zuweilen
erfahren, bis die Stunde, bis Seine Stunde gekommen
ist, das Wasser der Reinigung und Trübsal, „die große
Drangsal", in den Wein der Freude im Tausendjährigen
Reiche zu verwandeln. Und wahrlich, besser wird dieser
Wein sein, als der vorher genossene. Größer war die
Verherrlichung Gottes durch die Auferweckung eines toten,
als durch die Heilung eines kranken Lazarus. Glorreicher
war die Entlassung Josephs aus dem Gefängnis
und seine weitere Laufbahn nach den zwei Jahren, als
sie vorher gewesen wäre. Besser war der Dienst Moses
und tauglicher für Gott und Sein Volk nach den
vierzig Jahren hinter der Wüste, als er vorher sein konnte.
Und besser war es, in einem feurigen Wagen gen Himmel
zu fahren, als unter einem Ginsterstrauch als ein
dem Dienst entlaufener, müder und mutloser Pilger das
Leben zu beschließen.
So wollen auch wir denn allezeit aufSeine Stunde
warten und mit Ausharren nach jener einen Stunde
ausschauen, die uns nach vollbrachter Pilgerfahrt mit
Ihm in der Herrlichkeit droben vereinigen wird, wo wir
dann im Blick auf all Sein Tun für und mit uns ewig
singen werden:
Du, o Jesu, machtest alles gut!
72
Sle wahre Gnade Gottes, tn welcher
ihr stehet
(i. Petr, s, 12)
Gott ist uns bekannt gemacht worden als der „Gott
aller Gnad.e" (7. Petr. 5, 70), und die Stellung, in die
wir versetzt sind, ist die des „Schmeckens, daß Er gütig
ist", (l. Petr. 2, Z.) Wie schwer fällt eS uns doch, zu
glauben, daß der Herr gütig ist! Das natürliche Gefühl
unserer Herzen ist: „Ich weiß, daß du ein harter Mann
bist" (Matth. 25, 24); in uns allen liegt von Natur der
Mangel an Erkenntnis der „Gnade Gottes".
Man begegnet bisweilen dem Gedanken, daß Gnade
ein Hinwegsehen über die Sünde von feiten Gottes in sich
schließe; aber nein, Gnade setzt vielmehr voraus, daß Sünde
etwas so furchtbar Böses ist, daß Gott es nicht ertragen
kann. Läge es in der Macht des Menschen, nach
einem ungerechten und gottlosen Leben seine Wege zu bemänteln
und sich selbst so zurechtzuflicken, daß er vor
Gott bestehen könnte, so bedürfte es der Gnade nicht.
Aber gerade die Tatsache, daß der Herr gnädig ist, läßt
die Sünde als etwas so Böses erscheinen, daß der Zustand
des Menschen (eben weil er ein Sünder ist) äußerst verderbt
und hoffnungslos ist, und daß nichts als freie
Gnade ihm helfen, seiner Not begegnen kann.
Wir müssen lernen, waö Gott für uns ist, nicht
durch unsere eigenen Gedanken, sondern durch das, was
Er selbst über sich geoffenbart hat. Und wie hat Er sich
geoffenbart? Als der „Gott aller Gnade". Sobald ich
verstehe, daß ich ein sündiger Mensch bin, und daß der
73
.Herr gerade deswegen zu mir gekommen ist, weil Er den
vollen Umfang meiner Sünde und ihre Hassenöwürdig-
keit kannte, verstehe ich auch, was Gnade ist. Der Glaube
läßt mich erkennen, daß Gott größer ist als meine Sünde,
und nicht daß meine Sünde größer ist als Gott...Der
Herr, den ich kennen gelernt habe als Den, der Sein
Leben für mich dargelegt hat, ist derselbe Herr, mit dein
ich alle Tage meines Lebens zu tun habe, und all Sein
Tun mit mir beruht aus den gleichen Grundsätzen der
Gnade. Das große Geheimnis des Wachstums liegt in
dem Hinschauen auf Jesum als einen gnädigen Herrn.
Wie kostbar, wie ermunternd ist es zu wissen, daß Jesus
heute die gleiche Liebe mir gegenüber fühlt und ausübt, wie
damals, als Er am Kreuze für mich starb!
Das ist eine Wahrheit, die wir in den allergewöhnlichsten
Umständen des täglichen Lebens genießen und verwirklichen
sollten. Nehmen wir zum Beispiel an, daß icb
in mir eine schlechte Laune entdecke und zugleich fühle,
daß ich sie nur schwer überwinden kann; bringe ich sie
nun zu Jesu als meinem Freunde, so geht Kraft von
Ihm aus, mir zu helfen. So sollte der Glaube stets
Versuchungen gegenüber in Tätigkeit treten, und nicht nur
meine eigenen Anstrengungen; diese werden den Versuchungen
gegenüber niemals ausreichen. Die Quelle wahrer
Kraft liegt in dem Bewußtsein, daß der Herr gnädig
ist. Der natürliche Mensch in uns ist stets voll
Mißtrauen gegen Christum als die einzige Quelle der
Kraft und alles Segens. Angenommen, meine Seele hat
die Gemeinschaft mit Ihm verloren; das natürliche Herz
wird sagen: „Ich muß erst die Ursache davon beseitigen,
ehe ich zu Christo kommen kann". Aber Er ist gnädig;
74
und weil wir das wissen, so ist der richtige Weg der, s o -
gleich zu Ihm zurückzukehren, geradeso, wie wir
sind, und uns dann tief vor Ihm zu beugen. Nur in Ihn:
und durch Ihn werden wir das finden, was unsere Seelen
wiederherstellt. Demut in Seiner Gegenwart ist die
einzig wahre Demut. Wenn wir uns in Seiner Gegenwart
als das anerkennen, was wir wirklich sind, so werden
wir finden, daß Er uns nichts als Gnade erzeigt.
Jesus ist es, der unseren Seelen bleibende Ruhe gibt
(Matth. 74, 28—30), und nicht unsere Gedanken, die
wir über uns selbst haben mögen. Der Glaube befaßt sich
niemals mit dem, was in uns ist, als der Grundlage seiner
Ruhe; er nimmt mit Liebe und Verständnis an, was Gott
geoffenbart hat, und was Gottes Gedanken über Jesum
sind, in welchem Er Seine Ruhe findet. Wenn unsere
Augen und unsere Herzen mit Jesu beschäftigt sind,
den wir ja als einen so kostbaren Gegenstand für unsere
Seelen erkannt haben, so werden sie in wirksamer Weise
daran gehindert werden, sich von der Eitelkeit und Sünde
um uns her gefangen nehmen zu lassen; und das wird
unsere Stärke auch gegenüber der Sünde und Verderbtheit
unserer eigenen Herzen sein. Was immer ich in mir sehe,
was nicht mit Ihm übereinstimmt, ist Sünde; aber nicht
das Denken an meine Sünden und meine Schlechtigkeit
und die Beschäftigung mit diesen Dingen ist es, was mich
demütigt, sondern das Denken an den Herrn Jesus, indem
ich bei Seiner Herrlichkeit verweile. Es ist gut, mit sich
selbst fertig und nur mit Jesu beschäftigt zu sein. Wir
haben das Recht, uns selbst zu vergessen, unsere Sünden
zu vergessen, wir haben das Recht, alles zu vergessen,
nur nicht Jesum.
75
Nichts fällt unseren Herzen so schwer, als in dein
Bewußtsein der Gnade zu verharren, d. h. uns fortwährend
praktisch bewußt zu bleiben, daß wir nicht unter Gesetz,
sondern unter Gnade stehen. Durch Gnade wird das
Herz „befestigt" (Hebr. 73, 9), aber es wird uns eben
nichts schwerer, als die Fülle der Gnade wirklich zu erfassen,
dieser „Gnade Gottes, in welcher wir stehen",
und in der Kraft und dem Bewußtsein derselben zu wandeln...
Nur in der Gegenwart Gottes sind wir fähig,
sic zu erkennen, und es ist ja unser Vorrecht, dort zu weilen.
Mit dem Augenblick, da wir uns aus der Gegenwart
Gottes entfernen, werden stets gewisse Wirkungen unserer
eigenen Gedanken in unserem Innern einsetzen, und unsere
eigenen Gedanken können niemals an die Gedanken Gottes
über uns, an die „Gnade Gottes", heranreichen.
Wenn ich das allergeringste Recht hätte, irgend etwas
zu erwarten, so wäre das nicht mehr reine, freie Gnade, es
wäre nicht mehr die „Gnade Gottes"... Nur wenn wir
in Gemeinschaft mit Ihm sind, sind wir fähig, alles Seiner
Gnade gemäß zu bewerten... Ruhen wir in dem Bewußtsein
der Gegenwart Gottes, so vermag uns nichts
zu erschüttern, mag es sein was es will, nicht einmal der
Zustand der Kirche hienieden, denn wir rechnen auf Gott,
und dann wird alles zu einem Bereich und Schauplatz
für die Wirksamkeit Seiner Gnade.
Wirklich einfältige Gedanken über die Gnade zu
haben, das ist die wahre Quelle unserer Stärke als Christen;
und das Bleiben in dem Bewußtsein der Gnade,
in Gottes Gegenwart, ist das Geheimnis aller Heiligkeit,
alles Friedens und aller Ruhe des Geistes.
Die „Gnade Gottes" ist so grenzenlos, so voll und
76
vollkommen, daß wir uns aus der Gegenwart Gottes nur
für einen Augenblick zu entfernen brauchen, um die rechte
Vorstellung von ihr zu verlieren, wir haben dann keine
Kraft mehr, sie zu erfassen; und wollten wir den Versuch
machen, sie außerhalb Seiner Gegenwart zu erkennen, so
würden wir sie nur in Zügellosigkeit verkehren. Blicken wir
auf die einfache Tatsache dessen, was Gnade ist: da gibt
cö keine Grenzen, keine Schranken. Mögen wir auch sein,
was wir wollen — und wir können nicht schlechter sein,
als wir sind — das, was Gott uns gegenüber ist, ist doch
trotz allem nur Liebe. Weder unsere Freude noch unser
Friede hangen davon ab, was wir für Gott sind, sondern
davon, was Er für uns ist, und das ist Gnade.
Gnade setzt all die Sünde und all das Böse, das in
uns ist, voraus und ist die gesegnete Offenbarung, daß
all diese Sünde und dieses Böse durch Jesum hinweggetan
ist. Eine einzige Sünde ist für Gott furchtbarer,
als tausend, nein, alle Sünden der Welt für uns sind;
und doch gefällt es Gott wohl, bei vollster Erkenntnis
dessen, was wir sind, uns gegenüber in allem Liebe zu
sein.
In Römer 7 wird der Zustand eines Menschen beschrieben,
der erweckt ist, dessen ganzer Gedankenkreis aber
seinen Mittelpunkt in ihm selbst findet..., er macht vor
der Tatsache Halt, daß, mag sein Zustand auch so
schlecht sein, wie er will, Gott Liebe ist, und nichts
als Liebe gegen ihn. Anstatt auf Gott zu blicken, heißt cs
immer nur: „ich", „ich", „ich". Der Glaube blickt auf
Gott, wie Er sich in Gnade geoffenbart hat... Ich möchte
fragen: „Bin ich oder ist mein Zustand der Gegenstand
des Glaubens?" Der Glaube macbt niemals
77
das, was in meinem Herzen ist, zu seinem Gegenstand,
sondern Gottes Offenbarung Seiner
selbst in Gnade.
Gnade weist auf das hin, was Gott ist, nicht auf
das, was wir sind, allerdings mit der Einschränkung, daß
gerade die Größe der Sünden das Übermaß der „Gnade
Gottes" verherrlicht. Gleichzeitig müssen wir daran denken,
daß das Ziel und die notwendige Wirkung der Gnade
darin besteht, unsere Seelen in Gemeinschaft mit Gott
zu bringen, uns zu heiligen, indem sie die Seele zur Erkenntnis
Gottes führt und sie befähigt, Ihn zu lieben;
darum ist auch das Erkennen der Gnade die wahre Quelle
der Heiligung.
Der Triumph der Gnade zeigt sich darin, daß, als
die Feindschaft des Menschen Jesum von der Erde vertrieben
hatte, Gottes Liebe gerade durch diese Tat Rettung
brachte, daß sie ins Mittel trat, um die Sünde derer
zu sühnen, die Ihn verworfen hatten. Angesichts der völligsten
Entfaltung der Sünde des Menschen erblickt der
Glaube die völligste Entfaltung der Gnade Gottes... Ich
bin aus der Gnade geraten, wenn ich das leiseste Bedenken
oder Mißtrauen gegen Gottes Liebe hege. In diesem Fall
werde ich sagen: „Ich bin unglücklich, weil ich nicht bin,
was ich gern sein möchte". Aber daru m handelt es sich
gar nicht. Es handelt sich vielmehr darum, ob Gott das
ist, was wir gern in Ihm finden möchten, ob JesuS alles
das ist, was wir wünschen können. Wenn das Bewußtsein
dessen, was wir sind, was wir in uns finden, irgend
eine andere Wirkung hat, als — neben unserer Demütigung
-- unsere Anbetung dessen zu vermehren, was Gott
ist, so haben wir den Boden der reinen Gnade verlassen...
78
Gibt eö Unruhe und Iweifel in deinem Herzen? Dann
sieh zu, ob es nicht daran liegt, daß du immer noch sagst:
„ich", „ich", und darüber Gottes Gnade aus den Augen
verlierst.
Es ist besser, über das zu sinnen, was Gott ist, als
was wir sind. Dieses Blicken auf uns selbst ist letzten
Endes nur Hochmut, ist ein Mangel an dem völligen
Sich-bewußt-sein, daß wir zu nichts Gutem tauglich sind.
Solang wir das nicht verstehen, werden wir nie ganz von
uns selbst weg auf Gott blicken...Im Hinschauen auf
Christum uns selbst zu vergessen, das ist unser Vorrecht.
Wahre Demut besteht nicht so sehr darin, daß man
schlecht von sich denkt, als vielmehr darin, daß
man überhaupt nicht an sich denkt. Ich bin zu
schlecht, als daß es sich lohnte, darüber nachzudenken. Was
mir nottut, ist daher, mich selbst zu vergessen und auf
Gott zu blicken, der in der Tat aller meiner Gedanken
wert ist. Ist es nötig, daß wir im Blick auf uns ge-
demütigt werden? Nun, wir dürfen ganz sicher sein, daß
die Beschäftigung mit Gott das tun wird.
Geliebte, wenn wir Röm. 7, 78 gemäß sagen können:
„In mir, das ist in meinem Fleische, wohnt nichts
Gutes", dann haben wir lang genug über uns nachgedacht.
Laßt uns denn über Ihn nachdenken, der Gedanken
des Friedens über uns hatte und nicht zum Unglück
(Jer. 29, 77), und das lange bevor wir überhaupt
an uns selbst gedacht hatten. Laßt uns zusehen, was Seine
Gnadengedanken über uns sind, und die Worte des Glaubens
uns zueignen: „Wenn Gott für uns ist, wer wider
uns?" I. N. D.
- 79
Aus einer Betrachtung über das
Luch Ruth
in.
Verweilen wir noch einen Augenblick bei dem Verhalten
Ruths in seiner bildlichen Bedeutung für die einzelne
gläubige Seele. Wie schön und nachahmenswert ist
ihre Entschiedenheit! Noomi, die Schwiegermutter, Mochte
mehr Verständnis besitzen als Ruth, aber derGlau -
b e dieser „Fremden" übertraf den ihrigen weit. Nicht nur
auf dem Wege zu dem Lande Jehovas, auch im Lande
selbst ist Ruth zunächst die leitende, tonangebende Persönlichkeit.
„Dringe nicht in mich, umzukehren", sagte sie
im ersten Falle; im zweiten ist sie es, die zu Noomi
spricht: „Laß mich doch aufs Feld gehen". Man hätte von
Noomi die Aufforderung, zu gehen, erwarten sollen, aber
bis jetzt war sie eher ein Hindernis für Ruth, als eine
Hilfe.
Der Weg Ruths ist von Anfang bis zu Ende ein
liebliches Bild von dem Wege des echten, von Gott gewirkten
Glaubens. Derselbe kennt kein Stillstehen, keine
Hindernisse. Mögen andere, vielleicht gar Gläubige, zur
Vorsicht mahnen, der Glaube ruht nicht, bis er sein Ziel,
die Segnung, erreicht hat. Ist das Hören der guten Botschaft
wirklich „mit dem Glauben vermischt" und das
Band zwischen Gott und der Seele geknüpft, so folgen
die Ergebnisse von selbst: das Verlassen der falschen Götter,
der Anschluß an den allein wahren, lebendigen Gott,
das Fortschreiten auf dem Wege des Glaubens, auch wenn
das Auge noch nichts sieht, das Finden des richtigen Feldes
und endlich die Begegnung mit dem vermögenden
so
Manne. Eines reiht sich ans andere. Der Glaubensgehorsam
wird reich belohnt. Von dem Hören der Botschaft,
daß Jehova Sein Volk besucht habe, wird Ruth Schritt
für Schritt weitergeführt bis zu Boas, dem „Löser", dem
reichen Haupt des verarmten Geschlechts Elimelechs.
Beachtenswert ist auch die an Ruth ergehende, liebevolle
Mahnung: „Hörst du, meine Tochter? Gehe nicht,
um auf einem anderen Felde aufzulesen... halte dich
hier zu meinen Mägden. Deine Augen seien auf das Feld
gerichtet, welches man schneidet, und gehe hinter ihnen
her"; und später Noomis Bestätigung: „Es ist gut, meine
Tochter, daß du mit seinen Mägden ausgehst, daß man
dich nicht an falle auf einem anderen Felde". (V. 22.)
Wie manche junge, unerfahrene Seele hat, den schützenden
Geschwisterkreis und die Obhut der Knechte verlassend,
Nahrung aus einem anderen Felde gesucht und
ist „angefallen" worden von untreuen Knechten! Anstatt
ihr Auge auf das Feld des wahren Boas gerichtet zu halten,
das von Seinen Knechten geschnitten wurde, hat sie
den Blick zu anderen Feldern hinüberschweifen lassen, die
ihr Schaden, schweren Schaden gebracht haben.
Hier sei auch an das Lesen von Büchern erinnert.
Wieviel wird heute gelesen! Eine unendliche Fülle von
gutem, aber auch von schlechtem Lesestoff wird angeboten.
Wie ist da heilige Vorsicht und zarte Scheu geboten!
Geht es zu weit, wenn wir sagen, daß auf die Frage: „Wo
hast du heute aufgelesen?" wohl oft manche Wange beschämt
erröten, manches Auge verwirrt zu Boden blicken
müßte? Möchte Gott aus unserer Betrachtung der Geschichte
Ruths auch in dieser Hinsicht einen Segen hervorgehen
lassen!
81
Wie ernst ist doch die Warnung für unsere lieben jüngeren
Freunde und Freundinnen: Bleibt bei der Herde!
Folget ihren Spuren und suchet da Nahrung, wo euch gesunde
Speise geboten wird und ihr geschützt seid vor den
Anfällen und Verleitungen böser Arbeiter.
Schön ist ferner das Verhältnis zwischen Boas und
seinen Knechten. Wie so ganz anders als heute! „Jehova
sei mit euch!" ruft Boas den Schnittern zu, und diese
antworten: „Jehova segne dich!" Boas war von Gott gesegnet,
ein reicher Mann; aber seine Knechte wünschen
ihm noch mehr Segen. Da war kein Neid, keine Mißgunst.
Zugleich beweist das Verhalten des über die Schnitter
gesetzten Knechtes Treue seinem Herrn gegenüber. Sein
Auge hatte den ganzen Morgen aufmerksam auf den Feldern
seines Herrn geruht, er hatte alles überwacht und
wußte genau, was vorgegangen war. So hatte er auch die
arme Fremde beobachtet und konnte nun seinem Herrn
genauen Bericht über sie geben.
Liegt darin nicht wohl eine Mahnung für die Knechte
des Herrn heute, ja, für uns alle, acht zu haben auf
fremde, vielleicht hungernde und dürstende Seelen, die
der Herr uns in den Weg schickt oder die unsere Zusammenkünfte
besuchen? Würden wir auch immer in ähnlicher
Weise antworten können wie jener Knecht, wenn
unser Boas uns fragte: Wer ist diese Seele dort? Haben
wir auch immer ein freundliches, ermunterndes Wort für
solche?
Die Worte, die Ruth an Boas richtet, erinnern uns
an eine andere ähnliche Unterredung, die viele Jahre vorher
stattgefunden hatte. Ruth redet davon, daß sie Gnade
gefunden habe in den Augen dieses reichen Mannes, und
82
bittet nachher: „Möge ich Gnade finden in deinen
Augen, mein Herr! denn du hast mich getröstet und zum
Herzen deiner Magd geredet". So sprach einst auch Mose
zu Gott: „Du hast doch gesagt: Ich kenne dich mit Namen,
und du hast auch Gnade gefunden in meinen Augen",
und auf Grund dieser Tatsache, nachdem Gott auch
zu seinem Herzen tröstliche Worte geredet hatte, bat er
um einen Beweis der Gunst und Gnade Gottes für sich
und sein Volk. Gott gab ihm diesen Beweis, indem Er
sich ihm unter einem neuen Namen offenbarte und ihn
Seine ganze Güte und Treue sehen ließ. (2. Mose ZZ
u. 34.)
Die Bitte Moses war wohlgefällig vor Gott, sie entsprach
voll und ganz Seinem liebenden Herzen. Genau
so war es bei Boas. Der Bitte Ruths folgt unmittelbar
seine Einladung, mit ihm zu essen und zu trinken. Ruth
setzt sich bescheiden zur Seite der Schnitter, aber Boas
reicht ihr mit eigener Hand geröstete Körner, „und sie aß
und wurde satt und ließ übrig". (V. 44.)
Als Mose bei jener Gelegenheit vom Berge Sinai .
Herabstieg, strahlte die Haut seines Angesichts so, daß
die Kinder Israel sich fürchteten, ihm zu nahen. Der
Empfang der Gesetzestafeln hatte es nicht zum Strahlen
gebracht — im Gegenteil, Mose selbst war „voll
Furcht und Jittern" — aber die erfahrene Güte, Gottes
wunderbare Gnade hatte diesen Widerschein geweckt, der
so überwältigend war, daß Mose eine Decke auf sein Angesicht
legen mußte.
Wird nicht auch wohl Ruths Angesicht von tiefer,
innerer Freude gestrahlt haben, als sie vom Essen aufstand,
um weiter aufzulesen? Und sollten nicht auch un
83
sere Angesichter mehr strahlen infolge des innigen, persönlichen
Verkehrs mit unserem Boas und der unmittelbaren
Erfahrung Seiner Güte und Liebe? Das Auge ist
der Spiegel der Seele. Es kann freundlich und liebevoll,
mitleidig und traurig blicken, es kann von Glück und
Freude strahlen, aber auch böse und zornige Blicke schießen,
ja, vor Wut und Haß blitzen. Es kann lachen und
weinen. Ach, wenn wir mehr solche Stunden des stillen
Weilens in der Nähe unseres Herrn, des verborgenen
Genusses Seiner Gegenwart, des Ruhens zu Seinen Füßen
könnten, würden gewiß auch unsere Augen Kunde davon
geben, sie würden weniger verdrießlich und ärgerlich,
oder müde und gelangweilt darein schauen.
Dem Vertrauen Ruths und ihrer Bitte, Gnade in
den Augen des Boas zu finden, wurde auch noch in anderer
Beziehung eine schöne Belohnung zuteil. „Boas gebot
seinen Knaben und sprach: Auch zwischen den Garben
mag sie auflesen, und ihr sollt sie nicht beschämen;
und auch sollt ihr selbst aus den Bündeln Ähren für sie
herausziehen und sie liegen lassen, damit sie sie auflese,
und sollt sie nicht schelten/" (V. 1.5. 1b.)
„Wer da hat, dem wird gegeben werden, und er
wird Überfluß haben." (Matth. 13, 12.) Die Gnade gibt
gern und reichlich, wo irgend sie ein verlangendes Herz,
eine begierige Seele findet, und es ist die Freude der
„Knechte", ihr als willige Kanäle und Werkzeuge zu dienen.
Haben wir nicht auch schon diese Erfahrung gemacht?
Zn einem Sinne sind wir ja alle Ährenleser, und wenn
wir fleißig und eifrig sind, so dürfen auch wir eö erleben,
daß selbst aus den Bündeln Ähren für uns herauö-
gezogen werden, und daß wir zwischen den Garben
84
lesen dürfen, mit anderen Worten, daß uns ein so reicher
Segen zuteil wird, daß wir ihn kaum bergen können und
mit Freuden von dannen eilen, um von unserem Überfluß
anderen mitzuteilen, die nicht selbst auslesen konnten.
Glückliche Ruth! Am Abend schlug sie aus, was
sie ausgelesen hatte, und es war, wie wir wissen, bei
einem Epha Gerste. Ihre Schwiegermutter sah es staunend
und, von dem essend, was Ruth am Mittag übriggelassen
hatte, vernahm sie mit steigender Verwunderung,
wie herrlich der Herr alles geleitet hatte. „Gesegnet sei,
der dich beachtet hat!" so kam es dankbar über ihre Lippen,
und als sie dann gar hörte, daß der Name des Mannes
Boas sei, fügte sie hinzu: „Gesegnet sei er von Jehova,
dessen Güte nicht abgelassen hat von den Lebenden und von
den Toten!" — Ist es nicht, wie wenn man den Überrest
am Ende der Tage reden hörte?
Und viele Wochen lang hielt sich Ruth zu den Schnittern
und den Mägden des Verwandten Noomis, „bis die
Gerstenernte und die Weizenernte beendigt waren".
Ein Spruch von Martin Luther
Es ist auf Eiden kein befsre List,
Denn wer seiner Zunge ein Meister ist.
Viel misten und wenig sagen,
Nicht antworten auf alle Fragen.
Rede wenig und rnach's wahr,
Was du borgst, bezahle bar.
Laß einen jeden sein, wer er ist,
So bleibst du auch wohl, wer du bist.
Belehrt oder überzeugt
Ein Mensch wird belehrt, nimmt vielleicht auch die
Lehre an, daß er ein Sünder ist, aber zur Überzeugung
von seiner Sündhaftigkeit kommt er erst, wenn er sich
ernstlich mit dieser Frage beschäftigt, indem er der Wirksamkeit
Gottes an seinem Herzen Raum gibt. Ein von
seiner Schuld überzeugter Sünder hört nicht nur,
sondern sieht, daß er verloren ist. Für einen solchen hat
das Wort vom Kreuze Wert, da es von Sühnung der
Schuld und von Dem redet, der als der Stellvertreter für
Verlorene das Gericht Gottes über Schuld und Sünde
getragen hat.
Viele Menschen wissen wohl, daß sie Sünder sind,
und daß Christus Jesus in die Welt gekommen ist, um
Sünder zu erretten, aber sie gehen mit diesem Wissen
ewig verloren, weil sie gelernt haben, ohne sich über­
zeugen zu lassen. Und die Überzeugung wurde nicht gewonnen,
weil sie für die Frage ihres Seelenheils keine
Zeit erübrigen konnten, oder weil sie von dem, was über
ihren Verstand hinausging, sich nicht überzeugen lassen
wollten, vielfach auch, weil es für sie unbequem war
(ihr eigenes Gewissen bezeugt es ihnen), der ernsten Frage
aus den Grund zu gehen. So gehen Unzählige trotz aller
Belehrung und trotz der genauen Kenntnis der frohen Botschaft
von Jesu verloren. Vielleicht sind viele unter ihnen,
86
die den Weg des Lebens von Kindheit auf kannten und
von gottesfürchtigen Eltern und Lehrern in allem, was
not ist, unterwiesen wurden. Ein ernster Gedanke für alle,
die in dieser Hinsicht noch nicht zu einer wirklichen Überzeugung
gekommen sind!
Doch auch für den Gläubigen, der seiner Errettung
seit kurz oder lang gewiß ist, gilt es, zwischen dem Gelernthaben
und Überzeugtsein zu unterscheiden, denn praktischen
Wert hat für ihn nur das, was ihm aus Herzensüberzeugung
zum Eigentum geworden ist. Der Apostel
Paulus schreibt an Timotheus: „Du aber bleibe in dem,
was du gelernt hast und wovon du völlig überzeugt
bist". (2. Tim. 3, 44.)
Bekanntlich wird dieses Wort zuweilen benutzt, um
eine schriftwidrige Stellung zu rechtfertigen, in welcher
man sich infolge verkehrter Belehrung befindet. Man weist
dann zu seiner Rechtfertigung auf das Wort hin: „Du
aber bleibe in dem, was du gelernt hast", indem man die
zweite Hälfte des Satzes wegläßt. Aber verrät es nicht
einen großen Mangel an Aufrichtigkeit, wenn ein Mensel-
einer vielleicht besseren inneren Überzeugung entgegenhandelt,
nur weil er so belehrt worden ist, oder weil der Weg
ihm vielleicht angenehmer erscheint? Es wird aber geradezu
zu einem sträflichen Tun, wenn man versucht, ein solches
Handeln durch Gottes Wort zu decken, oder zu diesem
Zweck ein Wort der Schrift unvollständig anzu-
sühren. Wohl weist die Schrift hin auf das, „was du
gelernt hast", aber sie fügt auch hinzu: „wovon du
völlig überzeugt bist", und als Grundlage der
Überzeugung kann nicht die größere oder geringere menschliche
Unterscheidungsfähigkeit des einzelnen dienen, son-
87
dem nur die Voraussetzung: „Da du weißt, von wem
du gelernt ha st".
Auf Grund dieses Wortes scheinen für jeden Gläubigen
zwei Fragen der Erwägung und aufrichtigen Beantwortung
wert. Sie lauten: 7) Ist das, was ich gelernt
habe, nur Herzens-Überzeugung, ist es mein Eigentum
geworden? und 2) worauf gründet sich meine Überzeugung?
Ganz besonders sei allen jüngeren Gläubigen,
die von Kindheit an über den Heilsplan und Heilsweg
Gottes, sowie über die Stellung der Kinder Gottes und
andere Ergebnisse des Opfers unseres Herrn Jesus belehrt
worden sind, die Erwägung dieser Fragen empfohlen.
Dabei sei an das Dichterwort erinnert: „Was du
ererbt von deinen Vätern hast, erwirb es, um es zu
besitzen".
Von jeher sind Vorbild und Belehrung treuer, gottesfürchtiger
Männer von großem Einfluß gewesen, doch
konnten und können sie nie das bewirken, was nur durch
eigene, persönliche Überzeugung hervorgebracht werden
kann. Ein Beispiel dafür ist die Geschichte des Königs
Joas. Wir lesen darüber: „Joas tat was recht war in
den Augen Jehovas, solang der Priester Zojada ihn
unterwies". (2. Kön. 72, 2.) Nach dem Tode Jojadaö
aber überließ er sich anderen Einflüssen und wurde schließlich
der Mörder des Sohnes seines treuen Lehrers, weil
dieser Sohn in Treue gegen Jehova Zeugnis ablegte gegen
den überhand nehmenden Götzendienst. Hätte der König
selbst eine gegründete Überzeugung gehabt, so würde er
die Lehren des treuen Priesters Jojada auch nach dessen
Tode beachtet haben. (Lies 2. Chron. 24.)
Es kommt also darauf an, daß jeder für sich zu
88
einer klaren Überzeugung komme. Was ist denn eine Überzeugung?
Die Schrift sagt: „Der Glaube ist eine Überzeugung
von Dingen, die man nicht sieht". (Hebr. U, t.)
Ein Mensch kann belehrt und belesen sein und dabei doch
keine entsprechende Überzeugung haben. Vielleicht klingt
das zu weitgehend. Aber lehrt nicht die Erfahrung, daß
schon mancher, der einmal bekannte, ein Eigentum des
Herrn Jesus zu sein, und anfangs zu schönen Hoffnungen
berechtigte, bald wieder alles aufgab? Und warum geschah
es? Weil das Werk in der Seele nicht tief genug gegangen
war, weil eine ausreichende Überzeugung fehlte. —
Sind nicht auch d i e Übungen der Kinder Gottes, welche
mit Recht als „Nachhilfestunden" bezeichnet worden sind,
Gelegenheiten, bei denen der Mangel einer gegründeten
Überzeugung (in dieser oder jener Hinsicht) ausgeglichen
werden soll? Vielleicht kann sogar gefragt werden: Gibt
es überhaupt eine Übung hienieden, die nicht schließlich auf
einen solchen Mangel zurückzuführen ist, und die gerade
der Beseitigung dieses Mangels dienen soll? (Selbstverständlich
denke ich jetzt nicht an Proben, die Gott, wie bei
der Opferung Isaaks, anstellt, um Glauben und Gehorsam
zu prüfen.)
„Der Herr kennt, die Sein sind." Das ist ein wertvolles
Wort. Glückliches Herz, das durchdrungen ist von
der Überzeugung: Er kennt mich als Sein Eigentum; Er
kennt mich, so wie ich bin, und Er liebt mich. Das Herz
ist selig in dem Bewußtsein, daß es ganz Ihm gehört,
ganz Sein ist, und weiter will es nichts.
Wenn nun der Apostel in jener Zeit schon an den
treuen und bewährten Timotheus das Wort richtete: „Du
aber bleibe in dem, was du gelernt hast und wovon du
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völlig überzeugt bist", wie sehr ist es dann heute angebracht,
und wie notwendig für uns, es zu beachten! An
Gelegenheiten zum Lernen hat es wohl bisher keinem
von uns gefehlt, denn Gottes Wort steht uns allen zur
Verfügung. Daneben hat uns der Herr nach Seiner treuen
Fürsorge viel gute und gesunde Kost in den Schriften alter,
gesegneter Zeugen geschenkt. Außerdem haben wir Gelegenheit,
in den Versammlungen der Verkündigung des
Wortes zuzuhören und dabei zu lernen. Aber wie nehmen
wir die gebotenen Gelegenheiten wahr? Ohne Bedürfnis
ist die beste Kost für uns ohne Wert, denn: „Eine satte
Seele zertritt Honigseim". Es kann aber auch das gehörte
oder gelesene Wort nutzlos bleiben, wenn es einem Herzen
begegnet, das dem des Volkes Israel gleicht, betreffs
dessen geschrieben steht: „Das Wort der Verkündigung
nützte jenen nicht, weil es bei denen, die es hörten, nicht
mit dem Glauben vermischt war". (Hebr. 4, 2.) Die
Israeliten hatten die starke Hand und den ausgestreckten
Arm ihres Gottes am Roten Meere tätig gesehen; sie hatten
die Güte und Huld Jehovas geschmeckt, indem Er
ihmn Wasser aus dem Kieselfelsen und Brot vom Himmel
darbot. „Aber das Wort der Verkündigung" nützte
ihnen nicht, weil sie nicht glaubten. Also dieses Volk
wurde sogar durch Augenschein belehrt, es empfing
Segnung und Zurechtweisung sichtbarer Art und
glaubte dennoch nicht; das Herz blieb unberührt, das Gewissen
wurde nicht überführt. „Sie sahen doch meine Werke
vierzig Jahre", sagt klagend der treue Hirte Israels angesichts
solchen Unglaubens. Und „ohne Glauben ist es
unmöglich, Gott wohlzugefallen". Das ist ernst für uns,
die wir so zahlreiche Gelegenheiten zum Lernen haben.

Dor Sünder, der zu Jesu kommt, empfängt Vergebung
und Frieden. Das Wort Gottes hat sein Herz
und Gewissen erreicht: er hat sich überzeugen lassen,
sowohl von seinem Verlorensein, als auch von der in
Jesu geoffenbarten Gnade Gottes. Er hat gelernt, ist völlig
überzeugt und ist nun in Frieden. Und jetzt heißt es für
ihn: „Bleibe in dem, was du gelernt hast und wovon
du völlig überzeugt bist". (Daß die Stelle mit Rücksicht
auf den Verfall weitergeht, wird ihre Anwendung in diesem
Zusammenhang nicht unpassend erscheinen lassen.)
Die Versuche des Feindes, das Auge des jungen
Gläubigen (und nicht nur des jungen) von der Grundlage
des Friedens abzulenken, sowie die Neigung des Herzens,
in sich selbst diese Grundlage zu suchen, erfordern es, daß
der Gläubige lernt und völlig überzeugt wird, daß die
Grundlage für seinen Frieden und seine Sicherheit außer
ihm, in Gottes Werk liegt. Wo lernt er dies nun, und
wie erhält er die Überzeugung? Offenbar auf die gleiche
Weise, in welcher er das bis dahin Gelernte ausgenommen
hat: „Das Wort der Verkündigung" dringt an sein Ohr,
und an ihm ist es, es gläubig ins Herz aufzunehmen.
Das ist auch der Weg, den Paulus dem Timotheus
zeigt, wenn er ihn auf die Grundlage seiner Überzeugung
hinweist: „Du weißt, von wem du gelernt hast".
Timotheus hatte von Paulus gelernt, und dieser konnte sagen:
„Ich weiß, wem ich geglaubt habe". Alles, was
er besaß, hatte er unmittelbar von Gott empfangen.
Das Empfangene hatte er dann treu weitergegeben, rind
Timotheus hatte von ihm gelernt.
Aber es gab noch einen anderen Grund zürn Verbleiben
in dem Gelernten und zum Festhalten an der er
— ge­
langten Überzeugung. Der Apostel weist sein geliebtes Kind
aus die Heiligen Schriften hin: „Alle Schrift ist von Gott
eingegeben und ist nütze..." War einerseits der von
Gott belehrte Apostel der Lehrer für Timotheus gewesen,
so waren anderseits die diesem von Jugend auf bekannten
Schriften von Gott eingegeben. Sie bildeten daher eine
ebenso unantastbare Grundlage für die Überzeugung des
Timotheus wie die Lehren des Apostels; ja, diese Schriften
machten geradezu denInhalt seiner Lehren aus, wie
er selbst sagt: „Ich sage nichts außer dem, was auch Moses
und die Propheten geredet haben". (Apstgsch. 2b, 22.)
(Wohl dem Knecht, der mit gutem Gewissen sagen kann,
daß alle seine Worte in Gottes Wort ihre Stütze finden!)
Somit waren die Lehren des Apostels und die Heiligen
Schriften die Grundlage der Überzeugung für Timotheus.
Heute nun haben wir das Wort vollständig in Händen
mit allen Lehren und Unterweisungen, die Gott für
uns vorgesehen hat. Er hat vor alters durch Seine Propheten
geredet, dann offenbarte Er sich und redete im
Sohne, heute redet Er durch Sein Wort. Und wie es früher
hieß, so gilt es heute: „Wer Ohren hat zu hören, der
höre!" (Schluß folgt.)
Bereit!
Irgendwo am Comersce liegt eine schöne Villa, von einem
prächtigen Park umgeben. Eines Tages besuchte ein Reisender den
Garten. Er wunderte sich darüber, wie trefflich er gehalten war,
zugleich aber auch, daß das Haus wie ausgestorben dalag. Bei
dem alten Gärtner, den er am Wege arbeiten sah, erkundigte er
sich, wo die Herrschaft sei. „In Mailand. Sie ist vor zwölf Jahren
zum letztenmal hier gewesen", lautete die Antwort. „Run, sie dürfte
morgen kommen, so gut ist alles im Stand", sagte der Fremde.
„Heute, mein Herr, heute", versetzte daraus der Alte.
92
Geistliche Trägheit
Erkenntnis ist nicht Glaube, und Grundsätze sind
nicht Kraft. Das erste kann das zweite nicht ersetzen, wie
sehr auch der Heilige Geist Erkenntnis und richtige Grundsätze
zu unserer Leitung und Segnung gebrauchen mag.
Wenn nicht Glaube und geistliche Kraft sich mit ihnen verbinden,
helfen sie nur einen Zustand herbeiführen, den wir
wie kaum etwas anderes zu fürchten haben. Wie verhängnisvoll
ist es z. B., wenn jemand sich des Besitzes richtiger
Grundsätze rühmt, während ihm die Verherrlichung
des Herrn Jesus und daö Halten Seiner Gebote wenig
am Herzen liegen! Wohl ist es wahr, daß viele Kinder
Gottes Schaden an ihren Seelen leiden durch einen Mangel
an Verständnis über die in der Schrift geoffenbarten Gedanken
Gottes. Aber das ist nicht die Ursache des lahmen
Zustandes, in welchem sich so manche Gläubige heute befinden.
Diese liegt anderswo.
Die Briefe der Apostel zeigen uns fast ausnahmslos,
daß nicht die Erkenntnis der Heiligen es war, was
die Aufmerksamkeit der Schreiber zunächst beschäftigte,
sondern vielmehr ihr praktischer Zustand hinsichtlich
„Glaube", „Liebe" und „Hoffnung"; erst in zweiter Linie
folgen dann Belehrungen über die Wahrheit, Ermahnungen,
Warnungen usw. So sagt Paulus im Eingang seines
ersten Briefes an die Thessalonicher: „Wir danken Gott
allezeit für euch alle, indem wir euer erwähnen in unseren
Gebeten, unablässig eingedenk eures Werkes des Glaubens
und der Bemühung der Liebe und des Aushar­
rens derHoffnung auf unseren Herrn Jesus Christus".
— 43 —
Und im Anfang des zweiten Briefes lesen wir: „Wir sind
schuldig, Brüder, Gott allezeit für euch zu danken, wie es
billig ist, weil euer Glaube überaus wächst, und die
Liebe jedes einzelnen von euch allen gegeneinander überströmend
ist". Dann erst folgen in beiden Briefen Belehrungen
zur Förderung in der Erkenntnis der Wahrheit
Gottes. Im Epheserbrief sagt Paulus: „Weshalb auch
ich, nachdem ich gehört habe von dem Glauben an den
Herrn Jesus, der in euch ist, und von der Liebe, die ihr
zu allen Heiligen habt, nicht aufhöre, für euch zu danken".
Danach bittet er, daß der Vater der Herrlichkeit ihnen den
Geist der Weisheit und Offenbarung in der Erkenntnis
Seiner selbst geben möge, auf daß sie wissen
möchten, welches die Hoffnung Seiner Berufung sei usw.
(Eph. r, rs—23.) Schon aus diesen beiden Stellen ersehen
wir, wie sehr diejenigen irren, welche auf Erkenntnis
mehr Gewicht legen als auf Glaube, Liebe und Hoffnung.
In dem Briefe an die Kolosser sagt der gleiche
Apostel: „Wir danken dem Gott und Vater unseres Herrn
Jesus Christus allezeit, indem wir für euch beten, nachdem
wir gehört haben von eurem Glauben in Christo
Jesu und der Liebe, die ihr zu allen Heiligen habt, wegen
der Hoffnung, die für euch aufgehoben ist in den
Himmeln". Und in Verbindung damit bittet er für sie,
daß sie „erfüllt sein möchten mit der Erkenntnis Seines
Willens in aller Weisheit und geistlichem Verständnis".
(Kap. 1, 3—5. 9.) Auch hat er einen großen
Kampf um sie, auf daß sie nicht zurückbleiben möchten
in der Erkenntnis des Geheimnisses Gottes, und er bemüht
sich, sie frei zu machen von dem Einfluß menschlicher
Philosophie und jüdischer Überlieferung. Eine Vernunft
94
religion auf der einen und eine Religion äußerer Formen
auf der anderen Seite drohten ihren Glauben zu untergraben.
Als Vollendete in Christo Jesu aber und indem sie
Ihn als das Haupt Seines Leibes festhielten, sollten sic
befreit werden von den Einflüssen beider.
Ohne diesen interessanten Gegenstand in den apostolischen
Schriften hier weiter zu verfolgen, möchten wir jetzt
fragen, ob der laodicäische Zustand, der dem Herrn so
widerwärtig ist (vergl. Offbg. 3, 46), sich nicht heute
schon als die Folge geistlicher Trägheit in der bekennenden
Kirche zeigt, und ferner, inwieweit wir selbst an dieser
letzten Form des Verderbens in der bekennenden Kirche
teilhaben. In den Briefen der Apostel werden wir immer
wieder zum Fleiß ermahnt und vor Trägheit gewarnt. Wir
werden aufgefordert, „allen Fleiß" anzuwenden, um in
unserem Glauben die Tugend, in der Tugend die Erkenntnis,
in der Erkenntnis die Enthaltsamkeit, das Ausharren,
die Gottseligkeit, die Bruderliebe, und endlich die Liebe darzureichen.
Auf diese Weise werden wir weder träge noch
fruchtleer dastehen bezüglich der Erkenntnis unseres Herrn
Jesus Christus. Wo aber diese Dinge nicht vorhanden
sind, da ist man blind, kurzsichtig und hat die Reinigung
seiner vorigen Sünden vergessen. Und der Hebräerbrief
ermahnt „einen jeden" von uns, „denselben Fleiß zu beweisen
zur vollen Gewißheit der Hoffnung bis ans Ende";
denn der Genuß unserer „Hoffnung" steht in Verbindung
mit unserem Fleiß im Dienst, ja, mit einem dem Herrn
wohlgefälligen Wandel überhaupt. (2. Petr. 4, 5—44;
Hebr. 6, 44. 42.) Glücklich deshalb alle diejenigen, deren
Herzen vor Gott geübt sind in Bezug auf ihr Wachstum
in Glaube, Liebe und Hoffnung!
- äs -
Eines der ersten Anzeichen, daß innerlich bei dem
Gläubigen etwas nicht in Ordnung ist, ist wohl dieses,
daß er anfängt sich vor sich selbst zu entschuldigen, wenn
sein Fleiß und seine Hingabe für den Herrn nachlassen.
Mai, hört ihn von Schwierigkeiten reden, die früher nicht
für ihn bestanden, von Gefahren, die er früher nicht
kannte. Es ist auch leicht genug, Entschuldigungsgründe
für diese oder jene Nachlässigkeit zu finden, denn „wegen
des Winters mag der Faule nicht pflügen", und wegen des
„Brüllers auf dem Wege, eines Löwen inmitten der Straßen",
hält er eö für geratener, zu Hause zu bleiben. (Spr.
20, 4; 26, 43.) Der natürliche Sinn entdeckt leicht Hindernisse
für einen selbstlosen, hingebenden, Gott verherrlichenden
Dienst, und wenn dieser Neigung nachgegeben
wird, anstat um jeden Preis Treue zu beweisen, findet
sich gar bald ein bequemerer Weg, auf dem man wandeln
kann. Das Wort, daß es uns „in Bezug auf Christum
geschenkt worden ist, nicht allein an Ihn zu glauben, sondern
auch für Ihn zu leiden", übt bei einem solchen Seelenzustand
wenig Einfluß mehr aus, und man kommt sehr
bald dahin, an zeitliche Vorteile oder Bequemlichkeiten in
dieser Welt zu denken; ehe man sich's versieht, werden die
Pfade göttlicher Weisheit, die doch so voll Lieblichkeit und
Frieden sind, verlassen, und die Seele wird matt und dürr.
„Hat der Faule seine Hand in die Schüssel gesteckt, beschwerlich
wird es ihm, sie zu seinem Munde zurückzubrin­
gen." (Spr. 26, 45; 4y, 24.)
Solch geistlich träge Seelen haben nicht nur ihre
erste Liebe verlassen, sondern wenden sich auch nach und
nach von denen ab, die Gottes Wahrheit getreulich festhal-
tcn wollen. Ein Schlafzustand hat sich ihrer bemächtigt;
— Yb -
sie bewege» sich in geistlicher Beziehung nur noch mechanisch
und gewohnheitsmäßig, „wie die Tür sich dreht in
den Angeln". Sie gleichen einem schlaftrunkenen Menschen,
der sich nicht mehr bewegen mag. Obwohl er alles
bemerkt, was um ihn her vorgeht, hat er doch nicht die
Energie, sich aufzuraffen. Und trotz all dieser Schwäche
und Gleichgültigkeit ist dennoch sehr oft „der Faule weiser
in seinen Augen als sieben, die verständig antworten".
(Spr. 2b, 4 b.) Welch ein schrecklicher Zustand, wenn die
Seele nur noch Wünsche, aber weder Kraft noch Freude
mehr hat, sodaß das Wort erfüllt wird: „Die Seele des
Faulen begehrt, und nichts ist da" — „denn seine Hände
weigern sich zu arbeiten". (Spr. 13, 4; 24, 25.)
Ein anderes Zeichen des Lässigen ist, daß er „sein
Wild nicht erjagt" oder, wie andere übersetzen: „nicht
brät". (Spr. 42, 27.) Zu weit oder beschwerlich dünkt
ihm der Weg zur Versammlung, zu den Betrachtungen
des Wortes Gottes, zum Erjagen der doch so wohlschmek-
kenden und uns so nötigen Speise; zu groß erscheint ihm
seine Müdigkeit an den Werktags-Abenden (wirklich berechtigte
Fälle werden hierdurch natürlich nicht berührt),
und leicht hören wir ihn sagen, es habe ja doch keinen
Zweck, in die Versammlung zu gehen oder sich persönlich
näher mit der Erforschung des Wortes zu befassen. Wie
vieles bleibt da unerjagt, ungebraten, was Freude und
Kraft bringen würde! Und wie mancher wurde je und je
in den Reihen der Gläubigen gefunden, der das „Erjagen
seines Wildes" am Morgen nur selten oder fast nie
übte, weder durch das Lesen des Wortes Gottes, noch durch
das Gebet — zwei Dinge, die doch so eng miteinander
verbunden sind!
47
Lieber Bruder, teure Schwester, laß dich warnen! Es
gilt Schätze zu sammeln für den inwendigen Menschen,
Kraft für die Aufgaben des Tages. Wir begegnen Mühen,
Nöten, Entscheidungen, dunklen Stunden. Versuchungen
zur Sünde, zum Zorn, zur Aufregung, zur Begehrlichkeit
und zu vielen anderen Dingen liegen auf dem Wege.
Es gibt Lasten zu tragen, Enttäuschungen in den Kauf zu
nehmen, Ruhe und Würde zu bewahren, Kränkungen und
Verleumdungen über sich ergehen zu lassen und in noch
vielen anderen Dingen, sonderlich in der Ausübung der
Liebe, geübt und bewährt erfunden zu werden. Woher
Kraft, woher Gnade zu alledem nehmen, wenn das Wild
nicht erjagt oder nicht gebraten wird? Denn der Lässige
mag sich wohl noch mit den Gläubigen versammeln, auch
die Wirkung des mit Frische und Kraft verkündigten Wortes
Gottes verspüren, aber, sich selbst überlassen, nehmen
die irdischen Dinge ihn wieder so völlig ein, daß er das
Gehörte sehr bald vergißt. Wie wenn jemand sich nicht die
Mühe nimmt, sein Wildbret zu braten, so bleibt auch für
ihn die gehörte Wahrheit nutzlos, weil er zu lässig ist,
über sie nachzudenken und sie auf das praktische Leben an­
zuwenden.
Bezeichnet das nicht den Zustand so mancher Gläubigen
in unseren Tagen? Das Wort zu lesen oder zu
hören ist eine Sache, aber darüber „zu sinnen Tag und
Nacht", zum Nutzen für unsere Seele, ist eine zweite.
Die nach dem Gesetz reinen Tiere nahmen nicht nur Speise
zu sich, sondern wiederkäuten auch — ein Bild davon,
wie das, was unserer Seelen Speise ist, sorgsam verdaut
werden muß zur Erhaltung unserer geistlichen Kraft in
einem entsprechenden Wandel. (Z. Mose bl, 3.)
- 98 —
Wir lesen auch: „Der Weg des Faulen ist wie eine
Dornhecke". (Spr. t5, ty.) Ein ernster und geistlicher
Christ findet es oft fast unmöglich, einem solchen Menschen
nahe zu kommen. Trotz aller Bemühungen für sein
geistliches Wohl erfährt er, daß Gemeinschaft mit
ihm in Bezug auf die Sache des Herrn unmöglich ist, und
er muß zu dem Schluß kommen, daß nur Gott die „Dornhecke"
zu durchbrechen vermag. Wahr ist im Blick auf
einen solchen auch der Spruch: „Wer sich lässig zeigt in
seiner Arbeit, ist ein Bruder des Verderbers". (Spr.
t8, d.) Wir sehen das oft in irdischen Dingen sich bestätigen;
aber bestätigt es sich nicht auch häufig genug in
geistlichen Dingen und in unserem täglichen Wandel und
Zeugnis? Wie oft kommt es vor, daß man nie wiederkehrende
Gelegenheiten, den Herrn zu verherrlichen, unbenutzt
vorübergehen läßt, oder doch nicht den richtigen Gebrauch
von den Dingen macht, deren Verwaltung uns anvertraut
ist! Die Zeit wird verloren, oder Gesundheit und
Kraft werden nur für die Geschäfte und Dinge dieser
Welt verbraucht. „Was ist denn Böses in diesem oder
jenem?" fragt der Träge, nicht bedenkend, daß jemand,
der wirklich Gott zu leben wünscht und nach Seiner Verherrlichung
trachtet, eine solche Frage überhaupt nicht stellt.
Die Wahrheit ist, daß, wenn wir die Liebe Gottes in
Christo nicht mehr genießen, wenn Christus selbst nicht
mehr unserer Herzen Gegenstand und Hoffnung ist, die
Beschäftigung mit Gottes Wort uns langweilig wird, das
Gebet im Kämmerlein abnimmt und das „dem Herrn
Lobsingen in unseren Herzen" immer seltener wird. Indem
wir nicht mehr mit Liebe zu unserem Heiland-Gott, zu
Seinen Kindern und Seinem Dienst erfüllt sind, werden
99
wir immer trägere Christen. „Faulheit versenkt in tiefen
Schlaf, und eine lässige Seele wird hungern." (Spr.
b9, ^5.) Beachte, es ist ein ti e f e r Schlaf, so tief, daß
gewöhnliche Mittel ihn nicht mehr zu unterbrechen vermögen.
Wie traurig und demütigend ist dieses von Gott
gezeichnete Bild, und doch wie wahr! Worin anders als
in dieser geistlichen Trägheit können wir die Erklärung
so mancher betrübender Dinge finden, die wir in Verbindung
mit dem Namen des Herrn um uns her sehen? Die
Gedanken und Gefühle mancher Christen scheinen nicht
höher und weiter zu gehen, als: „Ich weiß, daß ich errettet
bin, daß ich das ewige Leben habe". Aber bedenken
wir wohl, daß wir, wenn wir durch unseren Wandel
den Geist Gottes in uns betrüben, sogar den Genuß dieses
kostbaren Bewußtseins verlieren können. „Bei welchem
diese Dinge (die kurz vorher beschriebenen) nicht sind",
sagt Petrus, „der ist blind, kurzsichtig und hat die Reinigung
seiner vorigen Sünden vergessen."
Die bisher angeführten Schriftstellen beziehen sich
vorzugsweise auf einzelne Personen, sodaß man fragen
könnte: Wie berührt der uns beschäftigende Gegenstand
denn die Versammlung in ihrer Gesamtheit als Zeugin
Gottes auf der Erde? Ach! wir brauchen kaum zu
sagen, daß sie als solche ihrer Verantwortlichkeit keineswegs
entsprochen hat. Anstatt der Ausdruck der Einheit
des Geistes und der selbstlosen Liebe Christi, des Hauptes
Seines Leibes, zu sein, wie sie es im Anfang war,
bietet sie heute ein erschreckendes Bild der Uneinigkeit und
Zerrissenheit, abgesehen von den vielen falschen Lehren,
die sie in ihrem Schoße birgt. Doch die Pflicht, treu zu
sein gegenüber dem Worte des Herrn, bleibt stets die
— roo —
gleiche, wären es auch nur zwei oder drei, die sich diesem
Worte unweigerlich unterwerfen, und die Schrift hat
Worte großer Ermunterung für solche. (Vergl. 2. Tim.
2, 20—22.) Da ferner die Versammlung Gottes aus
lauter einzelnen Personen zusammengesetzt ist, so ist es
klar, daß wir als Ganzes Gott gegenüber nicht richtig
stehen können, wenn es bei den einzelnen nicht gut aussieht.
Eine Versammlung wird als Ganzes immer die
Eigenschaften und Zustände derer offenbaren, aus denen
sie besteht. An diesen Grundsatz erinnert uns die Stelle:
„Durch Faullenzen senkt sich das Gebälk, und durch Lässigkeit
der Hände tropft das Haus". (Pred. tv, t8.)
Wo es den einzelnen ernst ist im Dienst für den Herrn,
so unscheinbar er sein mag, und wo die einzelnen in
treuem, wachsamem Wandel auf das Kommen des Herrn
warten, da wird auch das Ganze Förderung und Segen
von Ihm empfangen. Wo man aber eine bloße Schrift-
Erkenntnis als Hauptsache betrachtet, während das ernste,
gemeinsame Gebet und die geistliche Sorge für die Glieder
Christi vernachlässigt wird, da wird man unfehlbar
finden, daß nicht nur der Gedanke an unsere herrliche
Hoffnung in den Hintergrund tritt, sondern daß auch
die ganze Versammlung nicht „das Wachstum Gottes
wächst". Das geistliche Leben, Kraft und Einigkeit „senken
sich", und es wird in ihr geradeso unbehaglich wie unter
einem tropfenden Dache.
Und noch eine Ermahnung des weisen Königs zum
Schluß unserer Betrachtung. Er sagt: „An dem Acker
eines faulen Mannes kam ich vorüber, und an dem Weinberg
eines unverständigen Menschen. Und siehe, er war
ganz mit Disteln überwachsen, seine Fläche war mit Brenn
— gor —
nesseln bedeckt, und seine steinerne Mauer eingerissen". Da
sehen wir „Disteln", das Zeichen des Mißfallens und
des Fluches Gottes, statt „einer Pflanzung des Herrn",
und „Brennesseln" statt Frucht und fruchtbarer Zweige.
Die „steinerne Mauer" der Absonderung, die einst so fest
und gebietend dastand, ist „eingerissen", sodaß unheilige
Verbindungen leicht vorkommen, und bösen Eindringlingen
kein Hindernis entgegensteht. Noch einmal denn: Wie
ernst und verhängnisvoll ist geistliche Trägheit! Wie sollten
wir erschrecken, wenn wir sie in uns entdecken! Hören
wir, was Salomo weiter sagt: „Und ich schaute es, ich
richtete mein Herz darauf; ich sah es, empfing Unterweisung:
Ein wenig Schlaf, ein wenig Schlummer, ein wenig
Händefalten, um auszuruhen, — und deine Armut
kommt herangeschritten, und deine Not wie ein gewappneter
Mann." (Spr. 24, 30—34.)
Was sollen wir nun tun? Angesichts dessen, was
wir in uns und um uns her erblicken, verzagen? Nein,
wir wollen uns aufwecken lassen und dann aufschauen.
Mögen unsere Herzen Mut fassen im Herrn, indem wir
„aufeinander achthaben zur Anreizung zur Liebe und zu
guten Werken", indem wir „einander ermuntern" und
uns gegenseitig „Gott und dem Worte Seiner Gnade"
befehlen! Seine väterliche Liebe ist nicht geringer geworden.
Der Herr hat sich nicht verändert, und Seine reichen
Quellen stehen dem Glauben offen. So dürfen wir auch
heute noch einander zurufen: „Brüder, seid fest, unbeweglich,
allezeit überströmend in dem Werke
des H errn, da ihr wisset, daß eure Mühe nicht vergeblich
ist im Herrn". (4. Kor. 45, 58.)
102
Rus einer Betrachtung über das
Buch Ruch
IV.
Kapitel Z. — In diesem Kapitel werden wir in
der lieblichen Geschichte Ruths einen bedeutsamen Schritt
weitergeführt, bis uns dann das 4. Kapitel die endgültige
Lösung der Frage bringt, was aus Ruth werden soll.
Sie tritt in diesen beiden Kapiteln in immer nähere Beziehungen
zu Boas, dem Löser, und jetzt ist es, wie schon
früher bemerkt, Noomi, die durch ihr größeres Verständnis
der „Fremden" zu Hilfe kommt und nach Gottes
Gedanken für sie „Ruhe sucht". Wiederum ein deutlicher
Hinweis darauf, wie Gott am Ende der Tage alles
so leiten wird, daß der gläubige jüdische Überrest mit dem
Löser in Berührung kommt, den Gottes Gnade lang vorher
für ihn ausersehen hat.
Ruth folgt willig den Anweisungen ihrer Schwiegermutter,
obwohl die Natur mancherlei Einwendungen
hätte machen können. Aber anstatt mit Fleisch und Blut
zu Rate zu gehen, offenbart sie den einfältigen, nicht zweifelnden
Glaubensgehorsam, der dem Herrn so wohlgefällig
ist. Der Gedanke an ihren guten Namen vor den
Menschen hätte sie wohl davon abhalten können, zur Nachtzeit
den einsamen Mann auf seiner Tenne aufzusuchen.
War es nicht ein Weg für sie, der möglicherweise Gefahren
und Schmach über sie bringen konnte? Würde Boas
sie auch nicht mißverstehen und sie gar für aufdringlich
und unverschämt halten?
Solche und ähnliche Fragen konnten in dem jungen
- tvz -
Weibe auftauchen, wie es heute geschieht, wenn eine Seele
sich zu ihrem Löser auf den Weg macht. „Was werden
die Menschen sagen? Wie werden sie mein Tun beurteilen?"
Aber Ruth geht still und gerade ihren Weg. „Alles,
was du sagst, will ich tun", sagt sie zu Noomi.
Sie badet und salbt sich, legt andere Kleider an und begibt
sich dann zur Tenne. Der zunehmende Segen, den
sie bereits empfangen hatte, die Güte, die ihr von Boas
erwiesen worden war, hatte ihr ganzes Herz für diesen
Mann gewonnen. Er besitzt ihr volles Vertrauen, und sie
will jetzt nicht nur seine Segnungen, sie will ihn selbst
haben. Das Bewußtsein, sich auf den Wegen Gottes zu
befinden, läßt alle Bedenken in den Hintergrund treten.
Ihm durfte sie getrost alle Folgen überlassen.
Und Ruth wurde nicht beschämt. Mit welch einem
Verständnis für ihre Gefühle und einer zarten Rücksichtnahme
auf ihre Lage behandelt sie dieser vermögende
Mann! Wie ist er bemüht, jeden Schatten von Verdacht
von ihr abzulenken, und anderseits ihr Herz mit Friede
und Freude zu erfüllen! Unmöglich hätte er das Vertrauen
dieser einfältigen Seele täuschen können. Und wie könnte
heute unser großer „Löser" das Vertrauen einer Seele
täuschen, die, der gehörten Botschaft glaubend, zu Ihm
kommt? Ist doch Boas nur ein ganz schwaches Vorbild
von Ihm, zu dem wir unsere Zuflucht genommen haben!
Des Boas Wort an Ruth: „Alles was du
sagst, werde ich dir tun", klingt wie ein liebliches Echo
dessen, was sie selbst kurz vorher zu ihrer Schwiegermutter
gesagt hatte. Und wie ist es mit unserem Boas
heute? Johannes sagt: Wenn wir Seine Gebote halten
und das vor Ihm Wohlgefällige tun, so werden wir von
— rv4 —
Ihm alles empfangen, was irgend wir bitten.
(4. Joh. 3, 22.)
Es ist auch von besonderer Schönheit zu sehen, wie
das Vertrauen Ruths wächst. Hatte sie bis dahin in Boas
nur einen Wohltäter gesehen, der sich einer armen Moa-
bitin freundlich annahm, so macht sie jetzt Ansprüche an
ihn als einen „Blutsverwandten", der Verpflichtungen
ihr gegenüber hat. (Vergl. 3. Mose 25, 25.) Freilich war
Boas nicht der nächste Blutsverwandte, aber das beeinflußt
Ruths Vertrauen in keiner Weise. Sie rechnet auf
ihn und seine Liebe und antwortet auf seine Frage: „Wer
bist du?" in der Kühnheit des Glaubens: „Ich bin Ruth,
deine Magd; so breite deine Flügel aus über deine Magd,
denn du bist ein Blutsverwandter". (V. y.) Sie erwartet
nicht länger nur eine gnädige Beachtung von ihm, nein,
sie will unter seine Flügel, an sein Herz genommen werden.
Und dieses einfältige Vertrauen entsprach voll und
ganz seiner Erwartung.
Wie schön ist es, wenn eine Seele so auch Jesu begegnet,
in dem Bewußtsein, daß Er nicht nur gütig und
freundlich ist, sondern sie liebt und sich selbst ihr schenken
will auf immer und ewig! Ein solches Vertrauen ehrt
Ihn, erquickt Sein Herz und begegnet Seiner eigenen
wunderbaren Liebe. Wir bleiben so gern bei den Segnungen
stehen, die uns in Ihm zuteil geworden sind,
während Er sich nach einem Verständnis für Seine Liebe
bei uns sehnt.
„Gesegnet seiest du. von Jehova, meine Tochter!"
antwortet Boas ihr. „Du hast deine letzte Güte noch
besser erwiesen als die erste, indem du nicht den Jünglingen
nachgegangen bist (Boas war wohl schon ein äl
— ros —
terer Mann), sei es armen oder reichen." (V. 40.) Wunderbare
Worte! War es denn wirklich Güte, wenn Ruth
auf ihn, den vermögenden Mann, der in ganz Bethlehem
in Ansehen stand, Anspruch machte? Er betrachtet es so.
Anstatt einer menschlich durchaus verständlichen, natürlichen
Neigung zu folgen, hat Ruth ihr ganzes Herz auf
ihn gerichtet. Neben ihm sind alle Jünglinge, auch die
reichsten, nichts. Daß er sie in ihrer Niedrigkeit angesehen,
sie getröstet und zu ihrem Herzen geredet hatte
(Kap. 2, 43), daran denkt er nicht. Ihre Liebe zu ihm
„hat ihm das Herz geraubt". (Vergl. Hohel. 4, d.)
So wird Ruth immer weiter geführt. Sie sieht in
Boas jetzt nicht nur den Blutsverwandten, sondern den
Mann, der sie lieb hat, sie schätzt, sodaß er alles tun will,
um sie zu besitzen. Sie darf erfahren, daß sie, die Moabitin,
Wert hat für sein Herz. Welch eine Entdeckung!
Und welch eine Entdeckung heute für eine Seele, wenn
sie erfährt, daß Jesus sie trotz ihrer Armut liebt und dem,
was Seine Gnade in ihr gewirkt hat und in ihr sieht,
Seinen Beifall spendet, ja, dadurch erquickt und angezogen
wird!
Diese liebliche Geschichte erweckt unwillkürlich die
Frage: Was ist Iesus für unö? Können auch wir Ihn
den Ausgezeichneten vor Zehntausenden nennen, an dem
alles lieblich ist? (Hohel. S, 40. 4b.) Wahrer Fortschritt
im geistlichen Leben wird sich immer darin zeigen,
daß nicht die Errettung, nicht die empfangenen Segnungen
das Höchste für uns sind, sondern Er selbst, Seine
Person. Ihn zu verherrlichen, ist der Zweck der Herniederkunft
des Heiligen Geistes. O möchte es Ihm ge
-- 406 —
lingen, diesen Iweck bei uns allen mehr zu erreichen!
Dann werden unsere Seelen wahrhaft zur Ruhe kommen.
„Meine Tochter", sagt Noomi, „sollte ich dir nicht
Ruhe suchen?" Viele Gläubige suchen Ruhe in der Arbeit,
in ihrem Fleiß, aber so gut und nötig es ist, tätig
zu sein, niemals wird die eifrigste Geschäftigkeit der Seele
Ruhe geben. Denken wir nur an Martha und Maria.
Für Maria war Jesus alles. Und so fand sie, zu Seinen
Füßen sitzend und von Ihm lernend, Ruhe für ihre Seele.
(Matth. U, 29.) Hier ist auch der wahre Ausgangspunkt
für jede gesegnete, wirkungsvolle Tätigkeit. Der Aufenthalt
zu Jesu Füßen stellt uns nicht „träge noch fruchtleer"
hin. Im Gegenteil: wo sollten wir die zur Arbeit
nötige Gnade, Kraft, Leitung usw. finden, wenn nicht
dort?
„Bleibe diese Nacht", darf Ruth weiter hören, „ruhe
bis zum Morgen." Obwohl die wirkliche Verbindung mit
Boas noch nicht hergestellt ist, darf sie doch zu seinen
Füßen ruhen, bis der Morgen hell wird. Er selbst hat es
ihr gesagt. — Auch wir sind heute noch nicht in den
Vollgenuß unserer Verbindung mit Christo eingegangen,
aber wir dürfen, gleich Ruth, zu Seinen Füßen ruhen
und getrost warten, bis der Morgenstern aufgeht und
uns die Erfüllung unserer Hoffnung bringt.
In ähnlicher Weise wird auch der jüdische Überrest
in der dunklen Nacht der großen Drangsal bewahrt und
durch den wahren Löser, den er nur allmählich kennen
lernt, in die Segnungen eingeführt werden, von welchen
die Propheten in solch ergreifender Weise reden. (Vergl.
z. B. Zeph. 3, 44—47.)
Boas verpflichtet sich eidlich, Ruth zu lösen, wenn
107
nicht der nähere Blutsverwandte am anderen Morgen die
Lösung vollziehen werde, und mit dem Schwur: „So
wahr Jehova lebt!" verbindet er die Aufforderung: „Liege
bis zum Morgen". Zugleich läßt er sie die anerkennenden
Worte hören: „Das ganze Tor meines Volkes weiß,
daß du ein wackeres Weib bist". Glückliche Frau! Wie
wird ihr Herz gejubelt haben angesichts der wunderbaren
Führungen Jehovas, des Gottes Israels, unter dessen
Flügeln Zuflucht zu suchen sie nach Bethlehem gekommen
war! Mit welcher Ungeduld wird sie den Tag herbeigesehnt
haben, um ihrer Schwiegermutter berichten zu können,
wie über alles Erwarten hinaus der Wunsch des Boas:
„Jehova vergelte dir dein Tun, und voll sei dein Lohn
von Jehova!" (Kap. 2, 11. 12) in Erfüllung gehen sollte!
Ihr zu erzählen, nicht was sic tun wollte, sondern
was er für sie zu tun gedachte.
Und wie lag sie zu seinen Füßen? Gebadet, gesalbt
und mit ihren besten Kleidern angetan — wie eine Braut,
die sich für ihren Bräutigam geschmückt hat. Sie war der
an sie ergangenen Aufforderung gefolgt. Welch eine Belehrung
liegt für uns in allem diesem!
Nicht mehr lange! Lehr' uns wachen!
Morgenröte zeigt sich schon von fern.
„Jetzt ist unsere Errettung näher, als da wir geglaubt
haben. Die Nacht ist weit vorgerückt, und der Tag
ist nahe. Laßt uns nun die Werke der Finsternis ablegen
und die Waffen des Lichts anziehen. Laßt uns anständig
wandeln wie am Tage." (Röm. 13, 11—13.)
Gebadet, gesalbt und geschmückt — s o war Ruth
ein begehrenswerter Gegenstand für den Mann, um des-
sentwillcn sic das alles getan hatte. S o hatte er Lust an
108
ihrer Schönheit, wie dereinst auch der König an der Königin
(Jerusalem) Gefallen finden wird, die in „Gold
von Ophir" zu Seiner Rechten steht und nur noch Auge
und Ohr für Ihn hat. (Ps. 45, 9—11.)
Ruth liegt bis zum Morgen. Auf das Wort des
Boas — sie wartet jetzt in allem auf ihn —„Es werde
nicht kund, daß ein Weib auf die Tenne gekommen ist!"
steht sie auf, ehe einer den anderen erkennen konnte. Die
Ehre des vermögenden Mannes und ihr eigener guter Ruf
mußten bewahrt bleiben. Dann fordert Boas sie auf, ihren
Mantel herzugeben, und er mißt sechs Maß Gerste hinein.
„Du sollst nicht leer zu deiner Schwiegermutter kommen",
sagt er. So wandert sie mit dem Unterpfande, das
ihr geworden, dem „Angeld" auf einen späteren höheren
Besitz, beglückten Herzens nach Hause zurück. Dort-darf
sie hören: „Bleibe, meine Tochter, bis du weißt, wie die
Sache auöfällt; denn der Mann wird nicht ruhen,
er habe denn die Sache heute zu Ende geführt".
(V. 18.)
„Der Mann wird nicht ruhen." Wie könnte die Liebe
ruhen, solang sie ihr Ziel nicht erreicht hat? So wird
auch der Herr nicht ruhen, bis Er Seine Braut ins Vaterhaus
geführt hat. Er redet in dem Sendschreiben än
Philadelphia von dem Worte Seines Ausharrens und
schätzt es hoch, wenn wir dieses Wort bewahren. Wir
können das nur in dem Maße, wie wir Seine Liebe kennen
und hochhalten. Er hat nicht nur in Niedrigkeit hie-
m'eden ausgeharrt, nein. Er harrt jetzt in der Herrlichkeit
droben aus. Seine Liebe zu uns und Sein Verlangen, uns
bei sich zu haben, sind unendlich größer als unsere Liebe
und unser Verlangen, bei Ihm zu sein.
— roy —
So wird auch Gott nicht eher ruhen, bis Er die Seinem
Knechte Abraham gegebenen Verheißungen im Blick
auf Sein irdisches Volk eingelöst hat. Er hat sich mit
einem Eide verpflichtet, dem Abraham nicht zu lügen. Und
wenn wir über diese Erde und Zeit hinausschauen, so steigt
vor unseren Blicken ein neuer Himmel und eine neue Erde
auf, „der Tag der Ewigkeit", „der Tag Gottes", die
ewige Sabbathruhe, die dem Volke Gottes bereit liegt.
Dann erst wird Gott ruhen, um nie wieder in Seiner
Ruhe gestört zu werden. In Seiner „Hütte" bei den Menschen
der neuen Erde wohnend, wird Er wiederum alles
anschauen, was Er gemacht hat, und sagen: „Siehe, ich
mache alles neu... Es ist geschehen. Ich bin das
Alpha und das Omega, der Anfang und das Ende."
(Offbg. 27, 7-7.)
Und wir? Wir werden ruhen unter Seiner Flügel
Schatten und uns verlieren in dem Anschauen der Herrlichkeit
unseres Boas.
Wahrlich, es ist der Mühe wert, noch ein wenig zu
warten, fest zu stehen im Herrn und, in Liebe und Demut
Ihm dienend. Seines Beifalls gewiß, dem Anbruch
des Tages entgegen zu harren. Wir sehen und erkennen
unseren geliebten Herrn noch nicht, aber Er hat auch uns
ein „Unterpfand des Erbes zur Erlösung des erworbenen
Besitzes" gegeben, den Heiligen Geist (Eph. 7, 74), der
in uns wohnt und unsere Herzen auf Ihn hinlenkt, indem
Er von dem „Seinigen" nimmt und uns verkündigt. (Joh.
76, 74.)
-- rro —
„Gottseligkeit mit Genügsamkeit ist ein
großer Gewinn"
Ludwig B. verdiente vor Jahrzehnten als Maschinist
einer Tuchfabrik t8 Mark wöchentlich. Der kleine Lohn
würde für die Familie nicht auögereicht haben, wenn Ludwig
nicht eine so gute, sparsame Frau gehabt hätte. Dabei
besaßen beide den größten Schatz, sie kannten Jesum als
ihren Heiland, und ein unbeflecktes und unverwesliches
Erbteil wurde ihnen ausbewahrt in den Himmeln.
Da kam eines Tages ein Bruder von Ludwig zu
ihm mit der Botschaft: „Ludwig, du kannst dich jetzt
verbessern. Die Maschinistenstelle in H. ist freigeworden,
da verdienst du drei Mark wöchentlich mehr."
„Lieber Bruder", erwiderte Ludwig, „das ist gut
von dir gemeint, aber ich muß mir die Sache doch vorher
überlegen."
„Da ist nichts zu überlegen", meinte der Bruder,
„eine solch günstige Gelegenheit muß man wahrnehmen!"
Aber Ludwig trug die Sache mit seiner Frau dem
Herrn vor und sagte dann: „Frau, wir haben bis jetzt
unser Auskommen gehabt, und da ich keinen deutlichen
Fingerzeig vom Herrn habe, liegt, meine ich, keine Ursache
vor, meine Stelle zu wechseln".
Am nächsten Tage kam der Bruder wieder. „Nun,
Ludwig, die Stelle in H. nimmst du doch an?"
„Nein", lautete die ruhige, aber bestimmte Antwort,
„der Taler mehr wöchentlich darf mich nicht leiten."
Da wurde sein Bruder so ärgerlich, daß er mit den
Worten: „Dann komme ich dir nicht mehr ins Haus",
davonlief.
— ux —
Einige Wochen vergingen. Da traf Ludwig eines
Tages den neuen Maschinisten von H., der ihm zurief:
„Kannst froh sein, daß du damals die Stelle nicht angenommen
hast! Mein neuer Herr ist ein wahrer Teufel."
Kurz darauf, ohne daß Ludwig sich irgendwie darum
bemüht hätte, bekam er eine wöchentliche Lohnzulage von
drei Mark.
Danach kam eine Zeit, wo er manche Überstunden
machen mußte. Einer seiner Mitarbeiter sagte wiederholt:
„Ludwig, du wirst doch nicht so dumm sein und die
Überstunden umsonst machen? Du mußt Entschädigung
dafür fordern!"
Aber Ludwig hörte nicht darauf, sondern unterbreitere
auch diese Sache seinem obersten Herrn, dem alle Gewalt
gegeben ist im Himmel und auf Erden, und arbeitete
glücklich und zufrieden weiter. Und was geschah? Eines
Tages, als er allein im Maschinenraum war, kommt der
Direktor herein, reicht ihm zu seiner Überraschung eine
ganze Handvoll Taler und sagt: „Hier, B., das ist eine
Extra-Vergütung für Sie. Reden Sie aber nicht weiter
davon."
So durfte er wiederum die Wahrheit des Wortes
erfahren: „Alle, die auf dich harren, werden nicht beschämt
werden".
Ludwig B. ist längst in die ewige Ruhe eingegangen,
aber an seinem früheren Wohnort steht er noch in
guter Erinnerung, und ich dachte, die obige kleine Geschichte
könnte auch manchem Leser des „Botschafter" zur
Ermunterung dienen und besonders in der gegenwärtigen
Zeit zur Nachahmung anspornen.
112
Laß es Gottes Sorge sein!
Laß cs Gattes Sorge sein.
Seine Sorge ganz allein.
Dir die Zukunft zu gestalten I
Laß Ihn, Bruder, laß Ihn walten,
Greife du nicht selber ein!
Wird des Tages Lauf dir schwer.
Bangst in Ungeduld du sehr?
Aussichtslos scheint all dein Ringen,
Nirgend zeigt sich ein Gelingen —
Glaube fest, und sorg' nicht mehr!
Stehet das Getriebe still.
Ruft die Not der Zeiten schrill?
Was auch deinen Glauben übe,
Uber allem steht die Liebe —
Wart' nur, was Gott sagen will!
Auch daheim sei ohne Angst!
Wird dir's wohler, wenn du bangst?
Besser, wenn in deinen Nöten
Tränen dir die Augen röten?
Du zu sterben gar verlangst?
Nein, ach nein! Dein Auge soll
Aufwärts schauen glaubensvoll.
Sage: Gott wird mich versorgen.
So wie gestern — heute, morgen.
Bringe Ihm des Dankes Zoll!
Laß es Gottes Sorge sein.
Seine Sorge ganz allein.
Dir den Wüstenweg zu bahnen.
Lasse all dein eignes Planen!
Seine Hand greift für dich ein.
„denn es euch gut dünkt^
>l. Lhron. 13-17)
„Ms es Gott... wohlgefiel, Seinen Sohn in mir zu
offenbaren,... ging ich alsbald nicht mit Fleisch und Blut
zu Rate und ging auch nicht hinauf nach Jerusalem zu
denen, die vor mir Apostel waren, sondern ich ging fort
nach Arabien." (Gal. 1, 15—17.)
So schrieb der Apostel der Nationen an die Versammlungen
in Galatien, die in Gefahr standen, dem Fleische
und seinen Eingebungen nachzugeben und zu Satzungen zurückzukehren,
die sie unfehlbar von dem Boden des Glaubens
und der Gnade entfernen mußten.
„Ich ging nicht mit Fleisch und Blut zu Rate."
Gerade das, was wir so gern und immer wieder tun,
tat Paulus nicht. Das „himmlische Gesicht" hatte ihm
gesagt, daß er zu aller Welt hinausgehen solle, um die
Augen der Menschen aufzutun, auf daß sie sich bekehren
möchten von der Finsternis zum Licht und von der Gewalt
des Satans zu Gott; und Ananias, der Bote Gottes,
hatte diese Berufung bestätigt. (Apstgesch. 26,16—78;
vergl. Kap. 22, 15.) Was wäre nun für Paulus natürlicher
gewesen, als ein eingehendes Iurategehen mit sich
und den Aposteln, die schon seit längerer Zeit im Werke
gestanden und Erfahrungen darin gesammelt hatten? Aber
Paulus tat beides nicht.
„Sondern ich ging fort nach Arabien" —, um erst
drei Jahre später nach Damaskus zurückzukehren! Gottes
Gedanken sind himmelhoch verschieden von unseren Ge
— 444 —
danken, und unsere Wege laufen meist schnurstracks Seinen
Wegen entgegen. Paulus ging nicht seinen eigenen
Weg. Im Aufblick nach oben, unter der Leitung des Geistes,
ging er nach Arabien, in die Einsamkeit, wohl
um dort für den ihm aufgetragenen Dienst zubereitet zu
werden. Was dort vorgegangen ist, werden wir erst in
der Ewigkeit erfahren, zum Preise Gottes.
Nicht alle Knechte Gottes haben immer so gehandelt
wie Paulus. Abraham hörte auf Sara und folgte ihren
menschlichen Überlegungen. Mose „wandte sich dahin und
dorthin" und erschlug dann den Ägypter. Samuel „entbrannte
und schrie zu Jehova die ganze Nacht", als es
Gott gereute, Saul zum König gemacht zu haben; und
als er bald nachher den hochgewachsenen, stattlichen Eliab
vor sich sah, meinte er, das müsse der „Gesalbte Jehovas"
sein. (4. Sam. 45, 44; 4b, 6.) Auch Elia ging mit
Fleisch und Blut zu Rate, als er unter dem Ginsterstrauch
lag und zu sterben begehrte; ebenso Petrus, als er sich
„vor denen aus der Beschneidung fürchtete". (l.Kön. ly;
Gal. 2.)
Ähnliches finden wir bei David, als es in seinem
Herzen aufkam, die Lade Jehovas, die seit ihrer Rückkehr
aus dem Philisterlande „im Hause Abinadabs auf dem
Hügel" gestanden hatte, nach Jerusalem heraufzuholen.
Wie wohlgefällig der Wunsch Davids, „eine Stätte für
Jehova zu finden, Wohnungen für den Mächtigen Jakobs",
an und für sich vor Gott war, zeigt uns Psalm
lZ2. Der Schwur Jehovas, „von der Frucht seines Leibes
auf seinen Thron zu setzen", steht unmittelbar damit in
Verbindung. David ließ es sich auch angelegen sein, die
Einholung der Lade mit aller erdenklichen Feierlichkeit zu
— 445 —
umgeben. Und doch endete die Sache in einem gänzlichen
Mißlingen, zur Verwirrung und tiefen Beschämung Davids.
Warum? Wir lesen in 4. Chron. 43, 4: „Und David
berietsich mit denObersten über tausend und
über hundert, mit allen Fürsten". Dieses eine Wort wirkt
wie ein Blitzlicht: „David beriet sich". Aber, wird man
fragen, konnte etwas näher liegen als das? Warm diese
Männer nicht alle mit ungeteiltem Herzen nach Hebron
gekommen, um David zum König zu machen über ganz
Israel? (Kap. 42, 38.) Hatte David ihnen gegenüber
also nicht Verpflichtungen dringendster Art? Waren nicht
nach menschlichem Ermessen die Häupter des Volkes gerade
die Leute, deren Rat eingeholt werden mußte bei einer
Sache, die das nationale und religiöse Dastehen Israels
so unmittelbar anging?
So mögen Fleisch und Blut urteilen; sie können nicht
anders. Aber Gottes Gedanken waren andere. Er hatte
einst genaue Anordnungen getroffen bezüglich der Bundeslade,
des Zeugnisses Seiner Gegenwart inmitten des
Volkes. So oft das Heerlager Israels aufbrach, mußten
Aaron und seine Söhne das Heiligtum und alle seine Geräte
sorgfältig in Tücher von rotem und blauem Purpur
und in Decken von Dachsfellen einhüllen, und danach
mußten die Leviten kommen und das alles auf ihren Schultern
tragen, „damit sie", wie es in der Verordnung heißt,
„das Heilige nicht anrühren und sterben". (4. Mose
4, 4—45; 7, 9.)
Das Gebot Gottes war also klar und bestimmt, und
David hätte danach fragen und „Gott suchen sollen nach
der Vorschrift". (Kap. 45, 43.) So sehr die Obersten
— 116 —
und Fürsten an ihrem Platze sein mochten, wenn es sich
um Fragen des Königtums, der Verwaltung, des Heeres
usw. handelte, hier waren sie nur ein Hindernis, eine
Schlinge. Was verstehen Fleisch und Blut von göttlichen
Dingen? Wie kann ein „natürlicher" Mensch „Geistliches"
beurteilen? Der natürlich religiöse Sinn des Menschen
mag allem beistimmen, was das Fleisch erhebt, er mag
einen neuen Wagen bauen, der von seiner Klugheit
und Erfindungsgabe Zeugnis gibt und einen religiösen
Sinn bekundet, aber er wird nie etwas erwählen, was dem
Menschen die Ehre nimmt und sie Gott allein zuweist.
Das nächste Ergebnis der Beratung mit den Häuptern
des Volkes war eine Berufung der „ganzen Versammlung
Israels". Dem ersten Schritt auf falscher
Bahn folgt notgedrungen der zweite und dritte. David
befragt jetzt das Volk um seine Meinung: „Wenn es
euch gut dünkt, und wenn es von Jehova, unserem
Gott, ist". Welch eine Gedanken-Verbindung — und dabei
steht das Gutdünken des Volkes an erster Stelle! Sehr
verständlich. Wenn das Herz nicht im Lichte Gottes ist,
werden Umstände und Menschen wichtiger als Gott selbst.
Das Wort, das sonst zunächst befragt wird, verliert seine
Bedeutung. Man spricht wohl noch davon, zur Beruhigung
des Gewissens und zur Wahrung des guten Scheines,
aber es ist kraftlos.
Der Vorschlag Davids, allenthalben im Lande umherzusenden
und die Priester und Leviten samt dem ganzen
übrigen Volke zu einer gewaltigen, gemeinsamen Kundgebung
zusammen zu rufen, fand Beifall. „Die ganze
Versammlung sprach, daß man also tun sollte; denn d i e
Sache war recht in den Augen des ganzen
— 147 —
Volkes." (V. 4.) Eine religiöse Handlung, an der sich
alle ohne Unterschied beteiligen können, mit möglichst großem
äußerem Gepränge, ohne irgendwelche Gewissens-
Übung, gefällt dem Menschen stets. Wenn nun noch, wie
in diesem Falle, das Verdienstvolle hinzukommt, der Lade
des Herrn der ganzen Erde, die in den Tagen Sauls nicht
befragt worden war, eine würdigere Wohnstätte zu bereiten
— wer hätte da nicht zustimmen und mittun
wollen?
So versammelte sich denn ganz Israel „von dem
Sihor Ägyptens bis nach Hamath hin", d. i. von dem südlichsten
Grenzpunkt bis zum äußersten Norden des Landes,
„um die Lade Gottes, Jehovas, heraufzuholen, der
zwischen den Cherubim thront, dessen Name dort angerufen
wird". Es ist sicher nicht von ungefähr, daß gerade
hier an die ernste Tatsache erinnert wird, daß die Bundes-
ladc der Thron Jehovas war. Hätte David daran gedacht,
so würde er sicher davor bewahrt geblieben sein, die Lade
Gottes so zu behandeln, wie die heidnischen Philister, die
Jehova nicht kannten, Jahre vorher es getan hatten. „Und
sie fuhren die Lade Gottes auf einem neuen Wagen aus
dem Hause Abinadabs weg, und Ussa und Achjo führten
den Wagen." (V. 7; vergl. 7. Sam. 6.) Was Gott bei
den Philistern ungeahndet ließ, ja, was Er selbst zu einer
eindrucksvollen Kundgebung Seiner Oberhoheit über die
Erde und ihre Geschöpfe benutzte (vergl. 4. Sam. 6, 42),
rief bei Seinem Volke Sein tiefes Mißfallen wach und
führte zu ernster Züchtigung.
„Und als sie zur Tenne Kidon kamen, da streckte
Ussa seine Hand aus, um die Lade anzufassen; denn die
Rinder hatten sich losgerissen (oder waren ausgeglitten).
— U8 —
Da entbrannte der Zorn Jehovas wider Ussa, und Er
schlug ihn, darum daß er seine Hand nach der Lade ausgestreckt
hatte; und er starb daselbst vor^Nott." (V. 9. io.)
Vergegenwärtigen wir uns einen Augenblick die Lage.
Das ganze Volk, mit David und den Obersten an der
Spitze, war auögezogen hinter der Lade her und spielte
mit aller Kraft vor Gott, mit Gesängen und Lauten, mit
Harfen und Tamburinen, Zimbeln und Trompeten. E i n
gewaltiger Zug frohlockender Menschen! Jubel und Freude
auf allen Seiten! Da ertönt mit einemmale ein furchtbares
Halt! In ähnlicher Weise hatte ganz Israel zur Zeit Elis
gejauchzt, als die Lade des Bundes Jehovas ins Lager
kam. Das Jauchzen war so groß, daß „die Erde erdröhnte
und die Philister den Schall des Jauchzens hörten". Aber
nur zu bald hatte sich das Jauchzen in Wehgeschrei verwandelt;
„es fielen von Israel dreißigtausend Mann zu
Fuß, und die Lade Gottes wurde genommen", (t. Sam. 4.)
Ach! wie damals, so war auch jetzt die Sache recht
in den Augen des ganzen Volkes, aber nicht in den Augen
Gottes. Und doch hatten David und die Obersten des Volkes
es so gut gemeint! Wollten sie nicht der Lade die so
lang vergessene Ehre erweisen? Wollten sie nicht fortan
sie wieder befragen? Und hatten sie nicht alles getan,
was der Einholung der Lade einen feierlichen, dem Augenblick
entsprechenden Charakter verleihen konnte? Und nun
antwortete Gott mit Gericht und Tod! Und warum?
Weil Ussa in begreiflicher Sorge um die Lade — der
Wagen war doch ins Schwanken oder Rutschen gekommen,
und die Lade drohte zu fallen — seine Hand nach ihr
auögestreckt hatte! Das war also die göttliche Antwort
auf all die Mühe, all den Eifer!
— iiy —
„David entbrannt e." Wohl nicht aus Zorn, aber
in völligem Mangel an Verständnis für das Geschehene.
Er war aufs tiefste enttäuscht, verwirrt, beschämt, und daö
angesichts aller Fürsten und des ganzen Volkes! Das Tun
Gottes war ihm ein hartes, unbegreifliches Rätsel, und er
bedurfte Zeit, um sich in der Stille der Gegenwart Gottes
wieder zurechtzufinden. Er nannte den Ort seiner Beschämung
„Perez-Ussa", d. i. Bruch Ussas, bis auf diesen
Tag, und sorgte so selbst dafür, daß die Erinnerung daran
blieb.
„Und David fürchtete sich vor Gott an selbigem
Tage und sprach: Wie soll ich die Lade Gottes zu mir
bringen?" Der Gott so wohlgefällige Wunsch blieb, aber
wie sollte er zur Ausführung kommen? Gott wird es ihm
zeigen, wenn er auf schmerzlichem, aber gesegnetem Wege
das Nötige gelernt hat. „Und David ließ die Lade nicht zu
sich einkehren in die Stadt Davids; und er ließ sie beiseite
bringen in das Haus Obed-Edoms, des Gathiters." Dort
blieb sie drei Monate. „Und Jehova segnete das Hauö
Obed-Edoms und alles was sein war." (V. 13. 14.) Was
ihn bewog, gerade dieses Haus zu wählen, wird uns nicht
mitgeteilt, aber wir dürfen überzeugt sein, daß David den
Besitzer als einen vertrauenswürdigen und gottesfürchtigen
Mann kannte. In 2. Sam. 15, Id ff. hören wir von
einem zweiten Gathiter, namens Jttai, der in schwerer
Zeit seinem Glauben an Jehova Ausdruck gab und treu
zu David hielt.
Das 14. Kapitel berichtet uns mit wenigen Worten,
wie gnädig und freundlich Gott Seinen Knecht belehrte
und ihn befähigte, in rechter Weise den Wunsch seines
Herzens zur Ausführung zu bringen.
120
Zunächst hören wir, daß Er das Königtum Davids
bestätigte und hoch erhob um Seines Volkes Israel willen.
Wie gut, daß unser großer Gott in Seinem Tun unabhängig
ist von unseren Torheiten und Fehlern und immer
wieder zeigt, wie es Seine Freude ist, zu vergeben
und zu segnen!
Als zweites wird uns erzählt, daß die Philister, eifersüchtig
auf die wachsende Größe Davids, „heraufzogen,
um ihn zu suchen". Damit war nun anscheinend eine Gelegenheit
gegeben, die Obersten und Fürsten des Volkes
zu Rate zu ziehen; aber statt dessen lesen wir: „David
befragte Got t", und erst auf die Anweisung: „Ziehe
hinauf!" zog er wider seine Feinde und errang einen so
durchschlagenden Erfolg, daß er der Stätte seines Sieges
den Namen „Baal-Perazim" Ort der Durchbrüche,
gab. Wie bei dem Bruch eines Dammes das gestaute Wasser
sich mit unwiderstehlicher Gewalt einen Weg bahnt,
alles überflutend, alles mit sich fortreißend, so hatte Gott
durch die Hand Davids seine Feinde durchbrochen, und
ihre Götter wurden beschämt. (V. 8—12.)
Und wieder zogen die Philister herauf. Ein zweites
Befragen Jehovas war wohl unnötig, Er hatte Seinen
Willen ja schon einmal kundgetan. Aber nein, „David
befragte Gott abermal s", und siehe da, die Antwort
lautete jetzt ganz entgegengesetzt: „Du sollst nicht
hinaufziehen ihnen nach; wende dich von ihnen
ab". Wie belehrend ist das auch für uns! Gott handelt
nie nach einer Schablone. Wir bedürfen, trotz aller Erfahrungen,
die wir gemacht haben mögen, immer wieder
derselben Abhängigkeit von Ihm und der Leitung Seines
Geistes. Was heute richtig ist, kann morgen verkehrt sein.
— 121 —
„Wende dich von ihnen ab, daß du an sie kommst,
den Bakabäumen gegenüber. Und sobald du das Geräusch
eines Daherschreitens in den Wipfeln der Bakabäume
hörst, alsdann sollst du zum Angriff schreiten."
Welch eine Anweisung für einen kriegserprobten Heerführer!
Nicht seine eigene Tüchtigkeit, nicht die seiner
Obersten und Helden kam hier in Betracht. Wie schwache
Kinder mußten sie alle auf ein Zeichen von oben, auf das
Geräusch in den Wipfeln der Bakabäume warten, dann
sollten sie zum Angriff schreiten, denn Gott war vor
ihnen ausgezogen. „Und David tat, so wie Gott ihm
geboten hatte", und das Heerlager der Philister wurde
geschlagen von Gibeon bis nach Geser.
Zn Jes. 28, wo uns berichtet wird, daß die Führer
des Volkes Israel am Ende der Tage einen Bund mit
dem Tode schließen und einen Vertrag mit dem Scheol
machen werden, um dem überflutenden Verderben zu entrinnen,
wird an die eben betrachteten Ereignisse erinnert
— ein Beweis, wie wichtig sie für Gott waren. Ach! das
Bett, auf dem jene stolzen Spötter sich auszustrecken gedenken,
wird sich als zu kurz erweisen,, und die Decke,
in die sie sich einhüllen möchten, als zu schmal. „Denn
Jehova wird sich aufmachen wie bei dem Berge Pera-
zim, wie im Tale zu Gibeon wird Er zürnen: um
Sein Werk zu tun." (V. 14—21.)
David hatte gelernt, und nun war er auch imstande,
seinen Herzenswunsch nach Gottes Gedanken auszuführen.
„Damals sprach David: Die Lade Gottes soll
niemand tragen, als nur die Leviten; denn sie hat
Jehova erwählt, um die Lade Gottes zu tragen
und Seinen Dienst zu verrichten ewiglich." (Kap. 15, 2.)
122
Neben den ernsten Erfahrungen, die er gemacht, hatte David
vernommen, daß Jehova das Haus Obed-Edoms und
all das Seinige um der Lade Gottes willen gesegnet habe.
(2. Sam. 6, 12.) Wie freundlich und gnädig ist unser
Gott, und „wer ist ein Lehrer wie Er?"!
Wieder versammelte David ganz Israel nach Jerusalem,
aber mit ihm die Söhne Aarons und die Leviten,
damit sie die Lade Jehovas, des Gottes Israels, an
den Ort h i n au fb rä ch t en, den er für sie bereitet hatte.
„Denn", so sagt er zu ihnen, „weil ihr das vorige Mal
es nicht tatet, so machte Jehova, unser Gott, einen Bruch
unter uns, weil wir Ihn nicht suchten nach der
Vorschrift." (V. 13.)
Dann heiligtensich die Priester und die Leviten,
„und die Söhne der Leviten trugen die Lade Gottes auf
ihren Schultern, indem sie die Stangen auf sich
legten, so wie Mose geboten hatte nach dem Worte
Jehova s". Und indem die „Sänger" aus den Leviten
mit allerlei Musikinstrumenten laut spielten und die „Priester"
mit den Trompeten (vergl. 4. Mose io, 10) vor der
Lade Jehovas her schmetterten, hüpfte und spielte David,
mit einem leinenen Ephod bekleidet, aller Zeichen seiner
königlichen Würde bar, vor ihr her. Jetzt war alles an seinem
richtigen Platz. Der Mensch war nichts, Gott war
alles. Und nun half Gott den Leviten, welche die Lade
trugen, und weil Er ihnen half, opferten sie sieben
Farren und sieben Widder. (V. 26.) Aller Augen und
Herzen waren auf den großen Gott der Lade gerichtet, und
das Ende war Lobgesang und Anbetung. „Damals, an
jenem Tage, trug David zum erstenmal Asaph und seinen
Brüdern auf, Jehova zu preisen." (Kap. 16, 7 ff.)
123
Der Unglaube ärgerte sich freilich an diesem Schauspiel.
Michal, die Tochter Sauls, schaute durchs Fenster,
und als sie ihren Mann so vor Jehova Hüpfen und spielen
sah, verachtete sie ihn in ihrem Herzen. ES war
ihr unbegreiflich, daß der König Israels vor seinen Knechten
und Mägden sich, wie sie meinte, so erniedrigen konnte.
Das hätt: ihr Vater Saul allerdings nie getan. Aber auf
ihre Vorwürfe antwortet David: „Vor Jehova, der mich
...erwählt hat, um mich als Fürst über... Israel zu
bestellen, ja, vor Jehova will ich spielen; und ich will
noch geringer werden... in meinen Augen". (2. Sam.
6, 20—23.)
Davids Weg war bei dieser und bei anderen Gelegenheiten
nicht ohne Anstoß, sein Tun nicht fehlerlos, aber
er war ein Mann „nach dem Herzen Gottes", ein Mann
zerschlagenen Geistes, der da zitterte vor Gottes Wort.
Auf einen solchen kann Gott blicken, ja, bei ihm will der
Hohe und Erhabene, der in Ewigkeit bleibt, Wohnung
machen. (Jes. 57, 15; 66, 2; vergl. Joh. 14, 23.)
Und was ist die Folge der wunderbaren Güte Gottes?
Die Kapitel 16 und 17 unseres Buches geben Antwort
auf diese Frage. (Schluß folgt.)
Belehrt oder überzeugt
(Schluß)
Gott redet zu allen Menschen, in welchen Umständen,
Stellungen, Lebensaltern und Herzenszuftänden
sie sich auch befinden mögen. Er ruft dem feindlichen
Menschen zu: „Laß dich versöhnen mit Gott!" und zeigt
ihm dabei, daß Er die Grundlage für die Versöhnung geschaffen
hat, und daß der Sünder nur der Einladung
424
„Komm!" zu folgen braucht, um versöhnt zu werden.
Den mit Gott versöhnten Menschen sagt das Wort: „Ich
ermahne euch nun durch die Erbarmungen Gottes, eure
Leiber darzustellen als ein lebendiges, heiliges, Gott wohlgefälliges
Schlachtopfer". An anderen Stellen weist es
jedem Menschen den ihm zukommenden Platz an: Mann
und Frau, Eltern und Kindern, Herren und Knechten,
Alten und Zungen. Wenn das Gesetz vom Sinai das Verhalten
des Israeliten in seinen Beziehungen zu Gott und
zu seinen Mitmenschen bestimmte und ihm Richtschnur
für Tun und Lassen nach Gottes Gebot sein mußte, wobei
das eiserne „Du sollst" dieses Gesetzes dem eigenwilligen
Menschenherzen wahrlich keinen Anreiz zum Gehorsam bieten
konnte, um wieviel bedeutungsvoller sind dann die Ermahnungen
des Wortes, die auf Grund der Erbarmungen
Gottes ausgesprochen werden, um die zum Gehorsam
Berufenen anzuleiten, zu prüfen, „was der gute
und wohlgefällige und vollkommene Wille Gottes ist".
Gott hat also in Seinem Wort Richtlinien gegeben
für jeden Weg, hatjedem Menschen seinen Platz zugeteilt
und die zu diesem Platz gehörenden Grenzen abgesteckt.
Es kommt deshalb jetzt nur darauf an, ob der Mensch
diesen Platz, diese Richtlinien und Grenzen anerkennen will
oder nicht, d. h. ob er sich der Autorität Dessen, der gesprochen
hat, beugen will oder nicht. Die „nach Vorkenntnis
Gottes, des Vaters, zum Gehorsam Erwählten"
(1. Petr, b, 2) hab en sich dem Worte Gottes unterworfen.
Sie haben ihre Seelen gereinigt durch den Gehorsam
gegen die Wahrheit. (4. Petr. 4, 22.) Dieser Gehorsam
gegen die Wahrheit entspringt aber der Anerkennung der
Autorität Dessen, der im Worte Gottes redet. Somit
125
kommt es auch hier wieder auf die Überzeugung an, die
wir hinsichtlich dieser Autorität haben.
Die Notwendigkeit einer persönlichen und gegründeten
Überzeugung und der Kenntnis ihrer Grundlage ist
also im Worte Gottes deutlich bezeugt; ebenso deutlich
auch der Unterschied zwischen Lernen und Überzeugtsein.
In Phil. 4, 9 schreibt der Apostel: „Was ihr auch gelernt
und empfangen und gehört und an mir
gesehen habt, dieses tut, und der Gott des Friedens
wird mit euch sein". Lernen und Empfangen (in
Besitz nehmen) ist ebenso verschieden wie das Belehren
durch Worte und durch Taten, oder durch Hören
und durch Augenschein.
Wenn das aber so ist, dann entsteht von selbst für
jeden von uns die Frage: „Habe ich eine solche Überzeugung?
Und ist ihre Grundlage Gottes Wort?" Bor Beantwortung
dieser Frage tun wir wohl, die Kosten zu
überschlagen; denn gemäß der Überzeugung handelt
man. Für Timotheus galt es, angesichts des Fortschritte
machenden Bösen zu bleiben in dem, was
er gelernt hatte und wovon er überzeugt war; festzuhalten
„das Bild gesunder Worte in Glauben und Liebe, die in
Christo Jesu sind". Das gilt auch heute für uns, und ferner
ist jeder Mensch Gottes berufen, „die Lehre, die
unseres Heiland-Gottes ist, zu zieren in allem". (Tit.
2, 10.) Diese Lehre zeugt von einem Gott, welcher will,
daß alle Menschen errettet werden und zur Erkenntnis der
Wahrheit kommen; sie zeugt von dem Gott, von dem
Joh. 3, 16 redet. Wir alle kennen diese Lehre, aber eine
andere Frage ist, ob wir eine Zierde für sie sind. Sicher
würde die Lehre oft leichter Eingang finden in schwer zu-
126
gänzliche Menschenherzen, wenn sie mehr durch uns geziert
würde. Welch ein Gewinn wäre es, wenn die Menschen
durch Augenschein belehrt würden, daß es nicht leere
Worte sind, die ihnen gebracht werden, wenn sie sähen,
daß „der Geist der Kraft und der Liebe und der Besonnenheit"
uns regiert!
Vor allem aber ist es für uns selbst wichtig, inwieweit
wir diese Lehre kennen und entsprechend von ihr überzeugt
sind. Wir meinen vielleicht, die Liebe des Heiland-
Gottes zu uns gut zu kennen, und sind überzeugt, daß
wir Gegenstände dieser wunderbaren Liebe sind. Aber vergessen
wir nicht, daß es auch hier gilt, daß die vorhandene
Überzeugung sich im Leben auspräge, und daß geschrieben
steht: „Geliebte, wenn Gott uns also geliebt hat, so sind
auch wir schuldig, einander zu lieben". (1. Joh. 4, 11.)
Angesichts so mancher Mängel unter den Gläubigen
bleibt uns auf Grund der bisherigen Überlegungen wohl
kaum ein anderer Schluß übrig, als daß es mit unserer
Überzeugung oft nicht weit her sein kann. Sehen
wir uns doch einmal um: Wo sind die Früchte, die als
Zierden der Lehre, die unseres Heiland-Gottes ist, gelten
können? Es ist wohl nicht schwer zu erkennen, daß
solche Zierden rar geworden sind in unseren Tagen. Wo
liegt die Ursache? „Mein Volk wird vertilgt aus Mangel
an Erkenntnis" (Hos. 4, 6), kann von uns nicht gesagt
werden; viel eher könnte man sagen, daß die Ursache manchen
Mangels in einer Übersättigung liege. Die Erkenntnis
ist vorhanden, oft in überreichem Maße, aber das
Herz bleibt leer dabei, weil die H e r z e n s Überzeugung
fehlt, und damit gerade das, was der gesunden Erkenntnis
Wert und Inhalt gibt, was zum Fruchtbringen be-
127
fähigt und zur Darstellung „des Wortes des Lebens" anleitet.
(Phil. 2, 1b.)
Damit soll nicht das Auge auf den Menschen gelenkt
werden, denn nie wird jemand dadurch Frucht bringen,
daß er sich mit sich selbst beschäftigt. Das Ergebnis
einer solchen Selbstbeschäftigung kann nur ein beschwertes
und gedrücktes Herz sein. Aber eingedenk der stets gültigen
Worte unseres Herrn: „An ihren Früchten werdet
ihr sie erkennen", sollte doch angesichts so vieler Mängel
unter den Kindern Gottes ein jeder sich fragen: „Wo
liegt bei mir die Ursache, daß im allgemeinen so wenig
Energie, aber so viele kraftlose Worte gefunden werden?"
— Das Ergebnis einer wahren, im Worte Gottes gegründeten
Überzeugung besteht mehr in Taten als in Worten.
Wo eine solche Überzeugung sich kundgibt, hat auch das in
Schwachheit geredete Wort Kraft, denn Gottbekennt
sich dazu, und darauf kommt es an. Wir können nicht
erwarten, daß aus noch so schönen Menschenworten Frucht
für die Ewigkeit erwächst, aber wenn wir ein einfaches
Wort in der Kraft des lebendigen Gottes sprechen, so wird
die Frucht nicht ausbleiben, denn „Gott ist es, der das
Wachstum gibt".
Wodurch wurden die Herzen der Zöllner und Sünder
angezogen, Menschenherzen, die von vornherein sicherlich
in ablehnender Haltung zu Jesu standen? Nicht durch
die Wahrnehmung, daß die Worte Jesu Wirklichkeit
waren? Hinter Seinen Worten stand Er selbst, Licht und
Wahrheit verbreitend, die Gnade Gottes offenbarend,
wohltuend und heilend. Auf diese Weise zeugte der eingeborene
Sohn von dem Vater, machte Er kund, was Gott
ist. Und Sein Zeugnis war derart, daß Er am Ende Seines
128
Weges betend zu dem Vater sagen konnte: „Ich habe Deinen
Namen verherrlicht auf der Erde". Die Kraftfülle
Seines Zeugnisses war offenbar: „Alle gaben Ihm Zeugnis
und verwunderten sich über die Worte der Gnade, die
aus Seinem Munde hervorgingen", und: „Er redete wie
einer, der Gewalt hat".
„Solang ich in der Welt bin, bin ich das Licht der
Welt", sprach der Herr gelegentlich der Heilung des Blindgeborenen.
Der Herr ist nicht mehr hier, aber Seine Jünger
sind hier, und jetzt heißt es: „Ihr seid das Licht der
Welt". Licht ist eine Kraftäußerung. Ohne Kraftaufwand
ist Licht nicht denkbar. Wo aber ein Aufwand erfolgt,
muß eine Quelle sein. Diese natürlichen Grundsätze enthalten
Lehren für uns. Zur Verwirklichung des Wortes:
„Ihr seid das Licht der Welt", ist Kraft erforderlich. Art
und Quelle derselben ergeben sich aus dem Wort: „Gott
ist Licht", denn Er ist die Quelle jeglicher Lebens- und
Lichtäußerung. Keine andere Quelle kann göttliches
Licht verbreiten. Menschen mögen sich an dem Schein
„großer Lichter" erfreuen und diese preisen mit dem Unterton:
„Die Menschen sind den Göttern gleich geworden";
aber göttliches Licht wirkt anders als die Lichter
der Menschen. Es beseitigt die Finsternis armer, verfinsterter
Menschenherzen und leitet zu einem „von aller
Art des Bösen" abgesonderten, heiligen Wandel. Er beruft
„aus der Finsternis zu Seinem wunderbaren Licht", damit
die also Berufenen „Seine Tugenden verkündigen",
d. h. kundmachen was Er ist. Sie bezeugen, daß Gott
Licht ist, indem sie sich als Kinder des Lichts erweisen in
Gesinnung, Wort und Tat, die „unfruchtbaren Werke der
Finsternis" strafend. Und sie bekennen, daß Gott Liebe
r29
ist, indem sie in dankbarer Herzensüberzeugung von Seiner
Güte und Menschenliebe zu denen reden, die Ihn nicht
kennen, und dabei das Wort zu verwirklichen trachten:
„Seid nun Nachahmer Gottes als geliebte Kinder und
wandelt in Liebe, gleichwie auch der Christus
uns geliebt und sich selbst für uns hingegeben hat".
„Gleichwie auch der Christus", das ist der Maßstab
für alle, die Sein sind. Kennen wir Ihn, so leitet Er
uns an zu Seiner Nachfolge, und zwar in dem Maße,
wie wir Ihn kennen. Ein alter, bewahrter Diener des
Herrn schreibt einmal: „Wir kennen Christum nur insoweit,
wie wir leben durch Sein Leben". Das ist ein wahres
Wort, dem Worte ähnlich: „Wer da sagt, daß er in
Ihm bleibe, ist schuldig, selbst auch so zu wandeln, wie
Er gewandelt hat".
Und nun sei zum Schluß noch einmal daran erinnert,
daß die wahre Überzeugung eines Menschen sich notwendig
auf die ihr entsprechende Weise äußert. „Wenn ich nun
Herr bin, wo ist meine Furcht?" ruft der Herr durch den
Propheten Maleachi Seinem irdischen Volke zu. Ein Bekenntnis
ohne Leben, eine Form ohne Kraft, ein Festhalten
an Empfangenem, Hergebrachtem ohne Herzens-
überzeugung, das sind die Dinge, die den Zustand von
Laodicäa kennzeichnen oder doch im Gefolge haben. Wie
der Herr einen solchen Zustand beurteilt, zeigen die ernsten
Worte: „Ich werde dich ausspeien aus meinem Munde".
Aber Sein ganzes Herz gehört denen, die nicht nur bekennen,
an Ihn zu glauben und Ihm zu vertrauen, sondern
die sich auch der Leitung und Zucht Seines Wortes und
Geistes in Willigkeit und Furcht unterwerfen, „die da
zittern vor Seinem Wort". (Jes. 66, 2.)
- rzo —
Christ und Politik
„Daß doch niemand von euch leide
... als einer, der sich in fremde Sachen
mischt." (I. Petr. 4, 15.)
Es mag kaum eine Frage geben, die in christlichen
Kreisen so verschieden beantwortet wird, wie die in unserer
Überschrift verborgene. Manche Gläubige meinen, daß sie
etwas versäumten, wenn sie nicht in irgend einer Weise
tätig am politischen Leben teilnähmen — wobei es dann
nicht ausbleiben kann, daß sie über das „Wie?" in einen
heftigen Widerstreit mit sich selbst und mit anderen ge­
raten.
Aber so schwierig die ganze Frage angesichts der politischen
Nöte der Gegenwart auch zu sein scheint, so einfach
ist sie für den, der bereit ist, einfältig auf die Belehrungen
des Wortes Gottes über diesen Gegenstand zu
achten.
Wie es nicht Sache des Gläubigen ist, seine alte Natur
zu verbessern, so kann es ebensowenig seine Aufgabe
sein, an der Verbesserung der Welt mitzuwirken. Das
eine wie das andere würde vergebliche Mühe sein, da beide,
im Lichte des Wortes Gottes gesehen, unverbesser-
l i ch sind. Wozu also Zeit und Kraft an eine aussichtslose
Sache verschwenden?
Aber, wirft man ein, wird den Jüngern nicht gesagt,
daß sie „Salz" und „Licht" der Welt seien?
Der Einwand ist in dieser Form überhaupt unrichtig; er
beruht auf ungenauem Lesen der Heiligen Schrift, was
leider schon so oft Anlaß zu schriftwidrigen Lehren und
Auffassungen gegeben hat. Der Herr Jesus sagt zu Seinen
Jüngern zunächst: „Ihr seid das Salz der Erde"
— I3l -
und dann: „Ihr seid das Licht der Welt". (Matth.
5, 13. 14.) Erde und Welt sind zwei ganz verschiedene
Begriffe, genau so wie Salz und Licht. Der Ausdruck
„Erde" weist auf etwas hin, das sich in geordnetem Zustand
befindet, das bereits das Zeugnis Gottes besitzt,
d. h. in unserer Stelle zunächst auf Israel und das jüdische
Land, im weiteren Sinne auf die bekennende Christenheit
bezw. die christlichen Länder. „Welt" ist die bekannte
Bezeichnung des großen, verdorbenen Systems,
dessen Fürst und Gott Satan ist. „Salz" ist das innerlich
wirkende, erhaltende Element, sodaß man von einem
Salz der Welt überhaupt nicht reden kann. „Licht"
wirkt nach außen hin und erleuchtet die Finsternis.
Nun, die Jünger damals waren, und die Gläubigen
heute sind das Salz der Erde und das Licht der
Welt — zwei Tatsachen, inwieweit sie praktisch verwirklicht
werden, ist eine zweite Frage. Was aber haben
beide Tatsachen mit politischen Fragen oder mit völkischen
Verhältnissen zu tun? Nichts, ebensowenig wie man im
Blick auf sie von Zwecken der „Verbesserung" oder „Veredlung"
reden kann.
Noch ein anderes Schriftwerk wird in diesem Zusammenhang
häufig angeführt. Wir meinen das Jeremias-
Wort: „Suchet den Frieden (die Wohlfahrt) der Stadt,
wohin ich euch weggeführt habe". (Kap. 29, 7.) Doch der
Zusammenhang zeigt dem vorurteilsfreien Leser klar, daß
wir das Wort nicht in dem gemeinten Sinne auf uns anwenden
können. Das Volk Israel war von Gott in die
Hand des Königs von Babel gegeben. (Vergl. auch Dan.
2, 37 ff.) Das bedeutete ein ernstes Gericht für die Juden,
und sie sollten sich nun unter diese göttlichen Wege
132
beugen, indem sie unter jenem Volke in jeder Beziehung
ihren Platz einnahmen, — nicht aber (wie viele es taten)
auf Empörung sinnen. *) Die Gläubigen der Gnadenzeit
sind doch in ganz anderer Lage; Gott hat sie nicht aus
Gründen des Gerichts und zu ihrer Züchtigung inmitten
dieser Welt gelassen, sondern zum Zeugnis für
Ihn in Absonderung von allen, die Ihm
nicht dienen. (Vergl. Joh. 15, 19; 17, 14—19;
18, 36.)
*) Ähnlich äußert sich später der Herr, wenn Er den Herodi-
anern antwortet: „Gebet dem Kaiser was des Kaisers ist" usw.
(Matth, rr, 15 ff.), denn dieser „Kaiser" war der römische Herrscher,
der grausame Unterdrücker der Juden. Wenn wir also eine Anwendung
dieser Stellen auf uns machen wollen, dann kann es nur
d i c sein, daß wir uns nicht gegen die bestehende Staatsform auflehnen
sollen. (Vergl. Röm. 15, I ff.)
So manches Wort der Schrift ließe sich dafür nennen,
daß die Christen nicht zur Verbesserung der Welt
da sind. Nur zwei oder drei (außer den eben angeführten)
setze ich hierher, genug für ein aufrichtiges Herz. „Christus
hat sich selbst für unsere Sünden hingegeben, damit Er
uns herausnehme aus der gegenwärtigen
bösen Wel t." (Gal. 1, 4.) „Damit Er uns heraus-
nehme!" — das ist das gerade Gegenteil von einer
tätigen Mitwirkung an der Politik.
Aber sind wir denn nicht Bürger unseres Heimatlandes,
und haben wir uns nicht als solche zu fühlen und
zu verhalten? Ja und nein. Es wäre „unnatürlich", wenn
ich meine Heimat, mein irdisches Vaterland, nicht lieben
würde. Aber diese Liebe muß, wie alle natürlichen Gefühle
und die daraus entspringenden sittlichen Verpflichtungen,
„reguliert" oder in die richtigen Bahnen geleitet
— 133 —
werden von dem höheren Gesichtspunkt der Liebe zu unserem
Herrn.
Dies ist ein überaus wichtiger Punkt, den ich allen
Lesern zur Erwägung und Beachtung empfehlen möchte.
Ohne ernste Kämpfe geht es da bei manchem — je nach
der Umgebung, in der er aufgewachsen ist oder sich befindet
— nicht ab; denn sobald wir die höheren Gesichtspunkte
ins Auge fassen, sehen wir, daß wir kein Teil mehr
auf dieser Erde haben, daß wir „Fremdlinge und Beisassen",
d. h. „ohne Bürgerrecht" hienieden sind. (1. Petr.
2, 11.) „Unser Bürgertum ist in den Himmeln,
von woher wir auch den Herrn Jesus Christus
als Heiland erwarten, der unseren Leib der Niedrigkeit umgestalten
wird zur Gleichförmigkeit mit Seinem Leibe der
Herrlichkeit." (Phil. 3, 20. 21.) Ach, daß dieses kostbare
Wort mehr von uns verwirklicht würde! Denn eö handelt
sich durchaus um eine Sache unseres praktischen Wandels.
Daß wir doch jenem einfältigen Flickschuster glichen, der
auf die Frage nach seiner Beschäftigung zur Antwort gab:
„Ich warte auf den Herrn Jesus, im übrigen flicke ich
Schuhe"!--------
Heißt es denn nicht aber, fragt vielleicht jemand, in
dem gleichen 2. Kapitel des 1.. Petrus-Briefes, daß wir
„uns um des Herrn willen aller menschlichen Einrichtung
unterwerfen" sollen? (Vers 13.) Ganz gewiß; aber
man benutze dieses Wort nicht, um damit eine politische
Betätigung zu rechtfertigen. Der Schreiber dieser Zeilen
gehört nicht zu denen, die da sagen: Du darfst nicht
wählen, verurteilt auch nicht Brüder, die glauben, wählen
zu sollen. Verkehrt wäre eö aber, das mit dem angeführten
Wort (1. Petr. 2, 13) belegen zu wollen.
134
Ein Gebot, zur Wahlurne zu gehen, liegt nicht vor.
Das Gesetz legt niemand irgendwelchen Wahl zwang auf.
Solang dies aber, wie zur Zeit in unserem Lande, nicht
der Fall ist, kann man von einer menschlichen Einrichtung,
der ich mich im Sinne der Schrift unterwerfen
müßte, nicht reden *). Ich füge hinzu, daß selbst dann,
wenn ein Gebot vorläge, ein Christ, der laut seines Gewissens
nicht zur Wahl gehen könnte, seiner Überzeugung
folgen und die möglichen Strafen über sich ergehen lassen
müßte. In diesem Falle würde das Wort zur Anwendung
kommen: „Man muß Gott mehr gehorchen als den
Menschen".
*) In den meisten Fällen wird gewählt, weil man von dieser
oder jener Partei die beste Vertretung seiner besonderen irdischen
Interessen erhofft. Wenn Christen das tun, die doch bekennen,
von Gott die Vertretung ihrer Sache zu erwarten, sollte uns das
allein schon zu denken geben! Wieviel schmerzliche Gegensätze entstehen
so, wieviel Uneinigkeit wird in die Kreise der Gläubigen
getragen!
Da wir nun einmal bei der Wahl sind: Was für
ein Rätselraten in den christlichen Blättern hin und her,
welcher Partei man als gläubiger Christ seine Stimme
geben solle! Politik macht blind, denn sonst würde man
doch erkennen, wie keine einzige Partei imstande ist, ihre
Versprechungen zu halten. Und was für Mittel und Wege
werden, ganz abgesehen von den hochklingenden Worten,
zur Erreichung der Ziele für gut befunden! Das ganze
traurige Gesicht des natürlichen Menschen, wie es uns Tit.
Z, 3 beschrieben wird, bis hin zu dem „verhaßt und einander
hassend", tritt im Kampf der Parteien wie ein
Lichtbild im Säurebade hervor, und der einfältige Christ
sollte seine Hände von derlei Dingen rein erhalten. Die
Folgen solchen Tuns bleiben anders nicht aus. „Daß doch
135
niemand von euch leide als Mörder oder Dieb oder Übeltäter,
oder als einer, der sich in fremde Sachen mischt;
wenn aber als Christ, so schäme er sich nicht, sondern verherrliche
Gott in diesem Namen." (1. Petr. 4, IS. 16.)
Beachten wir schließlich, wie sehr die heutigen Grundsätze
und Regeln des Wählens Gottes Gedanken entgegen
sind. Man muß in den meisten Fällen nicht nurFrauen
mitwählen helfen, die nach Gottes Wort doch ganz gewiß
nicht an öffentlicher Stelle als Vertreter des Volkes stehen
sollten, sondern man muß auch am „Tage des Herrn"
zur Wahlurne gehen. Daß die Wahl in den letzten Jahren
aus Zweckmäßigkeitsgründen auf einen Sonntag gelegt
wird, ist bekannt, aber beide Tatsachen beweisen doch, wohin
man in der „Christenheit" gekommen ist, und die
Frage entsteht ganz von selbst: Kann ein gewissenhafter
Christ „im Glauben" das mitmachen? Kann er des Herrn
Geleit zu einem solchen Gang an Seinem Tage erbitten?
Wenn aber nicht, was dann? Es steht geschrieben:
„Glückselig, wer sich selbst nicht richtet in dem, was er
gutheißt", und: „Alles, was nicht aus Glauben ist, ist
Sünde". (Röm. 14, 22. 23.)
Wollen wir nicht entschiedene Christen sein?
Nun, dann laßt uns festhalten, daß es sich in der Politik
um „fremde Sachen" handelt. Die uns umgebende
„Welt" schlug unseren Herrn ans Kreuz, und sie hat bis
heute ihren Charakter nicht verändert, hat sich noch nicht
„gebessert", wird es niemals tun — sie eilt dem verdienten
Gericht entgegen, von dem uns die wunderbare
Liebe unseres Gottes befreit hat. „Die Gestalt dieser
Welt vergeh t." Wir sollten „wähle n", aber so,
wie einst Mose gewählt hat. (Hebr. 11, 24 ff.) Mögen
136
andere darüber denken, wie sie wollen, wir wollen
nur das eine im Auge behalten, unserem
Herrn zu gefallen.
Und dies noch: Kennen wir die Regierungswege und
die Absichten Gottes, der alles lenkt nach dem Rate Seines
Willens? Wollen wir Ihm in den Arm fallen?
Eins dürfen und wollen wir tun, wie wir 1. Tim. 2
ermahnt werden: wir sollen für alle Menschen und vor
allem für die, die (nicht nur im eigenen Lande!) eine besondere
Verantwortung tragen, beten. Mit welchem Ergebnis?
„Auf daß wir ein ruhiges und stilles Leben führen
mögen in aller Gottseligkeit und würdigem Ernst."
(Vers 2.) Ein solches stilles Leben ist „gut und angenehm
vor unserem Heiland-Gott", der uns aus dieser
Welt erwählt und, ich wiederhole es, zu keinem anderen
Zweck in ihr zurückgelassen hat, als dem, Ihm zu
dienen und. Seinen Sohn aus den Himmeln erwartend,
von Seinem Retterwillen zu zeugen. Alles andere führt
uns von dem Wege ab, den Sein Wort uns so einfach
und unzweideutig vorschreibt.
Ein Gewissen ohne Anstoß
Kürzlich schrieb mir ein lieber alter Leser des „Botschafter":
„Hier am Ort blieb vor nicht langer Zeit ein
Bruder vier Sonntage lang der Versammlung fern. Als
ich ihn nach dem Grunde fragte, sagte er mir, daß er keine
rechte Freimütigkeit gehabt habe, am Tische des Herrn
teilzunehmen, weil er von dem Finanzamt den Bescheid erhalten
habe, er könne möglicherweise in Strafe genommen
— 437 —
werden wegen zu niedriger Angabe seines geschäftlichen
Umsatzes in einem der früheren Jahre. Ich erkannte daraus,
daß dieser Bruder sich vor dem Herrn doch nicht ganz
frei von Schuld fühlte, und dachte weiter: Könnte nicht in
der gegenwärtigen Zeit bei dem einen oder anderen Bruder
derselbe Fall eingetreten sein, ohne eine solche Beunruhigung
hervorgerufen zu haben? Das müßte dann aber
notwendig ernste Nachteile für den geistlichen Zustand der
Seele haben. Der Heilige Geist kann doch nicht darüber
hinweggehen. Und nun dachte ich weiter, ob nicht wohl
ein Aufsatz über diesen Gegenstand gerade in der jetzigen
Zeit zweckmäßig und dem Herrn wohlgefällig wäre. Ich
überlasse das Weitere Dir, aber ich werde den Gedanken
nicht los."
Gern bringe ich diese Anregung zur allgemeinen
Kenntnis, obwohl mir zu einem längeren Aufsatz kein
Anlaß vorzuliegen scheint, da die Sache einfach und klar
ist und mehr mit dem Gewissen als mit dem Verständnis
zu tun hat.
Der Apostel Paulus sprach einst vor dem römischen
Landpfleger Felix das denkwürdige Wort: „Dies bekenne
ich dir, daß ich... also dem Gott meiner Väter diene,
indem ich... die Hoffnung zu Gott habe,... daß eine Auferstehung
sein wird, sowohl der Gerechten als auch der
Ungerechten. Darum übe ich mich auch, allezeit ein
Gewissen ohne Anstoß zu haben vor Gott und den Menschen."
(Apstgsch. 24, 46.) Dieser treue Mann wandelte
im Lichte Gottes. Das Wort, dem er bedingungslos
glaubte und gehorchte, bestimmte all sein Tun. Mochten
andere ihren eigenen Überlegungen folgen, für ihn gab
es nur das eine: dem Gott seiner Väter zu dienen und
— tZ8 --
Ihn zu verherrlichen. In der Gegenwart die Anerkennung
Gottes, ein Gewissen ohne Anstoß vor Gott und
Menschen, und in der Zukunft die Belohnung, die ihm
bei der Auferstehung der Gerechten zuteil werden würde
— das war es, was allezeit vor seiner Seele stand.
Darum übte er sich.
Nun, wie es damals eines solchen SichübenS bedurfte,
um „allezeit ohne Anstoß" zu wandeln, so müssen
wir auch heute wohl achthaben, unsere Herzen und
Hände rein zu erhalten. Mögen auch Zeiten und Umstände,
gesellschaftliche und politische Verhältnisse in vieler
Beziehung anders, schwieriger geworden sein — einem
aufrichtigen Herzen und einem zarten Gewissen wird eö
stets gelingen, den Weg, der einzuschlagen ist, zu erkennen.
Man redet heute viel von schweren und immer schwerer
werdenden Lasten, von drückenden, ja, erdrückenden
Abgaben, von unverständlichen Maßnahmen der Regierung,
von törichter, selbst ungerechter Verwendung der
eingezogenen Steuern usw. usw. Vielleicht mit Recht. Aber
man macht sich dadurch das Erkennen des richtigen Weges
nur schwer. Angenommen, die Klagen wären alle
berechtigt, ja, selbst noch mehr begründet, als man allgemein
annimmt, würde das einem Kinde Gottes das
Recht geben, auf Mittel und Wege zu sinnen, um sich den
ihm auferlegten Pflichten zu entziehen, oder zur Verminderung
der schweren Bürden irgendwie ungenaue oder
unklare Angaben zu machen? Wir wollen doch nicht vergessen,
daß wir alle, welche Geschäfte wir auch betreiben
mögen, nur Verwalter Gottes sind, verpflichtet, nach
göttlichen Grundsätzen unseren Beruf auözuüben. Sein
heiliges Auge ruht stets auf uns und schaut hinein in
- 4ZY —
unsere Bücher und Geheimfächer. Es ist ja doch Sein
Geschäft, das wir treiben, nicht das unsrige.
Wenn wir das nur mehr bedächten! Es würde uns
klare Richtlinien geben und uns über manche Schwierigkeit
sofort hinweghelfen. Der Apostel Paulus war mit
einer ganz besonderen Verwaltung betraut und schreibt im
Blick darauf an die Korinther: „Übrigens sucht man hier
an den Verwaltern, daß einer treu erfunden werde". —
Dann fügt er hinzu, daß weder ihr Beifall noch die günstige
Beurteilung eines menschlichen Gerichtshofes für ihn
von Gewicht sei; nicht einmal das Zeugnis seines eigenen
Gewissens könne ihm genügen, der einzige Beurteiler sei
der Herr, und wenn Er komme, um „auch das Verborgene
der Finsternis ans Licht zu bringen und die Ratschläge
der Herzen zu offenbaren", dann werde einem jeden
sein Lob werden von Gott. (4. Kor. 4, 4—5.)
Mein Leser! glaubst du nicht auch, daß Finanzamt
und andere Ämter mit uns zufrieden sein werden, wenn
solche Grundsätze uns leiten — ganz abgesehen von dem
Frieden unserer Herzen?
Kragen aus dem Leserkreise
r. In Luk. 22, 36 sagt der Herr zu Seinen Jüngern: „Aber
seht, wer eine Börse hat, der nehme sie und gleicherweise eine Tasche,
und wer keine hat, verkaufe sein Kleid und kaufe ein Schwert".
— Wie ist das zu verstehen?
Früher hatte der Herr den Jüngern geboten, „nichts mit auf
den Weg zu nehmen, weder Stab, noch Tasche, noch Brot, noch
Geld". (Kap. 9, 3.) Der sie aussendende und in der Mitte Seines
Volkes weilende Messias war die sichere Bürgschaft für alles
Nötige. Und in der Tat hatte ihnen auch nie etwas gemangelt,
niemand hatte ihnen Böses zufügen dürfen. Aber jcht sollte der
Messias mit Dornen gekrönt und ans Kreuz geschlagen werden.
140
Statt der erwarteten Errichtung des Reicher in Macht und Herrlichkeit
sollte der König verworfen werden und die ganze Macht
der Finsternis sich offenbaren. Bon nun an würde Kampf, ernster
Kampf das Los der Jünger sein. Verachtung, Verfolgung und
Vergewaltigung würden auch sie treffen. Was sie jetzt also bedurften,
war ein Schwert, selbstverständlich in übertragenem,
nicht in wörtlichem Sinne, wie die Jünger in ihrem Unverstand
meinten.
2. In Sprüche 6, 1—5 wird davor gewarnt, Bürge für «inen
anderen zu werden. Im Neuen Testament heißt es: „Gib jedem,
der dich bittet". Wie ist beides miteinander zu vereinigen?
Nach meiner Auffassung stehen wir heute nicht mehr unter Gesetz.
Wir stehen freilich nicht unter Gesetz, aber auch im Alten
Bund war Mildtätigkeit nicht nur erlaubt, sondern sogar unmittelbar
geboten. (Vergl. 5. Mose 15, 7—'N; Spr. 27, 73; Jes. S8,
7; Sach. 7, d. 70.) Dennoch erforderte ein Gott wohlgefälliges
Geben zu allen Zeiten Weisheit und Einsicht. Es steht von Gott
geschrieben, daß Er „allen willig gibt", und doch kann es
sein, daß wir „übel bitten" und so das von Ihm Erbetene nicht
empfangen. (Jak. 1, 5; 4, Z.) Obwohl Gott allezeit gibt, kann
Er uns doch sehr oft das nicht geben, um was wir bitten. So
können und sollen auch wir nicht immer das geben, was man
von uns haben möchte. Wir würden durch ein solches Geben vielleicht
viel Unheil anrichten. Wir sollen aber in Fällen der Not
stets zum Geben bereit sein und, soweit es in unseren Kräften steht,
die Not lindern. Den Hungrigen zu speisen, den Nackten
zu kleiden, dem Armen und Dürftigen aufzuhelfen, sollten
wir stets als ein begehrenswertes Vorrecht betrachten.
Was das „Bürgewerden" betrifft, wozu Gläubige ihre Brüder
manchmal auffordern, nachdem sie (sehr oft durch eigene Schuld)
in eine schwierige Lage geraten sind, so hat das mit dem eben
besprochenen „Geben" gar nichts gemein. Ich gebe von dem, was
ich habe, worüber ich im gegenwärtigen Augenblick verfügen kann;
beim Bürgewerden aber verpflichte ich mich zu etwas, das
im gegebenen Augenblick mir vielleicht nicht mehr zur Verfügung
steht, sodaß ich selbst in die bitterste Verlegenheit geraten kann.
Damm warnt der weise Prediger, auf Grund reicher Erfahrungen,
aufs nachdrücklichste vor solchem Tun. Wenn das Wort auch
nicht gerade das Bürgewerden verbietet, stellt es uns doch
in ernstester Weise vor Augen, wie töricht es für schwache, sterbliche
Menschen ist, über die Zukunft bestimmen zu wollen.
Darin liegt das grundsätzlich Verkehrte der Sache. W i e verhängnisvoll
solches Bürgewerden unter Umständen werden kann, das
haben einzelne von uns zur Genüge erfahren.
„Denn es eu§ß gut dünkt"
>i. Lhron. 13—17)
(Schluß)
Dem "ls. Kapitel unseres Buches könnte man als
Kennwort voranse'tzen: „Von Deiner Gnade will ich singen".
Alles hallt hier wider von der jubelnden Anerkennung
der Güte und Treue Gottes, Seiner Wunderwerke
und Gnadenwege.' Himmel und Erde, Land und Meer
werden aufgefordert, Den zu preisen,' „dessen Güte ewiglich
währt". Ein neues Lied ist in den Mund Davids gelegt,
und Asaph und seine Brüder, Heman und Jeduthun
und andere „auserlesene" Sänger *) fallen begeistert ein in
das Lob des dankbaren Königs. Die Bundeslade wird in
das von David für sie aufgeschlagene Zelt gestellt — David
fürchtet sich nicht mehr vor Gott, wie in Kap.
tZ, 12 — Brand- und Friedensopfer werden dargebracht
und ein geregelter Dienst eingerichtet, der in seinen Grund-
zügen für alle Zeiten bestimmend blieb. Die Stiftshütte
mit dem Brandopferaltar stand ja damals noch auf der
Höhe zu Gibeon, und Jadok, der Priester, weilte dort
mit-.seinen Brüdern, um Jehova Brandopfer zu opfern
beständig, „nach allem, was im Gesetz Jehovas geschrieben
wqk". (V. 39. 40.)
*) Die beiden in D. Z8 genannten Leviten ObedEdom sind
wohl andere Männer als der Gathiter Obed-Cdom, in dessen
Hause die Bundcslade drei Monate lang eine Stätte fand.
Der König, getrieben durch die dankbare Liebe seines
442
Herzens und von oben unterwiesen, trifft hier die nötigen
Anordnungen zur Bedienung der Lade, bringt selbst Brand-
und Friedenöopfer dar, segnet das Volk und verteilt schließlich
an ganz Israel, Männer und Weiber, Brot, Kuchen
und Wein. Er vereinigt so in seiner Person die Würden
und Verrichtungen eines Propheten, eines Priesters und
des Gesalbten Jehovas (vergl. Ps. 4Z2, 43—47), „und
alles, was er tut, gelingt". (Ps. 7, Z.) Gottes Wohlgefallen
zu tun ist jetzt seine Lust, und Sein Gesetz ist im
Innern seines Herzens. (Ps. 40, 8.) Von einem Befragen
der Obersten oder des Volkes ist keine Rede mehr,
wohl aber genießen Oberste und Volk gemeinsam mit David
die gesegneten Erfolge der Schule Gottes.
Schließlich erwacht in David der Wunsch, Jehova,
dem treuen Führer Seines Volkes, ein Haus zu bauen.
„Siehe, ich wohne in einem Hause von Zedern", spricht
er zu dem Propheten, „und die Lade des Bundes Jehovas
wohnt unter Teppichen!" Nach seiner Meinung ein durchaus
unwürdiges und unhaltbares Verhältnis. Aber hatte
Gott je in einem Hause gewohnt von dem Tage an, da
Er Israel aus Ägypten geführt hatte? Hatte Er sich nicht
herabgelassen, mit Seinem Volke von Zelt zu Zelt, von
Wohnung zu Wohnung zu wandern? Dennoch waren die
Gefühle, denen der Wunsch Davids entsprang, Gott wohlgefällig,
wenn der Wunsch selbst auch nicht in Erfüllung
gehen konnte; denn nicht David, der Kriegsmann, sondern
Salomo, der Friedliche, sollte das Haus Jehovas bauen.
Die Botschaft, die der Herr Seinem Knechte durch
Nathan zuteil werden ließ, ist ergreifend. Auch die Worte,
die David in Antwort darauf in der stillen Verborgenheit
des Zeltes zu Jehova sprach, kann man nicht ohne tiefe
— r4Z —
Bewegung lesen. Aber ich möchte hier nicht länger dabei
verweilen, sondern nur noch auf einige Punkte aufmerksam
machen, die mit der Einholung der Bundeslade in
Verbindung stehen.
David „entbrannte", wie wir wissen, als Jehova den
Bruch an Ussa machte. Es wäre uns allen wohl genau so
ergangen, wenn wir mit im Zuge gewesen wären, ja, vielleicht
ist es manchem von uns heute noch schwer verständlich,
warum Gott so ernst eingreifen mußte. Wir müssen
eben immer wieder erfahren, wie weit unsere Gedanken
hinter den Gedanken Gottes zurückbleiben.
Schon in dem ersten Teil unserer Betrachtung haben
wir uns daran erinnert, daß die Bundeslade mit den goldenen
Cheruben auf ihrem Deckel den Thron Jehovas
darstellte und deshalb, solang Israels Wüstenreise dauerte,
im „Allerheiligsten" stand. Niemand durfte ihr dort
nahen, außer dem Hohenpriester am Versöhnungstage,
niemand durfte sie anrühren. Hätten Ussa und Achjo daran
gedacht, gewiß, sie würden sich geheiligt haben, wie
später die Priester und die Leviten es taten. Hätte David
sich daran erinnert, so wäre es ihm nimmermehr in den
Sinn gekommen, die Lade auf einen neuen Wagen stellen
zu lassen. Die Folge war bekanntlich das Ausgleiten der
Rinder und das Jugreifen Ussas: eine vermessene Handlung,
so verständlich sie scheinen mag. Ein schwacher Mensch
erkühnt sich, den Thron des Herrn der ganzen Erde stützen
zu wollen, ein Unreiner legt die Hand an die Lade des
dreimal heiligen Gottes!
Als diese Lade einst nach siebenmonatiger Abwesenheit
aus dem Lande der Philister heimkehrte, freuten sich
die Leute von Beth-Semes sehr, sie zu sehen, (l. Sam. 6.)
— 444 —
Sie hatten recht. Wenn es Gott gefiel, die Verbindung
mit Seinem Volke, die für eine Zeit völlig abgebrochen
gewesen war, in Gnaden wieder anzuknüpfen, so war
daö sicher ein Anlaß zu großer Freude. Aber die Beth-
Semiter vergaßen, wie Ussa, daß der Gott aller Gnade
einheiliger Gott ist, der ohne Ansehen der Person richtet
nach eines jeden Werk. Neugierig „schauten sie in die
Lade Jehovas", und „Gott schlug unter dem Volke sie-
benzig Mann". Verwirrung und Trauer waren auch hier
die Folgen der Vergeßlichkeit und, genau wie in Davids
Fall, „fürchteten sich die Beth-Semiter vor Jehova und
sprachen: Wer vermag vor Jehova, diesem heiligen Gott,
zu bestehen?" Sie sandten Boten nach Kirjath-Jearim und
baten die Bewohner der Stadt, die Lade zu sich herauszn-
holen. So kam sie „in das Haus Abinadabs auf dem Hitgel".
(4. Sam. 7, 4.)
Die Lade war aber nicht nur der Thron Jehovas, sie
ist auch daö bekannte Vorbild von Christo, dem Mensch
gewordenen Sohne Gottes, in welchem Gott sich in herablassender
Gnade dem Menschen geoffenbart, und den
Er nach vollendetem Werk zu einem „Gnadenstuhl" hingestellt
hat durch den Glauben an Sein Blut. (Röm.
Z, 25.) „Das Wort ward Fleisch." — „Weil die Kinder
Blutes und Fleisches teilhaftig sind, hat auch Er in gleicher
Weise an denselben teilgenommen." (Joh. 7, 44;
Hebr. 2, 44.) Diese Offenbarung der Güte und Menschenliebe
Gottes, die nur Gefühle der Ehrfurcht und der
tiefsten Dankbarkeit in uns wachrufen sollte, lockt den stolzen
Menschengeist an, in das Geheimnis der Gottseligkeit:
„Gott ist geoffenbart worden im Fleische", eindringen zu
wollen, mit anderen Worten, „in die Lade zu schauen".
I4S
Man will die Verbindung zwischen Gottheit und Menschheit
in Ihm, den doch „nur der Vater kennt" (Matth.
II, 27), ergründen. Zugleich redet und schreibt man über
Ihn in einer Weise, welche die heilige Scheu vor jenem
unergründlichen „Geheimnis" vermissen läßt und ein gottesfürchtiges,
empfindsames Herz tief verletzen muß. Man
vergißt, daß der Boden, den man betritt, „heiliges Land"
ist, dem man nur mit unbeschuhten Füßen nahen darf.
Unser Gott und Vater liebt kindliche Zuversicht und
Vertraulichkeit, und unser hochgelobter Herr nennt uns
nicht „Freunde" und „Brüder", um uns dann in weiter,
ehrfurchtsvoller Entfernung von sich stehen zu lassen. Nein,
Er will, daß wir im vollen Bewußtsein der Liebe, die uns
Ihm so nahe gebracht hat, unseren Verkehr mit Ihm haben.
Dennoch dürfen wir nie vergessen, daß der Vater,
dem wir als Kinder nahen, der heilige Gott ist, und der
Herr, der sich nicht schämt, uns Brüder zu nennen, ja,
der als Mensch in allem den Brüdern gleich geworden,
in allem versucht worden ist wie sie, stets der Herr der
Herren bleibt, der Schöpfer und Erhalter aller Dinge,
Gott über alles, gepriesen in Ewigkeit. Dies Bewußtsein
wird uns vor jeder falschen Vertraulichkeit bewahren
und in unseren Herzen bei aller Liebe und Nähe das Gefühl
Seiner unendlichen Erhabenheit über uns erhalten.
Wir werden dann, wie schon manchmal gesagt wurde,
ganz gewiß nicht in die Versuchung kommen, Ihn „unseren
Bruder" zu nennen. Er nennt uns Brüder, aber
der Name, mit dem wir Ihn nennen, ist und bleibt in
alle Ewigkeit „Herr".
Wir wollen auch nicht vergessen, daß die Priester
und die Leviten nicht nur sich heiligten, um die Lade
146
Jehovas hinaufzubringen, sondern daß auch die Söhne
der Leviten „die Lade Gottes auf ihren Schultern
trugen, so wie Mose geboten hatte nach dem Worte
Jehovas". (1. Chron. 15, 14. 15.)
Der letztgenannte Umstand erinnert uns lebhaft an
eine weitere Unterweisung, die wir in diesem Teile der
Geschichte Davids finden. Solang David seinen und der
Obersten Gedanken folgte, erntete er, trotz aller persönlichen
Aufrichtigkeit, nur Enttäuschung und Mißlingen;
sobald er aber einfältig und treu nach Gottes Gedanken
forschte, „nach der Vorschrift Ihn suchte", schlug alles
zur Ehre Gottes und zur Freude des ganzen Volkes aus,
nicht zum geringsten auch zur Freude seines eigenen Herzens.
Die Unterweisung, von der wir sprechen, ist einfach;
man braucht sie nicht in der Tiefe oder in der Höhe zu
suchen. Aber so einfach sie ist, so folgenschwer ist sie auch.
Gott gebührt Anbetung von feiten Seiner Geschöpfe.
Der Mensch fühlt das auch unwillkürlich. Unter dem Gesetz
war alles, was den Gottesdienst betraf, durch Mose,
den Mittler zwischen Gott und Israel, geregelt worden.
Jeder Israelit war gebunden, „Gott nach der Vorschrift
zu suchen", d. h. Ihm so zu nahen, wie Er es durch
Mose angeordnet hatte. Es kamen Zeiten großer Untreue
und schlimmsten Verfalls, aber das änderte nichts an der
„Vorschrift", noch an der Verpflichtung, ihr zu gehorchen.
Darum, so oft Gott in Seiner Gnade Zeiten der
Wiederbelebung gab, waren diese vor allem durch eine Umkehr
zu Seinem Wort,, zu Seinen Vorschriften gekennzeichnet,
und je treuer und entschiedener diese Umkehr war,
desto größer und nachhaltiger war der Segen.
447
Grundsätzlich ist es in unseren Tagen, der Zeit des
christlichen Gottesdienstes, nicht anders. Wenn auch der
Vater heute Anbeter sucht, und zwar Anbeter, die „in
Geist und Wahrheit" anbeten, und die Zeit gesetzlicher
Verordnungen und Satzungen vorüber ist, belehrt uns doch
das Neue Testament in Wort und Beispiel klar und unzweideutig
über die Grundlage und die Art des gegenwärtigen
Gottesdienstes. Wie einfach war das Zusammenkommen
der Gläubigen im Anfang, wie schmucklos ihr
Gottesdienst! Wie schön geordnet der Dienst am Wort
öffentlich und in den Häusern, wie einfach und bestimmt
die Belehrungen über die Feier des Abendmahls und die
Bedeutung dieser Feier, sei es als Gedächtnismahl an den
abwesenden Herrn, als die Verkündigung Seines Todes,
sei es als die äußere Darstellung der Einheit des geistlichen
Leibes Christi. „So oft ihr dieses Brot esset und den Kelch
trinket, verkündigt ihr den Tod des Herrn, bis Er kommt",
und: „Das Brot, das wir brechen, ist es nicht die Gemeinschaft
des Leibes des Christus? Denn ein Brot, ein
Leib sind wir, die Vielen, denn wir alle nehmen teil an
(od. genießen von) dem einen Brote". (4. Kor. 44,2b;
40, 4 b. 47.) Könnte etwas einfacher, verständlicher und
zugleich herrlicher und bedeutungsvoller sein?
Und weiter: „Er (unser verherrlichter, über alle Himmel
hinaufgestiegener Herr) hat die einen gegeben als
Apostel, und andere als Propheten und andere als Evangelisten
und andere als Hirten und Lehrer, zur Vollendung
der Heiligen, für das Werk des Dienstes, für die
Auferbauung des Leibes Christi, bis wir alle hingelangen
usw.". (Eph. 4, 44—43.) Wiederum so einfach und verständlich
wie möglich. Der Herr gibt die Gaben, der
448
Geistwirkt, indem Er einem jeden insbesondere aus -
teilt, wie Er will, und Gott hat die Glieder an dem
Leibe gesetzt, wie es Ihm gefallen hat. (4. Kor. 42, 44.
48.) Da ist jedes menschliche Ordnen, Wählen, Bestimmen
und Austeilen ausgeschlossen. Kein Glied kann sich
selbst einen Platz wählen, keinem kann durch ein anderes
oder durch die Gesamtheit der anderen ein Platz angewiesen
werden. Jedes Glied hat nur demütig zu fragen, welcher
Platz, welcher Dienst ihm angewiesen i st, und dann
diesen Platz treu auszufüllen und diesen Dienst in Einfalt
zu tun.
Darin ist auch von feiten Gottes keine Änderung
vorgesehen. Apostel und Propheten gab es freilich nur im
Anfang der Geschichte der Kirche; sie bilden die Grundlage
des herrlichen Baues, dessen Eckstein Christus ist.
(Eph. 2, 20.) Aber Evangelisten, Hirten und Lehrer sind
nötig und sollen bleiben, zur Vollendung der Heiligen
usw., „bis wir alle hingelangen zu der Einheit des Glaubens
und zu der Erkenntnis des Sohnes Gottes". (Eph.
4, 43.) So begleitete Gott im Anfang auch das Zeugnis
Seines Evangeliums mit Zeichen und Wunderwirkungen,
indem Er durch sie „mitzeugte" und die Botschaft bestätigte.
(Hebr. 2, 4.) In mancherlei Sprachen und Jungen
ließ Er Seine großen Taten verkündigen, zum Heil
für die Hörenden und wiederum als Zeichen für die Ungläubigen.
(4. Kor. 44, 22.) Aber als Zeichen und Jungen
ihren Dienst getan hatten, „hörten sie auf". Erkenntnis
und Weissagung indes, beide zur Erbauung und Belehrung
der Gläubigen bestimmt, werden bis ans Ende bleiben.
Sie werden erst im Gericht „weggetan werden", wenn
der Herr kommt. (4. Kor. 43, 8.)
149
Das alles ist für ein unterwürfiges Herz und ein
hörendes Ohr einleuchtend und bindend. Aber ach! zu welchen
Ergebnissen haben menschlicher Eigenwille und Ungehorsam
in der Christenheit geführt! Wo erblickt man in
all den großen und kleinen religiösen Körperschaften, die
sich im Laufe der Zeit gebildet haben, noch irgend etwas
von dem Charakter und der schmucklosen Einfachheit des
Gottesdienstes der ersten Zeit? Wo noch eine Spur von
den in Röm. 12, 4—8, in 1. Kor. 12 und 14, Eph. 4,
1. Petr. 4, 10. 11 und anderen Stellen niedergelegten
göttlichen Grundsätzen bezüglich der Bedienung des Wortes,
von der unbedingten Unterwerfung unter die Leitung
des Heiligen Geistes, von der Anerkennung der Einheit des
Leibes Christi und der verschiedenen Gnadengaben der Glieder
dieses Leibes? Mit einem Wort: Wo sucht man
Gott „nach der Vorschrift"? Man hat, wenn
auch vielfach mit dem aufrichtigen Wunsche, Gott zu dienen,
überall „neue Wagen" gebaut, (um in der Sprache
unseres Bildes zu reden,) sehr verschieden voneinander, je-
nachdem es den Betreffenden „gut dünkte", aber alle im
Widerspruch mit dem klar geoffenbarten Willen Gottes.
Was muß das Ergebnis sein? Heute wie damals:
Verwirrung und Beschämung. Wie sieht es um uns her
aus, mit Rom, dem großen Jerrbilde der christlichen
Kirche, beginnend bis hin zu den zahllosen Kirchen und
Kirchlein, Parteien und Sekten der Christenheit! Welch
eine namenlose Verwirrung! Wahrlich, angesichts des Geschehenen
ist tiefe Beschämung unser aller Teil, und Beugung
und Umkehr zu dem, „was von Anfang war", geziemen
uns. Nur so kann der Herr uns „helfen", nur so,
trotz des allgemeinen Verfalls, Lobgesänge in unseren
- tso —
Mund legen. Und daß Er das nicht nur kann, sondern
auch in Seiner wunderbaren Gnade tut, das haben noch
alle erfahren, die in Einfalt und Aufrichtigkeit von ihrem
verkehrten Wege umkehrten und ihren Fuß auf den schmalen
Pfad der Wahrheit stellten, wo es keinen Raum gibt
für Gutdünken und Eigenwille, sondern wo man sich beugt
unter das Wort: „Es steht geschrieben" — „so spricht
der Herr!"
Ser Ausweis
Uns allen sind die Zeiten noch in lebhafter Erinnerung,
wo uns in einem großen Teil unseres deutschen Vaterlandes
auf Schritt und Tritt das Wort entgegentönte:
„Bitte, Ihren Ausweis!" Keine noch so kleine Reise durfte
unternommen werden, ohne daß man einen Paß mit Bild
und Unterschrift oder doch wenigstens einen Personal-Ausweis
in der Tasche trug. Eine Nachlässigkeit in dieser Beziehung
war stets mißlich, konnte unter Umständen sogar
verhängnisvoll werden.
Die Verfügung war überaus lästig, sollte auch so
empfunden werden, aber vielleicht ist dem einen und anderen
von uns zuweilen der Gedanke gekommen: Wie
gut wäre es, wenn auch auf christlichem Boden die Ausweispapiere
immer so in Ordnung wären und zu jeder
Zeit, gleichsam mit Bild und Unterschrift versehen, vorgezeigt
werden könnten. Wir werden alle zugeben, daß es
niemand je schwierig sein sollte, in uns das Bild Dessen
zu erkennen, in welchem wir zu einer neuen Schöpfung geworden
und dem zu folgen und zu dienen wir verpflichtet
sind. Wir unterschreiben alle das Wort des Apostels:
— 454 —
„Oder wisset ihr nicht,...daß ihr nicht euer selbst seid?
Denn ihr seid um einen Preis erkauft worden; verherrlichet
nun Gott in eurem Leibe." (1. Kor. 6, 49. 20.)
Leider aber sind die Bilder nicht immer so klar und
die Unterschriften so leserlich, wie sie es sein sollten. Es
war schon zu den Lebzeiten der Apostel so (vergl. 2. Kor.
44, 3; Gal. 4, 44; 4. Thess. 3, 5; 2. Ioh. 8), wir brauchen
uns also nicht zu verwundern, wenn es heute nicht
anders ist. Man hört zuweilen fragen: Sollten wohl
alle, die mit uns wandeln und mit uns den Tod des
Herrn verkündigen, wirklich Kinder Gottes sein? Besteht
nicht besonders bei Kindern gläubiger Eltern die Gefahr,
daß an die Stelle der gründlichen Bearbeitung des Gewissens
eine mehr verstandesmäßige Annahme der Wahrheit
tritt? Ja, noch weitergehend wird die Frage erhoben:
Sind wir (Menschen) überhaupt imstande, in allen Fällen
die Kinder Gottes von den Kindern der Welt zu unterscheiden?
Was die erste Frage betrifft, so liegt gewiß die
Möglichkeit vor, daß Seelen, die ein befriedigendes
Bekenntnis ablegen, selbst ein gutes Zeugnis seitens anderer
besitzen, in der Stunde der Erprobung sich nicht
bewähren, und wir sollten deshalb bei Zulassungen zum
Tische des Herrn in der Vorsicht nicht nachlassen. Auch bei
der Beurteilung von Kindern gläubiger Eltern bedürfen
wir besonderer Gnade und Nüchternheit. Aber beide
Tatsachen haben doch nichts mit der zweiten Frage zu tun,
ob Menschen überhaupt imstande sind, die Kinder Gottes
von den Kindern der Welt zu unterscheiden.
Man muß, um richtig zu sehen, jedes Ding bei
Licht besehen. So gilt es in diesem Falle, wohl zu unter
152
scheiden, von wem und unter welchen Umständen jene
Frage ausgesprochen wird. Im allgemeinen darf man getrost
behaupten: Wer die Frage: Können wir Menschen
die Kinder Gottes erkennen? verneint, der hat entweder
noch nie Gelegenheit gehabt, den Wert brüderlicher Gemeinschaft
kennen zu lernen, oder seine Sinne sind so wenig
ausgebildet, daß er ohne wahres Empfinden dafür ist.
In beiden Fällen ist er beklagenswert. Wenn aber dieser
Standpunkt vertreten wird, weil man den Weg der Kinder
Gottes für zu schmal hält und solche Worte benutzt,
um seinen eigenen Weg nach Gutdünken gehen zu können,
dann wäre es aufrichtiger, zu sagen: „Ich will
nicht den schmalen Weg mit den Kindern Gottes gehen".
Zuweilen begegnet uns die Frage auch bei Gläubigen
aus Kreisen, in denen menschliche Überlieferung mehr gilt
als „unverfälschte Milch". An jene gewöhnt, ist ihnen
diese mehr oder weniger fremd, und so kann es sein, daß
auch in aufrichtiger Gesinnung einmal gefragt wird, ob
Menschen fähig sind, Kinder Gottes als solche zu unterscheiden,
weil ja doch, wie man sagt, nur Gott Herzenskenner
ist.
Es bleibt bestehen: Gott allein ist Herzenskenner. Er,
der jede Regung wirklichen Glaubens sieht, kennt auch
allein jeden einzelnen vom Geschlecht derer, die „durch
den Gehorsam des Einen in die Stellung von Gerechten
gesetzt" worden sind. Zudem steht geschrieben: „Der Herr
kennt, die Sein sind". Aber unter voller Anerkennung und
unter Betonung dieser Sachlage können wir sagen, daß
der Herr uns mit völlig hinreichenden Mitteln versehen
hat, um bei sorgfältiger Benutzung dieser Mittel die Sei-
nigen zu erkennen. Es heißt: „Strebe aber nach Gerech
— rsz —
tigkeit, Glauben, Liebe, Frieden mit denen, die den
Herrn anrufen aus reinem Herzen". (2. Tim. 2, 22.)
Wie könnte diese Ermahnung gegeben sein, wenn wir nicht
die Gläubigen von der Welt zu unterscheiden vermöchten?
Zeigt nicht die Mahnung vielmehr, daß Gott uns mit
dieser Unterscheidung betraut hat?
Doch nun zum Kern der Frage. Die Schrift sagt:
„Ein jeder Baum wird an seiner eigenen Frucht erkannt".
(Luk. 6, 44.) Dieses einfache Wort des Herrn schafft
Klarheit. „Hieran sind offenbar die Kinder Gottes
und die Kinder des Teufels. Jeder, der nicht Gerechtigkeit
tut, ist nicht aus Gott, und wer nicht seinen Bruder
liebt." (4. Joh. Z, 40.) Selbst die Welt kennt normalerweise
die Kinder Gottes; denn woher käme ihr Haß gegen
sie, von dem der Herr redet (Joh. 45, 49 u. 47, 44),
wenn sie nicht imstande wäre, sie zu erkennen? Ferner
sagte der Herr in der Nacht vor dem Kreuze zu Seinen
Jüngern: „Daran werden alle erkennen, daß ihr meine
Jünger seid, wenn ihr Liebe untereinander habt". (Joh.
43, 35.) —
Freilich, „des Schuttes ist viel" (Nehem. 4, 40),
und gar leicht kann in dem einen oder anderen Falle vor
des Schuttes Menge zunächst nichts weiter als Schutt
gesehen werden, wenigstens soweit Menschenaugen reichen.
Fanden sich aber je und je rührige, tatkräftige Hände zum
Aufräumen, so hat sich oft unter dem Schutt wertvolles
Material für Gott gefunden. Daß nur solcher Hände mehr
wären!
Wenn nun selbst die Welt die Kinder Gottes erkennen
kann, wie sollten die Gläubigen es nicht können?
Wir lesen in Röm. 8, 9: „Wenn aber jemand Christi
rs4
Geist nicht hat, der ist nicht Sein". Ein ernstes Wort;
doch auch ein Wort, das uns zurechthilft. Denn dieser
Geist wird uns, falls wir aufmerksam sind, Klarheit verschaffen
betreffs jedes Menschen, in welchem Er wohnt
und regiert. Es kann nicht anders sein. Mag menschliche
Unzulänglichkeit oft vor Fragen stehen bleiben (und sie
tut es), wo aber Gott wirkt, da schafft Er Klarheit,
und Sein Werk wird als solches erkannt.
Doch forschen wir weiter. Johannes sagt uns: „Jeder,
der liebt, ist aus Gott geboren". (4. Joh. 4, 7.) Der Geist
Gottes, tätig mit dem Ziel, Jesum unseren Herzen vorzustellen
und teuer zu machen, läßt uns Sein Werk in den
Herzen anderer sehen. Wir erkennen Sein Wirken, wenn
wir bei einem Menschen Worte vernehmen, die als Ausdruck
der Liebe und Zuneigung zu Jesu in unseren Herzen
Widerhall finden. Gibt es ein schöneres Zeichen des wunderbaren
Bandes, das die Kinder Gottes umschlingt, als
wenn Menschen, die bis dahin einander fremd waren, sich
auf dieser Erde begegnen und bald einer am anderen merken,
daß sie Glieder derselben Familie sind, die für Zeit
und Ewigkeit zusammengehören? Ein Eigentum desselben
Herrn geworden, lieben sie Ihn, wissen sich eins in Ihm;
ihre Herzen werden angezogen und sind miteinander verbunden
durch die Person Jesu, wie groß auch hinsichtlich
des äußeren Menschen die Unterschiede sein mögen. Ein
Band, inniger und stärker als die Bande natürlicher Verwandtschaft,
umschlingt sie.
„Niemand kann sagen: Herr Jesus! als nur im
Heiligen Geiste." (4. Kor. 42, 3.) Wir wissen wohl, daß
das gedankenlose „Herr, Herr!"sagen (Matth. 7, 24) nicht
das Eingegangensein in das Reich der Himmel beweist,
ISS
aber da, wo unser Herr wirklich als Herr anerkannt wird,
indem die Anerkennung durch Unterwürfigkeit Seinem
Worte gegenüber zutage tritt (worin besteht sonst die Anerkennung?),
da offenbart sich das Werk des Geistes Gottes;
da sind Liebe und Zuneigung zu Jesu vorhanden gemäß
Seinem Wort: „Wenn jemand mich liebt, so wird
er mein Wort halten". Dieses Wort des Herrn ist herzerforschend
für uns alle, gibt uns aber auch Klarheit betreffs
der vorliegenden Frage. Niemand kann den Mangel
an Gehorsam und Unterwürfigkeit übersehen, der hinsichtlich
des Wortes des Herrn vorhanden ist und unsere
Tage kennzeichnet. Gleichgültigkeit und Kälte treten mehr
und mehr in Erscheinung. Doch trotz dieses Mangels, der
uns zu Beugung und Selbstgericht nötigt, wo irgend wir
versagt haben, bleibt im Herzen dessen, der Jesum liebt,
der Wunsch bestehen, Sein Wort zu halten. Dieser Wunsch
ist der Beweis, daß das Herz Jesum liebt und als Herrn
anerkennt. Das göttliche Leben mag sich manchmal recht
kümmerlich offenbaren, aber wo es vorhanden ist, wird
es sich zu gegebener Zeit äußern, denn das: „Ich liebe
meinen Herrn" ist notwendig vorhanden, wo der Herr
einen Platz im Herzen hat.
Vielleicht würden wir in dieser Hinsicht nicht so oft
vor Fragen stehen, wenn b ei u n s s elb st das Wort aus
Hebr. 1.0, 24 mehr Beachtung fände. Dort heißt es:
„Laßt uns aufeinander achthaben zur Anreizung zur
Liebe und zu guten Werken". Offenbar lehrt uns dieses
Wort, daß es an uns ist, das im Herzen unserer Geschwister
Schlummernde durch Anreiz aufzuwecken und
in Tätigkeit zu setzen. In ähnlicher Weise schreibt Petrus
von einem Aufwecken. (Lies 2. Petr. 1, 13 u. 3, 1.)
— rsb —
Er hielt es für recht, die Gläubigen, obwohl „sie in der
gegenwärtigen Wahrheit befestigt waren", zu erinnern, nm
sie bezw. „ihre lautere Gesinnung aufzuwecken". Wie oft
war auch in unseren Tagen ein Erinnern und Auswecken
von bleibendem Segen! Der Herr gebe uns Bereitwilligkeit,
treue Erinnerer und Wecker in diesem Sinne zu sein!
Und Er schenke uns offene Ohren, wenn eine Erinnerung
bei uns selbst nötig ist! Das Einschlummern liegt uns
allen nahe. Daher die öftere Mahnung: „Wachet!"
Freilich, nur ein Schlafender kann von Menschen aufgerüttelt
werden; bei einem Toten kann allein Gottes
Macht etwas bewirken. Möge darum niemand an dem
Ernst des Wortes: „Wenn aber jemand Christi Geist nicht
hat, der ist nicht Sein", vorübergehen!
Die im Anfang erwähnte weitere Behauptung, bei einzelnen,
die mit den Gläubigen wandeln, möchte wohl die
Gotteskindschaft in Frage stehen, findet scheinbar eine Stütze
in dem schon erwähnten Mangel an Ehrfurcht und Gehorsam
dem Worte des Herrn gegenüber. Mit Schaudern
sehen wir die Kennzeichen zunehmender Gottlosigkeit in
der Welt. Mit Furcht und Sorge erkennen wir die Merkmale
größer werdenden Mangels an Ehrfurcht vor Gottes
Wort unter den Gläubigen. Von Esra heißt es: „Esra
hatte sein Herz darauf gerichtet, das Gesetz Jehovas zu
erforschen und zu tun, und in Israel Satzung und
Recht zu lehren". (Esra 7, 10.) Wie notwendig sind
uns heute solche Männer! Daß doch diese Art zahlreicher
vorhanden wäre! Die Zeit ist ernster, als sie uns meist
erscheint; sie erfordert ganze Kräfte. Das Reifen der
Welt zum Gericht kann zwar niemand hindern, und den
Verfall in der Christenheit kann kein Mensch aufhalten.
157
Aber Gottes Segen wird stets das Tun solcher Männer
begleiten, die, einem Esra gleich, Sein Wort erforschen,
um es zu tun und es danach andern nahe
zu bringen.
Rückhaltlos wollen wir anerkennen, daß unter uns,
und in besonderem Maße unter der Heranwachsenden Jugend,
eine Abnahme des Kennzeichens der Liebe zu Jesu
(gemäß Seinem Wort: „Wenn jemand mich liebt, so
wird er mein Wort halten") zu bemerken ist. Daraus
ergibt sich aber die Frage: Welche Empfindungen löst
diese Wahrnehmung bei mir aus? Und als weitere Frage:
Inwieweit trage ich Schuld an dieser Lage?
Als der Herr am Abend vor Seinem Leiden zu den
Jüngern sagte: „Einer von euch wird mich überliefern",
wurden diese „sehr betrübt", und einer nach dem
anderen sagte, von Furcht ergriffen, zu Jesu: „Ich
bin es doch nicht, Herr?" Eine solche Furcht ist das Kennzeichen,
daß das Gewissen berührt und in Tätigkeit ist.
Wir mögen fähig sein, den Zustand anderer zu beurteilen
und etwa vorhandenes Böses bei ihnen an seinen Platz
zu stellen. Aber damit ist unsere Aufgabe nicht erfüllt.
Die bezeichnete Fähigkeit hat nicht einmal notwendig göttliches
Leben und Licht zur Voraussetzung, denn auch der
sittlich zart empfindende Mensch kann unter Umständen
eine solche Fähigkeit besitzen.
Wo liegen also die Aufgaben für solche, die Augen
haben, den Niedergang zu erkennen? — Gibt es wohl
einen Vater, der im Blick auf seine Kinder nicht täglich
um ihre Bewahrung fleht und, eingedenk der eigenen
Jugend, wegen der Kinder um Gnade ruft? Gibt es
einen Vater, der, trotz der besten Wünsche für seine Kin
158
der, nicht manche Fehlgriffe in der Erziehung zu beklagen
hat, die ihn wiederum nötigen, um Gnade zu flehen,
damit die verkehrte Saat, die er ausgestreut haben mag,
nicht aufgehe? Und sollte auch nicht jeder Vater genötigt
sein, solches zu bekennen, so vermag Gott doch da,
wo es nötig ist und wo es geschieht, zu handeln nach Seinem
Wort: „Dem Demütigen gibt Er Gnade".
Derselbe Weg ist da für alle, die der Familie Gottes
angehören und erkennen, daß der Familiensinn in ihr
verflacht und die Zugehörigkeit zur Familie in manchen
Fällen kaum noch erkennbar ist. Es ist wirklich nicht damit
getan, den armseligen Zustand eines Kindes hervorzuheben.
Das wäre wahrlich kein guter Vater, der nichts
weiter zu tun wüßte, als die Schäden seines Sohnes bloßzustellen.
Es ist doch sein Sohn. Und ein Kind Gottes,
das nur Schäden unter den Gliedern der göttlichen
Familie sehen und aufdecken kann, beweist damit wahrlich
nicht den gottgefälligen Familiensinn und erst recht
nicht, daß es seine eigene Verantwortlichkeit für den Zustand
dieser Familie kennt.
Grell beleuchtet mitunter ein einzelner Umstand unseren
Gesichtskreis und zeigt uns den allgemeinen Tiefstand
und den sichtlich zunehmenden Verfall. Was bleibt
da übrig? Eingedenk eigener Untreue gibt es kein Hinsehen
auf den anderen. „Du aber, was richtest du deinen
Bruder? Oder du, was verachtest du deinen Bruder? Denn
wir werden alle vor den Richterstuhl Gottes gestellt werden.
.. Also wird nun ein jeder von uns fü r s i ch s elb st
Gott Rechenschaft geben." (Röm. 14, 10. 12.)
Die Größe der bestehenden Schäden kennt Gott besser
als wir. Heilung für Schäden kann nur von Ihm kom
rs9
men. Voraussetzung für Heilung ist Demütigung, und
für eine solche ist wahrlich Grund genug vorhanden. Oder
sollte jemand gefunden werden, der keinen Anlaß hätte,
eigene Untreue gegen den Herrn und Fehler im Verhalten
gegenüber den Geliebten des Herrn zu beklagen?
„Den Demütigen gibt Er Gnade." Der Herr wolle
unsere Augen und unser Gewissen schärfen, damit wir
imstande sind, Ihm gemäß zu sehen und dann Sein reinigendes
Wort nach Seinem Willen auf uns anzuwenden!
Dabei finden wir Grund zu Selbstgericht und Bekenntnis.
Aber wir finden dabei auch, daß Er „reich ist
für alle, die Ihn anrufen". Wir lernen mehr von Seinem
Reichtum kennen, der für jede Armut ausreicht, und von
dem wir nehmen können, ohne daß er je gemindert wird.
Wir können dann auch von diesem Reichtum solchen sagen,
bei denen wir Mangel und Armut in einer Weise zutage
treten sehen, daß wir Zweifel an ihrer Gotteskindschaft
für angemessen halten, während das passende Wort für
uns heißt: „Sei wachsam und stärke das Übrige, das sterben
will". (Offbg. 3, 2.)
Aus einer Betrachtung über das
Buch Äutß
v.
Kapitel 4. — In diesem Kapitel kommen wir, wie
schon gesagt, zu der endgültigen Einführung Ruths in die
ihr zugedachte Segnung. Aber nur ungern verläßt man
ein so liebliches Bild, wie wir es bisher betrachteten. Es
ist kostbar, bei den Reichtümern und Herrlichkeiten der
Gnade Gottes zu verweilen, wie sie dereinst dem Gegen
— rso —
bilde Ruths, dem jüdischen Überrest, zuteil werden soll,
ihm, von welchem die Liebe des Königs dann sagen wird:
„Ganz schön bist du, meine Freundin, und kein Makel
ist an dir". (Hohel. 4, 7.) Die Gnade wird nicht nur
alle Übertretungen von ihr entfernt haben, so weit der
Osten ist vom Westen, sondern der Herr wird die Erkorene
Seines Herzens auch tadellos, ja, schön und anmutig vor
sich hinstellen. So hoch die Himmel über der Erde erhaben
sind, wird die Güte des wahren Boas groß über
ihr sein.
Es ist naturgemäß, daß solche Gnade Gefühle des
Dankes und der Anbetung erweckt; aber gleichen wir nicht
zuweilen den Brüdern Josephs, die nach dem Tode ihres
Vaters Jakob besorgt waren, Josephs Liebe zu ihnen würde
nun ins Gegenteil umschlagen und gerechten Rachegefühlen
Platz machen? Wie sind auch wir so geneigt, die Größe
der Liebe des Herrn an unserer Liebe und unserem Verdienst
zu messen und dadurch Sein Herz zu betrüben, wie
die Brüder das Herz Josephs. Joseph weinte! Einmal
hatten die Brüder weinend an seinem Halse gehangen und
seine Küsse erwidert, aber jetzt?!
Bei Ruth war es anders. Sie hatte ihre letzte Güte
noch besser erwiesen als die erste. Ihr einfältiges Vertrauen
überwältigte deshalb auch das Herz des Boas. Das
Baden, Salben und Kleiderwechseln, das der Begegnung
voranging, war gut und am Platze — es ist dem Herrn
wohlgefällig, wenn wir alles ablegen, was Ihm nicht gefallen
könnte, auch der Wohlgeruch der Salbe ist kostbar
für Ihn. Das Höchste aber, das, was Sein Herz anzieht
und erfreut, ist unsere dankbare Liebe, unser Vertrauen.
Ach, wenn wir doch mehr mit der Größe der
— i6r —
Liebe unseres Herrn rechnen wollten! „Gib mir, mein
Sohn, dein Herz!" so lautet der Ruf der um uns werbenden
Lieb-'. Erkenntnis und Einsicht sind gut und begehrenswert,
aber sie können unter Umständen das Herz kalt,
eiskalt lassen. Die Gluten der Liebe aber sind Feuergluten,
große Wasser vermögen sie nicht auszulöschen, und Ströme
überfluten sie nicht. (Hohel. 8, 6. 7.)
Noomi hatte zu Ruth gesagt: „Bleibe, meine Tochter,
bis du weißt, wie die Sache ausfällt; denn der Mann
wird nicht ruhen, er habe denn die Sache heute zu Ende
geführt". Und so kam es. Wie hätte auch die Liebe ruhen
können, solang das Ziel nicht erreicht und die Geliebte zur
Ruhe gebracht war? Noch am gleichen Morgen „ging
Boas zum Tore hinauf — der Stätte öffentlicher Verhandlungen
und gerichtlicher Entscheidungen in jenen Tagen
— und setzte sich daselbst". (V. 1..) Gott lenkte es
so, daß der Blutsverwandte auch vorüberging, und so
konnte die Angelegenheit sogleich zur Sprache gebracht wer­
den. Unter Hinzuziehung von zehn Ältesten der Stadt und
einer Anzahl von Beisitzern brachte Boas die Sache Ruths
vor und forderte den Blutsverwandten auf, nach Z. Mose
25, 25 das Feldstück, das Elimelech, dem Manne Noomis,
gehört hatte, zu lösen. Der Blutsverwandte war bereit
dazu; als er aber hörte, daß für ihn die Verpflichtung
damit verbunden sein würde, Ruth, die Witwe deö verstorbenen
Sohnes Elimelechs, zum Weibe zu nehmen, „um
den Namen des Verstorbenen auf seinem Erbteil zu erwecken",
erklärte er seine Unfähigkeit, lösen zu können,
weil er dadurch seine eigene Familie in empfindlicher Weise
geschädigt haben würde. „Ich kann nicht für mich lösen",
sagt er, „daß ich mein Erbteil nicht verder
— rb2 —
be". *) Nachdem er dann, wie es damals in Israel bei
einer Lösung und bei einem Tausche Brauch war, seinen
Schuh ausgezogen und Boas gegeben hatte, um dadurch
kundzutun, daß er auf das Feldstück verzichte, erklärte
dieser, unter Anrufung der Ältesten und des ganzen gegenwärtigen
Volkes als Zeugen, seine Bereitwilligkeit, alles
aus der Hand Noomis zu kaufen, was Elimelech und
seinen beiden Söhnen gehört hatte, und durch die Heirat
mit Ruth, der Moabitin, den Namen des Verstorbenen
auf seinem Erbteil wieder aufleben zu lassen.
*) Nach 5. Mose 25, 5—7 war eigentlich nur der Bruder
des Verstorbenen verpflichtet, die Hinterbliebene Witwe, falls sie
keinen Sohn hatte, zu heiraten. Boas ging also über die gesetzliche
Verpflichtung hinaus, aber seine edelmütige Auslegung der
betreffenden Stelle fand allseitigen Beifall und rückhaltlose Anerkennung.
Das im Tore versammelte Volk erklärte sich mit
den Ältesten sofort bereit, als Zeugen des Verkaufs zu
dienen, ja, alle waren von der Uneigennützigkeit des Boas
so ergriffen, daß sie, von Gottes Geist geleitet, ihm zu-
riefen: „Jehova mache das Weib, das in dein Haus
kommt, wie Rahel und wie Lea, welche beide das Haus
Israel erbaut haben; und werde mächtig in Ephratha und
stifte einen Namen in Bethlehem! Und von dem Samen,
den Jehova dir von diesem jungen Weibe geben wird,
werde dein Haus wie das Haus des Perez, welchen Tamar
dem Juda geboren hat!" (V. 'N. 'N.) Schöne Worte
von tiefer, prophetischer Bedeutung.
Ja, der Vorgang ist in mehr als einer Beziehung bedeutungsvoll.
Der nach dem „Gesetz" nächste Blutsverwandte
wurde unter Berufung von zehn Ältesten aufgefordert,
seiner Verpflichtung nachzukommen. Zehn Nl-
— rb3 —
teste — erinnern sie uns nicht an die zehn ehrwürdigen,
unveränderlichen Gebote Gottes? Aber so „heilig und gerecht
und gut" diese Gebote auch waren, das Gesetz vermochte
doch nichts zur Vollendung zu bringen, weil es
„durch das Fleisch kraftlos" war. Selbst wenn in einem
Menschen durch die Gnade Gottes Leben gewirkt ist, und
er nun, die göttlichen Gebote als heilig und gut anerkennend,
sie mit allem Ernst halten möchte, so ist doch das
melancholische Ergebnis all seiner Anstrengungen ein
schmerzliches: „Ich kann nicht!" Das Gute, das er
will, tut er nicht, und das Böse, das er nicht will, übt
er aus. Das sind die bekannten Erfahrungen von Römer 7.
Das Ende von allem ist der verzweifelte Ausruf: „Ich
elender Mensch! Wer wird mich retten?" Ja, wer wird,
wer kann ihn retten? Gottes Gnade allein! Sie erkennend
und im Glauben erfassend, bricht der „Elende" in die
Worte aus: „Ich danke Gott durch Jesum
Christum, unseren Herr n". Der Löser ist da, die
Lösung ist vollbracht.
Das Fleisch vermag nicht dem Gesetz Gottes untertan
zu sein, und doch fordertdas Gesetz diese Unterwürfigkeit,
gibt sie aber nicht. Handelt es sich darum,
Schwachen aufzuhelfen, sich für Schuldige zu verwenden
und zum Nutzen anderer auf die eigenen Ansprüche zu verzichten,
so versagt das Gesetz völlig. Es kann das einfach
nicht, es würde ja sein Erbteil verderben, den ihm
eigenen Boden preisgeben. Es würde eben nicht mehr das
Gesetz sein.
Wie ganz anders die Gnade! Ihr Wesen ist, sich im
Geben und Vergeben zu verherrlichen, zu lösen und zu erlösen.
Das ganze Buch Ruth ist voll von Gnade, und hier
164
am Ende erstrahlt sie in besonders schönem Glanze. Wie
lieblich ist das Verhalten des Boas! Ruth darf erfahren,
daß er die Sache wirklich zu Ende führt, daß der „vermögende
Mann" sein Vermögen zu ihren Gunsten verwendet,
ja, schließlich sich selbst ihr schenkt. Aber so
schön das Vorbild ist, unendlich höher steht Er, der sich
„zu nichts machte" und „alles verkaufte, was
Er hatt e", um die eine, kostbare Perle zu besitzen.
Alles atmet hier Gnade. Was war Ruth, die Moa-
bitin, daß das Haus Israel durch sie erbaut, daß in ihr
die Geschichte Israels gleichsam auf neuer Grundlage, auf
dem Boden der Gnade, beginnen sollte? Und das war noch
nicht das Größte. Gleich Tamar und Rahab vor ihr, sollte
sie einen bevorzugten Platz als Stammutter des Herrn
selbst erhalten. Werden wir da nicht unwillkürlich an die
neutestamentlichen Worte erinnert: „Nicht aus Werken,
sondern aus dem Berufenden", oder: „Also liegt es
nun nicht an dem Wollenden, noch an dem Laufenden, sondern
an dem begnadigenden Gott"? Auch die beiden
Orte Ephratha und Bethlehem erinnern an die Gnade
Gottes. Und nun gar erst das Haus des Perez! Wir wissen,
aus welch einer unheiligen Verbindung dieser Mann
entsprossen war, und doch hatte die Gnade sein Haus so
mächtig werden lassen, und nun wollte dieselbe Gnade
die Verbindung zwischen Boas und Ruth in gleich herrlicher
Weise segnen.
Die Überschwenglichkeit der Gnade tritt uns noch eindrucksvoller
entgegen, wenn wir das Geschlechtsregister
des Herrn in Matth. 1 betrachten. Daß Matthäus, dessen
Evangelium in besonderer Weise den Bedürfnissen Israels
zu begegnen bestimmt war, allem anderen voran die Ab
— rss —
stammung des Messias vonDavid, dem Sohne Abrahams,
betont, ist verständlich. Warum aber, fragen wir,
werden in der langen Reihe von Namen auch vier Weiber
genannt, und zwar nur vier, deren Namen in der einen
oder anderen Weise an Untreue oder Befleckung erinnern,
während Sara, Rebekka und andere hervorragende israelitische
Frauen nicht erwähnt werden? Die Menschen bemühen
sich eifrig, bei der Aufstellung ihrer Ahnentafeln
alles wegzulassen, was beschämend oder herabsetzend wirken
könnte, Gott aber nennt in dem Geschlechtsregister
Seines Sohnes ausdrücklich diese vier Namen, die auf
einen gesetzesstolzen Juden geradezu vernichtend wirken
müssen. Wunderbares Tun Gottes!
Und warum handelt Gott so? Einerseits um diesem
Stolz und Hochmut des Menschen zu begegnen, anderseits
aber auch um ihm zu zeigen, daß Seine Gnade keine
Grenzen kennt. Es war, wie gesagt, die schwerste Demüti­
gung für einen Juden, seinen Messias mit Personen in
Verbindung gebracht zu sehen, deren Namen grober Sünden
wegen bekannt waren. Aber wenn der Messias sich
herabgelassen hat, mit solchen Namen, mit einer solchen
Familie in Verbindung zu treten, wenn es Gott gefallen
hat, daß Sein Sohn, der Heilige Israels, dem
Fleische nach aus solchem Stamm hervorgehen sollte —
dann ist sicher niemand zu elend oder zu schlecht, um bei
Ihm Annahme zu finden. Ein vor Gott „aufgeschossenes
Reis", ein „Wurzelsproß aus dürrem Erdreich", „einer,
vor dem man das Angesicht verbirgt", ein „Sproß" —
siehe da, einige der Namen, mit denen der Herr im Alten
Testament genannt wird, und wie Er auf dieser Erde gesehen
wurde, und das Neue beginnt mit der Erinnerung
— tbb —
an die unbegreifliche Gnade Gottes, die den Sohn aus
einer Familie hervorkommen läßt, deren Geschichte so
manche dunkle Punkte aufweist. Wohl mögen wir da staunend
fragen: Wo ist ein solcher Gott wie Du? und weiter:
Könnte auf einen solchen Beginn etwas anderes folgen,
als lauter Wunder der Gnade?
Der Wunsch des Volkes und der Ältesten: „Jehova
mache das Weib, das in dein Haus kommt, wie Rahel
und wie Lea, welche beide das Haus Israel erbaut haben",
führt uns bis in die ersten Anfänge der Geschichte
Israels zurück. So wie Gott sich damals dieser beiden
Frauen — und beachten wir, daß Rahel, die so lang unfruchtbar
war, hier zuerst genannt wird — bedient hatte,
um das Haus Israel zu erbauen, so wollte Er jetzt Ruth
diesen Ehrenplatz geben. Unter den Hunderttausenden von
Frauen Israels, die damals lebten, ist keiner zuteil geworden,
was dieser armen Moabitin geschenkt wurde.
„Boas nahm Ruth, und sie wurde sein Weib, und I e -
hova verlieh ihr Schwangerschaft, und sie
gebar einen Sohn." Und wenn dann der Sohn, der ein
so bedeutungsvolles Glied in dem Stammbaum des Sohnes
Davids bilden sollte, geboren ist, dann nehmen die
Weiber den von dem Volke und den Ältesten angeschlagenen
Ton auf und spinnen den prophetischen Gedanken
weiter. Und schließlich kommen die Nachbarinnen —
der Kreis wird immer enger und vertraulicher — und geben
dem Kinde den Namen „Obed", d. i. Diener. Der
Titel klingt unserem Ohr so bekannt und vertraut, daß
wir kaum ein Wort darüber zu sagen brauchen. Unter
diesem Titel wird auch der jüdische Überrest am Ende der
Tage den Knecht Jehovas kennen lernen, der nicht „frei
rs7
ausgehen", sondern ewiglich Diener bleiben wollte, der
hienieden gedient hat, heute dient und in der Ewigkeit
den Seinigen dienen will, die gewacht und in Treue auf
Ihn gewartet haben. (Luk. 72, 37.)
In diesem Titel vereinigen sich Vergangenheit, Gegenwart
und Zukunft zu einem wunderbaren Bilde, kostbar
für Gott, anbetungswürdig für uns.
So erscheint denn Ruth auch hier wieder als ein
Vorbild des gläubigen Überrestes aus Israel, der am
Ende der Tage durch Jesum, den wahren „Diener" und
„Erquicker der Seele", in die Segnungen des Reiches
eingeführt werden wird, während Noomi, die das Kind
auf ihren Schoß nimmt und seine glückliche Wärterin
wird, uns an das alte Israel erinnert, das in dem von
Ruth geborenen Sohne einen Versorger seines Alters und
einen Wiederhersteller seiner Beziehungen zu Gott findet.
Der Titel „Löser" wird deshalb auch von den Weibern
auf Obed, den Sohn des Boas, übertragen, indem sie zu
Noomi sagen: „Gepriesen sei Jehova, der es dir heute nicht
hat fehlen lassen an einem Löser! und sein Name werde
gerühmt in Israel!...Denn deine Schwiegertochter, die
dich liebt, hat ihn geboren, sie, die dir besser ist als sieben
(die vollkommene Zahl) Söhne." (V. 34. 35.) Gern wandern
die Gedanken hin an das Ende des schweren, prüfungsreichen
Weges des jüdischen Volkes, in jene Zeit,
wann das „Tröstet, tröstet mein Volk!" ertönen wird.
Zion selbst wird dann die frohe Botschaft verkündigen:
„Siehe, der Herr Jehova kommt mit Kraft...Er wird
Seine Herde weiden wie ein Hirt, die Lämmer wird Er in
Seinen Arm nehmen und in Seinem Busen tragen."
(Zes. 40.)
— rss —
Schließlich sei noch einmal auf den Unterschied hingewiesen,
der zwischen dem Ende des Buches der Richter
und dem Ende des Buches Ruth besteht. Dort Bruderstreit
und ernste Gerichte Gottes, und als Schlußwort:
„In jenen Tagen war kein König in Israel; ein jeder
tat was recht war in seinen Augen"; hier ein Bild tiefsten
Friedens, Dank und Jubel auf allen Seiten, und am
Schluß der triumphierende Hinweis auf König David,
den Mann nach dem Herzen Gottes: „Boas zeugte Obed,
und Obed zeugte Jsai, und Jsai zeugte Davi d". Welch
ein Unterschied auch zwischen dem Anfang und dem Ende
des Buches Ruth! Es beginnt mit dem traurigen Gemälde
der Untreue des Menschen und ihren bitteren
Folgen, und zwar in Verbindung mit Bethlehem-Juda,
und eö schließt mit den herrlichen Ergebnissen der Gnadenwege
Gottes, wiederum im Anschluß an Ephratha
und Bethlehem, den Ort, wo David geboren wurde und
wo später der Sohn Davids, in Windeln gewickelt, in der
Krippe lag. Die Zeit ist nahe, wo Israel diese Dinge verstehen
und im Glauben frohlockend ausrufen wird: „Ein
Kind ist uns geboren, ein Sohn uns gegeben, und die
Herrschaft ruht auf Seiner Schulter, und man nennt Seinen
Namen: Wunderbarer, Berater, starker Gott, Vater
der Ewigkeit, Friedefürst". (Jes. d, b.)
„An jenem Tage wird zu Jerusalem gesagt werden:
Fürchte dich nicht! Zion, laß deine Hände nicht erschlaffen!
Jehova, dein Gott, ist in deiner Mitte, ein rettender
Held. Er freut sich über dich mit Wonne, Er schweigt in
Seiner Liebe, frohlockt über dich mit Jubel." (Jeph.
3, r6. r7.)
An meine Brüder! *)
*) Diese letzte Botschaft unseres Heimgegangenen geliebten Bruders
Dr. H. glossier an seine Brüder ist der französischen Zeitschrift
,,de k^esssxar Uvsnxelique" entnommen, deren Leitung 58 Jahre
lang in den Händen des Entschlafenen gelegen hat.
rs. November i,92r.
Der Gedanke abzuscheiden, um bei dem Herrn zu
sein, ist für mich sehr lieblich, ohne jede störende Beimischung.
Es ist der Friede mit Gott. Trotz sehr glücklicher
Familienbeziehungen ist der Gedanke von keinerlei
Bedauern begleitet, und Gott weiß, ob ich alle die Meinigen
und alle Brüder liebe, und ob ich ihre Zuneigung
schätze. Wenn nun das Verlassen dieser Personen gar
nichts Bitteres für mich hat, wieviel weniger noch das
Aufgeben der irdischen Dinge! Das einzige, das einiges
Bedauern in mir wecken könnte, wäre die Unterbrechung
der begonnenen Arbeit. Aber was meine besondere
Arbeit für die Gemeinde des Herrn anlangt, so habe
ich das volle Vertrauen, daß Er dafür sorgen wird, indem
Er bis zu Seiner Wiederkehr passende Werkzeuge
für die Erledigung dieser Aufgabe erwecken wird. Er hat
ja auch schon gesorgt für die wichtigste Veröffentlichung,
die Herausgabe der Bibel-Übersetzung. Was die „Betrachtungen
über das Wort Gottes" betrifft, so stelle ich mit
Freuden fest, daß kein Band mehr zu vervollständigen
und nach der letzten englischen Ausgabe durchzusehen ist,
— 170 —
sodaß die Arbeit in Zukunft leicht sein und sich auf den
Wiederdruck der verschiedenen Bücher beschränken wird.
Eine Sache, die ich immer mehr verwirklichen möchte,
als einen Vorgeschmack der ewigen Glückseligkeit, ist die
persönliche Gegenwart des Herrn zu einer Zeit, da wir
Ihn noch nicht sehen — Seine Gegenwart, die sich in
den Worten ausdrückt: „Du bist bei mir". Ich glaube,
daß wir alle danach trachten sollten.
Ich hinterlasse allen meinen Brüdern die Worte in
Kol. 3, 13—15: „Einander ertragend und euch gegenseitig
vergebend, wenn einer Klage hat wider den anderen;
wie auch der Christus euch vergeben hat, also auch
ihr. Zu diesem allen aber ziehet die Liebe an, welche daö
Band der Vollkommenheit ist. Und der Friede des Christus
regiere in euren Herzen, zu welchem ihr auch berufen
worden seid in einem Leibe; und seid dankbar." Den
Brüdern, die mit dem Werke des Herrn beschäftigt sind,
hinterlasse ich das Wort aus Röm. 12, 3: „Denn ich
sage durch die Gnade, die mir gegeben worden, jedem, der
unter euch ist, nicht höher von sich zu denken, als zu denken
sich gebührt, sondern so zu denken, daß er besonnen sei,
wie Gott einem jeden das Maß des Glaubens zugeteilt
hat".
Was mich betrifft, so möchte ich gern allen danken
für ihr langes hilfreiches Tragen, für ihre fortdauernde
Zuneigung, die noch erhöht worden ist durch alle ihre Zuneigung
zu meinen Lieben.
Es bleibt mir noch übrig, alle, die ich während meines
langen Lebens vielleicht verletzt oder beleidigt haben
könnte, um Vergebung zu bitten, auch diejenigen, denen
gegenüber ich es oft an Tragsamkeit habe fehlen lassen.
771
Möge der Herr unter unseren jungen Brüdern aufrichtige
Herzen erwecken, die von Seinem Wort sich nähren,
im Gebet anhalten, um sich in Seinem Werk zu betätigen,
Diener der Versammlung, voll von Eifer für das
Evangelium, von Energie für den Kampf, und möchten
sie ohne Straucheln bewahrt bleiben bis zum Tage Christi!
Ium Schluß möchte ich die Brüder ganz besonders
vor zwei Gefahren warnen: 1. vor derVerweltlichnng,
die sich heute in dem wachsenden Interesse an den Dingen
dieser Welt kundgibt, während das Interesse für das
Wort in gleichem Maße abnimmt; 2. vor der Gefahr
einer falschen Weitherzigkeit,*) die den bedingungslosen
Untergang des uns vom Herrn anvertrauten Zeugnisses
bedeuten würde. Die brüderliche Liebe ist umso wahrer,
je enger der Pfad ist, mit dem sie sich verbindet, d. h.
je genauer der Gehorsam gegenüber dem ganzen Worte
Gottes.
*) oder einem Nachlassen in den christlichen Grundsatz, n.
Die genannten Dinge sind der innige Wunsch Eures
schwachen Bruders in Christo, H. Rossier.
22. April 1Y24.
Vergeßt nicht, liebe Brüder, was immer auch die
Spaltungen sein mögen, die der Feind unter uns angc-
richtet hat zu unserer persönlichen und tiefen Demütigung,
daß dennoch unser Zeugnis der Einheit des Leibes
Christi gilt, und daß alles, was darauf hinausliefe, uns
den mancherlei unabhängigen Sekten der Christenheit an-
zupassen, die unbedingte Verneinung und der Verlust dieses
Zeugnisses sein würde. H. R.
172
Hinzutreten — Hinausgehen
Der Gläubige ist berufen, während der Abwesenheit
des Herrn von dieser Erde Seine Gesinnung, Sein Wesen,
Seinen Gehorsam zur Darstellung zu bringen. Um
das aber tun zu können, muß er verstanden haben, daß
er eins mit Ihm ist. Er muß da sein, wo Er ist: des
Herrn Platz sein Platz, des Herrn Weg sein Weg.
Im Hebräerbrief werden uns nun zwei Wege unseres
Herrn vor Augen gestellt, die in Seiner Nachfolge zu betreten
jedes Kind Gottes berufen ist. Wir lesen dort im
y. Kapitel, daß Christus in den Himmel selbst ein gegangen
ist, in das Heiligtum droben, und im 13. Kapitel,
daß Er außerhalb des Tores gelitten hat. Es gibt
wohl kaum zwei Stätten, die in geistlichem Sinne so weit
auseinander liegen wie das Heiligtum droben und der Ort
„außerhalb des Lagers" oder „vor dem Tore". Wie weit
sie aber auch auseinander liegen mögen, Christus hat sie
in enge Beziehung zueinander gebracht. Mit dem gleichsam
zwischen beiden liegenden „Lager" hat Christus nichts zu
tun, und darum sollten auch wir nichts damit zu tun
haben. Mit dem Ausdruck „Lager" wurde zunächst das
in der Wüste lagernde Volk Israel bezeichnet. Zur Zeit als
der Herr hienieden wandelte, bildete Jerusalem in seiner
toten Religiosität das Lager. Heute ist es die Christenheit,
die sich von ihrer religiösen Verunreinigung nicht reinigen
lassen will. An die Stelle des verderbten Judentums ist
eine verderbte Christenheit getreten. Christus erkannte das
damalige Lager nicht an, und daß Er „außerhalb des
Tores" litt, beweist, daß das Lager Ihn verwarf.
173
Nun ist aber sowohl das „Eingehen" unseres Herrn
ins Heiligtum, als auch Sein „Leiden außerhalb des Tores"
von großer Tragweite für uns. Von den Sünd-
opfern, deren Blut ins Heiligtum getragen wurde, wurden
die Leiber außerhalb des Lagers verbrannt. Das zeigt
uns, was die Sünde in Gottes Augen ist, daß Gott keinerlei
Gemeinschaft mit ihr haben kann. Das Blut aber
wurde in das Heiligtum hineingetragen, um dort Süh­
nung zu tun.
In Hebräer 1, 3 lesen wir, daß Christus, „nachdem
Er die Reinigung der Sünden gemacht, sich gesetzt
hat zur Rechten der Majestät in der Höhe". Daß Er
sich „gesetzt" hat, bezeugt, daß das Werk der Erlösung
vollbracht ist und ewige Gültigkeit hat. Die Priester im
Alten Bunde konnten sich nie setzen; täglich mußten sie dastehen
und den Dienst verrichten, denn die Opfer, die sie
darbrachten, nahmen niemals Sünden hinweg, brachten
also keine Ruhe, keine Vollendung. Im Neuen Bunde
aber sind die Gläubigen „mit einem Opfer auf immerdar
vollkommen gemacht", darum hat sich ihr Priester
„auf immerdar gesetzt zur Rechten Gottes", im Allerheiligsten,
da wo der Hohepriester früher nur einmal im
Jahre erscheinen durfte, und zwar nur mit Furcht und
Jittern und ohne sich jemals setzen zu dürfen. So hat
denn das Kind Gottes jetzt Freimütigkeit zum Eintritt in
das Heiligtum und darf mit glücklichem Herzen „hinzutreten",
ohne eine Spur von Angst und Sorge, denn es
weiß: das Blut Jesu Christi hat alles gut gemacht. Ja,
es darf weilen im Heiligtum, denn es hat Ruhe gefunden
für sein Gewissen, und dieses Bewußtsein gibt ihm
volle Freimütigkeit angesichts der Heiligkeit Gottes. Hat
174
doch dieser heilige Gott nach Epheser 2, 4—6 „wegen
Seiner vielen Liebe, womit Er uns geliebt hat, als wir in
den Vergehungen tot waren, uns mit dem Christus lebendig
gemacht... und mitauferweckt und mitsitzen lassen
in den himmlischen Örtern in Christo Jesu".
Hier ist der Punkt, an welchem nun viele liebe Kinder
Gottes stehen bleiben. Der Heilige Geist aber unterweist
uns durch Gotteö Wort, daß wir unserem Heiland
auf dem ganzen Wege folgen sollen. Sind wir Ihm
gefolgt im „Eingehen" inö Heiligtum, so gilt eS auch.
Ihm zu folgen im „Hinausgehen" außerhalb des Lagers.
„Laßt uns zu Ihm hinausgehen!" (Hebr. 13, 13.)
Als wir Frieden mit Gott und Ruhe für unser Gewissen
fanden, wurden wir inö Heiligtum eingeführt. Aus
Glauben wissen wir nun, daß wir Frieden mit Gott haben
durch unseren Herrn Jesus Christus. Wir folgen Ihm
dahinein, wo die Herrlichkeit Gottes thront, die einst über
den Cherubim gesehen wurde. Christus ist in der Gegenwart
Gottes, und wir sind auch dort.
Christus ist aber, wie gesagt, nicht nur in das Heiligtum
droben eingegangen, Gottes Wort belehrt uns, daß
Er hienieden außerhalb des Lagers Seinen Platz gefunden
hat. Sind wir Ihm im ersten Falle gefolgt, so werden wir
als gehorsame Kinder Gottes uns nicht weigern. Ihm auch
im zweiten Falle zu folgen. Wir geben gern zu, daß das
zweite ganz andere Anforderungen an uns stellt als das
erste. Jedes Kind Gottes wird uns von Herzen zustimmen,
wenn wir sagen: Sich wohl geborgen wissen für Zeit und
Ewigkeit und da freimütig nahen dürfen, wo mein Heiland
zur Rechten des Vaters sitzt, ist groß und herrlich!
Zwar ist „Seine Schmach tragen" nicht weniger herrlich.
— r?5 —
aber es erfordert neben dem Glauben einen einfältigen, unweigerlichen
Gehorsam und herzliche Liebe zum Herrn.
Führt uns das eine in die lichten Höhen des Himmels und
schenkt uns unermeßliche Vorrechte und Segnungen, so
versetzt uns das andere auf den Weg der Schmach hienie-
den und legt uns Verleugnungen und vielleicht Feindschaft
und Verfolgungen auf. Freilich, wer Seinem Heiland
auf dem ganzen Wege folgt, der darf auch etwas
davon erfahren, wie herrlich es ist, mit Jesu auch auf
diesem von so vielen Christen verschmähten Platz außerhalb
des Lagers Gemeinschaft zu haben.
Würden wir heute die Gläubigen fragen: „Wo ist
Jesus?" so würden wir in den meisten Fällen die Antwort
bekommen: „In der Herrlichkeit!" Selten aber
würde es heißen: „Außerhalb des Lagers!" In einem
Sinne kann man das gut verstehen. Wir sagten bereits,
daß der Platz im Heiligtum Vorrechte und Segnungen
mit sich bringt, der Platz außerhalb des Lagers aber
Schmach und Verachtung, und wem würden die ersten nicht
lieber sein als die letzten? Niemand wird von Welt und
Gläubigen deshalb angefochten werden, weil er der Aufforderung
des Geistes Gottes in Hebr. ^0, ky—22 folgt;
sobald er aber das eine oder andere Lager der religiösen
Welt und Christenheit, in welchem er sich bis dahin befand,
verläßt, und nichts anderes mehr sein will als ein
Christ und mit denen Gemeinschaft macht, die vor ihm
den gleichen Pfad betraten, so wird er bittere Vorwürfe
und Verkennung erwarten müssen. Vielfach werden alte,
liebliche Bande der Freundschaft und Gemeinschaft zerrissen,
und gerade die Furcht vor diesen Folgen hält viele
Gläubige von dem Hinausgehen außerhalb des Lagers zu
— 176 —
rück. Sie folgen gern dem Herrn ins Heiligtum, aber sie
gehen nicht zu Ihm hinaus außerhalb des Lagers. Dasselbe
Wort aber, das uns ermuntert: „Laßt uns hinzutreten!"
ermahnt uns auch: „Laßt uns zu Ihm hinausgehen!"
Er ist draußen, außerhalb aller menschlichen religiösen
Einrichtungen. Er kennt und liebt alle Kinder
Gottes, wo sie sich befinden mögen, aber die menschlichen
Organisationen erkennt Er nicht an. Er kann sie nicht
anerkennen, weil sie Seinem Wort und Willen zuwider
sind. Wenn Gott eine Seele errettet, so macht Er aus ihr
ein Kind Gottes, nichts weniger, aber auch nichts mehr.
Kann nun ein Kind Gottes, ohne sich der Sünde des Ungehorsams
schuldig zu machen, das eine Wort seines Vaters
tun und daö andere lassen? Für ein gehorsames Kind
hat jedes Wort des Vaters unbedingte Autorität. Aber
ach! mancher will wohl Jesu nachfolgen, aber nicht auf
der ganzen Linie; will Ihm dienen und gehorchen, aber
nicht in allem; will Seinem Wort sich unterwerfen, aber
nicht in jedem Punkt.
Ist es nicht auffallend, daß die Heilige Schrift zuerst
vom Eintreten ins Heiligtum redet und erst nachher
vom Hinausgehen außerhalb des Lagers? Der Mensch
würde es, wie so manches andere, wohl in umgekehrter
Reihenfolge niedergeschrieben haben. Aber Gottes Wort
ist stets folgerichtig und untrüglich. Alle Kinder Gottes
haben ihren Platz im Heiligtum, denn man kann nicht
errettet sein, ohne diesen Weg durch das Blut Jesu gegangen
zu sein. Alle haben ein Recht, durch den Glauben
dort einzutreten und priesterlich zu dienen. Alle folgen auch
wohl der Aufforderung, wenn auch nicht mit demselben
geistlichen Verständnis. Aber nicht alle, bei weitem nicht
— 777 —
alle, folgen dem Herrn auf dem weiteren Pfade, obwohl
sie den Kindern der Welt gegenüber völlig und mit Freu­
den die Schmach Christi tragen.
Lieber gläubiger Leser! Du bist ins Heiligtum eingeführt.
Wir dürfen miteinander hinzutreten und im Glauben
diesen seligen Platz genießen. Erlaube mir aber die
ernste und wichtige Frage: „Bist du auch hinausgegangen
außerhalb des Lagers, nicht nur in dem Sinne, daß du
der Welt als solcher den Rücken gekehrt hast? Folgst du
deinem Herrn und Erlöser in jeder Beziehung auch auf
dem Pfade der Verachtung und der Schmach? Sind wir
eins in dem Herrn in der Errettung sowohl wie in Seiner
Verwerfung? Eins mit Ihm, nicht nur in der Ruhe des
Gewissens, sondern auch in der Ruhe des Herzens?"
Die Stimme Jesu redete einst mit dir vom Heilig- '
tum her, um dich dort einzuführen. Du bist ihr gefolgt und
hast es nie bereut. Heute redet derselbe Herr von „außerhalb
des Lagers". Wer auf Ihn hört und Seiner Aufforderung
folgt, den wird Er zu noch anderen reichen Segnungen
führen.
Au viele
„Und Jehova sprach zu Gideon: Des Volkes,
das bei dir ist, ist zu viel, als daß ich Midian in ihre
Hand geben sollte." (Richter 7, 2.)
Der Männer waren „zu viele" bei Gideon, um
durch sie zu streiten — nicht zu wenige. Eine merkwürdige
Sache! Es ist nicht immer unsere Schwachheit,
die uns im Wege steht, sehr oft ist es gerade im Gegenteil
unsere Kraft. „Damit Israel sich nicht wider mich
178
Sbme und spreche: Meine Hand hat mich gerettet!" Das
di. S.rge dec, Herrn. Die Kinder Israel hätten den-
.... lönneu: , Wir wären eigentlich ganz gut ohne Gott
fertig geworden; mindestens haben wir sehr viel zu dem
Siege beigetragen. Gott hat uns zwar Mut, Geschick und
Kraft, dazu einen guten Heerführer geschenkt, auch war
die Kraft der Midianiter vielleicht schon ein wenig gelähmt,
— schließlich ist das aber auch alles, worin wir uns Jehova
gegenüber als Schuldner zu betrachten haben." Stand
da nicht ein Heer von zweiunddreißigtausend Mann —
und dazu lauter Kriegsleute? Wäre eö gelungen, durch
sie die Midianiter zu schlagen und aus dem Lande zu vertreiben,
wem wäre der Erfolg dann zugeschrieben worden?
„Des Volkes, das bei dir ist, ist zu viel." Wie seltsam
klingen diese Worte vor allem gegenüber den anderen:
„Und Midian und Amalek und alle Söhne des Ostens lagen
im Tale, wie die Heuschrecken an Menge;
rind ihrer Kamele war keine Zahl, wie der Sand, der am
Ufer des Meeres ist an Menge"! (V. 1.2.) Dabei waren
die Kinder Israel „sehr verarmt wegen Midians", lind
ihre Gefilde waren verwüstet. Fast alles, was zum Kriege
nötig war, fehlte ihnen. Das Werk, zu dem Gott Gideon
als Netter des Volkes berufen hatte, schien also keineswegs
gering zu sein. Und doch: „Des Volkes, das bei dir ist,
ist zu viel".
Auch heute gilt es zu kämpfen, und die Macht des
Feindes ist riesengroß. Unzähligen Scharen von Menschen
ist das Wort vom Kreuz mit Weisheit, Eifer und Geschick
zu verkündigen. Dabei ist die geistliche Verarmung
unter denen, die sich das Volk Gottes nennen, gar bedenklich.
Nun, da steht einer in der Kraft des Herrn der
r79
Heerscharen auf. Doch kaum hat er die Größe seiner Aufgabe
überschaut, so schreckt er zurück: „Hätte ich mehr
Gabe, mehr Kraft, einen größeren Einfluß! Hätte ich ein
ausreichendes Heer, um den Kampf mit den Midianitern
zu versuchen; doch „wie könnte einer Tausend jagen,
und zwei Zehntausend in die Flucht treiben?" — Besäße
ich mehr Vorräte für die hungernde Menge; aber nur fünf
Brote und zwei Fische, was ist das unter so viele?"
Entmutigt läßt der vermeintliche Held die Arme sinken.
Nehmen wir an, er bekäme seinen Willen und es gelänge
ihm, ehe er das Werk in Angriff nimmt, seine
Kräfte zu verdoppeln oder zu verdreifachen, sodaß die Aussicht
auf Erfolg größer für ihn würde und er mit leichterem
Herzen und hoffnungsfreudiger an seine Aufgabe
herantreten könnte, weil anscheinend wirklich weniger für
den Herrn zu tun übriggeblieben wäre — müßten nicht die
Worte, die Gideon vor alters in Erstaunen setzten, auch
an ihn gerichtet werden: „Deö Volkes ist zu viel"?
Das will nicht sagen: je weniger Kraft wir haben,
das Werk Gottes zu tun, umso besser. Nein, was wir zu
lernen haben, ist vielmehr dieö: daß Gott allmächtig und
ganz und gar unabhängig von uns ist, und ferner, daß
das, was wir von Ihm zur Ausführung einer Aufgabe
an Kraft und Gabe empfangen haben, sei es viel oder wenig,
für den Zweck genügt.
Israels Heer mußte gesichtet werden, und Gideon
wird gesagt, wie er das tun soll. „Rufe vor den Ohren
des Volkes aus und sprich: Wer furchtsam und verzagt
ist, kehre um und wende sich zurück vom Gebirge Gilead!"
Gideon mag gedacht haben: „Wenn es s o steht, dann
laß die Feiglinge nur so schnell wie möglich umkehren. Je
— rso —
eher ich sie loswerde, umso besser; sie können die anderen
nur mitverderben". Anderseits könnte er auch überlegt
haben: „Welchen Iweck kann ein solcher Befehl haben?
Wenn wirklich ein Furchtsamer unter den Tausenden ist,
wird er sich sicher nicht selbst bezeichnen." Vielleicht hat
er auch gar nicht geglaubt, daß auch nur einer aus der
stattlichen Schar so furchtsam sein könnte.
Gott aber wußte es besser. Und Gideon wußte, daß
er nichts Besseres tun konnte als Gott gehorchen, wie
seltsam der Befehl auch klingen mochte. War es überdies
für das Heer nicht eine gute Gelegenheit, sich von dem
Verdacht der Feigheit zu reinigen? Er tat also, wie ihm
befohlen war. „Da kehrten von dem Volke zweiundzwanzigtausend
um."
Iweiundzwanzigtausend Feiglinge, die sich selbst als
solche bezeichneten! Wer hätte das geglaubt? Welch sprachlose
Verwunderung, ja, Verachtung mag die Seele des
tapferen hebräischen Heerführers erfüllt haben, als er seine
Schar bei dem ersten Klang der Worte: „Feiglinge zurück!"
so zusammenschmelzen sah! Und doch sehen auch
wir zuweilen schöngeschmückte Reihen einherziehen und
hören sie singen:
„Auf, auf zum mut'gen Kampfe,
Ihr Streiter Christi all!"
Dringt aber einmal Gideons Ruf, in Form irgendeiner
zwingenden Probe, an die Ohren dieser „Streiter Christi",
wie bald lichten sich dann die Reihen, wie rasch schmilzt
das Heer zusammen!
Zweiundzwanzigtausend Feiglinge — zweiundzwanzigtausend,
die nicht kämpfen wollten, nach ihrem eigenen
Bekenntnis. Einer hat wohl den anderen angeschaut, als
— 181 —
der entehrende Befehl erging, und hat in den Zügen des
anderen die Gedanken des eigenen Herzens gelesen. „Wenn
du davonläufst, laufe ich auch", stand da geschrieben; und
so liefen sie alle. Mochte Gideon auch bei keinem seiner
Leute eine solche Schwachherzigkeit für möglich gehalten
haben, Gott kannte sie besser.
Auch heute kommt es vor, daß zweiundzwanzigtausend
den geistlichen Kampfplatz verlassen und umkehren,
und nur zehntausend bleiben, daß zweiundzwanzigtausend
ihren Dienst aufgeben und gar derer spotten, die treu auf
ihrem Posten ausharren. Die große Überzahl gibt den
Feiglingen den traurigen Mut, sich nicht nur nicht der
eigenen Feigheit zu schämen, sondern sich selbst über die
anderen zu erheben.
Es muß ein schmerzlicher Anblick für Gideon gewesen
sein, den großen Haufen so zerrinnen zu sehen. Aber
zehntausend waren doch noch übriggeblieben! Wir können
uns vorstellen, mit welchen Gefühlen er den Treulosen
nachgeblickt und wie es ihm in der Seele gebrannt haben
mag, mit den übriggebliebenen Zehntausend die Schmach
wieder gut zu machen. Aber Gott läßt sich weder durch
des Menschen Ungeduld zur Eile veranlassen, noch auch
durch falschen Schein betrügen. Immer noch ist die Straße
des Erfolges, der Weg für die Allmacht Gottes versperrt.
Er schaut auf die Zehntausend hernieder und ist noch nicht
befriedigt. „Noch ist des Volkes zu viel; führe sie ans
Wasser hinab, daß ich sie dir daselbst läutere", so lautet
Sein Befehl.
Welch seltsamer Weg der Läuterung! Doch wir werden
sehen, wie tief bedeutungsvoll er war.
Das Volk wird ans Wasser geführt, und nach der Art
182
ihres Trinkens wird eine Auswahl getroffen. Weitere neuntausendsiebenhundert
Mann werden beiseite gestellt, nur
dreihundert bleiben übrig. Warum? Diese Dreihundert
hatten „mit ihrer Hand zu ihrem Munde geleckt". Hastig,
im Vorbeigehen, ohne sich einen Augenblick Ruhe zu gönnen,
hatten sie getrunken. Alle übrigen hatten sich „auf
ihre Kniee niedergelassen, um zu trinken".
Von dem Streiter Christi wird erwartet, daß er
männlich und entschlossen unter dem Banner seines Herrn
gegen Sünde, Welt und Teufel kämpft. Sich auf seine
Kniee niederlassen und trinken ist die Stellung der Ruhe.
Die, die sie einnahmen, verrieten ihren Charakter. Wohl
hatten sie es verschmäht, sich feige zurückzuziehen. Sie
waren geblieben, um gegen Midian zu streiten. Aber sie
hatten keine Eile zum Kampf. Sie konnten der Ruhe pflegen,
konnten an den erquickenden Wassern verweilen, um
es sich heute noch wohl sein zu lassen. Morgen oder übermorgen
würde für die Midianiter noch früh genug sein.
Der Herr schaute vom Himmel hernieder, Er, der nicht
mit Menschenaugen sieht, und traf Seine Auswahl.
Die Dreihundert waren aus echtem Material. Aufrichtig,
ernst und unerschrocken, war ihr Sinn ausschließlich
auf das Werk gerichtet, daö vor ihnen lag. Sie waren
geblieben, nicht damit man gut von ihnen denke, sondern
um zu kämpfen; sie beabsichtigten zu kämpfen.
Auch sie tranken, aber nicht wie solche, deren Begehren
Ruhe und Genießen ist. Sie bedurften der Erfrischung
wie die übrigen, und sie verachteten diese Erfrischung nicht,
aber sie nahmen sie mit Selbstbeherrschung, so wie eö sich
für einen Krieger geziemt.
Alles was zu unserer Stärkung und Erfrischung am
— rsz —
Tage des Kampfes nötig ist, sollten wir gewissermaßen
„in Eile essen" und uns nicht dabei „auf unsere Kniee niederlassen".
Die Zeit der Ruhe liegt vor uns. Wenn einmal
das Hochzeitsmahl kommt, wird die Arbeit und das
Kriegführen für immer zu Ende sein.
Jene Neuntausendsiebenhundert finden auch heute ihr
Gegenbild. Gibt es nicht solche, die einen durchaus guten
Eindruck machen und scheinbar nichts zu wünschen übriglassen,
die nicht umkehren, wenn sich ihnen die Gelegenheit
bietet, dem Kampf auszuweichen, und die doch der Hauptsache
ermangeln, des ganzen, ungeteilten Herzens, der
völligen Widmung für den Herrn und die ihnen gestellte
Aufgabe?
Der Befehl Jehovas: „Schlage die Midianiter", ergeht
deshalb weder an die Iweiunddreißigtausend, noch
an die Zehntausend, sondern nur an den kleinen Überrest
treuer, wahrer Streiter.
Um Streiter Christi zu sein, bedürfen wir der Entschiedenheit,
des festen Willens und des nicht ermüdenden
Geistes der Dreihundert. Indem sie ihr Auge unverrückt
aufs Ziel gerichtet hielten, jagten sie ihm nach, mochten
ihre Kräfte auch ermatten. (Vergl. Kap. 8, 5.) Darum
sagt der Herr von ihnen: „Durch diese will ich euch
retten". Sie waren die wahren Kämpfer; von den anderen
wurde gesagt: „ein jeder soll an seinen Ort gehen".
Aber noch eine andere Lehre dürfen wir aus unserem
Abschnitt ziehen, nämlich, daß große Fragen oft durch sehr
geringe Mittel entschieden werden. Nicht unser Verhalten
in Augenblicken, wo viel von uns erwartet wird, bestimmt
unseren Charakter und unsere Fähigkeit zur Ausführung
der vorliegenden Aufgabe. Wir können in einem gegebenen
rs4
Augenblick uns selbst stark machen, um dann, wenn die
Krisis vorüber, die Spannung gewichen ist, zu versagen.
Die Mehrzahl der nach der ersten Aufforderung Zurückgebliebenen
wurde von der Versuchung: „Wer furchtsam
und verzagt ist, kehre um", nicht berührt, versagte aber,
als sie am Bache auf die Probe gestellt wurden.
„Ich will sie dir daselbst läutern" — da, wo sie sich
am wenigsten beobachtet glaubten, wo deshalb ihr Verhalten
ganz unwillkürlich und darum auch am natürlichsten
und bezeichnendsten war.
Ser Gläubiger
und seine beiden Schuldner
(Lnk. 7, 40—50.)
„Simon, ich habe dir etwas zu sagen." Es ist der
Heiland, der so spricht. Seine Worte gießen göttliches
Licht in zwei Herzen vor Ihm, indem sie die Wirklichkeit
gegenüber dem Schein offenbaren. Zugleich machen sie
Seine Allwissenheit, Seine Macht, Sünden zu vergeben,
und Seine vollkommene Gnade kund.
Jesus beantwortete ein ungesprochenes Wort. Simon
hatte nur zu sich selbst gesagt: „Wenn dieser ein Prophet
wäre, so würde Er erkennen, wer und was für ein Weib es
ist, die Ihn anrührt; denn sie ist eine Sünderin". Aber
Jesus hatte diese Worte so genau vernommen, als wären
sie über des Pharisäers Lippen gekommen, und beantwortete
sie mit einer Weisheit und Gnade, wie nur Er es
vermochte. Auch unsere unausgesprochenen Gedanken sind
Ihm bekannt. Simon war mit einer religiösen Rüstung
angetan, mit einem Harnisch, der nur zu oft undurchdring
— rss —
lich ist für die Liebe. Eine außergewöhnliche Szene hatte
sich vor seinen Augen abgespielt. Er hatte die tiefe Zerknirschung
des Weibes und ihre Hingabe gesehen, aber
sein Herz war unberührt geblieben. Er ist indes bereit, dein
was Jesus ihm zu sagen hat Gehör zu schenken, und antwortet
dem Herrn: „Lehrer, sage an".
Der Herr Jesus erzählt ihm darauf das schöne Gleichnis
von dem Gläubiger, der zwei Schuldner hatte, von
denen der eine ihm zehnmal so viel schuldete wie der andere,
die sich aber darin gleich waren, daß sie beide nichts
zu bezahlen hatten. Und als der Gläubiger sah, daß sie
„nicht hatten zu bezahlen, schenkte er es beiden".
Auch in unseren Tagen gibt es Menschen, die als
Fünfhundert- und solche, die als Fünfzig-Denare-Schuld-
ner betrachtet werden können. Nehmen sie aber gewissenhaft
und demütig den ihnen geziemenden Platz vor Gott
ein als Schuldner, die unfähig sind zu bezahlen, so empfangen
sie alle Vergebung in Seinem unendlichen Erbarmen.
Für den Glaubenden liegt eine wunderbare Kraft
in den Worten: „Er schenkte es beiden". Welch eine
fast verschwenderische Darreichung der freien, unumschränkten
Gnade Gottes, die den Sündern in der ganzen
Tiefe und Mannigfaltigkeit ihrer Not begegnet!
Simon hatte offenbar die Schuld des Weibes als
die größere eingeschätzt, und seine eigene, wenn er überhaupt
Schuld bei sich sah, für sehr viel geringer. Was
aber, wenn die scheinbare Verschiedenheit von der richtigen
oder unrichtigen Einschätzung der Schuld abhängt? Der
Apostel Paulus, der von sich sagen konnte: „Was die Gerechtigkeit
betrifft, die im Gesetz ist, tadellos erfunden",
hielt sich selbst für den größten aller Schuldner.
186
Der Herr fragt Simon, nachdem Er ihm erzählt
hat, wie der Gläubiger den beiden Schuldnern die ganze
Schuld erlassen hatte: „Wer nun von ihnen, sage, wird
ihn am meisten lieben?" Und der anscheinend aufrichtige
Pharisäer antwortet ohne weiteres: „Ich meine, dem er
das meiste geschenkt hat".
Welch einen Ausblick eröffnet diese Frage des Herrn
auch für uns! Er, unser Herr, schaut also nach Liebe aus.
Er schätzt die Liebe unserer armen Herzen hoch!
Die Art, wie der Herr Simon dies zu verstehen gibt,
erfordert unsere besondere Aufmerksamkeit. „Ich bin in
dein Haus gekommen", sagt Er, (welch eine Ehre für Simon!)
„du hast mir kein Wasser auf meine Füße gegeben,
...du hast mir keinen Kuß gegeben,... du hast mein
Haupt nicht mit Ol gesalbt." Das waren in der Tat ernste,
für den Pharisäer geradezu vernichtende Worte.
Aber ich möchte fragen: Wie berührt diese Klage des
Herrn, Punkt um Punkt, unsere Herzen? „Kein Wasser
für meine Füße" — die selbstverständliche Höflichkeit
des Tages war von Simon versäumt worden. „Kein Kuß"
— das im Morgenlande allgemein gebräuchliche Zeichen
des Willkomms, hatte Simon seinem Gast vorenthalten.
Die ehrende Sitte des „Salbens" hatte er unterlassen.
Wenn nun der Herr in Seiner Gnade in unser Haus tritt,
legt Er dann keinen Wert darauf, diese Dinge als Zeichen
der Liebe von uns, die Er so reich gesegnet hat, zu empfangen?
Ist es möglich, daß wir uns solcher Nachlässigkeit
schuldig machen, Ihm vorenthalten können, was Er
so voll und ganz um uns verdient hat, was Er mit solchem
Recht von uns erwarten kann? Prüfen wir uns einmal
ernstlich selbst.
r87
Und ferner: Was bewegt unsere Seelen, wenn wir zu
Seinen: Namen hin versammelt sind, mit Ihm in unserer
Mitte? Wie ist es um die Wertschätzung Seiner Person
in unseren Herzen bestellt? Fließen sie über in liebender
Dankbarkeit, in Preis und Anbetung? Der Herr, der unsere
Liebe wertschätzt, empfindet auch ihren Mangel. Wie
tief fühlte Er Simons Unterlassung der einfachsten Höflichkeiten
einem Gast gegenüber!
Welch einen vollständigen Gegensatz finden wir in
den: „Weibe, die eine Sünderin war"! Ja, sie war eine
Sünderin, aber eine weinende; und der Quell war tief,
aus dem ihre Tränen hervordrangen. Mit Ehrerbietung
lauschen wir dem sich steigernden Zeugnis von den Lippen
des Herrn, des so zart Empfindenden, Vollkommenen,
Gnadenreichen. „Siehst du dieses Weib?" sagt Er
zu Simon, „sie hat meine Füße mit Tränen benetzt und
mit ihren Haaren getrocknet,... sie hat, seitdem ich hereingekommen
bin, nicht abgelassen, meine Füße zu küssen,
...diese aber hat mit Salbe meine Füße gesalbt. Deswegen
sage ich dir: Ihre vielen Sünden sind vergeben,
denn sie hat viel geliebt."
Wie gnadenvoll die Rechtfertigung, wie lieblich das
Zeugnis! Fürwahr, ein ehrenvolles Vorrecht war dem armen
Weibe zuteil geworden, um daö Engel sie wohl hätten
beneiden, das sie aber nie so rührend oder passend hätten
darstellen können. Ihre ganze Aufmerksamkeit war auf
den Heiland gerichtet. Sie hatte weder Auge noch Ohr für
irgendjemand oder irgendetwas außer Ihm. Die Gewalt
der Liebe hatte sie in des Pharisäers Haus getrieben, zu
Jesu, um dort, zu Seinen Füßen, das Opfer ihrer Liebe
über Seine Füße auszugießen. Wie schön waren für sie
188
die Füße Dessen, der gute Botschaft brachte, der Frieden
und Heil verkündigte — die Füße, die jede Stadt und
jedes Dorf in jener Gegend betreten hatten, um Sünder
zur Buße zu rufen und den Armen das Evangelium
zu predigen! Und Er beachtete ihre Aufmerksamkeiten und
schätzte jede einzelne derselben: den Strom der Tränen, die
kostbare Salbe, die nicht aufhörenden Küsse. Bei Ihm
fand alles Anerkennung und Wertschätzung.
Dann vergleicht der Herr das alles mit dem Empfang,
den Simon Ihm bereitet hatte. Und wenn Er es
nun einmal mit dem vergleichen würde, was unsere Herzen
für Ihn übrighaben — könnten sie wohl einen solchen Vergleich
aushalten? O möchte die Erinnerung an des Herrn
Wertschätzung unserer Liebe unsere oft so trägen und nachlässigen
Herzen von neuem anspornen. Ihn mehr und
treuer zu lieben! Wieviele Gelegenheiten haben wir dazu!
Wie oft mögen aber die Erwartungen des Herrn sich
auch in uns getäuscht gesehen haben! Und doch sind wir
alle, hoch oder niedrig, reich oder arm, berufen und imstande,
in der Kraft des Heiligen Geistes alles in Liebe
für unseren Herrn zu tun.
Bald wird Er uns zu sich heimholen. Von dem Empfang,
der bei Ihm unser wartet, hat Er uns erzählt.
Er will sich umgürten, die Seinigen sich zu Tische legen
lassen und dann hinzutreten, um sie zu bedienen! (Luk.
12, 37.) Laßt uns denn den Tag Seines Kommens beschleunigen,
an dem Er Seine Braut zu dem alle Erwartung
übersteigenden Empfang ins Vaterhaus geleiten wird,
um sich ewiglich an ihr zu erfreuen und sie selbst in den
Vollgenuß Seiner Liebe einzuführen!
18Y
Vom Kreuze zum Paradies
Kurz war der Weg des Herrn vom Kreuze, der Stätte
tiefster Erniedrigung und Schande, bis hinauf zu der höchsten
Herrlichkeit des Himmels — kurz und herrlich. Er
konnte diesen Weg gehen, weil Er Gott in allem vollkommen
verherrlicht hatte. Aber Er ging ihn nicht allein; der
um seiner Missetaten willen „gehenkte" Räuber begleitete
Ihn! Diesem Manne war von feiten der Menschen mit
Recht ein schreckliches Todesurteil zuerkannt worden, und
vor ihm lag das ewige Gericht. Die Worte, die er an
seinen spottenden Mitschuldigen richtete: „Auch du fürchte
st G o t t n i ch t, da du in demselben Gericht bist? und
wir zwar mit Recht", beweisen, daß er nicht nur seine
Verurteilung als gerecht anerkannte, sondern daß er auch
ein klares und furchtbares Vorgefühl hatte von dem, was
seiner nach dem Tode wartete: das gerechte Gericht von
feiten des Gottes, dessen Gebote er so schmählich übertreten
hatte. Und doch — er gerade durfte den Herrn
Jesus begleiten auf Seinem Siegeszuge vom Kreuze zum
Paradies, aus Schmach und Schande zur Herrlichkeit droben!
Er, der eine so sichere Beute Satans zu sein schien,
wurde der Gewalt des Fürsten der Finsternis entrissen
und ging als das erste Zeichen des errungenen Sieges
mit dem Sieger ein ins Paradies.
Ja, steht nicht geschrieben, daß der Herr am Kreuze
die Fürstentümer und die Gewalten ausgezogen hat und
sie dann öffentlich zur Schau stellte, indem Er durch dasselbe
über sie einen Triumph hielt? (Kol. 2, 1.5.) Hat Er
nicht durch den Tod den zunichte gemacht, der die Macht
— ryo —
des Todes hat, das ist den Teufel, und alle die befreit,
die durch Todesfurcht das ganze Leben hindurch der Knechtschaft
unterworfen waren? (Hebr. 2, t4. ts.)
Wahrlich, der Sieg war Dessen würdig, der ihn errungen,
das Werk und seine Ergebnisse entsprachen Dein,
der es vollbracht hat. Denken wir uns einen Menschen, der
vor dem gewissen Tode, am Rande des ewigen Verderbens
steht und noch am gleichen Tage über die Schwelle
des Himmels tritt; einen Menschen, der als ein unwürdiges
Glied der menschlichen Gesellschaft ans Kreuz geschlagen
wird, um es als ein der Gemeinschaft mit dem
Vater und dem Sohne Gewürdigter zu verlassen; einen
Menschen, dessen Herz bis dahin mit Haß und Feindschaft
gegen Gott und Seinen Gesalbten erfüllt gewesen
war, sodaß er eö nicht unterlassen konnte, den an seiner
Seite Hangenden Herrn gleich seinem Genossen zu schmähen
und zu lästern, und der dann mit einem Male sich
selbst verurteilt, seinen Genossen straft, Jesum rechtfertigt
und als ein Geheiligter mit Ihm ins Paradies geht! Welche
Gegensätze: hier des Menschen schrankenlose Bosheit und
dort Gottes unergründliche Barmherzigkeit, auf der einen
Seite überströmende Sünde und auf der anderen eine noch
überschwenglichere Gnade!
Wir kennen die Grundlage, auf welcher eö der Gerechtigkeit
möglich war, also in Gnade zu handeln. Eö
ist das kostbare Blut Jesu Christi, des Sohnes Gottes,
das herrliche Versöhnungswerk, das Er gerade in jenen
Stunden vollbrachte, als Er als das vor Grundlegung
der Welt zuvorbestimmte Lamm Gottes unsere Schuld
trug. Der Räuber war ein Sünder, ein großer Sünder,
aber der Sohn des Menschen war in die Welt gekommen,
— iyr —
„mir Sünder zu erretten". Er hatte keine Zeit mehr,
sein Leben zu ändern, an ein „Sichbessern" zu denken.
Sollte er nicht für ewig verloren gehen, so mußte ihm s o -
fort geholfen werden. Aber neben ihm hing Er, der gekommen
war, „das Verlorene zu suchen und zu erretten".
Und nicht nur sofort mußte ihm geholfen werden,
nein, auch so vollständig und endgültig,
daß er für den Hinmiel passend war. Und diese Hilfe
wurde ihm zuteil, denn Jesus sprach zu ihm: „Heute
wirst du mit mir im Paradiese sein". Schließlich
mußte er auch die volle Gewißheit haben, daß er, der
n n r Sünden hatte und nichts wieder gut zu machen vermochte,
ohne Furcht in die Zukunft blicken könne; und
diese Gewißheit gab ihm daö Wort: „Wahrlich, ich
sage dir". Auf diese Autorität konnte er bauen, auf
diesen Felsen seinen Fuß setzen.
Sv ging denn der „sterbende" Räuber, anstatt in die
verdiente Pein, in die Freude und Ruhe des Paradieses,
anstatt in die Finsternis einer qualvollen Ewigkeit, in das
strahlende Licht der Gegenwart seines Heilandes. Die
scheinbare Niederlage des „von allen Verlassenen" erwies
sich als der herrlichste Triumph über die Gewalt des Fürsten
dieser Welt. Dem Rachen des Löwen entrissen, durfte
der „glaubende" Räuber mit Jesu ins Paradies Gottes
eingehen. Hatte der erste Mensch durch seinen Ungehorsam
das irdische Paradies verloren, so erwarb der zweite
Mensch durch Seinen Gehorsam das himmlische Paradies
und führte gleichsam als erste „Frucht der Mühsal Seiner
Seele" den „erlösten" Räuber mit sich dort ein.
Fürwahr, das ist Gnade, anbetungswürdige Gnade.
Und auf demselben Boden steht heute jeder Glaubende.
— 192 —
Za, „wo die Sünde überströmend geworden, ist die Gnade
noch überschwenglicher geworden, auf daß, gleichwie die
Sünde geherrscht hat im Tode, also auch die Gnade
herrsche durch Gerechtigkeit zu ewigem Leben
durch Jesum Christum, unseren Herrn". (Röm. 5,20.2t.)
Sie Regierungswege Gottes
mit Seinen Kindern
Gottes Absicht ist, Seine Kinder zu segnen, aber sie
hindern Ihn durch ihr Tun oft an der Ausführung dieser
Absicht. Dann warnt Er sie zunächst durch Sein Wort,
und wenn sie nicht auf dieses Wort hören wollen, greift
Er durch Seine Macht ein und stellt sie auf ihrem Wege
still. „Er macht ihnen kund ihr Tun und ihre Übertretungen,
daß sie sich trotzig gebärdeten." Er handelt, „um
den Menschen von seinem Tun abzuwenden, und auf daß
Er Übermut vor dem Manne verberge". (Siehe Hiob
36, 5—14; 33, 14—30.) Bei diesem Tun Gottes handelt
es sich nicht um Errettung, sondern um Erziehung.
Gott schaut auf Seine Kinder herab und züchtigt
die, welche Er liebt, um sie Seiner Heiligkeit teilhaftig
zu machen. Die schlimmste aller Züchtigungen ist, wenn
Er uns unsere eigenen Wege gehen läßt. „Ephraim ist
mit Götzen verbündet; laß ihn gewähren!" (Hos.
4, 1.7.) Das ist eine schreckliche Strafe, härter als die
ernsteste äußere Züchtigung! Zu Israel sagt Gott durch
den Propheten Amos: „Nur euch habe ich von allen Geschlechtern
der Erde erkannt; darum werde ich alle eure
Missetaten an euch heimsuchen". (Amos 3, 2.)
— ryz —
Als später die Christen das Abendmahl des Herrn
in Ausschweifung verkehrten, legte Gott Seine Hand auf
sie. Viele erkrankten, andere entschliefen sogar. Der Apostel
lenkt unsere Aufmerksamkeit auf diesen Punkt und fügt
dann hinzu: „Wenn wir uns selbst beurteilten, so würden
wir nicht gerichtet. Wenn wir aber gerichtet werden,
so werden wir vom Herrn gezüchtigt." (1. Kor. 11, 31..
32.) Ernster Gedanke! Wir sind unter der Hand des
Herrn, der die Sünde straft, wo immer Er sie findet.
Er ist ein verzehrendes Feuer, und wenn der Augenblick
gekommen ist, beginnt das Gericht an Seinem Hause.
Welch ein Unterschied ist es, so zu Gott zu stehen,
oder die Freude und das Glück Seiner Liebe und Gemeinschaft
zu genießen, wenn Sein Geist ungetrübt ist und
man unter Seinem Auge, in dem Lichte Seines Angesichts
wandelt! Wir dürfen wohl annehmen, daß ein großer
Teil der Krankheiten und Prüfungen der Christen Züchtigungen
sind, die Gott sendet infolge von Dingen, die
Seinem Auge mißfallen, denen das Gewissen hätte Beachtung
schenken sollen, die es aber vernachlässigt hat.
Gott ist dann gezwungen, auf diese Weise das in uns hervorzubringen,
was ein aufrichtiges Selbstgericht hätte bewirken
sollen. Es wäre aber verkehrt zu sagen, alle Leiden
seien solche Züchtigungen, also Strafen, die Gott bestimmter
Sünden wegen über uns kommen läßt. Es gibt
Mängel und Schwachheiten, die mit unserer natürlichen
Veranlagung Zusammenhängen und der Berichtigung bedürfen,
damit wir mehr in Gottes Gemeinschaft leben
und Ihn in allen Einzelheiten des Lebens verherrlichen
können. Gottes Treue kommt uns da durch Züchtigungen
zu Hilfe. Aber es gibt viele Kinder Gottes, die ihr Ge
t94
wissen immer wieder durch Fehler belasten, welche sie entdecken
und meiden würden, wenn ihre Seele im Lichte
Gottes wäre.
Jakob mußte sein ganzes Leben lang gegen sich selbst
kämpfen, ja, um ihn segnen zu können, mußte Gott sogar
mit ihm ringen. Deswegen gefiel es Ihm mich nicht, ihm
Seinen Namen zu offenbaren. Wie ganz anders war das
Leben Abrahams! — Dem Apostel Paulus wurde ein
Dorn für das Fleisch gegeben, um Böses zu verhindern.
In seinem Falle entsprang die Gefahr nicht der
Unwachsamkeit, sondern vielmehr dem Übermaß der Offenbarungen,
die er empfangen hatte.
Der erste Anlauf, den eine bekehrte Seele nimmt,
wie aufrichtig sie auch sein mag, bringt alles andere hervor
als eine Verurteilung des Ichs und des Fleisches, die,
indem sie uns unsere Schwachheit enthüllt, uns veranlaßt,
unsere Bürde zu Jesu Füßen niederzulegen. Sind
wir aber einmal dahin gekommen, dann suchen wir nur
in Ihm Kraft zu erlangen, vertrauen auf Ihn allein. Das
Vertrauen, das eine Seele, die sich selbst kennt und mißtraut,
auf Jesum hat, gibt ihr einen dauernden und festen
Frieden, weil sie weiß — nicht nur als Lehre, sondern
durch Herzenserkenntnis — daß Er allein unsere Gerechtigkeit
ist. Dahin gelangen wir aber nur, wenn wir in
der Gegenwart Gottes waren und dort die Entdeckung ge­
macht haben, daß wir nur Sünde sind, Christus aber
vollkommene Gerechtigkeit und Gott vollkommene Liebe.
Von dem Augenblick an trauen wir uns selbst nicht mehr,
und das Fleisch in uns und der Feind haben nicht mehr
die gleiche Macht über uns wie bisher.
Es gibt viele Christen, die noch nicht von sich selbst
195
los sind. Solche, wenngleich wir alle den gleichen Gefahren
ausgesetzt sind, haben in besonderer Weise die Listen
des Feindes zu fürchten, weil sie noch nicht gelernt haben,
wie sehr das Fleisch uns täuscht, und nicht wissen, mit
welch einem furchtbaren Verführer wir es zu tun haben.
Iemehr unsere Erkenntnis in dieser Beziehung wächst, umsomehr
gewinnt Christus Raum in unseren Herzen, umsomehr
Ruhe ist vorhanden und umsoweniger das Fleisch
tätig.
Wie arglistig und betrügerisch ist doch unser Herz!
Welche Sklaven macht irgend ein „Götze" aus unö! Wir
mögen suchen, der Gefahr zu entrinnen, und wenden doch
zugleich Mittel an, um unseres Herzens Begehr zu erlangen.
Es ist eine schlimme Sache, sich von Gott zu
entfernen. Wenn das Herz sich von Gott abkehrt, so fürchtet
es Menschen mehr als Gott.
Möchte Gott allen Seinen Kindern schenken, Seine
Gegenwart zu suchen Tag für Tag!
Kragen aus dem Leserkreise
1. War es richtig, daß die Jünger in Jerusalem an Judas'
Stelle einen Apostel wählten? (Apstgsch. r, rs—2ö.) Wurde nicht
Paulus anstatt des Verräters vom Himmel her berufen? *)
Zunächst sei bemerkt, daß dis Schrift nicht von einer eigentlichen
Wahl redet, sondern es wurden aus der Mitte der Jünger,
die von Anfang an mit Jesu aus- und cingegangen und Zeugen Seiner
Auferstehung und Himmelfahrt gewesen waren, zwei Männer
vor Gott hingestellt, die für den Dienst besonders befähigt erschienen,
damit Er entscheide, welcher von den beiden der von Ihm auserwählte
sei. Gott antwortete dann auf das Gebet der Versammelten,
indem Er das Los auf Matthias fallen ließ.
Leider kommt diese schon vor Monaten gestellte Krage durch ein Ver»
sehen erst heute zur Beantwortung.
— ryb —
Was die Frage selbst betrifft, so sagt das Wort weder an dieser
»och an einer anderen Stelle irgend etwas über die Richtigkeit oder
Unrichtigkeit der Handlung; es berichtet nur, wie Petrus in der Mitte
der Brüder aufstand, klar und bestimmt die Schriftstelle Psalm
los, 8 auf den vorliegenden Fall anwandte und auf Grund derselben
erklärte: „Es muß nun von den Männern . . . einer
ein Zeuge Seiner Auferstehung mit uns werden". Obwohl der Heilige
Geist noch nicht ausgegossen und die verheißene „Kraft aus der
Höhe" noch nicht über die Jünger gekommen war, hatte der Herr
ihnen doch „das Verständnis geöffnet, um die Schriften zu verstehen"
(Luk. 24, 45—4d), und Petrus redete nun, auf der angeführten
Stelle fußend, mit einer solch ruhigen Bestimmtheit, daß
man kaum dem Gedanken Raum geben kann, die Handlung sei unrichtig
gewesen. In Kap. 2, 44 und 6, 2 wird Matthias auch als
einer der „Zwölfe" förmlich anerkannt.
Hinzu kommt, daß in Paulus ein so völlig neues Werkzeug,
von solch eigenartiger Berufung und betraut mit einer so außergewöhnlichen
Botschaft, auf den Schauplatz trat, daß die Annahme,
er sei eigentlich der von Gott bestimmte „Zwölfte" gewesen, wiederum
nicht ernstlich in Betracht kommen kann. —
2. Ich bitte um Aufklärung Uber Jes. 7, 45—22. „Rahm" und
„Honig", mehr Leckerbissen als Nahrungsmittel, sind doch als Segnungen
zu betrachten?
Kanaan wird freilich ein Land genannt, „das von Milch und
Honig fließt", aber es war zugleich ein überaus fruchtbares Land
mit wogenden Getreidefeldern und üppigen Weinbergen. Überfluß
an allem kennzeichnete es. Nun aber sollten infolge der Bosheit
des Königs von Israel und des Bündnisses, das er mit dem
König von Syrien wider Juda geschlossen hatte, Zeiten ernster Gerichte
ins Land kommen. Der König von Assyrien sollte als Zuchtrute
in der Hand Jehovas dienen, und noch ehe der Sohn Jesajas,
Schear-Jaschub, ein urteilsfähiges Alter erreicht hätte, würden
Syrien und Ephraim derart verwüstet sein, daß Getreidefelder und
Weinberge nur noch als Weideplätze für Ochsen und Rinder diene»
könnten. Schear-Jaschub und die mit ihm im Lande übriggebliebenen
würden Rahm und Honig essen, nicht als Beweis des Überflusses,
sondern um im Gegenteil zu zeigen, daß die Erzeugnisse
eines gutbebauten Landes: Getreide, Früchte usw., gänzlich verschwunden
waren, und die wenigen Bewohner sich von dem nähren
müßten, was in der Regel heimatlos umherziehenden Nomaden zur
Speise dient. Der Besitzer einer jungen Kuh und zweier Schafe oder
Ziegen würde mühelos so viel Futter für die wenigen Tiere finden,
daß er „von der Menge des Milchertrages Rahm essen" würde.
Sie Auserwählung
i.
Uber die Frage der Auserwählung ist schon viel geredet
und geschrieben worden, Gutes und Schlechtes.
Wenn wir sie heute noch einmal behandeln, so geschieht es
in dem Wunsche, wirklich beunruhigten Seelen zu Hilfe
zu kommen, nicht aber um die verschiedenen Meinungen
der Menschen über die Gnadenwahl zu untersuchen.
Vor kurzem wandte sich jemand, der durch die genannte
Frage in große Unruhe gekommen war, an den
Schreiber dieser Zeilen mit der Bitte um Aufklärung. Der
Inhalt seines Briefes ist ein so treffendes Beispiel von
den Fragen und Kämpfen solch beunruhigter Seelen, daß
er hier eine Stelle finden möge. Er lautet:
„Ich bin sehr unglücklich wegen der Frage der
Auserwählung. Ich weiß, daß ich ein Sünder und als
solcher hoffnungslos verloren bin, denn in mir ist nichts,
was Gott anerkennen könnte. Doch ich möchte meiner
Errettung gewiß werden. Der Gedanke, daß ich zurückbleiben
müßte, wenn der Herr kommt, um die Seini-
gen zu sich zu nehmen, erfüllt mich mit großer Furcht.
Ich weiß, daß die Schrift sagt: „Glaube an den Herrn
Jesus, um errettet zu werden", aber es ist mir gesagt
worden, es sei nicht schriftgemäß zu behaupten: Christus
ist für die Sünden aller Menschen gestorben. Wenn
Er aber nicht für alle gestorben ist, wie kann ich dann
glauben, daß Er für mich persönlich gestorben ist? Ich
— td8 —
kann doch nicht glauben, ohne einen festen Grund zu
haben, auf dem mein Glaube ruhen kann; und wenn
Christus nicht für mich gestorben ist, wie könnte ich das
dann glauben? Es wäre ja nutzlos! O wenn Sie wüßten,
wie sehr ich beunruhigt bin! Ich glaube, Sie würden
mit mir fühlen und versuchen, mir zu antworten.
Was ich zu wissen wünsche ist also: Wie kann
jemand wissen, daß der Herr Jesus Christus für ihn
persönlich gestorben ist, wenn er gar nichts in sich findet,
was dieses wahrscheinlich macht? Während ich dies
schreibe, fühle ich, wie hoffnungslos es ist, weiter darüber
zu grübeln. Ich bin der Verzweiflung nahe, weil
ich schon lange Zeit so dahingegangen bin, und doch habe
ich alle die Jahre bekannt, em Christ zu sein...Ich
fürchte, ich gleiche dem Lande, von dem es in Hebr.
6,8 heißt, daß es nur Dornen und Disteln hervorbringt.
Wenn Sie glauben, daß es doch noch Hoffnung für
mich gibt, dann, bitte, versuchen Sie mir zu helfen!"
Wie beklagenswert ist doch ein Mensch, der in einer
solchen Verfassung jahrelang dahingeht! Man begegnet
zwar nicht oft einem so tiefunglücklichen Seelenzustand,
wie bei dem Schreiber dieses Briefes, dennoch gibt der
Brief der unklaren inneren Stellung großer Scharen von
Menschen Ausdruck. Wo liegt die Wurzel all der Verwirrung
und Seelennot? Die Antwort ist einfach. Sie lautet:
In der Beschäftigung mit sich selbst.
Gibt es wohl irgend etwas Gutes in uns, das dein
Herrn Jesus Veranlassung hätte geben können, für uns zu
sterben? Nicht das Geringste! Diese Erkenntnis mag
schmerzlich und demütigend sein, aber zu ihr muß man
— lyy —
kommen. Früher oder später muß die erweckte Seele dahin
gebracht werden, zu sagen: „Ich weiß, daß in mir, das ist
in meinem Fleische, nichts Gutes wohnt". Mag auch
das Wollen vorhanden sein, aber das Vollbringen dessen,
was recht ist, fehlt. Für das Fleisch ist in der Schrift
kein Heilmittel zu finden. Dem Schreiber des Briefes ist
darum nicht zu helfen, solang er fragt: Wer kann mir
helfen? Er muß dahin kommen, zu fragen: „Ich elen -
d e r Mensch! wer wird mich retten von diesem Leibe des
Todes?" Der Herr Jesus ist nicht gekommen als ein
Helfer für das Fleisch, sondern als der vollkommene
Netter aus dem hoffnungslosen Zustand, in dem wir
uns von Natur befinden. Sobald die Seele das im Glauben
wirklich erfaßt, ruft sie frohlockend aus: „Ich danke
Gott durch Jesum Christum, unseren Herrn!"
Sie erkennt dann, daß Gott ihr durch Jesum Christum eine
neue Natur, ewiges Leben und den Heiligen Geist geschenkt
hat. (Vergl. Röm. 7, t8—25.)
Doch untersuchen wir die Schwierigkeiten des Briefschreibers
ein wenig näher. Es ist sicher ein Zeichen der
Wirksamkeit des Heiligen Geistes, wenn jemand in Aufrichtigkeit
sagt: „Ich bin ein hoffnungslos verlorener Sünder".
Das Bekenntnis ist überaus ernst, aber notwendig,
denn nur für solche ist Jesus gestorben. Er kam, „zu suchen
und zu erretten was verloren ist". — „Christus
ist, da wir noch kraftlos waren, zur bestimmten Zeit
für Gottlose gestorben." — „Ich habe mein Schaf gefunden,
das verloren war" — gerade das war die
Freude des guten Hirten. Wenn also der Schreiber jenes
Briefes oder ein Leser dieser Zeilen, der ähnliche Kämpfe
kennt, erkannt hat, daß er verloren ist, kraftlos,
200
gottlos, dann ist es nach der Schrift klar, daß Jesus
für ihn gestorben ist. Er kam ja gerade, um solche zu suchen
und zu erretten.
Daß der Herr wiederkommen wird, um die Seinigen
zu sich zu nehmen, ist ebenso gewiß, und keine Feder könnte
beschreiben, wie schrecklich es sein muß, dann als eine „törichte
Jungfrau" erfunden und zurückgelassen zu werden.
Es ist mehr als verständlich, daß jemand bei einer solchen
Aussicht seiner Errettung völlig gewiß werden möchte. Zugleich
aber beweist sein dringendes Verlangen und verzweifeltes
Sehnen, wie es in seinem Innern steht. Ein selbstgerechter
Mensch oder ein gleichgültiger Bekenner oder gar
ein Ungläubiger redet niemals so. Sie alle beschäftigen
sich nicht mit der Möglichkeit, zurückzubleiben, wenn der
Herr kommt, glauben wohl überhaupt nicht einmal an die
Erfüllung der Verheißung: „Ich komme bald", wenngleich
der Herr sie im letzten Kapitel des Neuen Testamentes
dreimal feierlich wiederholt.
Vielleicht geht es dem einen oder anderen gläubigen
Leser dieser Zeilen ähnlich wie dem Briefschreiber; auch er
fürchtet zurückzubleiben, wenn Jesus kommt. Einen solchen
möchte ich fragen: Bist du als ein verlorener Sünder zu
Jesu gekommen? Hast du einfältig an Ihn als deinen
Heiland geglaubt? Wenn ja, so bist du errettet, und es
ist dein seliges Vorrecht, „den Sohn Gottes aus den
Himmeln zu erwarten, Jesum, der uns errettet von dem
kommenden Zorn", (t. Thess. t, io.) Nicht weil du das
fühlst, oder weil es etwas in dir gibt, was Gott anerkennen
könnte, sondern weil Jesus für dich gestorben
ist, weil Er den gerechten Zorn Gottes für dich getragen
hat.
— 2O1 —
Doch kommen wir noch einmal auf den Brief zurück.
Der Schreiber sagt: „Ich weiß, daß die Bibel sagt:
Glaube an den Herrn Jesus, um errettet zu werden".
Aber, möchte ich zunächst fragen, ist das wirklich so? Nein,
die Schrift sagt: „Glaube an den Herrn Jesus, und du
wirft errettet werden". (Apstgsch. 16, 31.) Ferner
ist es nicht genug zu wissen, daß es so in der
Bibel steht; das wissen auch die bösen Geister und viele
Ungläubige, aber es dient ihnen nur zum Gericht. Was
dem Schreiber und jeder zagenden Seele zu wissen nottut,
ist, daß Gott es sagt, daß „der lebendige und
wahre Gott" in Seinem Worte so zu uns redet. Könnte
Sein Zeugnis jemals trügen? „Wenn wir das Zeugnis der
Menschen annehmen, das Zeugnis Gottes ist größer."
Darum, wenn du an den Herrn Jesus glaubst, das Zeugnis
Gottes über Seinen Sohn annimmst, so bist du errettet.
Mißtraust du dem Worte Gottes? Der Kerkermeister
in Philippi hörte das Wort, und noch in derselben
Nacht „frohlockte er, anGottgläu biggeworden,
mit seinem ganzen Hause". Mache es wie er! Glaube und
frohlocke! Warum solltest du noch zweifeln?
„Aber", sagt der Schreiber weiter, „ich habe sagen
hören, es sei nicht schriftgemäß, zu behaupten, daß
Christus für die Sünden aller Menschen gestorben sei, und
wenn Er nicht für alle gestorben ist, wie kann ich dann
glauben, daß Er für mich persönlich gestorben ist?" —
Beachte wohl den Unterschied zwischen dem Vordersatz und
dem Nachsatz. Es ist durchaus wahr, daß die Schrift nirgendwo
sagt, daß Christus für die Sünden aller
Menschen gestorben ist, mit anderen Worten, daß Er
als Stellvertreter die Sünden aller Menschen ge
202
tragen hat. Wohl aber sagt sie, daß Er für alle gestorben
ist (2. Kor. 5, 14. 15), und daß Er sich selbst zum
Lösegeld gab für alle. (1. Tim. 2, 6.) Darum haben
auch die Jünger „in Seinem Namen Buße und Vergebung
der Sünden gepredigt allen Nationen, anfangend von
Jerusalem". (Luk. 24, 47.) Der Apostel Petrus bezeugte
zuerst den Juden und später den Heiden, daß „jeder,
der an Ihn glaubt, Vergebung der Sünden empfängt durch
Seinen Namen". Dieselbe frohe Botschaft brachte der
Apostel Paulus den Bewohnern von Antiochien: „So sei
es euch nun kund, Brüder, daß durch diesen euch Vergebung
der Sünden verkündigt wird; und von allem, wovon
ihr im Gesetz Moses nicht gerechtfertigt werden konntet,
wird in diesem jeder Glaubende gerechtfertigt".
(Apstgsch. 10, 43; 13, 38^ 39.) Ja, er nennt sich einen
Diener des Evangeliums, „das gepredigt worden in der
ganzen Schöpfung, die unter dem Himmel ist".
Gott läßt also der ganzen Schöpfung, allen
Menschen, die unter dem Himmel sind, Vergebung der
Sünden verkündigen durch den Tod und die Auferstehung
Jesu Christi, sodaß es sich jetzt einfach um die Frage handelt:
Glaubst du der Botschaft Gottes über Seinen Sohn?
Tust du das, so ist es ganz gewiß, daß du von allem ge­
rechtfertigt bist, was dich vor Gott verurteilen könnte.
Gott selbst ist es dann, der dich rechtfertigt, ja. Er er -
weist Seine Gerechtigkeit darin, daß Er den
rechtfertigt, der des Glaubens an Jesum ist. (Röm. 3,26.)
Doch du wirst einwenden: Das ist alles gut und
recht, aber wie kann ich wissen, daß Christus mein Stellvertreter
im Gericht gewesen ist? Wenn Er es nicht für
alle Menschen war, wie kann ich wissen, daß Er es war
20Z
für meine Sünden? Zunächst möchte ich darauf erwidern:
Wenn die Schrift lehrte, der Herr sei am Kreuze
der Stellvertreter aller Menschen gewesen, so würdest
du erst recht niemals deiner Errettung gewiß werden können.
— Wie? — Ja, niemals. Das mag widerspruchsvoll
klingen, ist es aber keineswegs. Nicht wahr? es ist
eine unbestrittene Tatsache, daß viele Menschen nicht errettet
werden. Wenn Christus also der Stellvertreter aller
Menschen gewesen wäre und trotzdem viele von
ihnen verloren gingen, so würde Sein Sterben dir keine
unbedingte Sicherheit für deine Errettung bieten, du könntest
ja trotzdem zu den Verlorenen gehören. Darum ist es
ganz gewiß besser, auf das zu lauschen, was die Schrift
sagt. Und sie sagt, daß „Christus einmal geopfert worden
ist, umvieler (beachte es wohl: nicht „aller") Sünden
zu tragen". (Hebr. 9, 28.) Der Herr sagt, daß Sein
Blut für viele vergossen werden würde zur Vergebung
der Sünden. (Matth. 26, 28; Mark^44, 24.) Schon im
Alten Testament wird gesagt, daß Er die Sünde vieler
(nicht „aller") getragen habe. (Jes. 53, 42.) Ferner heißt
es in Hebr. 40, 44, daß Er „mit einem Opfer auf immerdar
vollkommen gemacht hat d i e g e h e i li g t w e r -
den" (niemand anders).
So redet die Schrift von dem kostbaren Opfer Christi
für die Sünde, durch welches alle, die daglauben, eine
ewige Erlösung empfangen. Auf ihm dürfen sie ruhen in
voller Gewißheit des Glaubens, während die menschliche
Lehre, daß Christus als Stellvertreter oder als Opfer für
die Sünden aller Menschen gestorben sei, wie gesagt,
nur Ungewißheit und Verwirrung erzeugt. Auf diese Lehre
gründen sich letzten Endes auch alle die für so wichtig ge
204
haltenen religiösen Übungen und kirchlichen Gebräuche der
Menschen.
Vieles von diesem Wirrwarr in der Lehre ist wohl
auf die Nichtbeachtung des Unterschiedes zwischen Sühnung
und Stellvertretung zurückzuführen. Dieser
Unterschied ist schon im Alten Testament klar ans Licht
gestellt worden. Am großen Versöhnungstage (s. 3. Mose
46) herrschte folgende Ordnung: Zwei Böcke wurden vor
Jehova gestellt, von denen der eine für Jehova, der andere
für das Volk durchs Los bestimmt wurde. Der erste Bock
wurde geschlachtet und sein Blut auf den Gnadenstuhl im
Allerheiligsten gesprengt; auf den zweiten Bock, als stellvertretendes
Opfer, wurden alle Sünden und Übertretungen
des Volkes gelegt. Zuerst also finden wir Sühnung,
dann Stellvertretung — beides, ohne Zweifel, hindeutend
auf das eine Opfer Christi. Will Gott Gnade erweisen, so
ist es notwendig, daß Seine Gerechtigkeit zunächst durch
ein vollkommenes Sühnopfer befriedigt wird. Die Gnade
kann nur herrschen durch Gerechtigkeit. Nur so
kann Gott ein gerechter und rettender Gott sein.
(Jes. 45, 24.)
Nun, genau so wie im Vorbilde der Bock, auf den
das Los für Jehova gefallen war, geschlachtet und sein
Blut ins Allerheiligste gebracht und auf den Sühndeckel
vor Gottes Angesicht gesprengt wurde, so ist im Gegenbilde
Christus geopfert worden, um durch Seinen Sühnungstod
Gott im Blick auf die Sünde vollkommen zu
verherrlichen. Sein Blut ist jetzt im Heiligtum, vor Gott,
in seinem ewiggültigen Werte. Auf Grund dieses Blutes
kann Gott in Langmut und Geduld die Welt tragen und
ihr Gnade und Vergebung verkündigen lassen. Und der
205
Apostel kann an die Römer schreiben, daß „Gott Ihn
(Christum) dargestcllt hat zu einem Gnadenstuhl durch
den Glauben an Sein Blut, zur Erweisung Seiner Gerechtigkeit
wegen des Hingehenlassens der vorher geschehenen
Sünden unter der Nachsicht Gottes; zur Erweisung
Seiner Gerechtigkeit in der jetzigen Zeit, daß Er gerecht
sei und den rechtfertige, der des Glaubens an Jesum ist".
In dieser Hinsicht ist also Christus für alle gestorben.
„Also hat Gott die Welt geliebt, daß Er Seinen
eingeborenen Sohn gab." Das Sühnungswerk ist
vollbracht, das Lösegeld ist bezahlt, und nun kann sich
Gottes Gerechtigkeit offenbaren „durch Glauben an Jesum
Christum gegen alle und auf alle, die da glauben".
Sie wendet sich unterschiedslos gegen alle und
kommt auf alle, die da glauben. Der Wert des Sühnungstodes
unseres Herrn und Heilandes ist so groß,
Sein Blut so kostbar, daß der Gnadenstuhl zugänglich ist
für alle, ohne Ausnahme und Unterschied. „Also nun,
wie es durch eine Übertretung gegen alle Menschen
zur Verdammnis gereichte, so auch durch eine Gerechtigkeit
gegen alle Menschen zur Rechtfertigung des Lebens."
(Röm. 5, t8.) Da gibt eö keinen Unterschied, „denn derselbe
Herr von allen ist reich für alle, die Ihn anrufen".
(Röm. 1,0, 12.) Der Apostel Johannes schreibt:
„Er ist die Sühnung für unsere Sünden, nicht allein aber
für die unseren, sondern auch für die ganze Welt".
(1. Joh. 2, 2.) Beachten wir wiederum: nicht „für die
Sünden der ganzen Welt", sondern „für die ganze
Welt", d. h. niemand ist ausgeschlossen, alle, Juden und
Heiden, dürfen kommen und Gebrauch von dieser Sühnung
machen.
206
Wenn dem aber so ist, wenn auf Grund des Süh-
nungötodes Jesu Christi Gottes Gerechtigkeit sich jetzt
darin offenbart, daß die frohe Botschaft der Gnade jedem
Sünder auf der Erde gebracht wird — denn auch hierin
gibt es keinen Unterschied: „alle haben gesündigt und
erreichen die Herrlichkeit Gottes nicht", dann verkündigt
offenbar die Gerechtigkeit Gottes dem Schreiber des Briefes
die Vergebung aller seiner Sünden. Durch die Güte
Gottes zur Buße geleitet, seine Schuld und seinen sündigen
Zustand erkennend und bekennend, darf er mit Freimütigkeit
Gebrauch machen von der in dem Tode Christi
geoffenbarten Gnade. Da, wo Gott mit Wonne ruhet, ist
auch er in Ruh' gesetzt. Dasselbe Sühnopfer, das Gottes
Gerechtigkeit vollkommen verherrlicht und Seine gerechten
Forderungen im Blick auf die Sünde für ewig
befriedigt hat, hat stellvertretend für den glaubenden
Sünder gewirkt, befreit ihn von allem Gericht und
schenkt ihm Frieden, Heil und ewiges Leben. Derselbe
Christus, „der durch den ewigen Geist s i ch s e l b st o h n e
Flecken Gott geopfert hat", hat auch in dem gleichen
Opfer „durch sich selbst die Reinigung der
Sünden bewirkt und sich gesetzt zur Rechten der
Majestät in der Höhe". (Hebr. 9, 44; 4, Z.) Als der
Stellvertreter Seines Volkes hat Er „unsere Sünden an
Seinem Leibe auf dem Holze getragen", (t. Petr. 2, 24.)
Diese Seite des Werkes Christi wurde vorgebildet in
dem zweiten Bock, dem Bock Asasel (Abwendung), auf
welchen das Los für das Volk gefallen war. Nachdem
durch das Blut des ersten Bockes Sühnung geschehen
war, wurde dieser zweite Bock herzugebracht. Aaron mußte
seine beiden Hände auf den Kopf dieses Bockes legen und
207
auf ihn bekennen alle Ungerechtigkeiten der Kinder Israel
und alle ihre Übertretungen nach allen ihren Sünden.
Dann wurde der Bock in die Wüste geführt, damit
er so alle die auf ihn gelegten Sünden hinaustrage in ein
ödes Land, mit anderen Worten: damit ihrer nie mehr
gedacht werde. Nun ist das eine völlig klar: wenn Jesus
in der Weise dieses Vorbildes die Sünden aller Menschen
getragen hätte, wenn alle diese Sünden auf Ihn
gelegt und hinweggeschafft worden wären, so würde kein
Mensch je ein Gericht zu fürchten haben, keiner könnte
verloren gehen. Die Schrift sagt aber im Gegenteil: „Es
ist den Menschen gesetzt, einmal zu sterben, danach
aber das Gericht". So wie in dem Vorbilde die
Stellvertretung auf die Kinder Israel beschränkt blieb,
so ist auch die Stellvertretung des Herrn nur für solche
da, die glauben. S i e dürfen sagen: „Um unserer Übertretungen
willen war Er verwundet, umunserer Missetaten
willen zerschlagen, die Strafe zu unserem Frieden
lag auf Ihm". (Jes. 53, 5.)
So ist denn der Tod Christi da als eine Sühnung
für die ganze Welt, und auf Grund derselben kann allen
Menschen ohne Ausnahme die Gnade verkündigt werden.
Gott will nicht, daß irgend jemand verloren gehe. Er
„will vielmehr, daß alle Menschen errettet werden und
zur Erkenntnis der Wahrheit kommen", (7. Tim. 2, 4.)
Er war einmal in Christo, die Welt mit sich selbst versöhnend.
Seine Liebesabsicht war, der Welt das Leben
zu geben. Aber was hat die Welt getan? Sie hat diese
Liebe von sich gestoßen, den Sohn Gottes verworfen und
ans Kreuz geschlagen, und nun bleibt für dieWelt nichts
anderes übrig als Gericht. (Joh. 72, 37.) Jeder aber,
208
der an diesen gekreuzigten Heiland glaubt, kommt nicht
ins Gericht, sondern empfängt ewiges Leben durch den
Glauben an Seinen Namen.
„Also hat Gott die Welt geliebt, daß Er Seinen eingeborenen
Sohn gab, auf daß jeder, der an Ihn
glaubt, nicht verloren gehe, sondern ewiges Leben
habe." (Joh. Z, 46.)
Sie Reise nach Samaria
lNoh. 4l
Wir haben schon oft und mit tiefem Interesse die
Reise des verlorenen Sohnes betrachtet, die ihn aus dem
„fernen Lande" der Schande und des Elends zurückführte
in das Haus seines Vaters. (Luk. 45.) Es ist ein
ergreifendes Gemälde von der Rückkehr eines unter dem
lebendigmachenden Wirken und der Leitung des Heiligen
Geistes stehenden Sünders zu Gott, um in Ihm dann
einen vergebenden Vater zu finden.
Aber die Schrift erzählt uns noch von einer anderen
Reise, sehr verschieden von jener und doch wieder verwandt
mit ihr, sodaß man sie das Gegenstück der Reise
des verlorenen Sohnes nennen könnte. Ich meine die Reise
des Vaters aus fernem Lande, um dem Verlorenen zu
begegnen. Von ihr lesen wir im 4. Kapitel des Evangeliums
Johannes.
Es ist freilich nicht der Vater selbst, der diese Reise
macht, sondern der Sohn, der aber von dem Vater im
Himmel gekommen war, um Ihn in dieser Welt der
Sünde kundzumachen und darzustellen. Er kommt in das
unreine Samaria, ein Bild der unreinen Welt, in der wir
20Y
leben; denn Samaria glich einem Aussätzigen, der, fern
von der Wohnstätte der Heiligkeit, dem Orte der Anbetung,
außerhalb des Lagers seinen Platz hatte. Und gerade
zu diesem verworfenen Lande, dem Geburtslande der verlorenen
Söhne und Töchter, lenkt Jesus Seine Schritte
und findet dort eine Sünderin, die gleich dem verlorenen
Sohne auf dem Acker eines Fremden die Schweine hütete,
sich von den Träbern der Schweine nährte und doch
keine Befriedigung fand.
Die Reise kostete Jesum viel. Müde, hungrig und
durstig, so erreicht Er nach langer Wanderung den Brunnen
Jakobs, wo Er der verlorenen Tochter begegnen sollte.
Der Rand des Brunnens bot dem müden Reisenden, dem
Schöpfer des Himmels und der Erde, ein Plätzchen zum
Ausruhen. Und hier, angesichts der Not des Weibes, vergaß
Er völlig Seine eigenen Bedürfnisse, nur daraus bedacht,
ihr zu dienen in der Geduld einer Liebe, die alles
erträgt, alles hofft, und zugleich mit einer Geschicklichkeit
und Erfindungsgabe, die nur dieser Liebe eigen sind.
Zunächst sucht der Herr das Vertrauen des einsamen
Weibes zu gewinnen. Er bittet sie um einen Trunk kalten
Wassers, die kleinste aller Gunstbezeugungen, die man
unter den Menschenkindern kennt. Er will, daß sie sich
in Seiner Gegenwart wohl fühle, und Sein Vorhaben gelingt
Ihm. Aber was das Weib mehr interessiert als der
Durst eines fremden Wanderers, das, was sie unwillkürlich
mächtig anzieht, ist das Neue der ganzen Sache.
War es nicht ein Iud e, der sie, die Samariterin,
um einen Trunk Wasser bat? So etwas hatte sie noch
nie erlebt! In den Augen eines gesetzestreuen Juden waren
doch alle Bewohner Samarias unreine Geschöpfe!
210
Sie gibt deshalb auch ihrer Verwunderung unverhohlen
Ausdruck, und der Herr folgt ihr willig auf den
Boden, auf den sie Ihn führt, aber ohne dabei aus den
Augen zu verlieren, daß Er eine verlorene Seele vor sich
hat. Solche zu suchen und zu erretten, war Er ja gekommen,
und nur unter diesem Charakter konnte Er sich weiter
nut ihr beschäftigen und sie segnen.
Die verlorene Tochter, der wir hier im fernen Lande
begegnen, hatte bis dahin in völliger Unkenntnis über sich
selbst dahingelebt. Darum sucht der Herr ihr die Augen
über ihren Zustand zu öffnen. Und mit welch einer Gnade
geht Er zu Werke! Er möchte gern alles tun, um ihre Gefühle
zu schonen, aber ihre Sünde kann Er nicht schonen.
Fürwahr, wir mögen wohl sagen: Wenn die Reise
des verlorenen Sohnes in Luk. r5 zur Heimat zurück
schön war, da sie in geziemender Übereinstimmung stand
mit seinem Zustand als überführter Sünder, schön, überaus
schön ist auch diese Reise des Vaters zu der verlorenen
Tochter in der bedachtsamen Gnade und geduldigen
Liebe, die sie von Anfang bis zu Ende kennzeichnen.
Kostbar ist es, in der einen dieser Reisen die Frucht des
verborgenen, aber erfolgreichen Wirkens des Heiligen Geistes
in der Seele eines Sünders zu sehen, indem Er diesen
auf dem einzigen Wege zu Gott zurückführt, auf welchem
Gott ihn annehmen kann; und kostbar ist es, in der
anderen dieser Reisen die Gnade zu erblicken, die gleichsam
aus sich selbst heraus, in voller Unumschränktheit handelt,
um zu suchen und zu erretten was verloren ist, und
die das tut in der Ausübung einer Liebe, die geduldig, gütig
und zart ist, soweit die Treue das erlaubt.
Beachten wir auch, denn es ist beglückend und er
— 211 —
baulich zugleich, daß diese beiden Reisen, die des suchenden
Heilandes und die des heimkehrenden Sünders, an
demselben Ziele enden, obwohl sie von zwei völlig entgegengesetzten
Ausgangspunkten aus unternommen wurden,
die eine indas, die andere ausdem fernen Land.
Beide enden in der Freude des Vaterhauses,
allerdings mit dieser bemerkenswerten Erhabenheit
von Joh. 4 über Luk. 45, daß uns in dem letztgenannten
Kapitel die Freude des Haushalts gezeigt wird, während
uns in Joh. 4 die Freude des Vaters entgegentritt
— die Freude Jesu, des Zeugen des Vaters in dieser
Welt der Sünder, wie Er selbst uns sagt: „Ich habe eine
Speise zu essen, die ihr nicht kennet". (V. 32.) Das sind
Worte, welche die Freude des Herzens Gottes beschreiben
über einen Menschen, der tot war und nun lebt, der verloren
war und gefunden ist — eine Freude, die nach den
Worten des Herrn selbst weit über das Fassungsvermögen
der Jünger hienieden oder der Engel droben hinausging.
Doch es gil^ noch einen Zug, der, mehr als alle anderen,
die Reise des Vaters in Joh. 4 von der des verlorenen
Sohnes in Luk. 45 erheblich unterscheidet, und
das ist dieser: der Vater mußte das Weib am Jakobsbrunnen
erst zu Seiner Aufnahme vorbereiten, während
der verlorene Sohn den Vater dazu völlig vorbereitet fand.
Als der verlorene Sohn heimkehrte, hatten Herz und Haus
des Vaters ein Willkommen für ihn, das alle seine Erwartungen
weit übertraf. Seine besten Gedanken blieben
weit hinter der Liebe zurück, die ihm begegnete. Seiner
Rückkehr wegen wurde das Haus bereit gemacht, um einer
vorher dort nie gekannten Freude Ausdruck zu geben.
Wie ganz anders ist es dagegen in Joh. 4! Der Herr
2:2
Jesus mußte, wie wir gesehen haben, die arme, verlorene
Samariterin erst zubereiten, um Ihn anzunehmen. Er
brachte den Segen mit sich in das ferne Land, aber hier
fand Er, daß Herz und Gewissen Seiner Auserwählten
zum Empfang desselben bereit gemacht und zu der Überzeugung
geführt werden mußten, daß sie ohne Ihn nicht
mehr auskommen konnte. Und nun sitzt Er in der unermüdlichen
Geduld der Gnade am Brunnenrande, um aus
dem rohen, widerspenstigen Stoff vor Ihm ein Gefäß zu
formen, das zur Aufnahme des Schatzes, den Er brachte,
willig und geeignet war.
Ja, die Reise, die der Sünder unter der lcbendig-
machenden Leitung des Geistes unternimmt, ist schön, aber
die Reise, die der Heiland macht in den Reichtümern Seiner
Gnade und dem bereitwilligen Dienst Seiner Liebe,
ist schöner, weit schöner — oder, wenn wir die Reisen
nicht miteinander in Vergleich stellen wollen, so mögen sie
beide vor unseren Augen und Herzen stehen, anziehender
und herrlicher, als die glänzenden Gestirne des Himmels
sie ausführen in ihren genau bestimmten und doch so geheimnisvollen
Bahnen.
Doch in beiden gibt sich Gnade, wunderbare Gnade
kund. Ja, alles ist Gnade: das Haus des Vaters,
das bereit steht, den heimkehrenden verlorenen Sohn willkommen
zu heißen, wie der Dienst des Vaters, der
durch den Sohn und den Heiligen Geist ausgeübt wird,
um das arme Weib aus Samaria für das Vaterhaus zuzubereiten.
Wir sind Schuldner der Gnade, die uns die
Augen über unseren sündigen Zustand geöffnet und den
Entschluß in uns geweckt hat, zu Gott zurückzukehren, und
es ist Gnade, nichts als Gnade, wenn das Haus des Va-
— 24Z —
terö bereit ist, uns willkommen zu heißen, nachdem Gott
durch Seinen Sohn, Sein Wort und Seinen Geist unseren
Sinn geändert und uns zur Umkehr geführt hat. Vielleicht
mögen wir meinen, daß die Gnade, die in dem fernen
Lande in uns wirkte, um uns zu uns selbst zu bringen und
das Bedürfnis nach einem Heilande in uns zu wecken, die
Gnade des verborgenen Wirkens des Heiligen Geistes in
unseren Herzen und Gewissen, tiefer, wunderbarer sei, als
die Gnade, die uns die Tür zur Herrlichkeit öffnet; aber
so wie wir Gottes Gnade in dem fernen Lande kennen gelernt
haben, so werden wir sie auch kennen lernen, wenn
Er uns in Seinem Hause empfängt, in welches diese Gnade
uns führt.
Es gibt indes noch etwas in Joh. 4, das Luk. 45
übertrifft oder ihm noch etwas hinzufügt. Ich habe schon
darauf hingewiesen, daß wir in Luk. 45 Zeugen der Freude
des Haushalts sind, nachdem der verlorene Sohn
wirklich zurückgekehrt ist und alle im Hause versammelt
sind, um zu essen und fröhlich zu sein, während wir in
Joh. 4 von der volleren, tieferen Freude des Vaters
hören, während Er noch allein ist und das wiedergefundene
Kind noch nicht dem Haushalt vorgestellt hat.
Ja, mehr noch: die Freude des Weibes in Joh. 4
trägt einen tieferen Charakter als die des verlorenen Sohnes
in Luk. 45. Im letzten Falle ist eö die s ch w ei g e n d e
Befriedigung des Herzens in dankbarer, einfältiger, gläubiger
Annahme des Segens: der verlorene Sohn sitzt am
Tische des Vaters, während der Haushalt seiner Freude
an dem Geschehenen Ausdruck gibt. Im ersten Fall ist es
die tätige Freude einer Seele, die im Gefühl ihrer Befreiung
sucht, etwas von der empfangenen Gnade an
244
deren mitzuteilen und sie mit sich darin glücklich zu sehen.
Diese Art der Freude übertrifft jene, oder, wenn wir wieder
nicht vergleichen wollen, mögen dann die stille Befriedigung
des verlorenen Sohnes und^die tätige Freude
der Samariterin uns zeigen, wie tief, voll und reich die
Segnung ist, die Gott uns bereitet.
Alles was der verlorene Sohn mitbrachte, als er sich
zu seiner langen Reise anschickte, waren seine Sünden, sein
Bekenntnis derselben und das Elend, in welches sie ihn
gebracht hatten. So war auch in der Samariterin, als
Jesus vor ihr saß, nichts anderes zu sehen als eine überführte
Sünderin. Aber das war auch in beiden Fällen
genug. Der Vater hing an dem Halse seines bußfertigen
Sohnes, obwohl dieser noch in seinen Lumpen, als ein
Bild des Jammers, vor ihm stand; und Jesus offenbarte
dem Weibe Seine Herrlichkeit, nachdem Er gerade den
Finger auf die offene Wunde in ihrem Leben gelegt hatte.
Wie schön verbinden sich doch diese beiden kostbaren
Schriftabschnitte miteinander, ja, wie wird die eine durch
die andere vervollständigt, vollendet! Die beiden Reisen
mit ihren verschiedenen Ausgangspunkten und Ergebnissen
führen uns ein in die Herrlichkeiten und Wege Gottes in
dem Evangelium von Seiner Gnade und unserem Heil.
„Es ist für uns nicht schwer", hat vor Jahren jemand gesagt,
„uns in diese Herrlichkeiten einführen zu lassen, aber
Jesum hat es alles gekostet." Wunderbare, überwältigende
Tatsache! Der Reiche ist um unsertwillen arm
geworden, damit wir reich würden; das ewige Leben hat
sich in den Bereich des Todes begeben, damit tote Sünder
ewiglich leben möchten.
215
„Gehe hinaus,
den Spuren der Herde nach"!
M'ngesandt)
Ich war bekehrt. Jesus war mein Heiland geworden.
In Seinem kostbaren Blut hatte ich Vergebung meiner
Sünden und Ruhe für mein Gewissen gefunden. Den
Tod, den Sold der Sünde, brauchte ich nicht mehr zu
fürchten. Jesus hatte ja die Strafe für mich getragen, hatte
meine ganze Schuld bezahlt. Ich war sichergestellt vor
dem schrecklichen Gericht, das der Sünde folgen muß.
Von den eitlen und nichtigen Dingen der Welt war mein
Herz jetzt weit abgewandt. Sie hatten mir nie Befriedigung
gewährt, und nachdem ich nun zu Jesu bekehrt worden
war, wünschte ich meinem Heiland zu leben und meine
ganze Kraft und Zeit in Seinen Dienst zu stellen.
Wieviele Gelegenheiten boten sich mir auch, emsig
für Ihn tätig zu sein und Ihm meine Dankbarkeit zu beweisen!
Ich gründete eine Sonntagschule, der ich mich
mit Hingabe widmete. Ich gehörte zwei Gesangchören an
und versäumte keine Stunde im Jünglingsverein. Damit
war jede Minute meiner freien Zeit bis spät in die
Nacht hinein ausgefüllt. An Ruhe und Sammlung der
Seele vor dem Herrn dachte ich nicht. Woher hätte ich
auch die Zeit dazu nehmen sollen?
Doch ach! ich mußte erfahren, daß ich mich auf einem
Wege befand, der mich unglücklich machte. Mein Herz
fand bei allem Beschäftigtsein für den Herrn keine innere
Befriedigung. Das unaussprechliche Glück eines Schäf-
leins Christi, von dem wir in der Sonntagschule so oft
2rs
sangen, genoß ich nicht. Was mochten doch jene Worte
bedeuten: „Meine Schafe hören meine Stimme"?Sie
drückten ein persönliches, inniges Herzensverhältnis des
Schäfleins zu seinem guten Hirten aus, das mir bis dahin
fremd geblieben war.
Ich fühlte eine quälende Leere in meinem Innern
und suchte andere Kreise von Gläubigen auf. Vielleicht
konnte ich ihnen das Geheimnis ablauschen, glücklich zu
sein. Aber so viele Versammlungen ich auch besuchte, und
so manche verschiedene Benennungen von Gläubigen ich
keimen lernte, ich fand nicht das, wonach mein Herz sich
sehnte; mein innerer Zustand blieb derselbe. Schließlich
konnte ich mich auch meiner Errettung nicht mehr so von
Herzen freuen und sagte mir immer wieder: Es muß etwas
„Besseres" geben!
Endlich offenbarte ich mich den Brüdern, mit denen,
ich in Verbindung stand. Sie wollten nichts davon wisse»!,
daß es etwas geben müsse, das sie nicht kennten
oder doch nicht verwirklichten.
„Seid ihr denn glücklich?" fragte ich sie.
„Ja", war die Antwort.
„Dann bin ich nicht bekehrt!" rief ich.
So viel stand fest: waren sie glücklich, restlos glücklich
in dem, was sie besaßen, dann fehlte eö mir an der
richtigen Grundlage. Ich konnte dann nicht bekehrt sein
und hatte mich jahrelang einer Täuschung hingegeben. Sie
versicherten mir indes, daß das nicht der Fall sei, ich sei
wirklich bekehrt, und suchten mich, so gut sie konnten,
zu trösten, indem sie mir vorstellten, auf der Erde sei
keine Ruhe zu finden, wir müßten vielmehr kämpfen, bis
»vir im Vaterhaus droben landeten. Ich mußte ihnen recht
217
geben. Aber was bedeuteten dann die Worte: „Meine
Schafe hören meine Stimme"? —
Noch unglücklicher als ich gekommen war, zog ich
mich auch aus dem Kreise dieser Geschwister zurück mit
dem Entschluß, keine christliche Versammlung mehr zu
besuchen, sondern mit meiner Frau (ich heiratete um diese
Zeit) die Sonntage in stiller Zurückgezogenheit zu Hause zu
verbringen.
Nun traf eö sich, daß wir in dem Städtchen, das
unsere Heimat werden sollte, seltsamerweise keine Wohnung
finden konnten außer in einem Hause, in dem sich
wiederum ein Kreis von Gläubigen versammelte. Meine
Frau, die ähnliche Erfahrungen wie ich gemacht hatte, war
mit mir eines Sinnes, daß wir keine Versammlung mehr
besuchen wollten, am allerletzten aber die, die in unserem
Hause abgehalten wurde, denn wir wußten, daß man diesen
Gläubigen allgemein mit Mißtrauen begegnete. Wie verhaßt
war allein schon der Name des Herausgebers der
Schriften, die von diesen Leuten gelesen und verbreitet wurden!
Hatte ich selbst doch schon oft aus Furcht, beeinflußt
zu werden, die Bücher und Schriften dieser Gemeinschaft
ungelesen beiseite gelegt!
Und doch war es Gott, der uns hierhergeführt hatte.
Monatelang blieben wir unserem Vorsatz, die Sonntage
nur noch still für uns daheim zu verleben, treu, obgleich
unsere Seele Mangel litt und dies uns noch besonders
fühlbar wurde, wenn der freudige Gesang der
Versammelten von unten herauf in unser Ohr drang.
Endlich konnte meine Frau nicht mehr widerstehen.
„Ich halte es nicht länger aus", sagte sie eines Sonntags
bitterlich weinend, „ich muß einmal hinuntergehen und
218
sehen, was die da unten machen. Wenn ich die Lieder
höre, kann ich nicht umhin zu glauben, daß es recht glückliche
Menschen sein müssen, die sich hier versammeln."
So ging sie. Ich folgte an einem der nächsten Sonntage
nach kurzer Überredung und setzte mich ganz hinten
in die letzte Bank. Während der Abendmahlsfeier mußte
ich mir sagen, daß sie so ziemlich der bei anderen Gläubigen
üblichen Feier gleiche. Etwas wirklich Neues fiel
mir nicht auf, bis zum Schluß die Sammelbüchsen herumgereicht
wurden. Auch ich griff in meine Geldbörse,
um etwas einzulegen. Aber die Büchse wurde mir nicht
gereicht. Ein Bruder nahm sie vor meinen Augen weg
und schnitt mir so die Gelegenheit ab, meinen Beitrag
zu entrichten. Das ärgerte mich. Mein Stolz war empfindlich
verletzt, und ich sagte mir: An diesen Platz gehst
du nie wieder!
Mit einem unglücklichen Herzen dachte ich zu Hause
über den Verlauf des Sonntagmorgenö nach. Das Erlebte
beschäftigte immer wieder meine Gedanken. Und plötzlich
sagte ich mir: Die Leute haben eigentlich recht; sie wollen
nicht dein Geld, sie wollen dein Herz. Damit erhielt
die Sache mit einemmal ein ganz anderes Aussehen. Der
Gedanke besänftigte mich so völlig, daß ich beschloß, auch
am Nachmittag hinzngehen. In der Nachmittagsversammlung
wurde ein Lied gesungen, das mir sehr zum Herzen
sprach:
Wo nichts ich seh' als eine Wüste,
Ein ödes Land, wo Dürre wohnt;
Ein Meer von Sand, wo keine Küste,
Nicht Frucht noch Quell den Pilger lohnt,
Will Gott aus frischem Quell mich laben
Mit Lebenswasser, hell und klar;
Aus Fluten, die kein Ende haben,
Reicht Er mir stets Erquickung dar usw.
219
Als wir beim Singen des letzten Verses an die Stelle
kamen: „Dort in den Höfen voller Segen, wo aus der
Fremd' ich kehre ein, kommt mir kein fremder Gott
entgegen, denn Er ist Gott und Vater mein", da horchte
ich auf. Das war ein Wort für mich. Nein, ich hatte eö
nicht mit einem fremden Gott zu tun. Unwillkürlich
fühlte ich: Jetzt mußte kommen, wonach mich so sehr verlangt,
hier würde ich finden, was ich so schmerzlich entbehrt
hatte. Ich konnte mich des Eindrucks nicht erwehren,
daß hier eine andere Luft wehe, als ich sie bisher eingeatmet
hatte. Ein Geist des Friedens und der Freude
verband die Herzen miteinander, und mit Spannung
schaute ich dem Vortrag entgegen, der nun folgen sollte.
Ein Bruder sprach über 5. Mose 8, besonders über die
Stelle: „Und Er demütigte dich und ließ, dich hungern;
und Er speiste dich mit dem Man, das du nicht kanntest ...
um dir kundzutun, daß der Mensch nicht von Brot allein
lebt, sondern daß der Mensch von allem lebt, was aus
dem Munde Jehovas hervorgeht."
Der da sprach war kein geschulter Redner, aber wie
deutlich sprachen seine Worte zu mir! Ja, um Weide
zu finden, um mich „zu speisen mit dem Man, das ich
nicht kannte", hatte der Herr mich eine Zeitlang hungern
und darben lassen. Jetzt konnte ich Brot essen, das meine
Seele nährte. Ich fühlte, hier war der gute Hirte selbst
in der Mitte Seiner Herde, um sie auf grüne Auen zu
lagern und an frische Wasser zu führen; und Seine Schafe
hörten Seine Stimme. Seine Gegenwart wurde gefühlt
und stimmte die Herzen zu Dank und Anbetung.
Jetzt war mir die Bedeutung der Worte: „M eine Schafe
hören meine Stimme", völlig klar.
220
O gesegneter Platz der Absonderung, wo man, losgelöst
von den Einrichtungen der Menschen, sich geführt
sieht zu Ihm allein, der als das verherrlichte Haupt Seines
Leibes Seine Glieder hienieden nährt und pflegt und
da in der Mitte weilt, wo die zwei und drei zu Seinem
Namen hin versammelt sind!
Sein VL>ort ist Wahrheit
Sollte Gottes Wort wohl trügen,
Unsres Glaubens Schild und Wehr?
Sollte Er dem Menschen lügen?
Nein, das tut Cr nimmermehr!
Sich, das hat Gott nie getan,
Dich klagt Cr als Lügner an.
Menschcnrat gleicht morschen Stützen,
Darum, Freunde, traut ihm nicht!
Was könnt' auch zum Heile nützen
Jrd'scher Weisheit Dämmerlicht?
Hätt' ich andres nicht dafür,
Arm und elend ständ' ich hier.
Fels, an dem ich nie gescheitert,
Gott, sei tausendmal gelobt!
Dein Wort, siebenfach geläutert,
Hat sich stets an mir erprobt.
Deshalb soll eS auch allein
Meines Herzens Wonne sein.
Sollte Gott dem Menschen lügen?
Nein, das tut Cr nimmermehr!
Laß auch dir Sein Wort genügen,
Komme glaubend zu Ihm her!
Nimm das Heil, das dir gebricht,
Gott hält waS Sein Wort verspricht.
H. K.
221
„Ich rufe .... Er antwortet"
„Mit meiner Stimme rufe ich zu Jehova, und Er
antwortet mir von Seinem heiligen Berge." So lesen
wir in dem 3. Psalm, den David dichtete, als er vor seinem
Sohne Absalom floh. (S. die Überschrift des Psalms.)
Die Hand des Herrn lag auf ihm, und viele waren
seiner Bedränger, viele erhoben sich wider ihn. (V. 1.)
Dennoch war sein erster Gedanke „Jehova", der Herr.
So wird es stets sein, wenn der Glaube lebendig ist.
Er versetzt das Herz dahin, wo seine Heimat ist, in die
Gegenwart Gottes; und was sind alle Feinde und Bedränger,
wenn das Auge ste von dort aus sieht? Der Gläubige
vertraut dann auf Gott und ruht in Seiner Liebe.
Die Bedränger sind dd, aber Gott steht zwischen ihnen
und der Seele, und alles ist in Ordnung. Sobald wir
Gott in den Umständen erblicken, wird das Herz still.
Ja, es wird nicht nur still, sondern kann frohlockend ausrufen:
„Du aber bist ein Schild um mich her, meine
Herrlichkeit und der mein Haupt empor-
h e b t". (V. 3.)
Das will aber nicht sagen, daß inan dann im Blick
auf gut und böse gleichgültig und nachlässig wird, oder
daß das Herz sich einer trägen.Ruhe und Sorglosigkeit
überläßt. Im Gegenteil, die Seele ist, im Gefühl ihrer
Ohnmacht und Abhängigkeit, tätig vor Gott, die Verbindung
mit Ihm wird verwirklicht: man ruft zu Gott, und
Er antwortet. Da gibt es keinerlei Ungewißheit, wie Johannes
schreibt: „Dies ist die Zuversicht, die wir zu
Ihm haben, daß, wenn wir etwas nach Seinem Willen
222
bitte«. Er unö h ö r t. Und wenn wir wissen, daß Er uns
hört..., so wissen wir, daß wir die Bitten haben,
die wir von Ihm erbeten haben." (4. Joh. 5, 44. 45.)
Indem das Herz aufrichtig ist vor Gott, begehrt es nichts,
was nicht nach Seinem Willen wäre.
Doch laßt mich fragen: Ist es nicht etwas unbeschreiblich
Großes, inmitten aller Schwierigkeiten und Drangsale,
angesichts zahlreicher Feinde und Bedränger sicher
sein zu dürfen, daß Gott hört, daß Sein Arm für unö
ist in allem, was Seinem Willen entspricht? Dieses Bewußtsein
gibt dem Herzen Frieden und Ruhe: „Ich legte
mich nieder und schlief; ich erwachte, denn Jehova stützt
mich". (V. 5.) Wie einfach und doch wie eindrucksvoll!
Welch eine Kraft liegt in den wenigen Worten! Wohl
mögen wir uns fragen: Ist es so mit uns? Findet jede
Trübsal unser Herz so in Gott, unserem Vater, ruhend,
daß sie, sollten die Wellen auch höher und höher steigen,
uns nicht aus der Fassung zu bringen vermag? Ist unsere
Ruhe süß, unser Niederlegen, Schlafen und Aufstehen
wirklich so, als wenn alles Friede um uns her wäre, weil
wir wissen: Gott ist da und lenkt alles wohl? Steht Er
s o zwischen uns und unseren Schwierigkeiten und Bedrängern?
Ach, wenn es allezeit so mit uns wäre! Denn wenn
es so ist, was kann uns dann treffen? Ob der Feinde
auch Tausende und Jehntausende sind, was macht es aus,
wenn Gott auf dem Plane ist und für uns streitet? Wenn
Gott für uns ist, wer wider uns? Wird Er, der Seinen
eingeborenen Sohn für uns dahingegeben hat, uns mit
Ihm nicht alles schenken? Des Assyrers gewaltige
Macht ist gebrochen, noch ehe er aufstehen kann, unö zu
223
schrecken oder die Drohungen auszuführen, die schließlich
doch nur ein Beweis seiner Schwachheit sind. Die Jungfrau,
die Tochter Zion, spottet seiner, die Tochter Jerusalem
schüttelt das Haupt ihm nach. (Vergl. 2. Kön. *l9.)
Leider sind wir oft so töricht, die Schwierigkeiten und
Proben, durch die wir zu gehen haben, an unserer
Kraft zu messen, anstatt an Gottes Kraft, der doch für
uns ist, wenn wir anders Sein sind. Was hatte es zu
sagen, daß die Städte Kanaans mit himmelanstrebenden
Mauern umgeben waren, wenn diese beim Schall der Posaunen
einstürzten? Oder hätte wohl Petrus auf einem
ruhigen Gewässer besser wandeln können als auf dem
sturmgepeitschten See? Unsere Kraft und Weisheit ist, zu
wissen, daß wir ohne Jesum nichts zu tun vermögen —
mit Ihm aber alles, was nach Seinem Willen ist. Das
Geheimnis des Friedens unserer Herzen ist, mit Ihm beschäftigt
zu sein, und zwar um Seinetwillen. Dann
werden wir in Ihm und durch Ihn Frieden haben und,
wenn Schwierigkeiten kommen, mehr als Überwinder sein.
Nicht als ob wir den Proben gegenüber die Empfindung
verlören. Nein, aber sobald sie kommen, empfinden wir
Ihn und Seine zarte Sorge um uns.
Wir haben in dem vorliegenden Psalm eines der
wunderbarsten Zeugnisse Davids, tief tröstlich und herzerforschend
zugleich. Daß der Inhalt des Psalms des
Dichters eigene Erfahrung zum Ausdruck bringt, kann
kaum bezweifelt werden. Die bitterste und empfindlichste
Art der feindlichen Angriffe kommt in den Worten zum
Ausdruck: „Es ist keine Rettung für ihn bei Gott!" Auf
diese Stelle spielt wohl ein großer Reformator an, wenn
er sagt: „Sie reden nicht nur, als ob ich verworfen und
224
von allen Geschöpfen niedergetreten wäre, sondern auch
als ob Gott mir nicht länger helfen würde, daß Er, der
doch alle Dinge trägt und erhält, allen hilft, sich um alle
kümmert, mir allein von allen Seinen Geschöpfen keine
Sorgfalt zuwende, mir keine Unterstützung mehr gewähre.
Und doch, wenn alle erdenklichen Angriffe, ja, wenn die
Angriffe der ganzen Welt im Bunde mit der Hölle über
einem Haupte zusammenschlügen, eö wäre nichts im
Vergleich mit dem Furchtbaren, wenn Gott zu einem
Bedränger des Menschen wird. Die Bewahrung vor diesem
Schicksal ist es, um die Jeremia zitternd fleht, wenn
er betet: „Sei mir nicht zum Schrecken, du meine
Zuflucht am Tage des Unglücks"." (Jer. 47, 47.)
Der Schmähung: „Keine Rettung ist für ihn bei
Gott", wird in unserem Psalm durch den Glauben kühn
und ruhig mit den Worten begegnet: „Von Jehova ist die
Rettung". Das gleiche finden wir bei dem Propheten
Jona, als er im Bauche des großen Fisches war. (Jona
2, 40.) Ja, das ist der Trost, die sichere Zuversicht einer
Seele, die das Eintreten Gottes für sie in Macht und
Liebe aus Erfahrung kennt und darauf rechnet. „Du hast
alle meine Feinde auf den Backen geschlagen", kommt eö
triumphierend über ihre Lippen, „die Zähne der Gesetzlosen
hast du zerschmettert." (V. 7.)
Möchte denn jedes geprüfte und bekümmerte Herz in
dieser Zeit der Not und mancher feindlichen Angriffe den
süßen Trost kennen und genießen, der in den Worten
liegt: „Ich rufe... und Er antworte t", „ich legte
mich nieder und schlief; ich erwachte, denn Jehova
stützt mich. Nicht fürchte ich mich vor Zehntausenden
des Volkes."
Sie Auserwählung
ii.
Wir haben gesehen, daß am großen Versöhnungs-
tage der eine Bock den Tod Christi vorbildete, wie er die
Befriedigung der Gerechtigkeit Gottes und Seine Verherrlichung
im Blick auf die Sünde zuwege gebracht und
so eine Grundlage für die Gnadenbotschaft an die ganze
Welt geschaffen hat, während der andere Bock uns Jesum
als den Stellvertreter für die Sünden Seines Volkes
vor Augen stellte. Die Verherrlichung Gottes muß
den ersten Platz haben, da sie der Sünde und dem Bedürfnis
des Sünders völlig und für immer begegnet.
Wir haben ferner gesehen, daß die neutestamentlichen
Schriften von beidem reden: von Jesu als der Sühnung
für die ganze Welt, und von Ihm als dem Träger
der Sünden vieler. Wie die Gerechtigkeit Gottes sich
in dem Versöhnungswerke geoffenbart hat und sich darin
erweist, wird uns in Röm. 3, 21—26 vorgestellt, die
Stellvertretung Jesu für die Sünden Seines Volkes in
Röm. 4, 24. 25.
In Röm. 5, 1—3 finden wir dann die Wirkung,
die durch die Erkenntnis dieser Dinge und den Glauben
daran hervorgebracht wird. „Da wir nun gerechtfertigt
worden sind aus Glauben, so haben wir Frieden mit
Gott durch unseren Herrn Jesus Christus...
und rühmen uns in der Hoffnung der Herrlichkeit Got
22b
tes." Wer also h a t Frieden mit Gott, wer kann sich Seiner
Herrlichkeit rühmen? Alle, die an den Herrn
Jesus Christus als ihren Heiland und Stellvertreter glauben.
Ihnen wird ihr Glaube zur Gerechtigkeit gerechnet.
Denn das Wort, daß dem Abraham sein Glaube zur Gerechtigkeit
gerechnet worden ist, steht nicht nur Abrahams
wegen geschrieben, „sondern auch unsertwegen, denen es
zugerechnet werden soll, die wir an Den glauben,
der Jesum, unseren Herrn, aus den Toten auferweckt
hat, welcher unserer Übertretungen wegen dahingegebcn
und unserer Rechtfertigung wegen auferweckt worden ist".
Wie einfach ist das alles! Wie klar beantwortet es
die Frage: Wie kann ich wissen, daß Jesus für meine
Sünden gestorben ist? — Ja, wie kannst du es wissen?
Indem du an Gott glaubst, der Jesum, deinen Herrn,
aus den Toten auferweckt hat; indem du Sein Zeugnis
annimmst. So wird dir dein Glaube zur Gerechtigkeit
gerechnet. Es ist Gott selbst, der sich so deiner Seele durch
den Glauben offenbart, der Gott, der Jesum deiner
Übertretungen wegen dahingegeben und deiner Rechtfertigung
wegen auferweckt hat. Wenn Jesus heute noch
auf dem Kreuze wäre oder noch im Grabe läge, gäbe eö
freilich keine Gewißheit der Vergebung, keine Rechtfertigung.
Satan weiß das auch sehr gut. Daher die vielen
Bilder und Darstellungen von Jesu auf dem Kreuze.
Ohne den Tod Jesu auf dem Kreuze wäre sicherlich
eine Erlösung undenkbar. Aber wenn Er nur gestorben
und nicht auch aus den Toten auferstanden wäre, so wäre
unser Glaube eitel, wir wären noch in unseren Sünden,
(st. Kor. 15, 1.7.) Darum steht so klar und deutlich geschrieben,
daß Er unserer Rechtfertigung wegen
227
auferweckt worden ist. Wir bedürfen eines aufer st a n -
denen Heilandes, und diesen hat Gott uns gegeben.
Triumphierend ruft Paulus den Korinthern zu:
„Nun aber ist Christus aus den Toten auferweckt, der
Erstling der Entschlafenen". (7. Kor. 75, 20.) Ja, der
Heilige uird Gerechte, der mit unseren Sünden beladen,
für uns zur Sünde gemacht, am Kreuze hing, ist ans
den Toten auferweckt worden durch die Herrlichkeit des
Vaters, und nun wird allen Menschen Vergebung der
Sünden verkündigt durch diesen auferstandenen und verherrlichten
Menschen zur Rechten Gottes. (Apstgsch.
73, 37—Zd.) Gott selbst, der Jesum auferweckt hat, ist
es, der jetzt jeden Glaubenden rechtfertigt. Nachdem unser
hochgelobter Herr einmal für Sünden am Kreuz gelitten
hat, braucht Er nie wieder dafür zu leiden und zu
sterben. Gott selbst versichert dem Glaubenden, daß sie
für immer hinweggetan sind, daß ihretwegen ewiglich keine
Ansprüche mehr an ihn gestellt werden können. Jesus,
sein Stellvertreter, hat alle seine Sünden an Seinen: eigenen
Leibe auf dem Fluchholze getragen, und nun gibt es
für ihn „keine Verdammnis mehr". Er ist „ein Mensch
in Christo", dem Auferstandenen. (Röm. 8, 7.)
Wie der zweite Bock am Versöhnungstage die auf ihn
bekannten und übertragenen Sünden in die Wüste trug,
damit sie nie wieder ins Gedächtnis gebracht würden, so
hat Jesus alle unsere Sünden vor Gottes Augen hinweggetan,
und zum Zeugnis dessen hat Gott Ihn auferweckt
und zu Seiner Rechten gesetzt. Die Sünden des Gläubigen
können ihm niemals wieder zugerechnet werden.
„Wer wird wider Gottes Auserwählte Anklage erheben?"
(Vergl. Röm. 8, 33. 34.)
228
Aber, möchte gefragt werden, schließt diese Darstel-
lungsweise nicht die Auserwählung völlig aus? Es
scheint vielleicht so, in Wirklichkeit ist es aber keineswegs
so. Was uns not tut ist nur, uns einfältig unter
Gottes Wort zu beugen, anstatt auf menschliche Meinungen
und Vernunftschlüsse zu hören. Wenn wir das tun,
so werden wir finden, daß die beiden Begriffe: des Menschen
Verantwortlichkeit und Gottes Unumschränktheit, sich
nicht etwa gegenseitig ausschließen, sondern nebeneinander
hergehen, sich durchaus miteinander vertragen.
In dem Tode des Herrn hat sich von feiten Gottes
Sein gerechter Jom gegen die Sünde und Seine unendliche
Liebe zu dem Sünder geoffenbart. „Hierin ist die
Liebe Gottes zu uns geoffenbart worden, daß Gott Seinen
eingeborenen Sohn in die Welt gesandt hat, auf daß wir
durch Ihn leben möchten." — „Der Vater hat den Sohn
gesandt als Heiland der Welt." (4. Joh. 4, y. 44; lies
auch Joh. 3, 44—46.) „Gleichwie Moses in der Wüste
die Schlange erhöhte, also mußte der Sohn des Menschen
erhöht werden, auf daß jeder, der an Ihn glaubt,
nicht verloren gehe, sondern ewiges Leben habe." Die
letzten Worte sind aus dem Munde Dessen gekommen,
der nicht lügen kann, der die Wahrheit selbst ist. Der von
den feurigen Schlangen gebissene Israelit brauchte nicht
zu fragen — hat es auch wohl nicht getan —: Wie kann
ich wissen, daß Moses die Schlange für mich erhöht
hat? Gottes Gebot an Moses lautete: „Mache dir eine feurige
Schlange und tue sie auf eine Stange; und es wird
geschehen, jeder, der gebissen ist und sie ansieht, der
wird am Leben bleiben". (4. Mose 24, 8.) Ist es heute
nicht genau so mit dem Sünder und dem Herrn Jesus?
229
Jeder, der an Ihn glaubt, wird nicht verloren gehen,
sondern ewiges Leben haben. Würde eö nun nicht widersinnig
sein zu fragen: Wie kann ich wissen, daß Jesus für
mich gestorben ist? Oder anderseits zu behaupten, daß
der Mensch nicht verantwortlich sei, dem Zeugnis Gottes
zu glauben? Nein, die Frage lautet vielmehr: Wie ist es
möglich, einer Liebe, die sich so geoffenbart hat, und der
nun durch Jesum gepredigten Vergebung der Sünden
nichtzu glauben?
Aber, wirft man wieder ein — Verstand und Unglaube
werden nie aufhören, ihre Einwürfe zu machen
— aber, wie kann beides, eine allen Menschen gegenüber
geoffenbarte, allen angebotene Gnade und die Auserwählung
einer bestimmten Zahl von Menschen gleichzeitig
wahr sein? Wie ist beides miteinander zu vereinbaren?
Das Wort Gottes gibt in einfacher, schlagender Weise
Antwort auf diese Frage. Wir alle kennen das Gleichnis
von dem großen Abendmahl, das ein Mensch machte.
(Luk. 1,4.) Viele wurden dazu eingeladen, aber alle weigerten
sich zu kommen, alle machten Entschuldigungen,
nicht einer nahm die Einladung an, aber auch nicht einer
wurde gezwungen, hereinzukommen. Nein, aber was
tat der Hausherr? Er sandte seine Knechte auf die Straßen
und Gassen der Stadt und ließ die Armen und Krüppel
und Lahmen und Blinden hereinbringen. Und
als noch Raum war — denn sein HauS sollte voll werden
—, ließ er die an den Wegen und Zäunen Liegenden
nötigen, ins Haus zu kommen.
Welch ein Bild! Der Mensch ist tatsächlich so hoffnungslos
böse, daß er, wenn es in seine freie Wahl gestellt
wird, Gott zu glauben oder nicht zu glauben, das
230
letztere wählt und die Einladung zu dem großen Mahle
Gottes ausschlägt. Er will Christum nicht als seinen
Heiland annehmen. Warum nicht? Hat Gott ihn so gemacht?
Nein, der traurige Zustand des Menschen ist das
Ergebnis seiner eigenen Schuld. Er glaubte und vertraute
Satan und mißtraute Gott, und er tut das heute noch.
Des Menschen persönliche Schuld ist ja verschieden
groß, aber diese Abneigung, ja, dieser Haß gegen Gott
beweist die Schrecklichkeit seines Zustandes. Mag auch
die freundliche, dringende Einladung Gottes an alle ergehen,
so ist doch nicht einer da, der ihr folgt.
Ist das Gericht solch böser Geschöpfe gerecht oder
nicht? Und wenn nun Gott in der Unum schränkt-
heit Seiner Gnade trotzdem eine Anzahl, die Er aus
den Armen und Elenden auswählt, errettet, wenn Er diesen
in Seiner Liebe nachgeht und sie in Sein Haus bringen
läßt, ist Er dann ungerecht? Kann Ihm irgendein
Vorwurf daraus gemacht, kann Er gefragt werden:
„Warum tust Du also?" — Wahrlich nicht, und
doch geschieht es!
Als zur Zeit Noahs die Bosheit des Menschen ihren
Gipfelpunkt erreicht hatte, sodaß das Gericht nicht länger
zögern konnte, gab Gott dem Menschen noch r20 Jahre
Zeit zur Buße; dann erst ließ Er die große Flut kommen,
die alles Lebendige auf Erden vernichtete, und nur eine
einzige Familie wurde in der Arche gerettet. Und als nach
dem Turmbau zu Babel die über die ganze Erde hin zerstreuten
Menschen in den schrecklichsten Götzendienst verfielen,
führte Gott einen Menschen, Abram, heraus mit
den Worten: „Ich will d i ch segnen, und ich will deinen
Namen groß machen, und d u sollst ein Segen sein", und
— 2Z1 —
machte ihn dann zum Vater des „auserwählten" Volkes
Israel. Auch lesen wir in der Schrift von „auserwählten"
Engeln. Niemand scheint diese Dinge zu leugnen, und
doch gibt es kaum etwas, das die Menschen mehr hassen,
mehr bekämpfen, als die kostbare Wahrheit von der Gnadenwahl.
Wir haben oben gesagt, daß der Mensch, wenn er
seiner eigenen freien Wahl überlassen bleibt, Christum verwirft.
Das war sogar bei Israel, dem auserwählten irdischen
Volke Gottes, der Fall, und zwar unter den denkbar
günstigsten Umständen. Gott sandte ihm Seinen Sohn
auf dem Wege, den die Propheten in so mancherlei Weise
angekündigt hatten: der gute Hirt „ging durch die Tür
in den Schafhof ein". (Vergl. Joh. 10, 1.) Aber —
„Er kam in das Seinige, und die Deinigen nahmen Ihn
nicht an." (Joh. 1, 11.) An einer anderen Stelle lesen
wir: „Gott war in Christo, die Welt mit sich selbst versöhnend,
ihnen ihre Übertretungen nicht zurechnend".
(2. Kor. 5, 19.) Das will sagen: Gott erschien inmitten
der Menschenkinder in der Person Seines Sohnes, um
ihnen Sühnung und Vergebung zu bringen, in bedingungsloser
Gnade mit ihnen zu handeln. Aber — Er kam,
„und kein Mensch war da". Er rief, „und niemand
antwortete". (Jes. 50, 2.) Im Gegenteil, von
der Krippe bis zum Kreuze schritten der Haß und die
Feindschaft des Menschen von Schlimmem zu immer
Schlimmerem. Wohl wurden einzelne (und schließlich eine
große Zahl) dahin geführt, an Jesu Namen zu glauben
und so ewiges Leben in Ihm zu finden; aber aus eigener,
freier Wahl nahm keiner Ihn an. Niemand wollte zu
Ihm kommen, obgleich „die Güte und Menschen
232
liebe unseres Heiland-Gottes" in Ihm erschienen war.
(Tit. 3, 4.)
Anbetungswürdig ist die Ruhe des Herzens, die
völlige Abhängigkeit von dem Vater, die Jesus inmitten
all dieser Verwerfung offenbarte. Wunderbar sind Worte
wie diese: „Alles was der Vater mir gibt, wird zu
mir kommen, und wer zu mir kommt, den werde ich
nicht hinausstoßen". Oder: „Niemand kann zu mir
kommen, eö sei denn daß der Vater, der mich gesandt
hat, ihn ziehe...Jeder, der von dem Vater gehört
und gelernt hat, kommt zu mir." (Joh. 6, 37. 44. 45.)
Oder: „Mein Vater, der sie mir gegeben hat, ist größer
als alles, und niemand kann sie aus der Hand meines
Vaters rauben". — Oder wenn Er über sich und die
Seinigen zum Vater redet: „Gleichwie du Ihm (dem
Sohne) Gewalt gegeben hast über alles Fleisch, auf daß
Er allen, die du Ihm gegeben, ewiges Leben gebe
...Ich bitte für sie; nicht für die Welt bitte ich, sondern
für die, welche du mir gegeben hast, denn sie sind
dein." (Joh. 70, 2d; 77, 2. y.) Welch eine friedliche
Ruhe inmitten der wilden Wogen menschlichen Hasses!
Unser teurer Heiland kannte den gerechten Vater, und Er
wußte, daß nicht einer von denen, die der Vater Ihm
gegeben hatte, verloren gehen würde.
Die beiden Seiten der Wahrheit, daß das Evangelium
sich an alle Menschen ohne Ausnahme richtet, aber daß
nur diejenigen zu Jesu kommen, die der Vater Ihm gegeben
hat, tritt uns in besonderer Klarheit auch entgegen
in der schon angeführten Stelle: „So sei es euch nun
kund, Brüder, daß durch diesen euch (unterschiedslos)
Vergebung der Sünden verkündigt wird, und von allem,
233
wovon ihr im Gesetz Moses' nicht gerechtfertigt werden
konntet, wird in diesem jeder Glaubende gerechtfertigt",
und gleich nachher: „Und es glaubten, so viele ihrer
zum ewigen Leben verordnet waren." (Apstgsch.
13, 38. 39. 48.) Wir haben hier wieder die menschliche
und die göttliche Seite der Sache vor uns. Wollen wir
eine dieser Wahrheiten annehmen und die andere verwerfen?
oder an der einen oder anderen etwas zu ändern
suchen? Vielleicht möchte man einwenden: Dann darf man
aber auch nur den Auserwählten das Evangelium verkündigen.
Die Apostel dachten und handelten anders: sie
redeten zu allen also, d. h. mit einer solchen Kraft
und Freudigkeit, daß eine große Menge von Juden und
Griechen glaubte. (Apstgsch. 14, 1.) Wie gut vertragen
sich doch die beiden Seiten miteinander, wenn Einfalt im
Herzen istl
So gibt es denn nichts, was eine ernstlich suchende
Seele hindern oder zurückhalten könnte, Gott rückhaltlos
zu vertrauen und ihrer Errettung völlig gewiß zu sein.
Daß alle, die wirklich glauben, zum ewigen Leben verordnet
sind, braucht kaum gesagt zu werden, denn niemand
anders wird glauben, niemand anders kommt
zu Jesu, um das Leben zu haben. Man vergißt so leicht,
daß die Wahrheit von der Auserwählung ein kostbares
Gut des Gläubigen ist, nicht aber dem Unbekehr -
t e n verkündigt wird. Diesem gebietet Gott, Buße zu tun
und an Den zu glauben, den Er gesandt hat. (Apstgsch.
17, 30.) Aber-immer wieder muß es wiederholt werden:
Der Mensch will weder glauben was Gott sagt, noch von
seinem Wege umkehren und Buße tun. Die Gesinnung des
natürlichen Menschen, auch des religiösen, ist „Feindschaft
2Z4
wider Gott", so verschieden diese Feindschaft sich auch
äußern mag. Darum, wenn Gott nicht auf Grund Seines
unumschränkten Gnadenwillens dennoch eine von Ihm bestimmte
Zahl erretten würde, so würde offenbar kein
Mensch errettet werden.
Wenden wir uns jetzt zu einigen Stellen, die von
der Auserwählung reden. Beachten wir von vornherein,
daß eö sich bei dieser Frage nicht nur um Persönlichkeiten
handelt, sondern um einen wunderbaren Ratschluß, den
Gott vor Grundlegung der Welt gefaßt hat, der aber
„von den Geschlechtern und Zeitaltern her verborgen war"
und erst den Aposteln und Propheten des Neuen Testamentes
geoffenbart worden ist. Im Römerbrief verkündigt
Paulus ihn mit den Worten: „Denn welche Er zuvorerkannt
hat, die hat Er auch zuvorbestimmt, demBilde
Seines Sohnes gleichförmig zu sein, damit
Er der Erstgeborene sei unter vielen Brüdern". (Röm.
8, 2d.) Aus einer Welt also, für die es nach dem gerechten
Urteil Gottes nur Gericht und Verdammnis geben
konnte, hat Gott eine Anzahl Menschen — und, gepriesen
sei Sein Name! es sind ihrer unzählige — zuvorerkannt
und zuvorbestimmt, dem Bilde Seines Sohnes
gleichförmig zu sein. Daß dies die Bewunderung und Anbetung
der Engel wachruft und sie begehren läßt, „in diese
Dinge hineinzuschauen", ist zu verstehen.
Ein solcher Ratschluß konnte nur in dem Herzen
eines Heiland-Gottes entstehen, nur Er konnte ihn zur
Ausführung bringen, und, so dürfen wir hinzufügen, Er
hates getan. In unserer Stelle lesen wir weiter: „Welche
Er aber zuvorbestimmt hat, diese hat Er auch berufen; und
235
welche Er berufen hat, diese hat Er auch gerechtfertigt;
welche Er aber gerechtfertigt hat, diese hat Er auch verherrlicht".
(V. 30.) Um daö tun zu können, gab es nur
daö eine Mittel, daß Er Seines eigenen Sohnes nicht
schonte, sondern Ihn für uns alle dahingab. Nachdem dieses
Mittel zur Anwendung gekommen ist, heißt es jetzt:
„Wer wird wider Gottes Auserwählte Anklage erheben?
Gott ist es, welcher rechtfertigt; wer ist, der verdamme?
Christus ist es, der gestorben, ja, noch mehr,
der auch auferweckt, der auch zur Rechten Gottes ist."
(V. 32—34.) Fürwahr, eine herrliche Kette von lauterem
Golde: zuvorerkannt, zuvorbestimmt, berufen, gerechtfertigt,
verherrlicht! Und alles daö von Gott, auf
Grund des Todes und der Auferstehung Seines geliebten
Sohnes! Sollte uns wohl noch etwas scheiden können
von dieser ewigen, in Christo Jesu geoffenbarten Liebe?
Doch hier gibt's wieder ein „Aber". — Aber, wirft
man ein, wenn daö von der Auserwählung Gesagte wahr
ist, müssen wir dann nicht daraus folgern, daß Gott eine
andere Zahl von Menschen dazu bestimmt, ja, zuvor -
bestimmt hat, verloren zu gehen? Keineswegs.
In keinem Teil der Heiligen Schriften findet sich ein solcher
Gedanke. Ich wiederhole vielmehr: Der Grund, weshalb
jene verloren gehen, liegt in ihrem Zustand des Verlorenseins:
sie sind verloren, weil sie sündig sind und
die Sünde lieben und tun, und siebleiben und gehen
verloren, weil sie dem Zeugnis Gottes, das in der einen
oder anderen Weise an sie herantritt, nicht glauben. Die
Schrift redet deutlich und klar über beide Punkte. Zunächst
heißt es betreffs derer, die verloren gehen, daß es geschieht,
weil „sie die Liebe zur Wahrheit nicht annahmen,
236
damit sie errettet würden". (2. Thess. 2, 10.) Dann:
„Das Wort vom Kreuz ist denen, die verloren gehen,
Torheit", (1. Kor. 1, 18.) Ferner: Das Evangelium
ist „in denen verdeckt, die verloren gehen", weil sie
Satan, dem Gott dieser Welt, mehr Vertrauen schenken
als Gott. (2. Kor. 4, 3. 4.) Christus kam in diese Welt,
Gott ließ in Seiner Liebe den ganzen „Lichtglanz des
Evangeliums der Herrlichkeit Christi" ausstrahlen; aber
die Menschen wollten Jesum nicht, sie haßten das
Licht. Ihr Zustand ist bis heute derselbe geblieben. Ihr
Ende ist deshalb Verderben. Umgekehrt lesen wir von den
Erretteten: „daß Gott sie von Anfang erwählt
hat zur Seligkeit in Heiligung des Geistes und im Glauben
an die Wahrheit". (2. Thess. 2, 43.) Auch sie wa-
r e n verloren wie alle übrigen, aber siegehen nicht verloren,
weil sie an Den geglaubt haben, der da kam, „um
zu suchen und zu erretten, was verloren ist". Eö
ist nicht ein Verdienst ihrerseits, wenn sie errettet werden;
eö ist die unumschränkte Gnade Gottes.
So lehrt Gottes Wort, mag der Mensch es annehmen
oder nicht, und der Glaube erfaßt es und preist Gott.
Die Dinge liegen heute noch genau so wie zur Zeit
des Laubhüttenfestes in Joh. 7. Damals verwarfen die
Juden Jesum und suchten Ihn zu töten. Trotzdem stand
Jesus an dem letzten, dem großen Tage des Festes in
der Mitte der die Gnade Verwerfenden auf und „rief
und sprach: Wenn jemand dürstet, so komme er zu
mir und trinke". So ist eö auch heute. Die Allgemeinheit
haßt und verwirft Christum. Ja, die Bosheit und Gottentfremdung
der Menschen hat eine vielleicht nie gekannte
Höhe erreicht. Aber inmitten des zunehmenden Verdcr-
2Z7
benö erschallt auch heute derselbe Gnadenruf: „Kommet
her zu mir!" Und so wie der Herr damals sagte: „Noch
eine kleine Zeit bin ich bei euch", ist auch in der Gegenwart
den Menschen nur noch eine kurze Frist gegeben.
Bald wird die Gnadensonne untergehen und die Nacht anbrechen,
in der niemand wirken kann.
Mein lieber, unbekehrter Leser! Hat der Heilige Geist
in deiner Seele den Durst nach Wahrheit, Friede und
Ruhe geweckt, o dann komm heute noch zu Jesu! Wer
zu Ihm kommt, dessen eigener Durst wird nicht nur gestillt
werden, nein, aus seinem Leibe sollen auch Ströme
lebendigen Wassers anderen zufließen.
(Joh. 7, 38.)
Aus alten Briefen
E.—, 23. April 7857.
(An einen jungen gläubigen Soldaten.)
Lieber Bruder! — Wie geht es Dir in Deiner neuen,
versuchungsvollen Stellung? Wenn in solcher Lage das
Herz sich nicht ganz nahe an den geliebten Herrn anschließt,
wenn man nicht stets in der Gegenwart Gottes
wandelt, so werden wir hin- und hergeworfen. Wohl ist
es wahr, daß, je schwieriger und versuchungsreicher eine
Stellung, desto größer auch die Ehre ist, wenn man sich
nach dem Wohlgefallen Gottes darin verhält. Ein leichtfertiges
Herz wird nur zu bald fortgerissen. Ich trage
oft Sorge für die Brüder, die beim Militär sind. Doch
der treue Herr, der uns in jeder Lage bewahren kann,
wird den, der sich Ihm vertraut, mit starkem Arm durch
2Z8
alle Versuchungen und Schwierigkeiten hindurchführen.
Ja, lieber Bruder, wir sind in guten und treuen Händen.
Das Vaterherz ist stets mit Liebe für uns erfüllt,
und dieser Liebe werden wir, wenn unser Auge einfältig
ist, in allen Dingen begegnen. Er kann uns nicht versäumen
noch verlassen.
Welche Erfahrungen machst Du jetzt? Ist der Geist
Gottes in Deinem Herzen wirksam? Solang das der Fall
ist und zunimmt, werden wir auch in dem Genuß der
Liebe Gottes bleiben und in allem guten Wort und Werk
zunehmen. Was ich mir und anderen sehnlichst wünsche,
ist, daß wir die Zeit unserer Fremdlingschaft nach dem
Wohlgefallen Gottes und zu Seiner Verherrlichung zubringen,
indem wir unausgesetzt auf die Ankunft unseres
geliebten Herrn warten. Das ist wahre Freude und bewirkt
das Wachstum unserer Seele. Es ist traurig, wenn
ein Mensch, der mit Christo auferweckt ist, seine himmlische
Berufung vergißt und sich in den eitlen und nichtigen
Dingen dieses Zeitlaufs verliert. Deshalb ermahnt
der Apostel uns auch so ernstlich, als Fremdlinge und
als solche, die ohne Bürgerrecht sind, uns von den Lüsten,
die wider die Seele streiten, zu enthalten. Wir sind berufen
zu suchen, was droben ist, wo Christus ist, nicht
aber um mit Irdischem und Fleischlichem unsere Herzen
zu beunruhigen und zu beschweren. Wir sind hier gelassen,
um in jeder Lage, in jedem Stand und Verhältnis
die Tugenden Dessen zu verkündigen, der uns berufen
hat aus der Finsternis zu Seinem wunderbaren Licht.
Eö ist gesegnet, sowohl unsere herrliche Berufung
nach oben als auch unsere leidende, dienende und kämpfende
Stellung hienieden zu verstehen. Ich bitte Dich,
239
l. Bruder, denke stets an die Liebe, womit Du geliebt
bist, an die Hand, die Dich leitet, und an das Auge,
das über Dir wacht! Du darfst allezeit getrost sein. Wir
sind auf dem Wege zu unserem teuren Herrn im Vaterhause,
und bald wird unser Auge Ihn schauen. Darum
wollen wir nicht müde werden im Wachen.und Beten,
Glauben und Hoffen, Lieben und Dienen, bis wir das
kostbare Ziel erreicht haben. Wir sind nicht allein; der
Geist Gottes leitet uns und ist bemüht, alles, was Gott
wohlgefällt, in uns zu wecken und zu beleben. Darum
getrost und mutig voran unter Gebet und Flehen, bis wir
Jesum sehen werden! Seiner reichen Gnade und Liebe
sei allezeit befohlen!
E.—, t2. Juni r86Z.
Geliebte Geschwister! — Wir freuen uns mit Euch,
daß der Herr Euch ein Töchterlein geschenkt hat, und
daß alles wohl steht. Gotthilft! Er ist ein treuer und
liebreicher Gott und Vater, gelobt sei Sein heiliger Name!
Auch bei uns geht es, dem Herrn sei Dank, gut, in
der Familie wie im Geschwisterkreise. Ich kann nicht von
großen Dingen reden, aber der Herr segnet und ist hier
und an anderen Orten wirksam, obgleich sich auch manches
Betrübende zeigt. Es ist leider so selten, ein ganzes
Herz für Jesum zu finden, und doch gibt es nichts
Schöneres als das. Es ist auch sicher der Mühe wert,
ganz für den Herrn zu leben, und es ist Seine Freude,
uns ganz für sich zu haben.
Er mache auch Eure Herzen recht wacker in Seinem
Dienst! Er hat Euch dort hingestellt, um Seine Zeugen
zu sein. Sehen wir im Augenblick auch wenig oder gar
240
keine Frucht von unserer Arbeit, so dürfen wir doch versichert
sein, daß unsere Mühe im Herrn nicht vergeblich
ist. — Hängt Eure Herzen nicht an das Irdische! Die
Gefahr ist groß. Jesus allein ist köstlich; außer Ihm ist
alles wertlos.
Sie Verantwortlichkeit des Christen
Der Christ ist ein Beispiel der errettenden Gnade
Gottes. Gnade hat ihn zu dem gemacht, was er ist, und
Gnade trägt und erhält ihn. Aber die empfangene und
täglich neu erfahrene Gnade macht ihn auch verantwortlich,
durch Wort und Wandel von dem zu zeugen,
was er empfangen hat, mit anderen Worten, in
seinem ganzen Leben darzustellen, was ein von Gott begnadigter
Mensch ist. Auf Grund der vielen Vorrechte,
Gnadengaben und Hilfsmittel, die ihm geschenkt sind,
kann gerechterweise die Forderung eines heiligen Wandels
an ihn gestellt werden.
Der Herr Jesus belehrt uns durch verschiedene Vorbilder
über die Stellung, die Seine Jünger berufen sind
ihrer Umgebung gegenüber einzunehmen. Er nennt sie
unter anderem das „Licht der Welt" und das „Salz der
Erde". Diese Ausdrücke zeigen, daß der Charakter und
das Verhalten der Gläubigen eine Wirkung auf andere
haben, und notwendig haben müssen. Ein Licht kann nicht
verborgen sein. Es wird auch nicht angezündet, um unter
den Scheffel oder unter das Bett gestellt zu werden. Salz,
das seinen Geschmack verloren hat, ist zu nichts tauglich.
Um die genannte Wirkung oder den Einfluß, den die beiden
Worte „Licht" und „Salz" kennzeichnen, wirklich aus
24t
üben zu können, sind den Kindern Gottes reiche Mittel
und Gaben geschenkt worden, die sie durch den Segen
Gottes diesem Zweck dienstbar machen sollen.
Das Wort Gottes hat einen vollkommenen Maßstab
für den Charakter jedes Christen in der Person des Herrn
Jesus selbst vor uns gestellt. Nach diesem soll jeder Jünger
Christi durch die erneuernde Kraft des Heiligen Geistes
gestaltet werden, denn nichts wirkt mächtiger und
nachhaltiger als ein persönliches Beispiel. Daö
Beispiel, das der Christ geben soll, ist die persönliche
Gleichförmigkeit mit Christo. Wie kann nun sein Leben
dem Leben Jesu ähnlich werden? Das Mittel dazu ist
zunächst „der Herzensentschluß, bei dem Herrn zu verharren",
an welchen sich dann das unverrückte Schauen
auf Ihn anschließt. Gute Vorsätze, eigene Kraftanstrengungen
sind hier nutzlos. Nur eine stetige, sich bis auf
die kleinsten und geheimsten Dinge erstreckende Gemeinschaft
mit Christo bewirkt die Umgestaltung in Sein Bild.
Nur in der Gegenwart des Herrn wächst der Gläubige in
jene heilige Gesinnung hinein, welche Leben und Frieden
bedeutet; nur so vermag er sie sich zu bewahren.
Sein Tun und Lassen, alle seine täglichen Verrichtungen
stehen dann unter dem gleichmäßigen Einfluß einer
heiligen Gesinnung. Unreine Gedanken, vorlautes und
leichtfertiges Reden, Unaufrichtigkeit, Untreue und ähnliche
Dinge werden von ihm weder erlaubt noch entschuldigt.
Er ist ein lebendiger Brief Christi, der gekannt und
gelesen wird von allen Menschen. Sein Bekenntnis wird,
wenn auch nicht angenommen, so doch als echt erkannt,
und der heilige Name, nach dem er genannt ist, wird verherrlicht.
242
Auch auf die häuslichen Gewohnheiten des Christen
erstreckt sich der eben genannte Einfluß. Wie könnte es
anders sein? Weiß er sich doch fortwährend unter dem
erforschenden Auge Dessen, den er liebt, und dem er zu
dienen wünscht. Er legt die Wachsamkeit über sein Wesen
und Verhalten nicht etwa deshalb beiseite, weil er „zuhause"
ist. Im Gegenteil, hier beginnt sein Zeugnis,
hier muß es zu allernächst abgelegt werden. Im allgemeinen
wird sein Verhalten im Hause auch zu einer Richtschnur
für die ganze Familie werden, einen Maßstab abgeben
für die Gestaltung des christlichen Charakters in
allen denen, die im Haushalt nach ihm kommen. Die einzelnen
Familienglieder gleichen ebenso vielen Spiegeln, die
sein Bild zurückwersen. Darum kann er nie zu ernst sein
in der Prüfung seines Verhaltens in der Familie, seines
Auftretens im eigenen Hause. Lockert er nur in einem
Punkte die Zügel der Selbstbeherrschung und Selbstzucht,
so bleiben die Folgen nicht aus. Sein Beispiel ist von unfehlbarer
Wirkung, im Guten wie im Bösen. Die Seinigen
erwarten mit Recht, in ihm einen Mann zu sehen, der in
der Wahrheit wandelt und sich durch die Gebote seines
Herrn gewohnheitsmäßig regieren läßt.
Der Christ wird scharf beurteilt, im Hause wie in
der Welt. Die Menschen wissen ganz genau, wie e r sich
verhalten, in welcher Gesinnung e r handeln und wandeln
soll, wenn sie selbst auch nichts von Christo wissen wollen.
Aber der Herr mußte einmal zu solchen, die alles verlassen
hatten und Ihm nachgefolgt waren, trauernd sagen:
„Ihr wisset nicht, weß Geistes ihr seid". Ach, wie
oft mögen wir fühlen, daß ein solcher Vorwurf auch an
24Z
uns gerichtet werden könnte! Und mag Gott auch in Gnaden
Sein Angesicht von unseren Übertretungen wegwenden,
unsere Verfehlungen vergeben und unsere Abtrünnigkeiten
heilen — von Menschen können wir nichts anderes
erwarten, als daß sie für unsere Verfehlungen ein
viel schärferes Auge und Gedächtnis haben, als für unsere
noch so redlichen Bemühungen, das Geschehene wieder
gutzumachen.
Die Menschen erwarten mit Recht, daß der Christ
ein Mensch des Gebets, der Demut, Sanftmut und Liebe
sei. Ihrer unaufhörlichen Beobachtung und Überwachung
ausgesetzt, ist es auch nicht von geringem Belang für
ihn, was sie von ihm halten und denken; denn ihr Urteil
entspricht nicht selten der Wahrheit.
Das Verhalten eines Christen ist nicht nur negativ,
sondern vor allem positiv. Das will sagen, eö genügt ihm
nicht, anderen durch sein Reden oder Tun nichts zuleide
zu tun, sie nicht zu schädigen, er weiß sich berufen, sich
allen, mit denen das Leben ihn in Berührung bringt, nützlich
zu machen. Wahres Christentum kann nicht untätig
sein, vor allem nicht hinsichtlich des Evangeliums. Der
Christ weiß, daß Gott nicht den Tod des Sünders will,
sondern daß möglichst viele verfinsterte Herzen erleuchtet
und zum gläubigen Erfassen der frohen Botschaft von Jesu
gebracht werden. Er weiß auch, daß der Einfluß, der von
Seinen Dienern und Bekennern ausgeht, ein wesentliches
Mittel in der Hand des Heiligen Geistes ist, um die
Wahrheit zum Siege zu führen. Jeder einzelne Christ ver­
mag durch den Einfluß seines persönlichen Beispiels viel
zur Erreichung der Gnadenziele Gottes beizutragen, er
kann ihnen leider auch im Wege stehen.
244
Stellt Gott einen Gläubigen in einen Haushalt von
Unbekehrten, so geschieht das gewiß nicht ohne Absicht.
Ein solcher hat den besonderen Auftrag, um die Sache seines
Herrn bemüht zu sein. Sein persönliches Beispiel
spielt in der Geschichte einer solchen Familie eine besondere
Rolle und wird, wenn ich mich so ausdrücken darf, einmal
einen Hauptposten in der Rechnung bilden, die sowohl
ihm als auch den einzelnen Familiengliedern vorgelegt
werden wird. Überaus ernst ist eö für ihn, wenn die,
die ihm im Leben am nächsten gestanden haben, in seinem
Wandel und Charakter wenig oder gar nichts davon sehen
konnten, daß er dem Herrn angehörte. Die Stunde der
Trauer über versäumte Gelegenheiten und nicht auöge-
nutzte Vorrechte wird nicht ausbleiben, und gerade das
Maß seiner Vorrechte und möglichen Gewinne bildet für
ihn den Maßstab seiner Verantwortlichkeit.
Die Verantwortlichkeit, durch sein persönliches Beispiel
zu wirken, hört für den Gläubigen auch nie auf,
kann nie ausgeschaltet werden. Wo immer der Christ sich
befinden mag — ist er auch nur zu Besuch an einem Ort,
oder gar nur ein Durchreisender, der sich für eine Nacht
da aufhält — immer liegt die Verpflichtung auf ihm, zu
zeigen, wer er ist. Wie oft hat ein einziges gutes Wort, ein
stilles Gebet Segen gebracht! Das Beispiel des Christen
wirkt immer, sei eö zum Guten oder zum Schlechten,
mag das auch erst dereinst vor dem Richterstuhl Christi
offenbar werden. O daß doch alle, die Jesu angehören,
diese Tatsache mehr erwägen und die ernste Bedeutung des
unvermeidlich von ihnen ausgehenden Einflusses fühlen
möchten! Eö steht geschrieben: „Also lasset euer Licht
245
leuchtenvor den Menschen, damit sie eure guten Werke
sehen und euren Vater, der in den Himmeln ist, verherrliche
n".
Der Christ ist auch für persönliche Bemühungen
zum Besten anderer verantwortlich.
Ein kostbarer Schatz ist ihm zur Verwaltung anvertraut,
wie irden und wertlos das Gefäß, das diesen Schatz in
sich birgt, auch sein mag. „Die Überschwenglichkeit der
Kraft ist Gottes." (2. Kor. 4, 7.) Er kann zum ewigen
Wohl und zeitlichen Glück anderer beitragen, und er ist
verantwortlich für alles, was er tun kann. Lebt in seinem
Herzen eine aufrichtige Teilnahme an der Not anderer,
fühlt er ihre Bedürfnisse, Versuchungen und Gefahren,
so wird er sie vor Gott zu den seinigen machen und
für seine Mitmenschen flehen in der Liebe des Herrn Jesus.
Diese Liebe drängt ihn auch, ihre geistliche und zeitliche
Wohlfahrt zu suchen, und jemehr er das tut, umso
größer wird der Kreis seiner Gebetsanliegen werden. Fürbittend
tritt er nicht nur für alle Heiligen, den ganzen
Haushalt Gottes ein, sondern er bittet auch für Freunde
und Feinde, ja, für alle Menschen, für Könige und
alle, die in Hoheit sind. Er kennt Gott als den Erhörer
des Gebets, und während er mit Ausdauer auf die Antwort
des Herrn harrt, hört er nicht auf, seine Anliegen in
treuer Fürbitte zu Gott emporsteigen zu lassen.
Eine solche Tätigkeit im Gebet führt von selbst
zu einer ebenso tätigen Bemühung der Liebe. Der
treue Nachfolger Christi ist in der Benutzung von Mitteln
und Wegen, anderen zum Segen zu sein, erfinderisch. Die
Verbreitung guter Schriften, nützliche Unterredungen, die
anderen zur Erbauung dienen, der Besuch von Kranken
24b
lind Bedrängten, das Einladen von Unbekehrten zur Verkündigung
des Evangeliums, ähnlich wie Andreas einst
seinen Bruder Simon zu Jesu führte — alles das und
manches andere sind einfache, aber bedeutungsvolle Dinge,
deren Segenöfolgen unberechenbar sind. Wieviel manch
schwacher Christ durch Gottes Gnade zum Besten seiner
Mitmenschen und zur Verherrlichung seines Erlösers getan
hat, wird die Ewigkeit einmal offenbar machen. Ein aufrichtiges,
gläubiges Herz, das sich in treuem Gebet und
ernster Liebe um andere bemüht, besitzt eine alles überwindende
göttliche Kraft. Wunderbar ist es, wie manches
Mal Gott durch die schwächsten Werkzeuge die größten
Dinge vollführt.
Der Christ weiht außer Zeit und Kraft auch Hab und
Grit mit Freuden dem Dienst seines Herrn. Alles was er
besitzt ist für ihn eine gnadenreiche Gabe Gottes, ein ihm
anvertrautes Darlehn, das er treu im Sinne seines Herrn,
zum Segen und Nutzen für andere, zu verwalten hat. Mit
offenen Augen die ungezählten Bedürfnisse und Nöte, sowie
den beklagenswerten Mangel an Bemühungen der
Liebe um sich her sehend, fühlt er sich umsomehr verpflichtet,
alles zu tun, was in seinen Kräften steht, um jedes
gute Werk zu fördern und zu unterstützen.
So ist denn der Christ gleichsam ein Schuldner a l -
l e r Menschen. Alle haben einen Anspruch an seine Liebe,
sein Interesse, ja, an alles was er nach Gottes Gedanken
zu geben verpflichtet ist.
Ob er als Haupt einer Familie vorsteht, oder nur
ein Glied des Haushalts bildet, alle übrigen Familienglieder
dürfen einen geistlichen Segen von ihm erwarten.
247
und vor dem Richterstuhl Christi wird es sich einmal
zeigen, wie klein oder groß die Summe der Segnungen
ist, die gewonnen oder verloren gegangen sind.
Neben der Familie ist er sür die Versamml u n g
verantwortlich, und insbesondere für den engeren Gesetz
w i st e r kr e i s, in den Gott ihn gestellt hat. Seine
Gaben, sein Einfluß und Dienst gehören dem geistlichen
Leibe, in welchem Gott ihm einen Platz angewiesen hat.
Wandelt er treu und gewissenhaft auf Wegen der Reinheit
und Lauterkeit, so wird die ganze Versammlung dadurch
gefördert und erbaut werden. Ist das Umgekehrte
der Fall, so wird die ganze Versammlung Schaden leiden.
Denn „wenn e i n Glied leidet, so leiden alle Glieder mit".
Schließlich hat Gott den Gläubigen, wie wir im Anfang
schon sagten, als ein Licht in die Welt gestellt,
damit er an diesem dunklen Ort leuchte. Die Menschen
um ihn her haben ein Recht, von ihm zu erwarten, daß er
seiner Aufgabe gerecht werde. Der Apostel Paulus konnte
sagen: „Ich bin allen alles geworden, auf daß ich auf
alle Weise etliche errette". Und wie viele hat er zu Jesu
geführt! (4. Kor. y, 22.) Möchten wir nicht auch gern
wenigstens „etliche erretten", um sie „an jenem Tage"
als unsere „Freude und Krone" wiederzufinden? Die verlorengehenden
Seelen sündiger Menschen haben Anspruch
an die Liebe und Sorge des Gläubigen. Ihre trostlose
Lage fordert sein Mitleid und seine Hilfe geradezu heraus.
Und mag es auch etwas Geringes für ihn sein, „von einem
menschlichen Gerichtstage beurteilt zu werden", so ist es
doch keineswegs gering für ihn, dereinst von Gott beurteilt
zu werden wegen des Versäumens dessen, was er zur
Errettung verlorener Menschenkinder hätte tun können.
248
Die große Abrechnung steht vor uns. Vor dem Richterstuhl
Christi müssen wir (die Gläubigen) alle geoffenbart
werden, „auf daß ein jeder empfange, was er in dem
Leibe getan, nach dem er gehandelt hat, es sei Gutes oder
Böses". Wir werden nicht dort stehen, um gerichtet
zu werden — alles Gericht hat Den für uns getroffen,
der auf dem Richterstuhle sitzt — aber unser ganzes Leben
wird dort wie ein aufgeschlagenes Buch vor uns liegen.
Der Gläubige wird dann alles sehen, erkennen und verstehen,
wie Gott es sieht. Alles was er getan und alles
was er unterlassen hat, wird in gleicher Klarheit vor ihm
erscheinen, und seiner Arbeit und seinem Säen auf dieser
Erde wird der Lohn und die Ernte in der Ewigkeit entsprechen.
Der Herr wird beurteilen, wie er das Empfangene
verwaltet und mit dem anvertrauten Pfunde gewuchert
hat. Je nach Befund wird er belohnt werden
oder leer ausgehen, ja, beschämt dastehen.
Wie ernst ist deshalb die Verantwortlichkeit eines
„Christen"! O möchten alle, die sich mit Recht so nennen
dürfen, von neuem ihrer hohen Berufung sich bewußt werden!
Laßt es unsere Lebensarbeit sein, dem Maße unserer
Verantwortlichkeit zu entsprechen! Die Zeit ist kurz. Wir
haben bekannt, alles für Christum aufgegeben zu haben
und Ihn allein als unseren Schatz, unser Erbteil zu besitzen.
Laßt uns denn nichts von dem zurückbehalten, was
Ihm gehört! Wir werden dann sowohl der Ankunft
unseres Herrn als auch Seiner Erscheinung in Herrlichkeit
mit Zuversicht und Freude entgegensetzen können.
244
Umgürt' uns mit der Wahrheitl
Der Apostel ermahnt die Korinther: „Eifert aber um
die geistlichen Gaben, vielmehr aber daß ihr weissaget"
(4. Kor. l4, 4), und eö ist gewiß gut, diese Ermahnung zu
beachten; aber jeder Bruder, der vom Herrn mit der Verkündigung
des Wortes betraut zu sein glaubt, sollte ernstlich
darüber wachen, daß das von ihm Verkündigte die
reine göttliche Wahrheit ist, ohne menschliche Beimischung.
Tut er das nicht, so mag der betrübende Fall eintreten,
daß seine Worte mehr Unsegen als Segen hervorbringen.
Vor allem rufen Darstellungen, die auf eigener Meinung
beruhen, die also gleichbedeutend mit menschlichen Ansichten
sind, Unklarheit und Unsicherheit in unbefestigten Seelen
hervor. Oft genug schleichen sich dann falsche Begriffe
über den Heilsplan Gottes in die Seelen ein. Ein Verkündiger
des Wortes darf nur dieses selbst für sich und
andere gelten lassen; sonst wird es ihm wie dem Landmann
ergehen, der einen mit Unkraut vermengten Samen
in die Ackerfurche streut und später die gute Saat von Unkraut
durchsetzt oder gar überwuchert sieht. Seine Scheunen
füllt ein schlechter Ertrag.
Besonders nahe liegt die Gefahr einer Verkündigung
gesetzlicher Grundsätze. Es war schon so zur Zeit der
Apostel, und ist heute nicht anders. Infolge solch unrichtiger
Belehrung werden die Hörer, besonders junge Gläubige,
dahin geführt, ihre Blicke auf sich und ihren schwachen
Glaubenszustand zu richten, anstatt auf den Herrn
und Seine Gnade. Sie werden in der Meinung bestärkt,
ihren niedrigen Zustand durch eigenes Tun heben und sich
250
mit eigener Kraft zu einem höheren Grad des Glaubens-
lcbenö hinaufarbeiten zu können, schließlich gar ein an-
fechtungsloseö Glaubensleben zu erreichen, und geraten so
in ein durchaus gesetzliches Treiben. Anstatt in dem ein
für allemal geschehenen Opfer Christi zu ruhen und in
dem Anschauen Seiner Person Kraft und Gnade zu finden,
blicken sie auf sich selbst und auf ihre Fortschritte.
Ein solcher Zustand kann das Herz nur mit Sorgen und
Ängsten erfüllen. In dem ehrlichen Bemühen, gegen die
alte Natur, die noch in ihm wohnt, anzukämpfen und sich
von ihren Einflüssen zu befreien, müssen solche Gläubige
je länger je mehr erfahren, wie die alte Natur immer
wieder ihre Forderungen durchzusetzen weiß.
Eine Schwester, die durch die Belehrungen eines Predigers
in einen solchen Zustand gekommen war, ging in
ihrer Beängstigung zu diesem hin, in der Erwartung, von
ihm den Grund ihrer Unruhe zu erfahren und von ihm
zu hören, welchen Weg sie zu deren Behebung einschlagen
müsse. Die Antwort, die sie erhielt, lautete: „Sie haben
dem Herrn noch nicht alle Ihre Sünden gebracht, sonst
hätten Sie solche Unruhe nicht". Glücklicherweise fand unsere
Schwester durch die Unterredung mit einem anderen,
in diesem Punkt klar sehenden Bruder Ausschluß über die
sie bewegenden Fragen. Seine Belehrungen gaben ihr die
Gewißheit, daß in dem Opfer Christi nicht nur die Sündenschuld
des Gläubigen völlig getilgt, sondern daß er
selbst auch in Christo gerichtet und mit Ihm gestorben ist.
Wie froh und dankbar war sie, als sie erkannte, daß es
ganz unmöglich ist, eine Vergebung der Sündenschuld nur-
teilweise zu erlangen, oder daß Gott nur ein halbes Werk
getan haben könnte!
25b
Kein Mensch könnte zu wahrem Frieden und Ruhe
der Seele kommen, wenn er nicht die Gewißheit hätte,
daß bei seiner Errettung aus der Macht Satans alle seine
Sünden, groß und klein, ja, er selbst, so wie Gott
seine Sünden und seinen Zustand kannte,
hinweggetan worden sind. Die Sünden und Übertretungen
des Menschen sind ja so zahllos, und sein Zustand
von Natur ist so verderbt, daß er (und kein Sterblicher
überhaupt) diese endlose Kette von Sünden und Verfehlungen,
sowie diese heillos verderbte Quelle alles Bösen
auch nur annähernd erkennen könnte. Das Wort belehrt
uns deshalb auch an vielen, vielen Stellen darüber, daß
dem Menschen, der von Herzen an Jesum glaubt, von
feiten Gottes eine endgültige und ewigdauernde Rechtfertigung
zuteil wird. Dem kananäischen Weibe sagt der
Herr: „Dir sind deine Sünden vergeben". Das war ein
Freispruch ohne Einschränkung. Ja, schon im Alten Bunde
heißt es: „Ich will ihrer Sünden und ihrer Gesetzlosigkeiten
nie mehr gedenken".
Bei einer anderen Gelegenheit wurde in einem Vortrag
der oft angeführte, irrige Standpunkt zum Ausdruck
gebracht, daß ein Gläubiger aus der Gnade fallen und
verloren gehen könne. Als Text hatte der Prediger die
Worte: „Jaget dem Frieden nach mit allen und der Heiligkeit,
ohne welche niemand den Herrn schauen wird".
(Hebr. b2, b4.) Ohne es zu wollen und zu ahnen, machte
auch dieser Prediger sich einer großen Herabwürdigung
des Opfers Christi schuldig. Einige der Zuhörer setzten
sich, in ihrem Innersten beunruhigt, mit einigen Brüdern
dieserhalb in Verbindung und ließen sich belehren, daß, wo
252
immer diese Auffassung vertreten wird, die Vollgültigkeit
und göttliche Kraft jenes kostbaren Opfers nicht anerkannt
wird. Wie könnte ein „ein für allemal" Erlöster
verloren gehen? Seine Errettung, seine Befreiung aus Satans
Ketten ist unabänderlich, ist auch, dem Herrn sei
Lob und Dank! nicht Einschränkungen durch etwaige Untreue
des Gläubigen unterworfen. Der Gläubige ist durch
ein Opfer auf immerdar vollkommen gemacht. (Hebr.
10, 14.) Gott sieht ihn nicht mehr in seinem alten Zustande,
sondern „in Christo". Daß Fleisch und Sünde
noch in ihm sind und er deshalb berufen ist, in allem
der Heiligkeit nachzujagen, ist selbstverständlich; aber er ist
nicht mehr „im Fleische", sondern „im Geiste". (Nöm.
8, 9.) Darüber geben viele Schriftstellen klaren Aufschluß,
und eö empfiehlt sich, sich solche Stellen besonders zu
merken, um unbefestigten Seelen gelegentlich dienen zu
können.
Merkwürdigerweise hielt der betreffende Prediger an
der Gewißheit seiner eigenen Errettung fest, er erkannte
sie als ein für allemal geschehen an, obschon er nicht behaupten
konnte, daß sein Wandel, wie der irgend eines
anderen Gläubigen, frei von Sünde sei.
Gottes Wort sagt: „Wir fehlen alle mannigfaltig",
zugleich aber auch, daß der Gläubige ein für allemal errettet
ist.
Ach, bleib mit deiner Klarheit
Bei uns, du wertes Licht,
Umgürt' unS mit der Wahrheit,
Damit wir irren nicht!
„Kolge Mir nach!" )
Folge mir nach! Drei Worte nur, aber sie umschließen
eine ganze Welt für solche, „die dem Lamme
folgen, wohin irgend es geht" (Offbg. 44, 4),
von der Stunde ihrer Bekehrung an bis hin zu ihrem Eintritt
in die Herrlichkeit droben, ja, noch darüber hinaus.
Diese drei Worte fordern von uns kein Opfer — sie bringen
ein solches hervor; sie verheißen uns keine Belohnung
für unseren Gehorsam — die Belohnung findet sich ganz
und gar in der Person, der wir zu folgen aufgefordert werden.
Worin besteht denn das Wunder, das diese drei Worte
in uns bewirken? Dieses Wunder heißt: der Glaube!
Der Glaube, der hienieden Berge zu versetzen und ins Meer
zu werfen vermag, der Glaube, der in dem Menschen, welcher
uns auffordert. Ihm nachzufolgen, Gott selbst entdeckt.
Mit dem Glauben, der durch die Worte „Folge
mir nach" in den Seelen hervorgerufen wird, verschwindet
deshalb jedes irdische Hindernis, das uns zurückhalten
möchte, der Aufforderung zu folgen. Das Herz hat eine
Person gefunden, deren Liebe selbst die Ewigkeit nicht auszuschöpfen
vermag.
Beschäftigen wir uns zunächst ein wenig mit den
Hindernissen, die der Feind vor uns stellt, wenn die Worte:
„Folge mir nach!" an unser Ohr dringen. Sie sind sehr
verschiedenartig, von nichtigen Vorwänden, von Beschäf-
*) Aus dem Französischen von H. Rossier. Einer der letzten
Aufsätze aus der Feder unseres im März Heimgegangenen teuren
Bruders.
l.XXVI 10
254
tigungen des täglichen Lebens, verwandtschaftlichen Beziehungen
und dergleichen bis zu den „Bergen", von denen
wir gesprochen haben. Als der Herr an Simon und Andreas
und an Jakobus und Johannes, die Söhne des
Zebedäus, Sein „Folge mir nach" richtete, lagen sie gerade
ihrem bescheidenen Beruf als Fischer ob, und sie
vermochten alsbald ihren Vater mit den ihm beistehenden
Tagelöhnern zu verlassen. Auch wird nichts davon gesagt,
daß ihr Opfer besonders groß gewesen wäre, oder daß sie
einen großen Glauben hätten haben müssen, um es zu
bringen. Ähnlich war es mit Philippus. (Joh. 4, 43.)
Aber ohne Zweifel war es Glaube, und dieser Glaube
wurde durch die Berufung des Herrn geweckt. Der Gedanke,
daß sie alles verlassen hätten, um Jesu nachzufolgen,
kam Petrus erst später (Matth. 49, 27) in den
Sinn, und zog ihm seitens des Herrn eine Antwort zu,
die gleichzeitig ermutigend und beschämend war.
Bei Levi, mit dem Zunamen Matthäus, war es anders.
(Matth. 9, 9; Luk. 5, 27.) Dieser Mann war reich,
wie alle, die seinen Beruf hatten; er hatte ohne Zweifel
ein zahlreiches Personal unter sich, sein geräumiges Haus
war für alle geöffnet, und wenn auch seine Besucher weit
davon entfernt waren, zu den Auserlesenen dieser Welt
zu gehören, war das für ihn doch nicht von Belang. Zu
ihm sprach Jesus: „Folge mir nach!" Aus diese Worte Hilt
stand Matthäus auf und folgte Jesu nach. Es wird uns
nicht gesagt, daß er Ihn vorher gekannt, auch nicht, daß
Jesus schon früher einmal mit ihm gesprochen hätte; aber
in diesen drei Worten lag eine Kraft, auf welche der
Glaube antwortete und auch allein antworten konnte. Im
Evangelium Lukas wird von Matthäus gesagt: „Und
255
alles verlassend, stand er auf und folgte Ihm
nach". Er dachte gar nicht über die Folgen seines Tuns
nach. Der, welcher ihn rief, erlangte in seinen Augen unmittelbar
eine unermeßliche Wichtigkeit, denn cs wird weiter
berichtet: „Und Levi machte Ihm ein großes
Mahl in seinem Hause; und daselbst war eine große
Menge Zöllner und anderer, die mit ihnen zu Tische
lagen". Alles was Levi besaß wurde ohne Zögern für Jesum
hingegeben, nichts behielt er für sich zurück; er war
vielmehr besorgt, Zöllner, Sünder und noch andere Personen
mit dem Herrn in Verbindung zu bringen. Daß
das der damaligen religiösen Welt nicht gefiel, kann uns
nicht wundern.
Wir haben gesehen und werden eö noch weiter sehen,
daß der Gläubige, um dem Herrn nachzufolgen, immer
etwas verlassen muß; aber dieses Aufgeben zeitlicher Vorteile
bringt immer unendliche Segnungen mit sich.
„Kommt mir nach, und ich werde euch zu Menschenfischern
machen", hören wir den Herrn in Matth. 4, ty
sagen. Die so aufgesorderten Jünger wurden zu Trägern
des Evangeliums für die Welt, und die durch sie bekehrten
Sünder werden einmal die Freude und Krone bilden,
deren sie sich in den himmlischen Ortern rühmen werden
als solcher, die sie zum Herrn führen durften.
Der Herr sagt an einer anderen Stelle: „Wenn mir
jemand dient, so folge er mir nach; und wo ich bin, da
wird auch mein Diener sein. Wenn mir jemand dient, so
wird der Vater ihn ehren." (Joh. 42, 26.) Gehört dieser
Segen nicht jetzt schon denjenigen, welche Jesu nachfolgen?
Es gibt einen Genuß himmlischer Dinge, der den
Pfad der Diener erhellt während der Zeit ihres Zeugnisses
256
in dieser Welt, so schwach dieses auch sein mag. Es ist gewiß
kein geringes Borrecht, hienieden schon das Bewußtsein
zu besitzen, an den Freuden Christi im Himmel teilzuhaben.
Aber es gibt noch viele andere Dinge, die denen gehören,
welche hienieden dem Herrn nachfolgen oder nachfolgen
wollen, und ich brauche kaum Stellen anzuführen,
um auf sie hinzuweisen. Vor allem sind die Leiden, der
Haß, die Verachtung seitens der Welt solche Dinge, an
denen der Christ seine Freude findet, da er sie ja mit seinem
Meister und Führer teilt; aber es ist auch die Gemeinschaft
mit Ihm in den Tröstungen, die denen, welche
durch solche Leiden gehen, zuteil werden.
Ich könnte hiermit diese kurze Betrachtung schließen,
wenn das Wort sich darauf beschränkte, uns solche Personen
vorzuführen, die Jesu auf Seine Aufforderung hin
nachfolgten. Aber es trägt Sorge, uns in einer Reihe von
Beispielen auch das Bild von solchen zu zeichnen, die,
ohne von Ihm dazu aufgefordert zu sein. Ihm nachzufolgen
wünschten. Ihre Zahl ist, wie wir sehen werden, nicht
klein.
Wenden wir uns zunächst zu Matth. 8, ld—23.
„Und ein Schriftgelehrter kam herzu und sprach zu Ihm:
Lehrer, ich will dir nachfolgen, wohin irgend du gehst.
Und Jesus spricht zu ihm: Die Füchse haben Höhlen,
und die Vögel des Himmels Nester, aber der Sohn des
Menschen hat nicht, wo Er das Haupt hinlege. Ein anderer
aber von Seinen Jüngern sprach zu Ihm: Herr, erlaube
mir, zuvor hinzugehen und meinen Vater zu begraben.
Jesus aber sprach zu ihm: Folge mir nach, und
257
laß die Toten ihre Toten begraben. — Und als Er in
das Schiff gestiegen war, folgten Ihm Seine Jünger."
Hier sehen wir Leute mit guten Absichten, Männer,
die sich selbst zu Seinen Jüngern zählten. Sie wollten
Ihm folgen, ohne daß Er sie in bestimmter Weise dazu
aufgefordert hatte. Außer diesen zweien begegnen wir in
Luk. 9 noch einem dritten. Dem ersten antwortete der
Herr: Wohin willst du mir folgen? Ganz gewöhnliche
Landtiere, ja, selbst die Vögel in der Luft, Geschöpfe, die
wenig oder gar keinen Wert haben, finden einen Ruheort,
aber mir bietet die Welt keinen. Was ist also das Ziel,
zu welchem du geführt werden möchtest? — Das Wort
belehrt uns, daß das einzige Ziel, der einzige Ruheort
Christus selbst ist. Was wir also zu tun haben ist, Ihm
nachzufolgen, und zwar in einer Tätigkeit, die nur durch
Seine Person beherrscht wird. Der Vers 23 unserer Stelle
zeigt uns das Geheimnis Seiner Nachfolge. Es ist sehr
einfach; es besteht darin, Ihn uns voran wandeln zu
sehen: „Als Er in das Schiff gestiegen war, folgten
Ihm Seine Jünger".
Ihm nachfolgen! Wir sagten uns schon, einen anderen
Zielpunkt gibt es nicht. Was werden wir am Ende
unseres Pilgerlaufeö finden, als nur Ihn selbst? Welch
ein Glück! Ist das nicht genug? Unser Ich ist gleichsam
ganz vom Schauplatz verschwunden. Was bleibt davon
übrig? Nichts, denn ich habe Ihn gefunden, Ihn allein!
Habe ich damit nicht alles gefunden, da dieser Jesus, dieser
Mensch, Gottist? Wohl ist es wahr, daß Er alle, die
Er beruft, in Seinem Dienst gebrauchen kann. Er sagt:
„Folget mir nach, und ich werde euch zu Menschenfischern
machen". Oder: „Prediget und sprechet: Das Reich der
258
Himmel ist nahe gekommen". Oder: „Du aber gehe hin
und verkündige das Reich Gottes".
Beschäftigen wir uns jetzt mit einigen Einzelheiten
in der Stelle im Evangelium Lukas, die dem von Mat­
thäus Erzählten entsprechen. (Luk. y, 57—62.)
In dem ersten Fall hat der, welcher sagt: „Ich
will dir nachfolgen, wohin irgend du gehst", nicht den geringsten
Zweifel, das Gesagte auch ausführen zu können;
er lebt in einer völligen Unkenntnis über sich selbst. Durchaus
blind über seinen wirklichen Zustand, verspricht er:
„Lehrer, ich will dir Nachfolgen, wohin irgend du
gehst"
Im zweiten Fall ist der Redende einer Seiner Jünger
(vergl. Matth. 8, 21.), der auch seine Abhängigkeit
vom Herrn zum Ausdruck bringt: „Erlaube mir",
sagt er. Eine solche Abhängigkeit ist gewiß gut, aber das
dann folgende Wort: „zuerst hinzugehen und meinen
Vater zu begraben," ist keineswegs gut. Es gab danach in
dem Herzen dieses Jüngers eine Sache, die der tatsächlichen
Nachfolge des Herrn voranging. Er wollte
diese Sache nicht ohne Ihn tun, aber er gab ihr den
Vorzug, wenn er sich verpflichtet sah, dem Herrn nachzufolgen.
Er wollte mit dem Begräbnis seines Vaters in
anständiger Weise die letzten Bande lösen, die ihn noch
mit der Welt verknüpften.
Ein Vater gestorben! Was hätte man gegen den
Wunsch, den Gestorbenen zu beerdigen, einwenden können?
Nachdem das geschehen wäre, so schien es dem Manne,
wäre alles geregelt gewesen. War er deshalb zu tadeln,
wenn er den geheiligten Pflichten eines Menschen, die über
allen anderen stehen,-den Banden irdischer Zuneigung,
259
denen man sich nicht entziehen kann, Rechnung tragen
wollte, vor allem wenn das Wort selbst uns in dieser
Weise belehrt? Aber was sind in den Augen Gottes die
geschätztesten Glieder unserer Familie, wenn sie nicht Leben
aus Gott haben? Tote. „Laß die Toten ihre Toten
begraben." Die Frage ist: Gilt das ewige Band mit dem
Sohne des lebendigen Gottes in ihren Augen etwas? In
beiden Evangelien finden wir die Aufforderung: „Folge
mir nach", aber hier, in Luk. 9, 60, fügt der Herr noch
die Worte hinzu: „du aber gehe hin und verkündige das
-Reich Gottes". Die beiden Aufforderungen stimmen miteinander
überein. Die Menschen sollten lernen, daß eö von
jeher in dieser Welt einen Bereich gab, in welchem Gott
gekannt, angebetet und wo Ihm gedient werden konnte.
Dieses Reich war jetzt nahe herbeigekommen; ja, es war
schon da in der Person des Königs. Die, welche Jesu
nachfolgten, wußten das auch sehr gut. Es verkündigen
hieß Christum verkündigen, nichts anderes, solang das
Reich nicht endgültig ausgerichtet war.
Wie wir schon gesagt haben, wird in Luk. 9 noch
ein dritter Fall erwähnt, den wir im Evangelium Matthäus
vergeblich suchen. Der in den letzten Versen des
Kapitels genannte Jünger befindet sich in demselben sittlichen
Zustand wie der, welcher seinen Vater begraben
wollte, und er drückt auch den gleichen Wunsch aus, für
sein Handeln die Erlaubnis des Herrn zu erhalten. Er ist
entschlossen. Ihm nachzufolgen, möchte aber gern zuvor
die Erlaubnis seiner Hausgenossen haben.
Wenn aber Christus für unsere Herzen nicht einen höheren
Wert hat als alles andere, so ist damit nichts erreicht,
nicht einmal ein guter Anfang ist gemacht. Die wichtige
260
Frage ist: Habe ich die Hand an den Pflug gelegt? Bin
ich mit der Arbeit für Christum und für das Evangelium
beschäftigt? Wie könnte ich dann Ihn verlassen, um zurückzukehren?
Das ganze Werk des Evangeliums steht
hierbei in Frage. Die Hausgenossen könnten ja meine Arbeit
unterbrechen, und Christus und Sein Werk wären
in diesem Falle für immer vergessen und aus dem Auge
verloren!
Wir haben im Anfang unserer Betrachtung gesehen,
daß der Glaube allein uns in den Stand setzt, Jesu
nachzusolgen. Später haben wir bemerkt, daß verschiedene
von Seinen Jüngern willens waren, den Weg zu betreten,
und es wurde nötig, ihnen zu zeigen, was einen
Menschen fähig macht, ein Jünger Christi zu sein. Im
Anschluß an das bereits Behandelte finden wir in Luk.
74, 2b. 27 (auch in Matth. 70, 38) die bestimmte Antwort
auf diese Frage. Der Herr sagt dort: „Wenn jemand
zu mir kommt und haßt nicht seinen Vater und
seine Mutter und sein Weib und seine Kinder und seine
Brüder und Schwestern, dazu aber auch sein eigenes Leben,
so kann er nicht mein Jünger sein; und wer nicht
sein Kreuz trägt und mir nachkommt, kann nicht mein
Jünger sein". Es gibt in dieser Stelle zweierlei, eine Verneinung
und eine Bejahung. In verneinendem Sinne gilt
es, alle natürlichen Bande außer Christo zu verleugnen,
um Ihm allein anzugehören, im bejahenden Sinne Sein
Kreuz zu tragen, selbst um den Preis des eigenen Lebens.
Nun aber können wir dieses Kreuz erst dann tragen, wenn
wir die Größe Seiner Liebe am Kreuze für uns kennen
gelernt haben, nicht eher.
— 2br —
Welche Rolle könnten also die meistberechtigten verwandtschaftlichen
Zuneigungen oder die größten Hindernisse
spielen, wenn eö sich darum handelt, Ihm nachzufolgen?
Für den Glauben wiegen sie nicht mehr als
ein Strohhalm. Sie hatten deshalb auch keinerlei Bedeutung
für einen Matthäus, dessen Geschichte wir berichtet
haben. Alles was er besaß, samt seiner eigenen Person,
gehörte dem Herrn, sobald der Ruf an ihn erging:
„Folge mir nach!" Er machte ein großes Festmahl und
lud an seinen Tisch, der des Herrn Tisch geworden war,
alle, von denen er wußte, daß Jesus Wert für sie hatte.
Bei dem jungen Manne, von dem es heißt, daß
Jesus ihn liebte (Mark. k0, 2k; Matth, ky, 2k;
Luk. k8, 22), war es nicht so. Bei all seinen liebenswürdigen
Eigenschaften fehlten ihm die beiden Haupterfordernisse:
er kannte den Herrn nicht, und er kannte sich
selbst sehr wenig. Für ihn handelte es sich darum, etwas
zu tun, um das ewige Leben zu haben und dem Herrn
nachzufolgen: ein menschliches Werk, welches das
Gegenteil von Glauben ist. Jesus forderte ihn auf, alles
zu verkaufen was er hatte, es den Armen zu geben und
dann das Kreuz auf sich zu nehmen und Ihm nachzufolgen.
Das bedeutete aber die völlige und endgültige Verurteilung
dieses liebenswürdigen Menschen. Der junge
Oberste erweist sich deshalb auch ohne weiteres als unfähig,
der ersten Bedingung zu entsprechen, und wie hätte
er bei seinen großen Reichtümern der zweiten nachkommen
können? Der zweiten nachkommen, was will das
sagen? Die Verachtung und den Haß der Welt aus sich
nehmen, um der Liebe Christi willen sein Ansehen schädigen,
seinen Leib mannigfaltigen Leiden preisgeben, durcb
262
die Welt gehen, ohne etwas zu besitzen, selbst sein eigenes
Leben hassen, wenn es darum geht, 3hm zu dienen. —
Das sind einige von den Dingen, die der Ausdruck „das
Kreuz tragen" in sich schließt. Nichts befreit uns völliger
von uns selbst, als wenn wir dem Herrn so nachfolgen,
wie Er es wünscht.
Neben Seiner eigenen, unmittelbaren Aufforderung:
„Folge mir nach", der wir so oft in den Evangelien begegnen,
bedient sich der Herr — und das ist ein köstlicher
Gedanke — häufig auch Seiner Diener, um die Seelen
auf den Weg Seiner Nachfolge zu führen. Ein Beispiel
davon finden wir in den Worten Johannes' des Täufers,
wenn er seinen beiden Jüngern zuruft: „Siehe, das
Lamm Gottes!" Kaum hörten die zwei ihn so reden,
als sie ihren bisherigen verehrten Lehrer verließen und
Jesu nachfolgten. (Joh. l, 36. 37.) Einer von den beiden
führt seinen eigenen Bruder Petrus zu Jesu. Des folgenden
Tages sagt Jesus dann selbst zu Philippus:
„Folge mir nach". Diese verschiedenen Beispiele zeigen
uns, wie verschiedenartig die Wege des Herrn sind,
um ein solches Ergebnis-herbeizuführen. Auch können wir
die Jünger nur tadeln, wenn sie andere verhindern wollten,
in den Dienst Jehovas zu treten, weil sie Machttaten
verrichteten, indem sie Dämonen austrieben, ohne
dem Herrn mit ihnen nachzufolgen. Gewiß
war ihre Meinung gut, aber sie waren tadelnswert, weil
sie mehr an sich selbst als an den Herrn dachten und in
selbstsüchtiger Weise von ihrer Art Seiner Nachfolge
eingenommen waren, anstatt sich über alles zu freuen,
was zur Verherrlichung ihres Meisters dienen konnte. Deshalb
antwortet der Herr ihnen auch: „Wehret nicht, denn
26Z
es ist niemand, der ein Wunderwerk in meinem Namen
tun und bald übel von mir zu reden vermögen wird; denn
wer nicht wider uns ist, ist für uns." (Mark, y, zy.)
Wir haben von den verschiedenen Gefahren gesprochen,
welche denen, die dem Herrn folgen, begegnen: An
sich denken, mit sich zufrieden sein oder auch die Folgen
fürchten. In einem jeden dieser Fälle ist unser Zeugnis
geschwächt. Aber diese Folge wird noch ernster sein, wenn
jemand, vielleicht mit den besten Absichten, sich verbirgt
und Ihm von ferne folgt, da das neue uns drohende
Gefahren heraufbeschwören könnte. So war es der Fall
bei Petrus in Matth. 26, 58: „Petrus aber folgte Ihn:
von ferne". Er hatte sich nicht gefürchtet, zur Unzeit das
Schwert zur Verteidigung seines Meisters zu ziehen, und
wurde deshalb von Ihm getadelt; und jetzt, als man den
Herrn wegführte, folgte er Ihm von ferne, während Johannes,
weniger unternehmend als Petrus, aber ganz erfüllt
von der Liebe zu seinem Meister, Seinem Verhör beiwohnte
und Ihm folgte bis an den Fuß des Kreuzes.
Das durch Furcht hervorgerufene, unentschiedene Verhalten
führte den armen Petrus zu der traurigsten Tat,
die einem Jünger des Herrn vorgeworfen werden könnte.
Teure Leser! Möchte denn das Wort: „Folge mir
nach", seinen ganzen Einfluß auf unsere Herzen und unsere
Gewissen auöüben! Ach! zu aller Zeit waren die,
welche Jesu mit ihrem ganzen Herzen nachfolgten, sehr
klein an Zahl. Einst empfingen von zwölf Männern, die
von Mose zur Auskundschaftung des Landes Kanaan ausgesandt
wurden, nur zwei das Zeugnis, daß sie Jehova
völlig nachgefolgt waren: Kalcb, der Sohn JcphunneS,
264
und Josua, der Sohn Nuns (4. Mose 32, 41. 42: 5. Mose
4, 36), während die zehn anderen „durch eine Plage vor
Jehova starben". (4. Mose 44, 37.)
Bedenken wir auch, daß außer Jesu niemand berechtigt
ist, zu sagen: „Folge mir nach". Wieviele» Menschen
begegnen wir, welche behaupten, dem Herrn nachgefolgt
zu sein, während sie, wie einst Elia, in Wirklichkeit
das Bewußtsein haben, unter der Zucht Gottes zu
stehen, und, ähnlich wie er dem Elisa auf dessen Worte:
„Ich will dir nachfolgen", erwiderte, ausrufen sollten:
„Geh, kehre zurück! denn was habe ich dir getan?"
(4. Kön. 49, 20. 24.)
Ja, laßt uns Ihm allein nachfolgen! Nichts kann
Ihm wohlgefälliger sein, als Seine Vielgeliebten in Seiner
unmittelbaren Nachfolge zu sehen, ohne daß irgend
etwas sie aufhält, weder die Wüste, noch ein anderes
Hindernis. Hat Er nicht gesagt: „Ich gedenke dir die
Zuneigung deiner Jugend, die Liebe deines Brautstandes,
dein Wandeln hinter mir her in der Wüste, im
unbesäten Lande"? (Jer. 2, 2.)
3n Gleichgestalt des Arisches der Sünde
„Denn das dem Gesetz Unmögliche, weil es durch
das Fleisch kraftlos war, tat Gott, indem Er, Seinen
eigenen Sohn in Gleichgestalt des Fleisches der Sünde
und für die Sünde sendend, die Sünde im Fleische verurteilte."
(Röm. 8, 3.)
Anlaß zu den nachstehenden Ausführungen gibt die
Frage eines Lesers des „Botschafter". Bei einer Besprechung
im Gescbwistcrkreisc über den Ausdruck: „in Gleich-
265
gestalt des Fleisches der Sünde", war eine Meinungsverschiedenheit
entstanden. Da dieser Ausdruck nun noch
anderen Lesern Schwierigkeiten bereiten könnte, mag eine
etwas ausführlichere Behandlung der Frage willkommen
sein.
Der 3. Vers unseres Kapitels schließt sich unmittelbar
an den 2. an, in welchem wir lesen: „Das Gesetz des
Geistes des Lebens in Christo Jesu hat mich freigemacht
von dem Gesetz der Sünde und des Todes". Zunächst sei
hierzu bemerkt, daß das Wort „Gesetz" an dieser Stelle
nichts zu tun hat mit dem auf dem Berge Sinai gegebenen
Gesetz Gottes, den zehn Geboten, sondern einfach
einen Grundsatz, eine feststehende Regel bezeichnen will.
Ähnlich spricht der Apostel in Kap. Z, 27 von dem „Gesetz
der Werke" oder des „Glaubens", in Kap. 7, 2 von
dem „Gesetz des Mannes", und in Vers 23 desselben
Kapitels von einem „Gesetz in meinen Gliedern", dem
„Gesetz der Sünde" usw. Der Mensch von Natur ist nicht
nur ein schuldiger S ü nder, sondern er steht unter
einem Gesetz, von dem er sich nicht freimachen kann,
dem Gesetz der Sünde und des Todes. Sünde und Tod
herrschen über ihn. Nichts kann ihn davon befreien,
nicht einmal das heilige Gesetz vom Sinai, auch wenn er
dessen Gebote als gerecht und gut anerkennt und zu halten
sich bemüht. Er ist „kraftlos"; in ihm, d. i. in seinem
Fleische, „wohnt nichts Gutes"; „die Gesinnung des Fleisches
ist Feindschaft wider Gott". Ja, er selbst muß, wenn
Gottes Licht in sein Herz dringt, anerkennen: „Ich bin
fleischlich, unter die Sünde verkauft".
So redet Gottes Wort, und so erfährt eö der in der
zweiten Hälfte deö 7. Kapitels beschriebene Mensch. Das
266
Ende seines Kampfes ist bekanntlich der verzweiflungö-
vollc Ruf: „Ich elender Mensch! wer wird mich retten
von diesem Leibe des Todes?" Ja, wie soll er
aus diesem schrecklichen Zustand herauskommen? Vergebung
seiner vielen Sünden, so unumgänglich notwendig
sie ist, genügt hier nicht. Die Quelle ist verderbt, der
Baum ist faul. Die Quelle muß gereinigt, der ganze
Baum muß erneuert, der Mensch muß von dem furchtbaren
Gesetz der Sünde und des Todes, unter dem er
seufzt, freigemacht werden. Wie kann das aber auf gerechter
Grundlage, in einer die Heiligkeit Gottes befriedigenden
Weise geschehen?
Der böse Zustand des Menschen ist die Folge seines
Ungehorsams und verdient Verurteilung, Gericht. Sollten
wir deshalb von ihm befreit werden, so konnte es
nur auf gerichtlichem Wege geschehen. Wie aber war das
möglich? Das Gesetz vom Sinai, das zum Leben gegeben
war, erwies sich uns zum Tode. (Kap. 7, 70.) Es konnte
wohl gerechte Forderungen stellen, den Übertreter derselben
verdammen, ihn unter Fluch und Todesurteil bringen,
aber es konnte ihm nichts geben, es konnte ihn nicht
erretten, ihn nicht aus seinem Elend herausfüh -
r e n. Das Gesetz ist eben durch das Fleisch, d. i. durch den
Zustand, in welchem der Mensch sich als Sünder befindet,
kraftlos. „Schwach" und „nutzlos" in sich selbst,
kann es „nichts zur Vollendung bringen". (Hebr. 7, 78.
79.) Und doch war es die Absicht Gottes, dem Menschen
Leben zu geben und ihn zu einem Zeugen Seiner errettenden
Gnade zu machen.
Wo war da Hilfe zu finden? Es liegt auf der Hand,
daß, wenn Gott Seine Absicht ausführen wollte. Er selbst
267
ins Mittel treten mußte. Und in welch wunderbarer Weise
hat Er das getan! Wir lesen in unserem Verse: „Das dem
Gesetz Unmögliche tat G ot t", und zwar „indem Er Seinen
eigenen Sohn sandte". „Also hat Gott die Welt geliebt,
daß Er Seinen eingeborenen Sohn gab." Aber w i e
gab, wie sandte Er Ihn? „In Gleichgestalt des
Fleisches der Sünde." Es hätte nichts genützt, wenn Er
in einer anderen Gestalt gekommen wäre. Die, welche
Gott zu Seinen Kindern machen wollte, waren Menschen,
waren „Blutes und Fleisches teilhaftig", Menschen in
Fleisch und Blut; so hatte Er sie ja erschaffen! Es lag also
der zwingende Grund vor, daß auch Christus, wenn Er
uns erretten wollte, „in gleicher Weise an denselben
teilnehmen" mußte. (Hebr. 2, 74.) Nur so konnte
Er uns aus der Gewalt dessen, der die Macht des Todes
hatte, befreien, nur so uns Leben bringen und die Herrschaft
der Sünde, in welcher wir lagen, zerbrechen. Nur
der Tod eines heiligen Stellvertreters konnte diesem furchtbaren
Zustand ein Ende machen und die Brücke zu einem
neuen Zustand werden.
Verstehen wir jetzt, warum der Sohn Gottes ein
wahrhaftiger Mensch, warum das Wort
„Fleis ch" werden mußte? Und warum alle, die „n i ch t
Jesum Christum im Fleische kommend bekennen", Verführer
und Antichristen genannt werden? (7. Joh. 2, 22;
2. Joh. 7.) Beachten wir indes genau den Wortlaut der
eben angeführten Stelle. Es heißt nicht: i n s Fleisch oder
gar in unser Fleisch kommend, als wenn Christus unser
sündiges Fleisch angenommen hätte, sondern i m Fleische
und in Röm. 8, 3: „in Gleichgestalt des Fleisches
der Sünde" (oder „von Sündenfleisch"), so wie
268
eö in uns nach dem Falle des ersten Menschenpaares ist.
Christus wurde Mensch, von Gott gezeugt, von Diana geboren,
„Er nahm Knechtsgestalt an, indem Er inGleich -
heit der Menschen geworden ist und in Seiner Gestalt
wie ein Mensch erfunden wurde". (Phil. 2, 7. 8.) Aber
indem Er das tat, blieb Er von jeder Befleckung der
Sünde frei. Er kam aber auch nicht in diese Welt wie der
erste Adam, d. i. rein und unschuldig. Er war das selbstverständlich.
Aber zu Maria, dem von Gott so Hochbegnadigten
Weibe, wurde von dem Engel gesagt: „Darum
wird auch das Heilige (das heilige, innerlich und
äußerlich von aller Sünde abgesonderte Wesen), das
geboren werden wird, Sohn Gottes genannt werden".
(Luk. 7, ZS.)
So betrat unser hochgelobter Herr diese Erde, so kam
Er in diese Welt, ein Mensch in Blut und Fleisch, in
Gleichheit der Menschen, in Gleichgestalt des in uns
sündigen Fleisches, wahrhaftig Mensch, wahrhaftig Gott
in einer Person, „in allem versucht in gleicher Weise wie
wir, ausgenommen die Sünde". (Hebr. 4, "ls.)
Er, der Schöpfer, nahm an all den Schwachheiten,
welche den Menschen als Geschöpf kennzeichnen — Hunger,
Durst, Müdigkeit, Schlafbedürfnis, Schmerzen, Leiden
des Leibes und der Seele usw., nicht nur in Gnaden
teil, sondern Er fühlte sie auch in einer Weise oder Tiefe,
wie nur Er sie fühlen konnte; aber stets blieb Er der
völlig Sündlose, der Heilige und Gerechte. Er stand deshalb
auch ganz allein in dieser Welt. Eine Verbindung
zwischen dem lebenden Christus und dem Menschen,
zwischen dem Heiligen und Unheiligen, war unmöglich.
Darum hören wir Ihn auch sagen: „Wenn das Weizen-
26Y
körn nicht in die Erde fällt und stirbt, bleibt es allein".
(Joh. 42, 24.)
Wir verstehen leicht, daß eö so sein mußte, nicht
anders sein konnte. Nur ein Gerechter konnte Ungerechte
„zu Gott führen", nur ein heiliger Mensch
für den unheiligen Menschen „zur Sünde gemacht werden".
Nur in einem solchen Menschen konnte „die Sünde
im Fleische verurteilt werden", zum ewigen Heil und zur
ewigen Befreiung aller derer, die an Ihn glauben würden.
Ich wiederhole also: Es mußte einerseits ein Mensch sein
wie wir, anderseits aber ein Mensch, „heilig, unschuldig,
unbefleckt, abgesondert von den Sündern". (Hebr.
7, 26.) Es konnte nicht ein Engel sein, sondern nur
„Gott, geoffenbart im Fleische, gerechtfertigt im
Geiste, gesehen von den Engeln, gepredigt unter den
Nationen, geglaubt in der Welt, ausgenommen in
Herrlichkeit" (4. Tim. 3, 46), war imstande, die
Frage der Sünde zu lösen.
Sein Name sei deshalb gepriesen in Ewigkeit! Er hat
das, was dem Gesetz unmöglich war, was keine Macht
im Himmel und auf Erden hätte vollbringen können, getan,
indem Er Seinen eigenen Sohn in Gleichgestalt des
Fleisches der Sünde und für die Sünde herniedersandte.
Beachten wir das kurze, aber so bedeutungsvolle Wort:
für die Sünde, die als eine unübersteigliche Wand
zwischen Ihm und uns stand, und die nur dadurch entfernt
werden konnte, daß unser Herr und Heiland, neben den:
Tragen unserer Schuld, unser großes, heiliges Sünd -
opfer wurde. „Den, der Sünde nicht kannte, hat
Er für uns zur S ü n d e g em ach t, auf daß wir Go t-
tes Gerechtigkeit würden in Ihm" — „Menschen
270
in Christ o", für die es keine Verdammnis mehr gibt,
auf denen, als „Begnadigten in dem Geliebten", Gottes
Auge vielmehr mit Wohlgefallen ruht. (2. Kor. S, 2t;
Röm. 8, t; Eph. t, 6.)
Fürwahr: Was sollen wir hierzu sagen!?
Kriede
„Als es nun Abend war an jenem Tage, dem ersten
der Woche, und die Türen, wo die Jünger waren, aus
Furcht vor den Juden verschlossen waren, kam Jesus und
stand in der Mitte und spricht zu ihnen: Friede euch!"
(Joh. 20, ty.)'
Es ist etwas Großes, mit Autorität sagen zu können:
„Friede euch!" und es ist wiederum etwas Großes für ein
Herz, die Kraft dieses Wortes zu empfinden. Der Herr
Jesus hatte schon vorher zu Seinen Jüngern gesagt:
„Meinen Frieden gebe ich euch" (Joh. 74, 27), und
auch dieser Friede ist heute das kostbare Teil der Gläubigen.
Doch als der Herr mit dem Gruße: „Friede euch!"
in die Mitte der Jünger trat, besaßen sie nach außen hin
nichts weniger als Frieden. Betrachten wir nur die wegen
der Juden verschlossene Tür! Sie hatten erwartet, „daß Er
Der sei, der Israel erlösen solle" (Luk. 24, 2t); und
nun waren sie in ihren Herzen bestürzt und fürchteten sich
vor denen, die draußen waren. Wohl vertrauten sie in
einer Art noch auf den Erretter, obgleich Er noch nicht zurückgekehrt
war, und sie sich deshalb betreffs ihrer irdischen
Hoffnungen in großer Sorge befanden. Aber wenn
auch Gott ihre Herzen aufrecht halten mochte, gab es doch
nichts Sichtbares, worauf sic sich hätten stützen können.
271
Nun, bis zu diesem Punkte muß eine Seele gebracht
werden; sie darf keine andere Hoffnung mehr erblicken, als
in Christo allein, mag Er auch nicht sofort von ihr gefunden
werden.
Der Sünder wird durch den Geist der Gnade, der
zu ihm redet, von seinem verlorenen Zustand überführt,
aber nur die Macht der Gnade kann ihm Frieden geben
in der Erkenntnis, daß seine Sünden vergeben sind.
Beachten wir hier, daß die Jünger sich auf einen
lebenden Messias gestützt hatten. Er war ihre Kraft,
ihr Versorger, ihr Alles gewesen, solang sie mit Ihm gewandelt
hatten. Und nun war Er von ihnen genommen.
Als auferstanden kannten sie Ihn noch nicht. So
kann auch heute eine Seele von dem kostbaren Namen und
der Liebe Jesu hören, und das mag, wenn der Herr in
Gnaden wirkt, das Herz anziehen und selbst erquicken. Ja,
eö kann so weit gehen, daß die Welt ihre Anziehungskraft
verliert und nur Jesus begehrenswert erscheint, daß
man selbst mit den Jüngern sagen möchte: „Herr, zu
wem sollen wir gehen? Du hast Worte ewigen Lebens".
(Joh. 6, 68.) Aber sobald man erkennt, daß man verloren
ist, sieht man, daß man nicht nur eines lebenden,
sondern eines gestorbenen und auferstandenen Heilandes
bedarf. Es ist eine besonders drangsalövolle Zeit
für eine solche Seele, wenn der Geist Gottes sie von
Schuld und Sünde überführt: die Welt hat nichts mehr
für sie, und Jesus ist ihr anscheinend auch genommen.
Aber gerade in diesem Zustand und in dieser Lage offenbart
Er sich selbst der Seele, indem Er zu ihr sagt: „Friede
dir!" Was der Verlorene bedarf, ist nicht ein bloßer
Segen, eine Kraft für seine Schwachheit, auch nicht die
272
Erfüllung äußeren Mangels, nein, er muß einen Heiland
haben. Ein Mensch, der in Not ist, mag sich an
die Welt um Hilfe wenden, und er wird das, wenn er nicht
bekehrt ist, ohne Zweifel tun. Aber eine Seele, die sich
verloren fühlt, kann durch nichts befriedigt werden,
als nur durch einen Heiland.
Hier kommt der Wert des Kreuzes zur Geltung. Es
zeigt uns nicht nur unseren verlorenen Zustand, sondern
auch, daß alles, was zu uns gehört, von einem Anderen
getragen worden ist. Und das ist es, was der Sünder
bedarf. Wir mögen früher schon nach Jesu ausgeschaut
haben, damit Er uns in Fällen äußerer Not zu Hilfe
komme, aber die Entdeckung, daß wir verloren sind, findet
ihre Begegnung nur im Kreuze. Der natürliche Mensch
mag es als eine begehrenswerte Sache betrachten, Vergebung
seiner Sünden zu empfangen; aber die wahre Bedeutung
des Kreuzes zu sehen, zu verstehen, daß der Zorn
Gottes dort getragen, der Kelch getrunken, daß Jesus ein
Fluch für uns geworden ist, begegnet dem Bedürfnis derer,
die ein Verständnis dafür haben, was der Sünde
gebührt. Das ist es, was ein Herz, welches weiß, was es
ist, verloren zu sein, bedarf. Neues Licht geht in der Seele
auf, wenn sie in dem gekreuzigten Heiland erkennt, was
die Sünde angerichtet hat. Müßten wir das in uns selbst,
ohne das Kreuz, erkennen, so bedeutete es nur ewiges
Verderben. Was aber wäre der Sinn eines Fluches, der
über das Haupt des Hochgelobten ergangen ist, wenn es
nicht für uns geschehen wäre? So werden durch das
Kreuz nicht nur unsere Zuneigungen erweckt, sondern es
drängt sich uns im Tode Jesu die Erkenntnis auf, daß
wir verloren sind. Was könnte ferner die Tatsache,
27Z
daß der Sohn Gottes im Grabe gelegen hat, bedeuten,
wenn Er nicht für uns dagewesen wäre? Der „Abglanz
der Herrlichkeit Gottes", ein sündloser, heiliger Mensch,
vollkommen in all Seinem Wandel und Verhalten, hat
im Grabe gelegen! Für wen könnte das geschehen sein,
auf wen könnte es Bezug haben, wenn nicht auf uns?
Ich wiederhole: Welcher Sinn liegt in dem Tode
Christi, wenn du nicht verloren bist — verloren durch all
das Böse, die Sünde, den Schmutz, die durch nichts Geringeres
als das Blut Christi ausgetilgt werden konnten?
Ist dein Zustand nicht so schlimm, daß das Blut die einzige
Antwort darauf geben kann, so habe ich keinen Trost
für dich; ist er aber so schlimm, dann ist Einer da, den
daö Gericht Gottes für die Sünde getroffen hat — Einer,
in dem alles für uns vollbracht worden ist, und damit
ist das Ende erreicht. Die Erkenntnis unseres Verlorenseins,
wenn sie in Jesu völlig erfaßt wird, geht mit dem
Erkennen, daß wir errettet sind, Hand in Hand, und
alsdann dringen die kostbaren Worte an unser Ohr:
„Friede euch!"
Hiob war ein Mann, auf den Gott Hinweisen konnte
als auf einen aufrichtigen, vollkommenen Mann, seinesgleichen
war kein Mensch auf der Erde. Und doch konnte
er, wenn Satan sein Widersacher wurde, vor Gott nicht
bestehen. Er pocht zwar auf seine Gerechtigkeit, auf seinen
unsträflichen Wandel, aber was muß er sagen, wenn er
wirklich ins Licht Gottes kommt? „Mit dem Gehör des
Ohres hatte ich von dir gehört, aber nun hat mein Auge
dich gesehen. Darum verabscheue ich mich und bereue
in Staub und Asche." (Kap. 42, s. 6.)
So ist der Mensch, der beste Mensch, im Lichte Got-
274
teö: verabscheuungöwürdig. Und Christus, unser Herr und
Heiland? Auch Er trat dem Widersacher in der Gegenwart
Gottes entgegen. Aber gab es irgend etwas in Ihm,
auf das Satan hätte Hinweisen können als nicht passend
für das durchdringende Licht dieser Gegenwart? Nein, da
war nichts als vollkommenste Reinheit und Heiligkeit,
nichts als duftender Wohlgeruch für Gott. Und doch mußte
Er als unser Bürge und Stellvertreter den Tod als Sold
der Sünde schmecken, als das, worin Satans Recht an
uns sich offenbart. Welch ein Leiden das über Seine gerechte
Seele brachte, sehen wir schon im Garten Gethsemane,
in dem „ringenden Kampfe", durch den Er angesichts
des vor Ihm Liegenden ging. Eö kam voll und ganz
über Ihn in den drei Stunden der Finsternis und fand
seinen endlichen Ausdruck in dem erschütternden Schrei:
„Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?"
Da sehen wir, was das Kreuz ist: Christus, unter
dem Gewicht des Zornes Gottes wider die Sünde. Welch
ein Erkennen, welch ein Anblick für einen Verlorenen!
Mein Leser, jemehr du dein Verlorensein vor Gott in seiner
ganzen Bedeutung erfassest, desto besser und tiefer wirst
du auch verstehen, was das Kreuz bedeutet und welch ein
Wert ihm innewohnt.
Aber es ist jetzt nicht nur ein gekreuzigter, sondern
ein auferstandener Heiland, der zu uns redet und uns den
Sieg gibt über alles, was wider uns war, nachdem Er uns
von dem Leiden darunter erlöst hat. Das Wort „Friede
euch!" ist darum der machtvolle Ausspruch Dessen, der
unser ganzes Verderben kannte und doch von „Friede"
reden konnte, im Bewußtsein dessen, daß alles, was der
Seele Frieden zu bringen vermochte, geschehen war; denn
275
Er war ja auferstanden von der Macht der Sünde und deö
Todes, nachdem Er dem Widersacher gegenüber gestanden
hatte. Und wie hätte ein auferstandener Heiland von etwas
anderem reden können als von „Friede"? Konnte noch
von Zorn die Rede sein, nachdem Er die Sünde und den
Fluch getragen hatte und als Sieger aus dem Grabe hervorgegangen
war? Ja, es ist ein auferstandener Heiland,
der denen Frieden verkündigt, die, obgleich sie noch keinen
Frieden haben, doch die Bedeutung des Kreuzes kennen.
Alle die Forderungen, von denen das Kreuz Kunde gibt,
sind für immer befriedigt worden, und darum ist es für
alle, die da glauben: „Friede", „Friede".
Die erste Person, an die der Herr sich nach Seiner
Auferstehung wendet, ist eine Frau, von der Er sieben Dämonen
ausgetrieben hatte; aber die Gnade hatte ihr Herz
gewonnen. Eö zog sie unwiderstehlich zu Jesu, obschon sie
den Lebenden unter den Toten suchte; aber es war doch
Jesus, den sie suchte. Und in derselben Maria, die der Herr
dadurch auszeichnete, daß Er sich ihr zuerst offenbarte,
hatte sich einst die volle Kraft des Bösen entfaltet. Zu
ihr sprach der Herr jenes eine Wort, das ihr unmittelbar
kundtat, daß Er, der gestorben war, wieder lebte — Maria!
Er gab ihr damit eine Hoffnung, die über Tod und
Verwesung hinausging, denn Jesus stand jenseit des Grabes.
Jesus, auf den alle ihre Gedanken und Zuneigungen
gerichtet waren, war für immer lebendig, und nun ruhten
alle ihre Hoffnungen aus dem nie endenden Leben Dessen,
der für sie gestorben war. Die Finsternis, die sie in Jesu
Tod eine Zeitlang geschmeckt hatte, hatte keine Bedeutung
mehr für sie. Sie war durchschritten. Er war auferstanden
für immer, und so finden wir die Reichtümer der
276
Gnade Gottes zuerst einer Person geoffenbart, die in der
Gewalt einer Vollzahl von Dämonen gewesen war.
Und was bedeutet es heute, wenn der Herr einer Seele
Sein „Friede dir!" zuruft? Die Kraft des Wortes liegt
darin, daß eö nicht ein vorübergehendes Wort der Freundlichkeit
ist, sondern daß es Frieden, ewigen Frieden verkündigt,
weil Friede gemacht ist kraft des Werkes, das
Christus auf dem Kreuze vollbracht hat. Auf diesem Boden
stehend, ruft Er uns „Frieden" zu; und wenn wir
verstanden haben, daß Er in diesem Sinne nie von „Frieden"
geredet hat, bis Er auferstanden war, so erkennen
wir, daß wir, „gerechtfertigt aus Glauben, Frieden
mit Gott haben, durch unseren Herrn Jesus Christus".
Ja, wenn Er, da wir noch Sünder waren, für
uns gestorben ist, „vielmehr nun, da wir jetzt durch Sein
Blut gerechtfertigt sind, werden wir durch Ihn gerettet
werden vom Zorn"! (Röm. 5, k. 8. y.)
„Sie Wahrheit festhallend in Liebe."
lEph. 4, 15-l
In den Kapiteln 3—5 des Epheserbriefes lesen wir
nicht weniger als fünfmal das Wort: „in Liebe". Der
Apostel will mit dieser Forderung ohne Zweifel den Lesern
die Liebe als unumgängliche Notwendigkeit für einen gesegneten
Wandel als Christen vor die Seele stellen.
In Kap. Z, 77 heißt es: „... indem ihr in Liebe
gewurzelt und gegründet seid, auf daß ihr völlig zu erfassen
vermöget, mit allen Heiligen, welches die Breite
und Länge und Tiefe und Höhe sei, und zu erkennen die
die Erkenntnis übersteigende Liebe des Christus, auf daß
277
ihr erfüllt sein möget zu der ganzen Fülle Gottes". Aus
der Wurzel im Grunde zieht die Pflanze Kraft und Nahrung.
So sollte Wurzel und Grund in unserem Wandel
Liebe sein, die Liebe des Christus, die die Erkenntnis
übersteigt.
In unseren Tagen hat der Herr vielen der Seinen
ein gut Teil Erkenntnis gegeben. So wichtig und dankenswert
das ist, darf doch die Erkenntnis der Liebe nicht
vorangestellt werden, sondern wiederum sollte die Erkenntnis
in der Liebe wurzeln. Ob aber nicht viele von uns mit
mir bekennen müssen: „Es hat bei guter Erkenntnis doch
oft an der Liebe gefehlt"? Die Erkenntnis bläht auf,
die Liebe erbaut. (7. Kor. 8, 7.) Wo die Liebe nicht im
Vordergründe steht, da besteht die Gefahr der llberhebung
(Pharisäismus). „Der Bruder oder die Schwester verstehen
die Wahrheit noch nicht", hört man oft sagen.
Vielleicht ist es so. Aber wenn man dann achtlos an solchen
vorbeigeht, sic wohl gar meidet, zumal dann wenn
sie unseren Versuchen, sie über den zu gehenden Weg zu
belehren, auögewichen sind, wo bleibt dann der Wandel
in Liebe? Der Bruder, die Schwester, die mit uns durch
den Heiligen Geist zu einem Leibe getauft sind, werden
uns entfremdet, und wir ihnen. Das würde vielleicht nicht
so der Fall sein, wenn wir es besser verständen, die Wahrheit
in Liebe festzuhalten. Wenn wir uns auch mit Geschwistern,
die infolge ihrer geringeren Erkenntnis noch an
manchem Menschlichen sesthalten, nicht einsmachen können,
dürfen diese Glieder am Leibe Christi unö doch nicht
dadurch entfremdet werden. Wenn das „i nLiebe" unsere
Herzen regiert, wird es uns weise machen im Umgang mit
278
solchen. Darum schließt sich in Kap. 4, 3 die Mahnung
an: „..mit Langmut, einander ertragend in Liebe".
Aus einem lieblosen Verhalten erwächst aber ein doppelter
Schaden. Den Geschwistern, die die Wahrheit noch
nicht so völlig erkannt haben, erschweren wir den Zugang,
wir stehen ihnen im Wege, und wir selbst kommen
in Gefahr, uns in uns selbst zu verlieren. Dieser Übelstand
führt dann zu Einseitigkeit und Gleichgültigkeit, was wiederum
lähmend auf unsere Zusammenkünfte einwirken
muß. Alle Übungen können gewohnheitsmäßig werden und
darum an Kraft verlieren. Wo es aber an Kraft fehlt, da
wird auch der Dienst, die eifrige Tätigkeit leiden. Mancher
möchte am liebsten immer nur genießen, aber nicht
arbeiten. „Nein", erwidert man, „so ist eö nicht, wir
möchten gern tätig sein, aber es fehlt uns an Gelegenheit."
Täuschen wir uns nicht selbst? Wenn eö an Arbeitsgelegenheit
mangelt, so ist es in den meisten Fällen
unser eigenes Verschulden. Und weiter: Vergessen wir
nicht, daß da, wo man die Kräfte nicht übt, sich leicht
Müßiggang cinstellt. Wo aber bleibt dann die „Darreichung
nach der Wirksamkeit in dem Maße jedes einzelnen
Teiles", wodurch das Wachstum des Leibes bewirkt
wird „zu seiner Selbstauferbauung in Liebe"?
(Kap. 4, 46.)
So laßt uns denn die ernste Mahnung in der letzten
der fünf Stellen (Kap. 5, 4. 2) beherzigen: „Seid nun
Nachahmer Gottes, als geliebte Kinder, und wandelt
in Liebe, gleichwie auch der Christus uns geliebt
hat"!
(Nach einem „Eingesandt")
279
Kurcht vor dem llöel
„Wer auf mich hört, wird sicher wohnen, und wird
ruhig sein vor des Übels Schrecken." (Spr. 7, 33.)
„F n r ch t vor dem Übel" ist schon ein sehr großes
Übel, das vielen leidenden, zitternden Herzen nur zu wohl
bekannt ist. Wie oft fürchtet sich das Herz lange im voraus
vor kommender Not. Anstatt in Hoffnung Kraft zu
gewinnen, schwächt sich der Geist in Furcht. Er malt
sich ein düsteres Zukunftsbild aus und nimmt die ganze
Sorgenlast, für die er noch nicht die nötige Kraft empfangen
hat, vielleicht auch nie braucht, vor der Zeit auf sich.
Er schenkt den eigenen törichten Ahnungen Gehör und vermehrt
sein Leid, anstatt auf die liebliche Stimme himmlischer
Weisheit zu lauschen. O Kind Gottes, möchte es
bei dir nie so sein! Laß doch dein Herz allezeit aufmerkeu
auf daö, was die göttliche Weisheit dir sagt, was die
Stimme der Liebe zu dir spricht, die dir so gern Kummer
und Herzeleid ersparen möchte, und die so geeignet ist,
alle deine Furcht zunichte zu machen.
„Fürchte dich nicht", ruft sie dir zu, „denn ich bin
mit dir; schaue nicht ängstlich umher, denn ich bin dein
Gott; ich stärke dich, ja, ich helfe dir, ja, ich stütze dich mit
der Rechten meiner Gerechtigkeit." „Wenn du durchs Wasser
gehst, ich bin bei dir, und Ströme, sie werden dich
nicht überfluten." „Wie ein Vater sich über die Kinder
erbarmt, so erbarmt sich Jehova über die, welche Ihn
fürchten. Denn Er kennt unser Gebilde, ist eingedenk,
daß wir Staub sind." „Fürchtet euch nicht! stehet und
sehet die Rettung Jehovas, die Er euch heute schaffen
280
wird." „Erschrick nicht und fürchte dich nicht! denn Jehova,
dein Gott ist mit dir überall, wohin du gehst." „An
euch aber sind selbst die Haare des Hauptes alle gezählt.
Fürchtet euch nun nicht."
Unter solchen Worten der Liebe schmilzt die Furcht vor
dem Übel hinweg wie der Schnee vor der Mittagssonne,
zerfließt in Tränen der Reue darüber, daß das Herz einer
solchen Liebe mißtrauen konnte.
Schilt nicht!
Du sollst — so lautet alter Weisheit Rat —
Den Tag niemals noch vor dem Abend loben;
Oft, eh er schwand im Sonnenglanze, hat
Sich Sturm und Wetterbrausen jäh erhoben.
Doch schilt auch nicht den Tag, eh er sich neigt.
Wenn er dir Lasten bringt und Leid und Mühe,
Wenn sich kein Sonnenstrahl am Himmel zeigt
Den ganzen Tag — o schilt ihn nicht zu frühe!
Trag seine Bürde, die dir zugeteilt.
Halt stand dem Sturm; es liegt darin ein Segen.
Ob Stund' um Stunde auch von dannen eilt,
Ch's Abend wird, kann noch der Sturm sich legen.
Ja, was der Morgen dir nicht bringt, vermag
Der Mittag und der Abend dir zu geben;
Drum schilt vor Abend nimmermehr den Tag!
Und wie den Tag, so schilt auch nicht dein Leben!
Trag unverzagt des Lebenstages Last
Und harre aus; was er dir vorenthalten
An Sonnenschein und Glück, das kann zur Rast
Am Abend noch sich lichtvoll dir entfalten.
Und blieb cs dunkel lebenslang allhier
Um dich — was tut's? Hab Ihn zum Licht! und Wonne
Und Himmelsglanz erfüllt dein Herz, bis dir
Einst leuchten wird der Ewigkeiten Sonne.
G. H.
Die Lasten mit der blauen Schnur
Ein Wahrzeichen
in Israel und eine Belehrung für den Christen
„Und Jehova sprach zu Mose und sagte: Rede
zu den Kindern Israel und sprich zu ihnen, daß sie
sich eine Quaste an den Zipfeln ihrer
Oberkleider machen, bei ihren Geschlechtern, und
daß sie an die Quaste des Zipfels eine Schnur
von blauem Purpur setzen; und es soll euch
zu einer Quaste sein, daß ihr, wenn ihr sie ansehet,
aller Gebote Jehovas gedenket und sie tuet, und daß
ihr nicht umherspähet eurem Herzen und euren Augen
nach, denen ihr nachhuret; damit ihr aller meiner
Gebote gedenket und sie tuet, und heilig seiet eurem
Gott. Ich bin Jehova, euer Gott, der ich euch aus
dem Lande Ägypten herausgeführt habe, um euer
Gott zu sein; ich bin Jehova, euer Gott." (4. Mose
45, 37—44.)
Diese Anordnung Gottes für die Kinder Israel war
nicht ohne weise Absicht. Das allgemein getragene Oberkleid
bestand aus einem wahrscheinlich ärmellosen, großen,
viereckigen Stück Zeug, das man umwarf. An die
vier Zipfel dieses Kleidungsstückes mußte je eine Quaste
mit einer Schnur von blauem Purpur befestigt werden
(5. Mose 22, 42), sodaß eine oder mehrere dieser Quasten
den Augen des Trägers, wo er ging und stand, unbedingt
sichtbar werden mußten.
Gott, der das menschliche Herz kennt und weiß, was
in ihm ist, gab dem Israeliten mit diesem Kleide und
282
seinen Quasten ein Hilfsmittel an die Hand, das zunächst
für ihn, in weiterem Sinne aber auch für seine Mitmenschen
bedeutungsvoll war. Die Quasten sollten den Israeliten
an die heiligen Gebote seines Gottes erinnern.
Dor allem redete die an die Quaste gesetzte blaue Purpurschnur
eine besondere Sprache. „Blau" ist die Farbe des
Himmels und deutet bekanntlich in dem Ephod des Hohenpriesters,
in den Teppichen und Vorhängen usw. der
Stiftshütte auf den himmlischen Charakter des Menschen
Jesus Christus hin. Es war also nicht von ungefähr eine
purpurblaue Schnur. Ihre Farbe sollte dem Israeliten
stets ins Gedächtnis rufen, daß er mit dem Gott des
Himmels in Verbindung gebracht war und Ihm in allem
Denken und Handeln Treue schuldete. Aus den Verunreinigungen
des Landes Ägypten herausgeführt und zu
Gott gebracht, geziemte dem Volke Heiligkeit, Absonderung
von allem Bösen. Denn Jehova war i h r Gott und
sie Sein Volk.
Kam der Israelit in Gefahr, Wege zu betreten, die
nicht nach dem Gesetz seines Gottes waren: die Quasten
mit der blauen Schnur redeten eine für ihn verständliche
Sprache. Sie erinnerten ihn an die Heiligkeit Gottes.
Ließ er seine Augen umherschweifen, um den Lüsten
und Begierden seines Herzens zu folgen, und so von Gott
abzuirren — der Blick auf die Quasten mit der blauen
Schnur lenkte seine Gedanken auf die Verbindung mit
dem heiligen Gott zurück. Gott warnte ihn und mahnte
an Sein unverbrüchliches Gesetz.
Kam er in die Versuchung, sein Herz zu sehr an die
irdischen Dinge zu hängen oder gar, gleich den heidnischen
Völkern um Israel her, sich Götzen aus Gold und
28Z
Silber, Erz und Stein zu machen, so erinnerte ihn die
Schnur an den einen lebendigen Gott, der ihm Seine gerechten
und heiligen Gebote gegeben hatte, dessen erstes
lautete: „Du sollst keine anderen Götter haben neben mir".
Aber, wie schon gesagt, nicht nur waren die Quasten
mit der blauen Schnur für den das Kleid Tragenden eine
Erinnerung und Mahnung, auch seine Umgebung sollte
durch das Schauen derselben an die Treue in dem Halten
der Gebote Gottes erinnert werden. Es war somit
ein Erinnern ringsumher. Wie schön kam doch die freundliche
Vorsorge Gottes und Seine Weisheit in der Anordnung
zum Ausdruck!
Freilich blieb es jedem Israeliten überlassen, sich zu
erinnern, wenn er die Quaste an den Zipfeln seines oder
seines Nächsten Oberkleides sah. War sein Herz eigenwillig
und sein Auge böse, so verfehlte die vorsorgende und
weise Vorschrift Gottes bei ihm ihren Zweck. Aber dann
mußte er die Folgen seines Tuns tragen, denn die Vorschrift
Gottes blieb als eine ewige Satzung bestehen; der
Wille oder die Untreue des Israeliten konnten daran nichts
ändern.
Auch für die Nationen, mochten sie unter den Israeliten
weilen oder um sie her wohnen, war die Quaste
mit der blauen Schnur ein stets sichtbares Zeichen. Fragten
sie nach der Bedeutung desselben, so wurde es für sie
ein Zeugnis von dem lebendigen Gott, der inmitten Seines
Volkes nur in Heiligkeit wohnen konnte.
Welche Bedeutung hat nun aber die Anordnung für
uns? Wir haben das dem Volke Israel gegebene Gesetz
doch nicht zu halten. Steht nicht auch geschrieben: „Christus
ist des Gesetzes Ende, jedem Glaubenden zur Ge
284
rechtigkeit"? (Röm. 40, 4.) Beides ist wahr, aber damit
ist nicht gesagt, daß wir in den Anordnungen Gottes
für Sein irdisches Volk nichts für uns Beachtenswertes
finden könnten oder sollten. Im Gegenteil, alles ist zu
unserer Belehrung geschrieben, und wir tun gut, das stets
zu beachten. Wir sind auch nicht mit Christo dem Gesetz
gestorben, um nun etwa „gesetzlos" zu leben und „nach
dem Fleische" zu wandeln. Fern sei uns ein solcher Gedanke!
Vielmehr soll das Recht des Gesetzes in uns erfüllt
werden. Und wie wird es erfüllt? Dadurch daß
wir n ach d em G eist e und nicht nach dem Fleische wandeln.
(Röm. 8, 4.) Wir sind berufen, Denin dieser Welt
darzustellen, der allezeit das dem Vater Wohlgefällige tat.
Wir sollen Seinen Fußstapfen nachfolgen. Auch uns gilt
das Wort: „Seid heilig, denn ich bin heilig", und der
uns berufen hat ist derselbe dreimal heilige Gott, der
sich einst Israel offenbarte. (4. Petr. 4, 45. 46.) Möchte
denn die Gesinnung Christi unsere Herzen beseelen und sich
allezeit in einem anständigen und gesitteten Betragen, ja,
in unserem ganzen Handeln und Wandeln offenbaren inmitten
einer Welt, deren Kinder nach den Begierden ihrer
Herzen und nach den Lüsten ihrer Augen sich auölebcn!
„Denn ihr seid um einen Preis erkauft worden; ver-
herrlichetnun Göttin eurem Leib e." (4. Kor.
6, 20.)
Folgen wir dieser Ermahnung, so werden in bildlichem
Sinne die Quasten mit der blauen Schnur an den
Zipfeln unserer Kleider gesehen werden zu unserer eigenen
Bewahrung, zum Segen unserer Mitmenschen und zur
Ehre unseres Gottes und Vaters.
* ch
285
In dem aus 4. Mose 45 angeführten Text ist von
Kleidern die Rede. Dies veranlaßt mich, auf die Kleiderfrage
etwas näher einzugehen. Es geschieht nicht zum ersten
Male; aber wir sollten Sorge tragen, uns immer
wieder an diese Dinge zu erinnern, obwohl wir sie wissen.
(Vergl. 2. Petr. 4, 42.) Zumal in unserer Zeit, wo in
den Herzen vieler Gotteskinder das Besorgtsein um ein
schönes äußeres Erscheinen in Gestalt und Kleidung einen
Raum gewonnen hat, der ihm wahrlich nicht gebührt.
Man will die Augen auf den durch die Kleider vorteilhaft
hervorgehobenen Körper hinlenken und die Sinne
durch die Betrachtung der äußeren Erscheinung gefangen
nehmen. Wie ganz anders war es noch vor wenigen Jahren!
Wie verhängnisvoll hat der Zeitgeist auch in christlichen
Kreisen gewirkt! Wie auffällig hebt sich die heutige
Kleidung von der früher gewohnten ab! Immer ernster
wird die Gefahr, den einfachen, heiligen Sinn zu verlieren
und mehr und mehr der Welt gleichförmig zu
werden.
Und diese Gefahr besteht keineswegs nur für das
weibliche Geschlecht, wenngleich sie hier besonders groß
ist. Auch bei den Brüdern, jungen und selbst älteren, werden
die Quasten mit der blauen Schnur im Blick aus
Kleidung usw. vielfach vermißt. Es hat auch keinen Zweck,
von einer nur drohenden oder anrückenden Gefahr
zu reden, nein, s i e i st d a, und es kann nicht genug
vor ihr gewarnt werden. Ein bekanntes Sprichwort sagt:
„Wer sich in Gefahr begibt, kommt darin um". Darum
sei mit aller Freimütigkeit in Liebe und Ernst auf diese
Gefahr hingewiesen. Wer den Herrn Jesus in Wahrheit
lieb hat, ob Bruder oder Schwester, ob jung oder alt,
286
wird die Bedeutung der Sache auch verstehen und bei
sich feststellen können, inwieweit sie ihn persönlich angeht.
Der Geist Gottes wird ihm auch in dieser Beziehung mit
seinem Geiste Zeugnis geben.
Daß der Feind die lieben jungen Schwestern ganz
besonders zur Zielscheibe seiner Angriffe macht und sie
davon abzuhalten sucht, „die Quasten mit der blauen
Schnur" zu tragen, ist begreiflich. Diese sollen nicht sie
selbst sowie die Geschwister daran mahnen, in Treue eine
dem Herrn Jesus würdige Gesinnung zur Schau zu tragen.
Der Teufel will, daß die Gläubigen sich der Welt
gleichsten en. Sie sollen kein Zeugnis sein von der
Heiligkeit Gottes und von dem Geheiligtsein Seiner Kinder
für Ihn. Die Verherrlichung Gottes in und an unserem
Leibe soll vereitelt werden.
Da sind denn zunächst die Schuhe, auf die der Feind
Herz und Auge richtet. Man will seine Augenweide daran
haben. Zu den mit großer Sorgfalt und gutem Geschmack
gewählten Schuhen gehören unbedingt die dazu passenden
Strümpfe, und diese wiederum kommen nur zur richtigen
Geltung, wenn die Kleider die nötige Kürze haben.
Wahrlich, zu solchen Schuhen, Strümpfen und Kleidern
passen keine Quasten mit der blauen Schnur. Sie würden
sich sonderbar davon abheben und den Eindruck, den
die äußere Erscheinung erwecken soll, stören. Aber sie würden
auch, und das ist so ernst, dem christlichen Bekenntnis
der so Gekleideten Hohn sprechen. Das weiß der Teufel
auch sehr gut, und in dem Versagen eines Zeugnisses
für den Herrn Jesus ist sein Zweck schon teilweise erreicht.
In vielen Fällen geht es aber weiter. In solcher
Kleidung kann man sich doch, ohne aufzufallen, auf Rei
287
sen, in „guter" Gesellschaft, sowie an „Stätten der Bildung
und der Kunst" frei bewegen: die Quasten mit der
blauen Schnur hindern nicht daran. Erhebt das Gewissen
seine anklagende Stimme, so wird es durch Beweisgründe
der „Vernunft" zum Schweigen gebracht.
Die Kleiderfrage macht vielen Christen wirklich große
Sorgen. Nicht immer darum, weil die Mittel zur An­
schaffung der Kleider fehlen, sondern sehr oft wegen der
Frage, in welcher Form sie getragen werden sollen. Die
Weltkinder sind der „Königin Mode" unterworfen. Im
Blick auf den Dienst, den man ihr erweist, und die Opfer,
die man ihr bringt, könnte man sie richtiger vielleicht
den „Götzen Mode" nennen. Die „Mode" verachtet und
haßt die Quasten mit der blauen Schnur, denn sie hat
ihre eigenen Gesetze, die nicht von Gott, sondern von dem
Teufel und seinen Dienern beeinflußt werden. Daß diese
Behauptung begründet ist, tritt in unseren Tagen immer
unverhüllter in Erscheinung.
Ein wahrer Christ und eine wahre Christin sind nicht
den Gesetzen der „Mode" unterworfen. Für sie gilt ein
anderes Gesetz: das der Absonderung von der Welt und
ihren Dingen, bewahrt in einem Herzen, welches in Treue
für den Herrn schlägt. Dieses Gesetz hat seine Grundlage
in der Liebe zum Herrn und findet seinen Ausdruck in der
treuen Nachfolge des guten Hirten gemäß Seinem heiligen
Worte. Zugleich wird Rücksicht genommen auf alle,
die des Herrn Eigentum sind, damit ihnen in keiner Weise
ein Anstoß gegeben und „das Wort Gottes nicht verlästert
werde". (Tit. 2, 5.)
Die Einwände, daß die moderne Kleidung zeit- und
zweckentsprechend sei, im Tragen angenehm empfunden
288
werde und gesundheitlich als einwandfrei anerkannt, werden
müsse, lassen unschwer die Quelle erkennen, welcher
sie entstammen. Wer war es, der einst der Eva das Gebot
Gottes als unvernünftig vorstellte? Und wir wissen
sehr gut, was dem Lauschen auf des Verführers Stimme
folgte: Mißtrauen in die Güte und Weisheit Gottes, ein
begehrliches Schauen nach der verbotenen Frucht und —
der Sündenfall. Zn der treuen Befolgung des Gebotes
Gottes wäre Bewahrung gewesen.
In Unabhängigkeit von den Gesetzen der Mode und
in Abhängigkeit von dem Gesetz der Absonderung findet
sich ganz bestimmt eine geeignete Form für die Kleidung
der Brüder und vor allem der Schwestern. Stoff, Schnitt,
Länge usw. werden in jedem Falle so sein, daß die Quasten
mit der blauen Schnur sinngemäß zum Ausdruck
kommen. Passende Strümpfe und Schuhe werden sich
ebenfalls finden. Und das eine ist über allen Zweifel erhaben:
eine so gekleidete Schwester wird in jeder gesitteten
Gesellschaft und an den für sie geeigneten Orten
und Plätzen stets einen guten Eindruck erwecken und hinterlassen.
Und was noch mehr wert ist: sie wird als eine
solche erkannt werden, die „nicht von dieser Welt ist".
Sie ist somit ein gutes Zeugnis, sowohl der Welt als auch
ihren Geschwistern gegenüber, dort zur Warnung, hier
zur erinnernden Mahnung. Die Quasten mit der blauen
Schnur verfehlen ihren Zweck nicht.
Zu der Kleiderfrage tritt noch eine andere. Es ist die
des „zeitgemäßen" Haarschnittes. Mit dem kurzen Kleide
muß auch das kurzgeschnittene Haar wirken. Da diese
Frage schon früher eingehend besprochen worden ist *), sei
") S. Botschafter, Jahrgang 1-2 7, S. 246-252.
28Y
hier nur kurz darauf hingewiesen. Paulus hat sie in
1. Kor. 11, 1—IS, besonders in den Versen 1.4—15
(mit ihrer Begründung aus Vers 16) so klar und unzweideutig
behandelt, daß zu einer Meinungsverschiedenheit
gar kein Raum bleibt. Auch unverheiratete Jüngerinnen
des Herrn können für sich keine Sonderstellung einnehmen.
Vers 15 in 1. Kor. 11 sagt eö deutlich genug.
Völlig unbegreiflich ist es, wenn selbst solche, die sich
Gläubige nennen, 1. Petr. Z, 3 zur Verteidigung des
sogenannten „Bubikopfes" heranziehen und sagen, auö
den Worten des Apostels gehe deutlich hervor, daß das
Flechten der Haare auswendiger Schmuck
sei. Durch das k u r z g e s ch n i tt e n e Haar werde
nun dieser Gefahr des „S i ch s ch mü ck e n s"
vorgebeugt. Wir können darauf nur erwidern: Der
Teufel ist um falsche Anwendungen des Wortes Gottes
niemals verlegen. Wer die angeführte Stelle in ihrem
Zusammenhang liest, wird uns recht geben.
Es erübrigt sich wohl, auf noch andere törichte, ja,
böse Einwände näher einzugehen, wie z. B. diese: Das
dem Weibe gegebene lange Haar sei auf jeden Fall überflüssig.
Das Tragen des langen Haares entstamme längst
vergangenen Zeiten mit ihren veralteten Sitten. Es werde
heute als lästig empfunden, passe auch nicht mehr in unsere
Zeit mit ihren praktischen Anschauungen, in welcher
selbst vom gesundheitlichen Standpunkt aus das kurzgeschnittene
Haar beim Weibe empfohlen wird.
Solche und ähnliche Gründe gehen der Vernunft des
Menschen leicht ein und können Seelen, die nicht in der
Liebe Christi befestigt sind, zu einer Versuchung werden.
O möchten doch alle, die über diese Dinge noch nicht be
290
ruhigt sind, ernstlich prüfen, inwieweit sie mit der Gesinnung
Christi und den klaren Anordnungen des Wortes
im Einklang stehen! Ja, möchten die Schwestern sich selbst
prüfen, ob nicht ihr natürliches Schamgefühl vielleicht
schon Schaden gelitten hat! Und wenn es Brüder
geben sollte, die dem kurzgeschnittenen Haare des Weibes
eine Berechtigung zusprechen, möchten sie sich dann die
obenangeführten Stellen des Wortes Gottes zur Berichtigung
ihres Urteils dienen lassen!
Wie ernst ist auch der Gedanke, daß die heutige Klei-
dcrtracht nicht nur den Trägerinnen selbst, sondern auch
dem anderen Geschlecht in sittlicher Beziehung Anlaß zu
Verfehlungen geben kann! Als erstes der drei Dinge, „die
in der Welt sind", nennt der Apostel Johannes die
Augenlust, welcher unmittelbar die Fleischeslust
folgt. Sollte uns das nicht ernstlich zu denken geben,
wenn in Kleidung und Auftreten das sinngemäße Tragen
der Quasten mit der blauen Schnur, die beiden Teilen
eine ermahnende Erinnerung an das treue Halten der
Gebote des Herrn sein sollte, vermißt wird? Der Teufel
beschwichtigt, indem er Verstand und Vernunft als ausschlaggebend
für die Beurteilung der in Rede stehenden
Dinge einführt.
In den Kreisen einer gewissen Klasse von Menschen,
auf die man gern mit Verachtung herabblickt, ist man
sich darüber klar, daß eine auf die Sinne wirkende Kleidertracht,
verbunden mit dem kurzen Haar, zu den Merkmalen
der Weiber ihres Standes gehört. Deutlicher kann
man nicht reden, um die letzten Iweifel einer vielleicht
noch schwankenden Seele zu beseitigen und um darüber
klar zu werden, was sich zur Ehre des Herrn geziemt.
2Y1
Die jungen Brüder mögen sich bitten lassen- angesichts
der Gefahren ihre Augen geradeaus blicken zu lassen,
und besonders dann, wenn sie die Quasten mit der blauen
Schnur an den Kleidern ihrer Schwestern vermissen. Da­
bei seien sie aber selbst auch in einer geistlichen Stellung,
die ihrer Berufung entspricht und sie befähigt, auch ihrerseits
der Modegefahr aus dem Wege zu gehen. Hört man
nicht auch von ihnen manchmal sagen, daß ihre Schuhe
und Strümpfe nach den Vorschriften der „Mode" zu dem
Anzug passen, und daß der Haarschnitt den würdigen Abschluß
der übrigen äußeren Erscheinung bilden müsse?
Wahrlich, es verrät wenig Herzenseinfalt und christliche
Lauterkeit, wenn auf den äußeren Menschen eine so große
Sorgfalt verwandt und dem Modegötzen so viel Weihrauch
gestreut wird. Es seien deshalb auch die Kleider
der jungen Brüder sinngemäß gekennzeichnet durch die
Quasten mit der blauen Schnur, zur eigenen Bewahrung
und zum Nutzen für andere!
Wie schön wäre eö, wenn auf diese Weise ein wechselseitiges,
mahnendes Erinnern zwischen Brüdern und
Schwestern sich kundgeben würde, sowohl im Verkehr untereinander
als auch der Welt gegenüber, zur treuen und
einfältigen Befolgung der klaren Vorschriften des Wortes,
Gott zur Ehre und unserem Herrn Jesus zur Freude!
Den älteren Geschwistern aber gebe der Herr neben vieler
Liebe für Ihn ein einfältiges und demütiges Herz, um
ihren Kindern und den anderen Geschwistern ein Zeugnis
und eine Stütze sein zu können in dem gegenwärtigen
bösen Zeitlauf! Möchte sich christliches Zartgefühl im Blick
auf Kleidung, Erscheinung und Auftreten mit einem hei
292
ligen und Gott wohlgefälligen Wandel verbinden, damit
daheim und draußen, im Umgang mit Glaubensgenossen
und mit Kindern der Welt, die Quasten mit der
blauen Purpurschnur an den Zipfeln unserer
Oberkleider nicht vermißt werden! Die Gefahr,
sie auffallend „groß" zu machen, wie einst die
Schriftgelehrten und Pharisäer es taten (Matth. 23, 5),
um dadurch als besonders fromm vor den Menschen zu
scheinen, ist im vorliegenden Falle nicht groß. Was uns
not tut, ist ein aufrichtiges Herz und eine lautere Gesinnung.
Sind diese vorhanden, so ist Gott nicht nur mächtig,
sondern auch bereit, „jede Gnade gegen uns überströmen
zu lassen". (2. Kor. 9, 8.)
(Nach einem „Eingesandt".)
Sie Auserwählung
in.
Die Kapitel 9—'N des Briefes an die Römer zeigen in
besonderer Ausführlichkeit und Deutlichkeit, daß Gott von
jeher nach den Grundsätzen einer auserwählenden Gnade
gehandelt hat. Doch da eö nicht der Zweck dieser Zeilen
ist, von der Gnadenwahl als solcher zu reden, und der
Inhalt jener Kapitel schon wiederholt einer näheren Besprechung
unterzogen worden ist *), möge hier dieser kurze
Hinweis genügen. Nur aus eine Stelle aus dem 9. Kapitel
möchte ich aufmerksam machen, wo der Apostel, im
Anschluß an das Wort des Herrn an Mose: „Ich werde
*) Vergl. z. B. die im gleichen Verlag erschienene Schrift:
„Nach Wahl der Gnade" (Preis 50 Pfg.), oder „Botschafter des
Heils", Jahrgang l»r5, Seite 176 ff.
293
begnadigen, wen ich begnadige, und mich erbarmen, wessen
ich mich erbarme", sagt: „Also liegt es nun nicht an
dem Wollenden noch an dem Lausenden, sondern an dem
begnadigenden Gott". (V. 15. 16.) Diese Stelle hat schon
vielen Lesern zu schaffen gemacht. Eigentlich mit Unrecht,
denn der Sinn ist einfach. Der Apostel will sagen: Gnade
ist nicht eine Belohnung, die dem Wollen oder Laufen
eines Menschen zuteil wird, sondern ein freies Geschenk
Gottes, das Er in Seiner Liebe und nach dem
Recht Seiner Unumschränktheit dem Glaubenden zuwendet.
Wie geschrieben steht: „Dem aber, der nicht
wirkt, sondern an Den glaubt, der den Gottlosen rechtfertigt,
wird sein Glaube zur Gerechtigkeit gerechnet...
Darum ist es aus Glauben, auf daß es nach
Gnade sei." (Kap. 4, 5. 16.) — Und so muß es
sein, sonst wäre Gnade nicht mehr Gnade. (Kap. 11, 6.)
Aber wie verhält sich der Mensch dieser Gnade gegenüber?
Er will keine Gnade. Entweder verachtet und
verwirft er sie, oder er behandelt sie gleichgültig. Da ist,
so wunderbar es klingen mag, kein Mensch auf Erden,
der mit seiner eigenen Seele Mitleid hätte. Darum tritt
Gott ins Mittel und rettet in Seinem Erbarmen wen
Er will. Anderseits läßt Er freilich auch das Gericht der
Verhärtung über solche kommen, die sich, wie einst der
Pharao, trotzig gegen Ihn auflehnen und alle Seine Mahnungen
und Warnungen verachten. So ist es Israel als
Volk ergangen — „Verstockung ist Israel zum Teil widerfahren,
bis daß die Vollzahl der Nationen eingegangen
sein wird" (Röm. 11, 25) —, und so wird es der Namenchristenheit
am Ende der Tage ergeben. Gleichwie Gott
Seinem irdischen Volke einen Geist der Schlafsucht ge
244
geben hat, so sendet Er der Christenheit eine wirksame
Kraft des Irrwahns, daß sie der Lüge glauben.
(2. Thess. 2, 44. 42.) Wie ernst, wie unausforschlich sind
doch die Gerichte Gottes! (Röm. 44, 33.)
Wenn wir uns jetzt wieder den Schriftstellen zuwenden,
die von „Auserwählung" reden, wollen wir zunächst
beachten, daß das Wort zwischen einer Auserwählung
„v o n Grundlegung der Welt a n" *) und von einer
solchen „vor Grundlegung der Welt" unterscheidet. An
die erste Art haben wir wohl zu denken, wenn wir in
Matth. 24, 22. 24 u. 34 von „Auserwählten" lesen, die
in den Zeiten des Endes auf dieser Erde leben und durch
die Drangsale jener Tage hindurch zu der Herrlichkeit
des Reiches geleitet werden. So ist auch in Offbg. 43, 8
und 47, 8 von Menschen die Rede, deren Namen nicht
in dem Buche des Lebens geschrieben sind „v o n Grundlegung
der Welt an", im Gegensatz zu solchen, von denen
das gesagt werden kann. Für unsere gegenwärtige Betrachtung
kommt jedoch nur die zweite Art von Auserwählung,
die „v o r Grundlegung der Welt", in Betracht.
Die Gläubigen der Jetztzeit sind errettet und berufen, nicht
nach ihren Werken, sondern nach Gottes eigenem Vorsatz,
„nach der Gnade, die uns in Christo Jesu vor den
Zeiten der Zeitalter gegeben worden ist". (2. Tim.
4, y.) In Übereinstimmung damit sagt der Apostel Petrus,
daß wir erlöst worden sind „mit dem kostbaren
Blute Christi, als eines Lammes ohne Fehl und ohne
Flecken, welcher zuvorerkannt ist vor Grundlegung
der Welt". (4. Petr. 4, 44. 20.)
*) Vergl. bezüglich dieses Ausdrucks Matth. 14, 45; 25, 44.
245
Wie groß und wunderbar ist der Gedanke, daß vor
der Erschaffung aller Dinge, vor Beginn der Zeit, vor
dem Anfang von Himmel und Erde in 1. Mose l, l,
solche Gedanken und Ratschlüsse im Herzen Gottes waren
über Wesen, wie wir sind! Nicht Engeln wandte sich
Sein Gnadenvorsatz zu, nicht die „Täter Seines Wohlgefallens"
bestimmte Er zu Erben Seiner Herrlichkeit,
sondern unreine, gefallene Geschöpfe, die wie verlorene
Schafe fern von Ihm umherirrten auf Wegen des Eigenwillens
und der Sünde. Kann solcher Gnade gegenüber
noch irgend ein Gläubiger an s i ch und seine Würdigkeit
denken und sich ängstlich fragen: Wie kann ich wissen,
ob ich auch auserwählt bin? Sollte er nicht lieber
mit Terstecgen singen und sagen: „Ich will, anstatt an
m i ch zu denken, ins Meer der Liebe mich versenken"?
Mit der herrlichen Stelle in Röm. 8, 2Y. 30 haben
wir uns bereits beschäftigt, auch die in 2. Thess. 2, lZ
schon erwähnt, wo der Apostel Gott so herzlich dafür
dankt, daß Er die geliebten Thessalonicher „von Anfang
erwählt habe zur Seligkeit in Heiligung des Geistes und
im Glauben an die Wahrheit". Geht das Wort „von
Anfang" vielleicht auch nicht so weit wie das „vor Grundlegung
der Welt", so lenkt es unsere Herzen doch auch
zur Ewigkeit zurück. „Von Anfang" — nicht des Christentums
oder der Verkündigung des Evangeliums an die
Thessalonicher, sondern „von jeher" — hatte Gott sie „erwählt",
für sich erwählt zur Seligkeit, und durch die
mächtige Absonderung des Heiligen Geistes waren sie mittels
des Glaubens an die Wahrheit für Gott geheiligt
worden. Auf diese Weise war ihre Erwählung ihnen zur
vollen Gewißheit geworden.
296
Wieder ein Wort, das den Blick der gläubig lauschenden
Seele von dem armen Ich und seinem Tun ablenkt,
hin zu dem anbetungswürdigen Wirken Gottes. Was
konnte den „Heiligen" veranlassen, solch unheilige Wesen,
blinde Götzendiener, wie die Thessalonicher gewesen waren,
für sich zu erwählen und sie zu Seinen Anbetern
zu machen? In ihnen wahrlich nichts! Es war einzig
und allein das Ergebnis Seiner Liebe, des Reichtums Seiner
Barmherzigkeit. Und was war durch diese Liebe in
ihnen hervorgebracht worden? Eine völlige Umkehr von
den toten Götzenbildern zu dem lebendigen Gott, um Ihm
nun zu dienen und Seinen Sohn aus den Himmeln zu
erwarten. Die Kunde von ihrem Glauben an Gott und
von den dadurch hervorgebrachten kostbaren Früchten hatte
sich überallhin verbreitet und dem Apostel samt allen, die
davon hörten, den äußeren Beweis ihrer Auserwählung
gegeben. „Wissend, von Gott geliebte Brüder,
eure Auserwählung", hatte er ihnen schon in seinem ersten
Briefe schreiben können. (Vergl. Kap. 1, 2—1.0.)
Beachte es wohl, teure glaubende Seele, nicht ihnen
hatten diese Früchte die Gewißheit ihrer Auserwählung
gegeben, sondern anderen. Sie besaßen diese Gewißheit
in dem Zeugnis Gottes, das ihnen in der Kraft
des Heiligen Geistes gebracht worden war, und das sie
in einfältigem Glauben ausgenommen hatten. Sie hatten
Gott geglaubt, der Seinen Sohn für sie dahingegeben
hatte. Sie hatten Sein Wort trotz vieler Drangsale in
Freude des Heiligen Geistes ausgenommen, und, in diesem
Wort ruhend, waren sie ihrer Auserwählung gewiß.
Mache es auch so, und dein Herz wird zur Ruhe
kommen, auch wenn d u nicht auf „Werke des Glaubens,
297
Bemühung der Liebe und Ausharren der Hoffnung" bei
dir Hinweisen kannst, wie der Apostel bei den Thessalonichern.
Überlaß das anderen! Klammere du dich nur
immer fester an das Wort des Gottes, der nimmer lügen
kann und der dich auserwählt hat, nicht weil du reich warst
oder bist, sondern im Gegenteil, weil du arm warst, und
der das getan hat, damit du reich werden möchtest „im
Glauben und ein Erbe des Reiches, welches Er denen
verheißen hat, die Ihn lieben". (Jak. 2, 5.) Gerade
das Törichte, Schwache, Unedle, Nichtige und Verachtete
der Welt hat Gott auserwählt, um die Weisen und Starken
und „das was ist" zunichte zu machen. Vor Ihm
soll sich kein Fleisch rühmen. (1. Kor. 7, 26—29.) Gott
will Seinen Ruhm mit keinem anderen teilen.
Dies führt uns zu der bekannten und schon einmal
angeführten Stelle in Eph. 2, 4—10. Warum hat Gott
uns, die wir einst tot waren in Vergehungen und Sünden,
Kinder des IornS wie die übrigen, mit dem Christus
lebendig gemacht? „Auf daß Er in den kommenden Zeitaltern
den überschwenglichen Reichtum Seiner Gnade in
Güte gegen uns erwiese in Christo Jesu." Wie einfach
und verständlich sind die Worte, und wie unendlich groß
gerade in ihrer Einfachheit! Wenn Gott uns in Christo
vor Grundlegung der Welt auserwählt und uns zuvorbestimmt
hat zur Sohnschaft für sich selbst, so hat Er eö
getan „zum Preise der Herrlichkeit Seiner Gnade".
(Kap. 7, 4—6.) Kein anderer Beweggrund hat Ihn
geleitet, kein anderer hätte Ihm genügen können. Durch
Gnade sind wir errettet.
Wie seltsam lautet angesichts aller dieser Dinge die
Frage: „Wie kann jemand wissen, daß der Herr Jesus
298
Christus für ihn persönlich gestorben ist, wenn er gar
nichts in sich findet, was dieses wahrscheinlich
macht?" *) Wie zeigt sie, wohin die Beschäftigung mit
sich selbst, das Schauen auf das armselige Ich, anstatt
auf die unaussprechliche Gabe Gottes, das zagende und
zweifelnde Herz führt! Welch eine betrübende Antwort
gibt es auf die Offenbarung der vielen Liebe Gottes,
die der Apostel Johannes also beschreibt: „Hierin ist
die Liebe: nicht daß wir Gott geliebt haben, sondern
daß Er uns geliebt und Seinen Sohn gesandt hat als
eine Sühnung für unsere Sünden"! (1.. Joh. 4, 40.)
Wer eine solche Frage stellt, beweist allerdings, daß er
noch „nicht vollendet ist in der Liebe", wie Johannes
weiter sagt. (V. 48.) Vollendet, wohlgemerkt, nicht in
seiner eigenen Liebe — wie könnte er darin je zur
Vollendung gelangen, solang er in diesem Leibe der
Schwachheit pilgert? — sondern in der Liebe Gottes.
Mit anderen Worten: ein solcher hat diese Liebe in ihrer
Vollkommenheit noch nicht erkannt; er mißt ihre Größe
an seiner Würdigkeit, bezw. Unwürdigkeit, und so kann
nichts anderes als „Furcht" sein Inneres erfüllen. O
möchte eö doch mehr von uns allen wahr sein: „Wir haben
erkannt und geglaubt die Liebe, die Gott zu
uns hat"! (V. 46.)
*) Vergl. S. 198 im August-Heft.
ES bleibt uns noch übrig, auf einige andere Stellen
aufmerksam zu machen, die mit unserem Gegenstand in
Verbindung stehen. Wir berührten schon kurz das Wort
in Apstgsch. 43, 48: „Und es glaubten, so viele ihrer
zum ewigen Leben verordnet waren". Ein Wort, das dem
2YY
Unglauben ein Anstoß ist, den Glauben aber frohlocken
läßt. Ja, Gott sei gepriesen! nicht einer wird in der
Schar der Erlösten fehlen, der von Ihm zum ewigen Leben
verordnet ist. Gott wird Seinen Gnadenratschluß ausführen,
ganz unabhängig von den schwachen Werkzeugen,
die Seine Hand benutzt. Und welch große Scharen werden
einst droben sein, bei deren Errettung überhaupt kein
menschliches Werkzeug tätig war!
Nicht einer fehlt, Du riefst sic alle,
Sie singen laut mit Jubelschalle:
Dem Lamme Ehr', das uns versöhnt!
In 2. Tim. 2, stv hören wir den Apostel Paulus
sagen: „Ich erdulde alles um der Aus erwählten
willen, auf daß auch sie die Seligkeit erlangen, die in
Christo Jesu ist, mit ewiger Herrlichkeit". Dieselbe Liebe,
die Jesum einst trieb, Sein Leben für die Auserwählten
zu lassen, war in dem treuen Diener wirksam und drängte
ihn, keine Drangsal und Mühe, nicht Bande und Tod zu
scheuen, wenn nur das Wohl der geliebten Herde dadurch
gefördert wurde und die einzelnen Gläubigen auf dem
schmalen Pfade dem Ziele zu erhalten blieben.
Auch in dem Briefe an Titus redet Paulus von dem
Glauben der „Auserwählten Gottes", anderseits aber auch
von „der Gnade Gottes, die erschienen ist, heilbringend für
alle Menschen", und dann wiederum von der Güte und
Menschenliebe unseres Heiland-Gottes, der uns (die Auserwählten)
errettet hat, nicht aus Werken, die, in Gerechtigkeit
vollbracht, wir getan hatten, sondern nach Seiner
Barmherzigkeit. (Kap. st, st; 2, stst; Z, 4. 5.)
Immer wieder finden wir, wie die beiden Seiten
der Wahrheit nebeneinander herlaufen, sich gegenseitig er
— Zoo —
gänzend, aber nie einander widersprechend: Gottes Un-
umschränktheit in den Wegen Seiner Gnade und des Menschen
Verantwortlichkeit, von dieser Gnade Gebrauch zu
machen; Gott in dem Reichtum Seiner Liebe und Barmherzigkeit
die gerechte Grundlage zu einem vollkommenen
Heil in Christo legend, der Mensch rettungslos verloren,
und dabei hassenswürdig, völlig unfähig, auch nur einen
Finger zu seiner Errettung zu rühren; Gott ein Heiland-
Gott, dessen Güte und Menschenliebe, von niemand begehrt,
allen erschienen ist, und der Mensch feindselig
gegen Gott und Seine Güte verachtend. Sein Heil vernachlässigend.
Aber nicht nur Paulus, auch andere Apostel betonen
die Wahrheit von der Auserwählung. So nennt z. B. der
Apostel Petrus, dessen Namen wir schon erwähnten, die
Gläubigen aus Israel, an die er schrieb, „Aus erwählte
nach Vorkenntnis des Vaters, durch
Heiligung des Geistes, zum Gehorsam und zur Blutbesprengung
Jesu Christi", (k. Petr, b, k. 2.) Auserwählt,
nicht im Laufe der Zeit, in Abraham, sondern im Schoße
der Ewigkeit, nach Vorkenntnis Gottes, des Vaters, waren
sie jetzt von den übrigen Menschen abgesondert durch den
Heiligen Geist selbst und waren, statt zu gesetzlichem Gehorsam
und zur Besprengung mit Stier- und Bocksblut,
zum Gehorsam und zur Blutbesprengung Jesu Christi
geführt worden. So bildeten sie ein „auserwähltes" Geschlecht,
ein königliches Priestertum. (Kap. 2, y.) Und
woher wußten sie das alles? Durch das lebendige, ewigbleibende
Wort Gottes, das ihnen verkündigt worden war,
und das sie geglaubt hatten. „Euch nun, die ihr glaubet,
ist die Kostbarkeit." (Kap. 2, 7.)
— 301 —
Wir begegnen dem Worte „auserwählt" ferner noch
in 2. Joh. 1, 1. 13 und in Röm. 1b, 1.3 in Verbindung
mit einzelnen Personen; außerdem in Kol. 3, 12: „Ziehet
nun an, als Aus erwählte Gottes, als Heilige
und Geliebte: herzliches Erbarmen, Güte usw." und
schließlich in Offbg. 17, 14, wo wir lesen: „Und die mit
ihm (dem Lamme) sind Berufene und Auserwählte
und Treue".
So findet sich die Wahrheit von der Auserwählung
im ganzen Neuen Testament bestätigt, von den Evangelien
bis zur Offenbarung. Sie bildet einen der Eckpfeiler des
ganzen Gebäudes der Wahrheit. Begreiflich sind deshalb
die Bemühungen des Feindes, sie den Gläubigen zu rauben
oder doch wenigstens ihre Sinne darüber zu verwirren.
Wie lieblich, ja, ergreifend tritt sie uns schon in den
Worten entgegen, die der Herr im Blick auf die Seinigen
an den Vater richtet: „Ich habe deinen Namen den Menschen
geoffenbart, die du mir aus der Welt gegeben hast.
Dein waren sie, und mir hast du sie gegeben."
(Joh. 17, 6.) „Dein waren sie" — schon lange das
Eigentum des Vaters nach Seiner unumschränkten Vorherbestimmung
und Auswahl, und Er hatte sie jetzt dem
Sohne „aus der Welt gegeben", damit sie Sein Wort
bewahrten und von Ihm zeugten. Findet sich auch an
dieser Stelle der Ausdruck „auserwählt" nicht, so zeugen
die Worte des Herrn doch so klar von derselben Wahrheit,
daß wir sie nur mit Anbetung lesen können.
Derselbe Herr rief später Seinem Diener Paulus zu:
„Fürchte dich nicht, sondern rede und schweige nicht! denn
ich bin mit dir, und niemand soll dich angreifen, dir Übles
zu tun; denn ich habe ein großes Volk in die
Z02
ser Stadt." (Apstgsch. 18, 9. 10.) Em „großes Volk"
war in Korinth, von dem Herrn ersehen und Ihm bekannt,
lang bevor die Predigt Seines Knechtes dort erscholl
und von den Korinthern glaubend angenommen
wurde. Alle diese Glaubenden waren, dem göttlichen Ratschluß
nach, des Herrn Eigentum, „zum ewigen Leben
verordnet", und sollten nun, trotz aller Gegenanstrengungen
des Feindes, dem Apostel als Frucht seines Dienstes
geschenkt werden.
Kann es, so möchten wir zum Schluß noch einmal
fragen, in diesen Dingen für irgend eine aufrichtige, dem
Worte unterwürfige Seele eine Schwierigkeit geben? Vor
allem, wenn wir uns ins Gedächtnis rufen, daß die Wahrheit
von der Auserwählung nicht für den noch nicht erretteten
Sünder da ist, sondern denen, die geglaubt
haben, als ein kostbares Gut geschenkt ist, um ihnen zu
zeigen, auf welch ewiger, göttlicher Grundlage ihr Heil
ruht? Wohl kann man verstehen, daß ein untreuer, von
seinem Gewissen verurteilter Christ bezüglich der Frage
seiner Errettung in Ungewißheit geraten kann. Aber dann
liegt die Ursache eben darin, daß der Geist Gottes in ihm
betrübt ist und ihn, anstatt sein Herz mit Friede und freudiger
Heilsgewißhcit zu erfüllen, strafen und an seine Untreue
erinnern muß. Aber ein aufrichtiger Christ darf mit
unumstößlicher Gewißheit, auf Grund des Zeugnisses seines
Gottes, daran festhalten, daß er in Christo vor Grundlegung
der Welt von Gott auserwählt ist, um heilig und
tadellos vor Ihm zu sein in Liebe. Er darf ferner versichert
sein, daß Gottes Gnade ihn trotz all seiner Mangelhaftigkeit
und seines vielfachen Jukurzkommens hindurchbringen
wird bis an das herrliche Ziel.
303
Die ernsten Warnungen und selbst Drohungen de§
Wortes Gottes richten sich nicht an ausrichtige, zagende
Seelen, — ihnen ruft eö zu: „Fürchte dich nicht!
denn ich bin mit dir" —, sondern an sorglose und
gleichgültige, an solche, die, müde geworden, zurückgeblieben
sind und nun in Gefahr stehen, völlig von dem Wege
abgewandt zu werden.
Doch unö allen gilt das Wort: „Darum, Brüder,
befleißiget euch umsomehr, eure Berufung und Erwählung
festzumachen (nicht bei Gott, sondern in unseren
Herzen); denn wenn ihr diese Dinge tut, so werdet
ihr niemals straucheln". Und: „Laßt uns das Bekenntnis-
der Hoffnung unbeweglich festhalten, denn treu
ist Er, der die Verheißung gegeben hat". (2. Petr. 1, 10;
Hebr. 'lv, 23.)
„Um einen Preis erkauft."
Wir sind um einen Preis erkauft und sind nun Leibeigene
des Herrn. Auf Grund der wunderbaren Errettung,
die für unö geschehen, des Preises, der für unö bezahlt
ist, gehören wir nicht länger uns selbst an, sondern sind
das Eigentum des Herrn, und was immer wir tun, sollten
wir tun „im Namen des Herrn Jesus".
Der Gläubige befindet sich in einer ganz neuen Stellung,
in die er durch die Liebe Gottes in göttlicher Gerechtigkeit
gebracht ist. In die Gegenwart Gottes selbst eingeführt,
steht er in dem vollen Licht und der vollen Gunst
Gottes. Er hat in sich selbst zwar keine Kraft, aber die
Kraft des Heiligen Geistes steht ihm zu Gebote, und er
ist berufen, in dieser Welt zu zeigen, was Christus war.
Z04
„Wer da sagt, daß er in Ihm bleibe, ist schuldig, selbst
auch so zu wandeln, wie Er gewandelt hat." — „Allezeit
daö Sterben Jesu am Leibe umhertragend, auf daß auch
das Leben Jesu an unserem Leibe offenbar werde." (4. Joh.
2, 6; 2. Kor. 4, 40.)
Es gibt tausenderlei Dinge, die wir gewohnheitsmäßig
tun, und von denen wir meinen, wir müßten sie
tun. Aber für einen Christen gibt es eigentlich kein „müssen"
mehr, für ihn ist der Wille Christi allein maßgebend;
und diesen Willen in allem zu kennen und zu tun,
liegt ihm ob. Wir sind ein Brief Christi, wie der Apostel
sagt, „geschrieben nicht mit Tinte, sondern mit dem Geiste
des lebendigen Gottes". (2. Kor. 3, Z.) Der Pfad, den
wir zu gehen haben, ist die Offenbarung des Lebens Jesu
an unseren Leibern. In allem, was ich tue, sollte sich die
Treue meines Herzens gegen Christum offenbaren und
Seine Person anderen gegenüber kundgemacht werden.
Das, was „des Herrn würdig" ist, nicht was sich für
Menschen geziemt, sollte meinen Wandel kennzeichnen. Es
ist gewiß nicht leicht, stets friedfertig, geduldig und sanft
zu bleiben, wenn man uns unrecht tut oder gar uns beleidigt.
Doch waren wir nicht einst alle Feinde Gottes?
Und hat Gott uns nicht vergeben, als wir noch Seine
Feinde waren? Nun, so wollen auch wir unseren Feinden
vergeben.
Das ist leichter gesagt als getan, wird man einwenden.
Freilich! Aber wir haben das große Vorrecht, zu
wandeln, „wie Er gewandelt hat". Die Frage ist: Willst
du das tun? Wenn ja, so gehe hin und studiere
Christum, lerne, was Sein Weg hienieden war, nachdem
du deinen gegenwärtigen Platz in Ihm droben ver
305
standen hast. Es ist ein großer Trost, daß, während ich
zu Christo aufblicke, ich nicht nur sehe, wie ich sein
sollte, sondern zugleich auch die Kraft empfange, so
zu sein. „Gnade um Gnade" wird mir aus Seiner Fülle
geschenkt. „Wir alle, mit aufgedecktcm Angesicht die Herrlichkeit
des Herrn anschauend, werden verwandelt nach
demselben Bilde von Herrlichkeit zu Herrlichkeit." Es gibt
für den Christen ein wirkliches Wachstum, nicht hinsichtlich
seines Tauglichseins vor Gott und seiner Annahme
bei Ihm, wohl aber in seinem Christo-Gleichwerden; und
dieses Wachstum sollte nie aufhören. Dereinst werden wir
in der Stellung Christi vor Gott stehen, werden Ihm
gleich sein. Was ich heute jedem Kinde Gottes ans Herz
legen möchte, ist, ich wiederhole es, Christum zu studieren,
um auf diesem Wege Ihm hienieden schon ähnlicher
zu werden. Nichts bringt der Seele so viel Segen
und Ermunterung, nichts heiligt sie mehr, als dieses Studium.
Es verleiht ein wachsendes, das Herz mit Mut erfüllendes
Bewußtsein von der Liebe Gottes.
„Gleichwie der lebendige Vater mich gesandt hat,
und ich lebe des Vaters wegen, so auch, wermichißt,
der wird auch leben meinetwegen." (Joh. 6, 57.)
Hosea—Dosua
Wir lesen in 4. Mose 43, 46, gelegentlich der Aussendung
der zwölf Kundschafter zur Erforschung des Landes
Kanaan: „Und Mose nannte Hosea, den Sohn
Nuns, Iosu a". Ist diese Namensänderung damals erst
oder schon früher erfolgt? Wir finden den Namen Josua
306
ja schon im 2. Buch Mose (Kap. 47, 9; 24, 43; 33, 44),
aber das ist kein vollgültiger Beweis dafür, daß er zu jener
Zeit schon gebräuchlich war.
Warum aber die Änderung? Sie ist, wie wir sogleich
sehen werden, bedeutungsvoll. „Hosea" bedeutet: „Hllse,
Rettung", „Josua" dagegen: „Jehova ist Hilfe, Rettung",
oder: „dessen Hilfe Jehova ist". Der neue Name
will darauf Hinweisen, daß der Träger desselben nicht mehr
in sich, sondern in Jehova seine Hilfe findet.
Wir alle müssen wohl diese Namensänderung erfahren,
wenn wir anders brauchbar sein wollen für den Herrn.
Mit anderen Worten: wir müssen aus Hoseas, die in sich
noch Hilfe finden, Josuas werden, deren Hilfe in Jehova
ist. Hosea hatte eine wichtige Lebensaufgabe, er sollte Moses
Nachfolger, Leiter des Volkes, Eroberer Kanaans werden.
Mose, der im Dienst des Herrn erfahrene und ergraute
Gottesmann, wußte, was für diese Lebensaufgabe
unumgänglich nötig war, nämlich daß seinem Diener alle
eigene Kraft zerbrochen wurde, damit er so seine ganze
Kraft und Hilfe in Jehova finde. Aus einem Manne der
Selbsthilfe mußte ein Mann der Gotteshilfe
werden, der, von Gott abhängig, alles von Ihm erwartet
und empfängt. Durch die Namensänderung rief Mose seinem
Diener gleichsam zu: Sei nie und nirgend ein Mann,
der auf sich selbst vertraut, sondern sei ein Mann, der seine
Ohnmacht kennt und fühlt, und der nur von Gottes Hilfe
lebt.
Ja, das brauchen wir! Weshalb zerbricht Gott manchen
Seiner Diener auch dem Leibe nach durch ernste, oft
furchtbare Demütigungen? Damit er aus einem Manne
der Selbsthilfe ein Mann der Gotteshilfe werde. Was
307
lehrt Gott Seine Knechte in immer neuen Schulen und
Schwierigkeiten, auch in der Arbeit für Ihn? Er lehrt sie,
daß sie mit ihrem alten Namen Hosea nirgendwo durchkommen,
daß sie mit aller Selbsthilfe zuschanden werden,
daß aber der neue Name Josua --- „Jehova ist Hilfe"
ihnen Erfolg und Sieg bringt.
Hoseas Name wurde nur einmal umgeändert. Nun
hieß der Mann Josua und behielt diesen Namen. Grundsätzlich
ist es mit uns auch so, aber anscheinend muß bei
vielen von uns bei jedem neuen Kampf, bei jedem neuen
Anlaß dieser Namenswechsel wieder vollzogen werden. Immer
wieder versuchen wir es mit der Selbsthilfe, bis wir
endlich als völlig bankerott Gewordene, an beiden Hüften
lahm, in die Gotteshilfe hineinsinken — der Hosea wird
zum Josua.
Vergessen wir eö nicht: nur Josuas, Menschen, die
von Gottes Hilfe leben, erobern Kanaan. Nur ein
Josua schreitet von Sieg zu Sieg, bis Kanaan gleichsam
ausgeteilt wird, bis man nicht nur das Land als Besitz
kennt, sondern auch genießt. Besitzen und Genießen
sind noch zwei verschiedene Dinge.
Ist es nicht so, daß wir trotz aller Erfahrungen
immer wieder versuchen, als Hoseas durchzukommen? Mit
eigener Weisheit, Klugheit, Verstandesschärfe usw. dies
oder jenes zu erreichen? Es ist eine große Gnade, wenn
Gott uns dann zuschanden werden läßt. Er beweist dadurch,
daß Er Josuas aus uns machen möchte, die in Ihm
allein ihre Kraft und Hilfe finden, und so im Glauben
Kanaan in Besitz nehmen und genießen.
In dieser Welt gelten die Hoseas, die Männer eigener
Kraft, alles, im Reiche Gottes sind nur die Josuas groß.
Z08
Wollen wir deshalb nicht bitten: O Gott, mache auch bei
mir aus einem Hosea einen Josua? Zerbrich in mir alle
eigene Kraft, damit Dein Name allein verherrlicht werde,
und ich Dir dienen darf in Frömmigkeit und Furcht?
Johannes 16, 33
„In der Welt habt ihr Drangsal",
Wenn du zu Jesu dich bekennst,
Und willst nach Ihm nur fragen;
Wenn du Ihn Herr und Meister nennst.
Mußt du Sein Kreuz auch tragen.
Die Finsternis das Licht nicht faßt —
Kein Wunder, wenn die Welt dich haßt!
„aber seid gutes Mutes",-
Und ist nun Christi Schmach dein Los,
So laß dich's nicht verdrießen!
Nein, freue dich, dein Lohn ist groß,
Auf Leiden folgt Genießen.
Auch fürchte nicht der Feinde Wut,
Er ruft dir zu: „Sei wohlgemut!"
„ich habe die Welt überwunden."
Dein Heiland selbst errang den Sieg
Für dich und all die Seinen;
Bald wird Er, der herniederstieg,
Uns dort mit sich vereinen.
Drum schau auf Ihn, der stets dir nah,
Und sing Ihm dein Halleluja!
H. K.
Moses in Ägypten und Moses
in Midtsn
(Apstgsch. 7. 20—z6>
Wir alle sind Diener und Dienerinnen. Einer der
Grundsätze nun, die jeden wahren Dienst kennzeichnen, ist
der, daß wir von Gott darin gestützt werden. Von dem
vollkommenen Diener, unserem Herrn Jesus Christus,
steht geschrieben: „Siehe, mein Knecht, den ich
stütze, mein Auserwählter, an dem meine Seele Wohlgefallen
hat". (Jes. 42, r.) Was Seinen Dienst besonders
auszeichnete, war, daß Er niemals von sich aus
handelte: „Ich kann nichts von mir selbst tun; so wie ich
höre, richte ich, und mein Gericht ist gerecht, denn ich
suche nicht meinen Willen, sondern den Willen Dessen, der
mich gesandt hat", und: „Wenn ihr den Sohn des Menschen
erhöht haben werdet, dann werdet ihr erkennen, daß
ich es bin, und daß ich nichts von mir selbst tue". (Joh.
5, 30; 8, 28.) Sobald ein Diener unabhängig handelt,
vergißt er seinen Platz.
Es gibt in unseren Tagen viel geschäftige Tätigkeit
auf geistlichem Gebiet, und wir sind in Gefahr, manches
für wahren, Gott wohlgefälligen Dienst zu halten, was
es nicht ist. Gott unterscheidet sehr bestimmt zwischen dem,
was durch natürliche Gaben und die Kraft des Menschen
hervorgebracht, und dem, was durch die Kraft und Weisheit
des Heiligen Geistes gewirkt wird. Auch w i r sollten
es tun.
— Zto —
Da wo man vor den Menschen lebt, anst
a t t v o r Gott, wird sich stets ein unruhiges, unstetes
Wesen offenbaren. Man mag in Aufrichtigkeit vieles tun
wollen, was im Worte geschrieben steht, aber es wird
nicht in der friedevollen Ruhe eines Herzens getan, das
von Gott abhängig ist und nur Seinen Willen tun
möchte. Vergessen wir auch nicht, daß wir nur dadurch
vor Heuchelei bewahrt bleiben können, daß wir vorGott
leben und wandeln. Ein solcher Wandel ist zugleich das
beste Heilmittel gegen die gute Meinung, die wir alle von
Hause aus von uns haben.
Wir können in dieser Beziehung viel Belehrung schöpfen
aus der Geschichte von Männern Gottes, die vor uns
gelebt haben. Beschäftigen wir uns heute ein wenig mit
„Mose, dem Knechte Gottes". Moses war nicht nur ein
treuer Mann, sondern auch in ganz besonderer Weise ein
Vorbild von unserem Herrn und Heiland. Im Vorbeigehen
möchte ich bemerken, daß er, neben dem Herrn,
der einzige ist, dessen ganzer Lebensgang von der Geburt
bis zur Herrlichkeit uns in der Schrift überliefert ist.
Das Leben Moses' teilt sich bekanntlich in drei Abschnitte
von je vierzig Jahren. Die ersten vierzig Jahre
verbrachte er in Ägypten als „der Sohn der Tochter des
Pharao". Die zweiten vierzig Jahre weidete er die Herde
seines Schwiegervaters in der Wüste und hatte dort, an
dem Berge Gottes, ein Gesicht von der göttlichen Herrlichkeit.
In die letzten vierzig Jahre fällt der prüfungsreiche,
schmerzliche Weg, den er als der Knecht Jehovas
und Seines Volkes Israel zu gehen hatte, indem er die
Last dieses Volkes trug.
Der erste Teil dieses wechselvollen Lebens spielte sich
— 377 —
also in Ägypten ab. Stephanus redet von dem Moses
dieser Zeit als von einem Manne, „unterwiesen in aller
Weisheit der Ägypter und mächtig in seinen Worten und
Werken". (Apstgsch. 7, 22.) Aber in dieser Weisheit und
Macht, die Moses besaß, gab es nichts, was Gott hätte
anerkennen können. Ohne Zweifel erwartete Moses, daß
Gott ihn als den „Retter" Seines Volkes benutzen wolle;
aber das was er i n Ägypten erworben hatte, konnte des
Herrn Volk nicht aus Ägypten erretten.
Den Eltern Moses' entging die auffallende Schönheit
ihres Sohnes nicht. Auch sie warteten ohne Zweifel auf
den verheißenen Retter und verbargen deshalb „durch
Glauben" das Kind drei Monate lang und fürchteten das
Gebot des Königs nicht. Und als Moses selbst groß geworden
war, „weigerte er sich", wiederum durch Glauben,
„ein Sohn der Tochter Pharaos zu heißen, und wählte
lieber, mit dem Volke Gottes Ungemach zu leiden, als die
zeitliche Ergötzung der Sünde zu haben, indem er die
Schmach des Christus für größeren Reichtum hielt als
die Schätze Ägyptens; denn er schaute auf die Belohnung."
(Hebr. 77, 23—26.)
„Als er aber ein Alter von vierzig Jahren erreicht
hatte, kam es in seinem Herzen auf, nach seinen Brüdern,
den Söhnen Israels, zu sehen." Der Reichtum, die Bequemlichkeit
samt all den Genüssen des königlichen Hauses,
„die Schätze Ägyptens", waren sein; aber sein Herz
sehnte sich nach seinen Brüdern. „Er ging aus zu seinen
Brüdern und sah ihren Lastarbeiten zu." Was mag er
gelitten haben, als er ihre furchtbare Not sah!
„Und als er einen Unrecht leiden sah, verteidigte er
ihn und rächte den Unterdrückten, indem er den Ägypter
312
erschlug." (V. 24.) So bewies er auch im Blick auf das
Volk Gottes, daß er „mächtig in Werken" war, aber
ach! er handelte in der Energie des Fleisches, ohne von
Gottgesandtzu sein. Daher die Folgen. Moses überlegte,
wieMoses das Volk befreien könne. „Er meinte,
seine Brüder würden verstehen, daß Gott durch seine Hand
ihnen Rettung gebe." (V. 25.) Doch — „sie verstanden
es nicht". Moses hatte eine ernste Lektion zu lernen. Gott
mußte ihn belehren, daß er nur durch die Kraft, die von
Ihm selbst kommt, Ihm dienen konnte.
Als Moses vierzig Jahre in der Wüste zugebracht und
dort gleichsam nichts getan hatte, beantwortet er die
Botschaft Gottes: „Gehe hin, denn ich will dich zu dem
Pharao senden", mit den Worten: „Wer bin ich, daß
ich zu dem Pharao gehen, und daß ich die Kinder Israel
aus Ägypten herausführen sollte?" (2. Mose 3, 10.
11.) Sobald es dahin kommt, daß Gott ihn sendet, erwacht
in seinem Innern das tiefe Bewußtsein der damit
verbundenen Verantwortlichkeit, und er bebt vor der Aufgabe
zurück. Als er in der Energie des Fleisches vorgegangen
war, hatte ihn der Fehlschlag, den er erfuhr,
bitter enttäuscht — jetzt, nachdem er seine ganze Bedeutungslosigkeit
erkannt hat, sagt er: „Wer bin ich?"
Aber ist es nicht immer so? Wenn ein Gläubiger erkennt,
daß Gott ihn mit irgend einer wichtigen Sendung betrauen
will, ist dann nicht das erste Ergebnis Niedergeschlagenheit?
Gott bezweckt mit der Erziehung Seiner Kinder
den Zusammenbruch des Selbstvertrauens, und wenn
Er, vielleicht durch schmerzliche Schulen, Sein Ziel erreicht
hat, und man schließlich den von Ihm gewiesenen
Weg des Dienstes gehen will, so geschieht es mit dem
313
Gefühl: „Wer bin ich?" So fragt das Fleisch nicht. Es
hat eine hohe Meinung von sich. Aber Gott muß diese
Meinung gründlich zerstören, ehe Er uns in Seinem Dienst
benutzen kann. Der meist entwickelte Verstand, die höchste
Weisheit, das reichste menschliche Wissen halten in diesem
Dienste nicht stand.
„Und am folgenden Tage zeigte er sich ihnen, als
sie sich stritten, und trieb sie zum Frieden, indem er sagte:
Ihr seid Brüder, warum tut ihr einander unrecht? Der
aber dem Nächsten unrecht tat, stieß ihn weg und sprach:
Wer hat dich zum Obersten und Richter über uns gesetzt?
Willst du mich etwa umbringen, wie du gestern den Ägypter
umgebracht hast?" (V. 26—28.) So erntete Moses
nur Mißverständnis, ja, selbst Hohn von denen, welchen
er zu dienen begehrt hatte.
Moses war ein gläubiger Mann, der bis zu einem
gewissen Grade sicher auch wußte, was Gemeinschaft mit
Gott ist; aber er hatte noch nicht gelernt, die Kraft und
Weisheit Ägyptens von sich zu werfen, und wer auf eigene
Kosten in den Krieg zieht, wird unterliegen. Mancher
Gläubige läuft eine Zeitlang (besonders kurz nach der
Bekehrung) in großem Eifer hin und her, ist rastlos tätig,
tut auch Gutes und Richtiges, aber er tut es nicht in
Abhängigkeit von Gott. Nach und nach erlahmt seine Energie,
er läßt die Flügel hangen und kommt sich schließlich
so nutzlos und unbrauchbar vor, daß er daran verzweifelt,
jemals wieder in Gottes Dienst Verwendung finden zu
können. Das ist eine zwar demütigende, aber sehr nützliche
Lektion. Der Herr erzieht manchmal Seine Diener
auf diesem Wege, um sie nachher zu umso nützlicheren
Arbeitern in Seinem Weinberg zu machen.
314
Völlig enttäuscht und verwirrt, gab Moses den
Kampf auf. „Moses aber entfloh bei diesem Worte und
wurde Fremdling im Lande Midian." (V. 29.)
Während der zweiten vierzig Jahre war er für
Ägypten und für Israel gleichsam tot. Aber er war allein
mit Gott. In der Einsamkeit der Wüste begegnete ihm
Jehova am Horeb, „dem Berge Gottes". (2. Mose 3.)
Wird nicht vielleicht der Horeb hier schon so genannt,
weil er die Stätte war, wo Moses sich der Gemeinschaft
mit Gott in einer Weise erfreut und Unterweisungen von
Ihm empfangen hatte, wie es in Ägypten niemals möglich
gewesen wäre? So wurde er im geheimen für
die mächtigen Taten zubereitet, die er bald vor dem Pharao,
vor Ägypten und Israel tun sollte.
Es ist uns bekannt, daß Gott die Seinigen gewöhnlich
in der Zurückgezogenheit und Stille belehrt. Unser
hochgelobter Herr selbst suchte auf dieser Erde immer wieder
Erquickung in dem Alleinsein mit Gott. Hier ist es,
wo der Gläubige seine Schwachheit und Gottes Kraft
kennen lernt. Er lernt, sich selbst zu verleugnen, alle Einbildungen
zu unterdrücken und jede Höhe zu zerstören,
die sich erhebt wider die Erkenntnis Gottes. (2. Kor.
10, 5.)
„Und es geschah während jener vielen Tage, da starb
der König von Ägypten; und die Kinder Israel seufzten
wegen des Dienstes und schrieen; und ihr Geschrei wegen
des Dienstes stieg hinauf zu Gott. Und Gott hörte ihr
Wehklagen, und Gott gedachte Seines Bundes mit Abraham,
mit Isaak und mit Jakob; und Gott sah die Kinder
Israel, und Gott nahm Kenntnis von ihnen." (2. Mose
2, 23—25.) „Die Zeit der Verheißung" (V. 17) war
315
endlich gekommen, und Moses sollte ausgesandt werden
als der „Oberste und Retter" Israels. (V. 35.)
Die Vorbereitung Moses' in der Einsamkeit, die Zeit
der geheimen Erziehung „hinter der Wüste", war vorüber,
aber nun war noch etwas anderes nötig: die Offenbarung
der Herrlichkeit Gottes. „Und
als vierzig Jahre verflossen waren, erschien ihm in der
Wüste des Berges Sinai ein Engel in einer Feuerflamme
eines Dornbusches." (V. 30.) Ägypten war nicht der Platz
für Gott, um Sein „großes Gesicht" zu zeigen. Wunder
der Natur, wie z. B. die regelmäßig wiederkehrenden
Überschwemmungen des Nil, auch Wunder der menschlichen
Kunst, Malerei, Baukunst usw., konnte man dort
anstaunen. Aber hier geschah etwas, das für die Weisheit
Ägyptens ein unlösliches Rätsel bildete. „Als aber
Moses es sah, verwunderte er sich über das Gesicht"
(V. 31,), denn „der Dornbusch brannte im Feuer, und
der Dornbusch wurde nicht verzehrt".
Es bedarf in der Tat der Belehrung von oben, um
die Bedeutung dieses Gesichtes zu erfassen. Die Weise,
wie es Gott gefällt, sich zu offenbaren, ist niemals ohne
tiefe Bedeutung. Sie entspricht immer dem gerade vorliegenden
Gegenstand oder Zweck. Der mit der Herrlichkeit
Gottes umkleidete Dornbusch, der im Feuer brannte
und doch nicht vom Feuer verzehrt wurde, war ohne
Frage ein Bild von dem, was Gott im Begriff stand, in
und mit Israel zu tun. Dieses Volk glich (und im weiteren
Sinne ist es mit dem Volke Gottes von heute, ja,
mit jedem einzelnen Gläubigen nicht anders) einem Dornbusch,
schwach, wertlos, zu nichts tauglich, ja, rettungslos
verloren, wenn Gott sich als das, was Er ist, als
— Z16 —
„ein verzehrendes Feuer" erweisen will. Aber für Gott
war der Augenblick gekommen, um Seinem Knechte und
Volke unter einem ganz neuen Namen zu begegnen, nicht
mehr als der „Allmächtige", sondern als „Jehova", der
unveränderliche, treue Gott, der Seiner Verheißungen und
Seines Bundes mit Abraham, Isaak und Jakob eingedenk
war und nun die Nachkommen dieser Männer äls
Sein Eigentumövolk anerkennen wollte. War Er doch herabgestiegen,
um Sein elendes, bedrücktes Volk aus der
Hand der Ägypter zu erretten! Die Zeit war gekommen,
um Seine Macht und Güte an ihm groß zu machen.
Aber wie war das möglich? Israels sittlicher Zustand
war genau so unrein wie der seiner Unterdrücker.
Der einzige Boden, aus dem ihm geholfen werden konnte,
war Gnade, bedingungslose Gnade. Gott betritt ihn, aber
selbstverständlich ohne Seine Heiligkeit irgendwie preiszugeben.
Der Sünde gegenüber und in den Wegen Seiner
Negierung bleibt Er stets der heilige, gerechte Gott, der
ohne Ansehen der Person richtet nach eines jeden Werk.
Auch wir kennen Ihn so, obwohl wir Ihn als Vater
anrufen (1. Petr, 1, 1.7), und Er der ganzen Bedeutung
dieses gesegneten Namens gemäß mit uns handelt. „Er
setzt Rettung zu Mauern und Bollwerk", aber durch
die Tore der Stadt zieht „ein gerechtes Volk, welches
Treue bewahrt". (Jes. 2b, 1. 2.)
Solang ein Diener des Herrn die Bedeutung des
brennenden und doch nicht verbrennenden Dornbusches
nicht versteht, wird sein Dienst nach der einen oder anderen
Seite hin mangelhaft sein. Es ist nötig, daß wir
alle immer mehr erkennen, wie arm und nichtig wir in
uns sind, und daß alles, was aus der Natur ist, vor Gott
— 3r7 —
vergehen muß; anderseits aber auch, welch einen Wert
wir als die Auserwählten Gottes in Seinen Augen haben,
und wie Er, der Heilige, allezeit bemüht ist, uns Seiner
Heiligkeit teilhaftig zu machen. Es bleibt bestehen: „auch
unser Gott ist ein verzehrendes Feuer". Sicher, ein aufrichtiges
Herz wünscht es nicht anders, da es einerseits
weiß, daß auf einer anderen Grundlage keine Gemeinschaft
mit Gott möglich ist, und anderseits, daß der Dornbusch
niemals verbrennen wird. Gott kann keine
Sünde in uns dulden. Deshalb ist am Kreuze Sein ernstes
Gericht über sie ergangen, und deshalb wirkt Er in
uns, daß wir der Sünde nicht mehr dienen, sondern in
Neuheit des Lebens wandeln. Das Feuer der Trübsal auf
dem Wege muß dazu mitwirken, daß Gottes Gnade und
Herrlichkeit sich in dem armen Dornbusch offenbaren
können.
Als Moses hinzutrat, um „das große Gesicht" zu
sehen, rief „Gott ihm mitten aus dem Dornbüsche zu
und sprach:... Nahe nicht hierher! Ziehe deine Schuhe
aus von deinen Füßen, denn der Ort, auf dem du stehst,
ist heiliges Land." Durch die Gnade an die Stätte der
Heiligkeit Gottes gebracht, lernt die Seele einerseits, wie
sie von Natur in jeder Beziehung im Gegensatz zu Gott
steht, aber anderseits auch, daß gerade die Heiligkeit Gottes
die festeste Bürgschaft ist für ihre ewige Sicherheit.
Sie lernt, daß der neue Boden, auf den sie gebracht ist,
sie für immer aus der Welt hinaus ins Heiligtum geführt
hat, wo ein Nahen nur mit unbeschuhten Füßen möglich
ist.
Was mögen Moses' Gedanken bezüglich all der Weisheit
und Herrlichkeit Ägyptens gewesen sein, als er dieses
— zrs —
„große Gesicht" sah? Und wach so möchte ich fragen,
würden wohl unsere Gedanken bezüglich der Welt und
ihrer Dinge sein, wenn unser Auge stets und unverrückt
auf die Herrlichkeit gerichtet wäre? Als Moses in der
Einsamkeit der Wüste die Herde seines Schwiegervaters
weidete, mag hie und da noch ein Verlangen nach den
Schätzen Ägyptens in ihm wachgeworden sein, aber wie
schwand das alles dahin, als ihm die Offenbarung der
Herrlichkeit Gottes zuteil wurde! So ist es auch mit uns.
Wenn wir die Herrlichkeit betrachten, in die wir in Christo,
dem verherrlichten Menschensohne droben, eingeführt sind,
versinkt alle Herrlichkeit der Welt samt all ihrer Weisheit
in ihr Nichts. Umgekehrt aber, sobald unser Auge
sich auf uns oder auf das, was hienieden ist, richtet, geraten
wir in Gefahr, nach „Ägypten" und seinen Dingen
begehrlich zurückzublicken.
Aus dem Umstand, daß Moses nach einem „Wortführer"
verlangte, können wir, neben anderem, das lernen,
daß auch die Beredsamkeit Ägyptens im Dienste Gottes
von keinem Nutzen ist. Wenn die äußere Tätigkeit
nicht Hand in Hand geht mit einem stillen Sitzen zu den
Füßen Jesu, wenn unsere Kenntnisse von Gnade und
Wahrheit nicht von Seinen Lippen uns zufließen, werden
die beredtesten Worte wenig Kraft und Erfolg haben.
Und Moses sprach zu Gott: „Wer bin ich, daß
ich zu dem Pharao gehen sollte?" Was Moses so reden
ließ, war einerseits gewiß Unglaube, aber wir können,
wie wir weiter oben schon sahen, seine Antwort auch von
einem anderen Gesichtspunkt aus betrachten. Vierzig Jahre
früher war er sehr eifrig gewesen, denselben Dienst zu
349
tun, zu welchem Gott ihn jetzt beruft. Aber er hatte gelernt
und seine völlige Unfähigkeit für einen solchen Dienst
erkannt. Wir dürfen wohl annehmen, daß er im Laufe der
zweiten vierzig Jahre oft über die Größe und Schwierigkeit
der Aufgabe nachgedacht hat, sowie über die Torheit
seiner Meinung, sie in eigener Kraft erfüllen zu können.
In sich selbst zusammengebrochen, betrachtete Moses sich
nun als einen Mann, der zu allerletzt für eine solche Aufgabe
in Frage kommen konnte.
Saulus, der spätere Apostel Paulus, ging, als die
Berufung Gottes an ihn herantrat, „nicht mit Fleisch
und Blut zu Rate". Er war, wie Moses, ein „auserwähltes
Gefäß", und berufen, „Seinen Namen zu tragen
sowohl vor Nationen als auch vor Könige und Söhne
Israels". Aber obwohl er am Ende seiner Tage sagen
kann: „Ich habe viel mehr gearbeitet als sie (die Apostel)
alle", fügt er doch sofort hinzu: „nicht aber ich, sondern
die Gnade Gottes, die mit mir war".
(4. Kor. 45, 40.)
Ähnlich redet auch Moses am Ende seines verleugnungsvollen
Weges, auf dem die Gnade Gottes ihn geleitet
hatte und das Angesicht Gottes mit ihm gegangen
war, nicht von sich, sondern will nur den Namen Jehovas
ausrufen und Ihm Ehre geben: „Der Fels: vollkommen
ist Sein Tun; denn alle Seine Wege sind
recht. Ein Gott der Treue und sonder Trug, gerecht
und gerade ist Er!" (5. Mose 32, 3. 4.) Gott selbst
aber zeugt von Seinem Knechte Moses: „Er ist treu
in meinem ganzen Hause, mit ihm rede ich von Mund
zu Mund,... und das Bild Jehovas schaut er". (4. Mose
42, 7. 8.)
Z20
Moses und Paulus sanden also ihre Kraft zum Dienst
nicht in sich oder in dem ihnen anvertrauten Dienst, so
treu sie darin auch sein mochten, sondern in der verborgenen
Gemeinschaft mit Gott, in der Gnade, die mit
ihnen war.
So wollen wir denn nicht vergessen, daß auch heute
noch alle Kraft zum Dienst in der innigen Verbindung
mit Gott liegt. Jemehr wir in Seiner Gegenwart weilen
und als glückliche Anbeter Seine Gnade und Herrlichkeit
anschauen, desto gesegneter und wirkungsvoller wird
unser Dienst sein, worin er auch bestehen mag.
Er wird unö und anderen Nutzen bringen. Vergessen
wir ferner nicht, daß er nur ausgeübt werden kann in
der beständigen, tiefen Verwirklichung der Tatsache, daß
wir nichts sind und Gott alles ist. Was geziemt
einem Diener Gottes, und was macht ihn groß? Sich
selbst verbergen und Gott in Erscheinung treten lassen!
So war es allezeit bei dem vollkommenen Diener
Gottes. Er tat allezeit das vor Ihm Wohlgefällige.
Ium Schluß denn noch einmal: Eifrige Tätigkeit
ist gut, aber sie sollte immer in Verbindung stehen mit
einem fleißigen Weilen in der Gegenwart Gottes und
mit dem steten Anschauen Seiner Gnade und Herrlichkeit,
wie sie sich in Christo geoffenbart haben. So werden
wir unserer Berufung als Diener und Dienerinnen
entsprechen können, nicht weil Gott unseres Dienstes bedarf,
sondern weil Er in uns mächtig sein will und
wir Ihn zu verherrlichen wünschen in Leib und Geist,
die ja beide Ihm gehören.
— 321 —
„Ser Jünger, welchen Jesus lieble"
Es ist bekannt, daß der Evangelist Johannes seinen
Namen nicht nennt, sondern sich entweder als den „anderen
Jünger", oder als „den Jünger, welchen Jesus liebte"
(vergl. Kap. 13, 23; 18,15; 1y, 26 usw.) bezeichnet. Daraus
wird der Schluß gezogen, daß der Herr ihn mehr
geliebt habe als die übrigen Jünger, sodaß Johannes,
vielleicht mit Petrus und Jakobus, ein „Lieblingsjünger"
des Herrn genannt werden könnte; woraus dann weiter
folge, daß die Liebe des Herrn nicht allen den Deinigen
in gleicher Stärke zugewandt, sondern von Umständen
abhängig und dem Wechsel unterworfen sei. — Bringt
eine solche Erklärung aber nicht Unehre auf den Namen
unseres hochgelobtcn Herrn, dessen Liebe doch genau so
vollkommen ist wie jede andere Seiner Eigenschaften oder
Tugenden? Erweckt sie nicht falsche Vorstellungen über
diese Liebe und, in Übertragung auf Gott, über die Liebe
des Vaters zu Seinen Kindern?
Diese Frage, die wohl schon manches gläubige Herz
beschäftigt haben mag, trat wiederholt und vor kurzem
neu an mich heran. Ich will deshalb versuchen, sie, soweit
ich es vermag, zu beantworten. Der Gegenstand ist
von solcher Zartheit, daß man leicht ein Wort zu viel oder
zu wenig sagen kann. Man fühlt unwillkürlich, daß man
auf heiligem Boden steht und der Leitung und Bewahrung
von oben besonders bedarf. Möchte diese dem Schreiber
und Leser in Gnaden zuteil werden! Wir dürfen auf die
Erfüllung unseres Wunsches rechnen, denn die Frage, die
wir behandeln wollen, ist weder neugierig noch gar mü
Z22
ßig, sie ist vielmehr, wie wir bald sehen werden, von
großer Tragweite und tiefer Bedeutung sowohl im Blick
auf die Person unseres Herrn, als auch auf unser Verhältnis
zu Ihm und dem Vater.
Was zunächst unseren Herrn und Heiland betrifft,
so dürfen wir nicht vergessen, daß Er wahrhaftig Mensch
auf dieser Erde war und wie ein Mensch fühlte; natürlich
hierin, wie in allem anderen, vollkommen. Wir fühlen
es tief, wenn wir ein Herz finden, das uns aufrichtig
liebt, das uns versteht und in unsere Gefühle der Freude
oder des Schmerzes verständnisvoll einzugehen vermag,
und wir fühlen es ebenso tief, wenn alles das nur schwach
vorhanden ist, oder gar das Gegenteil sich zeigt. Wir
können im ersten Falle gar nicht anders, als auf die Liebe
und Teilnahme antworten; wir lieben einen solchen
Menschen mehr als andere, und zwar nicht weil unsere
Liebe unvollkommen oder „dem Wechsel unterworfen" ist,
sondern aus dem einfachen Grunde, weil wir ein gleichgesinntes
Herz gefunden haben, das uns liebt. Wieviel
stärker kommt das wohl zur Geltung, wenn sich bei Gläubigen,
bei Kindern desselben Vaters, diese Herzens-Übereinstimmung
findet, wenn man bei dem Bruder oder der
Schwester derselben klaren Geistesrichtung, denselben
Wünschen und Interessen und einem innigen Verständnis
für das, waö das eigene Herz bewegt, begegnet! Obwohl
die Liebe, das Band der Vollkommenheit, die Herzen aller
Gläubigen umschlingt und gefühlt wird, ist doch das Maß
deö gegenseitigen Gebens und Empfangens sehr
verschieden.
Ähnlich war es auch mit dem Herrn und den Sei-
nigen, als Er hienieden „bei ihnen" war. Er liebte sie alle
32Z
mit der gleichen Liebe, und doch lesen wir: „Jesus aber
liebte die Martha und ihre Schwester und den Lazarus".
(Joh. 44, 5.) Das Wort wäre unverständlich, wenn
es nicht auf ein besonderes Verhältnis des Herrn zu den
Geschwistern in Bethanien hindeuten wollte. Und warum
liebte Er sie? Weil sie Ihm ihre Liebe und i h r Verständnis
für alles das, was Ihn anging, in besonderer
Weise bewiesen hatten. So liebte Er auch den Schreiber
des 4. Evangeliums, und eö ist gewiß bedeutungsvoll,
daß diese Bezeichnung sich nur in den späteren Kapiteln
vorfindet, und zwar zum ersten Male bei der letzten
Feier des Passahmahles, als die Stunde des Herrn
gekommen war und dieses besondere Verhältnis des Herrn
zu Seinem Jünger und des Jüngers zu seinem Herrn
in verstärktem Maße hervortrat.
Ineinem Sinne gibt es freilich und kann es keinen
Unterschied geben in der Liebe des Herrn zu uns; sie ist
auf das Verhältnis gegründet, in welches Er uns zu
sich und dem Vater gebracht hat. Wir sind Sein,
Seine Geliebten, Seine Jünger, so wie wir alle Kinder
des Vaters sind und den Heiligen Geist besitzen
und durch Ihn das Bewußtsein der Sohnschaft. Aber in
einem anderen Sinne besteht ein Unterschied, der nicht
mit dem Verhältnis, sondern mit der Verantwortlichkeit,
die mit diesem Verhältnis verbunden
ist, und mit dem Maße der Verwirklichung desselben zusammenhängt.
Ich sagte schon, daß es in menschlichen
Verhältnissen ähnlich sei. Alle Kinder eines Elternpaares
z. B. stehen in der gleichen Beziehung zu diesem, haben
die gleichen Vorrechte und Rechte, sind gleich geliebt usw.;
aber doch bestehen da Unterschiede (und oft sehr große),
Z24
und zwar Unterschiede zwischen der Verwirklichung
der Beziehung, und diese Unterschiede liegen nicht nur
auf feiten der Kinder, sondern auch der Eltern. Wie verschieden
sind die Gefühle eines Vaters im Blick auf einen
gehorsamen und auf einen widerspenstigen Sohn! Wie
verschieden ist der Verkehr mit beiden! Wie schätzt und
liebt der Vater den ersten seiner kindlichen Liebe und seines
Gehorsams wegen, wie ist sein Herz offen und voll Vertrauen
zu ihm, während der zweite davon nichts erfährt!
Und das, wie gesagt, neben und völlig unabhängig von
der Liebe, die durch das bestehende Verhältnis bedingt
ist.
Im Blick auf unsere gegenwärtigen Beziehungen zu
dem Vater und dem Sohne wird uns vom Herrn gesagt:
„Wer meine Gebote hat und sie hält (eö handelt sich
hier natürlich nur um Gläubige), der ist es, der mich
liebt; wer aber mich liebt, wird von meinem Vater
geliebt werden; und ich werde ihn lieben
und mich selbst ihm offenbar machen"; und
auf die Frage des Judas, der nur an eine äußere Of-
fenbarmachung dachte, antwortete der Herr: „Wenn jemand
mich liebt, so wird er mein Wort halten,
und mein Vater wird ihn lieben, und wir werden z u
ihm kommen und Wohnung bei ihm mache n".
(Joh. 44, 24—23.) Welchen Sinn hätten diese Worte,
wenn nicht in der Kundgebung der Liebe seitens des
Vaters und des Sohnes und unseres Genusses derselben
ein Unterschied bestände, der von dem größeren
oder geringeren Maße des liebenden Gehorsams auf unserer
Seite abhängt?
325
Was den Genuß betrifft, werden wohl die meisten
Gläubigen mit dem Gesagten einverstanden sein. Aber
ich möchte fragen: Worauf gründet sich der größere
Genuß? Nicht aus die innigere Kundgebung der Liebe
und weitergehende Offenbarung des Herrn? Und
wiederum: Woraus gehen diese hervor? Die Antwort auf
die letzte Frage liegt in den Worten des Herrn selbst: „Wer
mich liebt usw." Weiter möchte ich fragen: Kommt
der Inhalt des 21.. und 23. Verses wohl bei jedem
Gläubigen zur Verwirklichung? Ist in diesen Versen nicht
vielmehr die Rede von einer besonderen Liebe des
Vaters zu einem Seiner Kinder, das Liebe zu Seinem
Sohne offenbart? Und von einer besonderen Liebe
des Sohnes zu dem, der, mehr als andere. Sein Wort
hält und Ihn so in den Stand setzt, die Herrlichkeit Seiner
Person ihm immer mehr zu offenbaren? Warum
wird schon im Alten Testament Abraham der „Freund
Gottes" und Daniel der „vielgeliebte Mann" genannt?
Warum werden im Neuen Petrus, Jakobus und
Johannes wiederholt bei besonderen Anlässen allein bei
dem Herrn gefunden? Ich möchte sie deshalb auch nicht
„Lieblingsjünger" des Herrn nennen, weil mit diesem
Ausdruck falsche Gedanken sich verbinden lassen; aber sie
(und vor allem Johannes) waren doch Jünger, denen
Jesus sich mehr offenbaren und denen Er Seine Liebe
mehr zu schmecken geben konnte als den anderen.
Im Blick auf die vorliegende Stelle Joh. 14,21—23
sagt ein anderer, wohlbekannter Schreiber (I. N. Darby)
unter anderem folgendes: „Wir sehen hier überall Verantwortlichkeit.
Es ist nicht die unumschränkte Gnade, die
den armen Sünder zuerst liebt; hier liebt der Vater die
Z26
Seele, welche ihre Liebe zu dem Heiland dadurch bekundet,
daß sie Sein Wort hält. Es ist väterliche Regierung,
die Befriedigung des Vaterherzens
darüber, daß man Seinen Sohn ehrt und Ihm gehorcht.
Der Vater und der Sohn kommen, um Wohnung in der
geliebten Person zu machen. Es handelt sich hier nicht
einfach um das Wohnen und Wirken des Heiligen Geistes
in uns, sondern wir genießen durch den Geist beständig
die Gegenwart des Vaters und des Sohnes,
ihr Wohnen in uns."
Daß die Liebe Gottes und unseres Herrn in sich vollkommen
ist und keiner Veränderung unterworfen sein
kann, ist klar. Darin unterscheidet sie sich durchaus von
menschlicher Liebe, die nie vollkommen ist und, wie alles
Menschliche und Zeitliche, stets wandelbar bleibt. Die Vollkommenheit
Seiner Liebe hat Gott in Christo gegen
uns geoffenbart, und sie bleibt ewig dieselbe. Darum
sagt Paulus im Anschauen derselben: „Der mich geliebt
und sich selbst für mich hingegeben hat".
Das ist aber doch nicht dasselbe, wie wenn Johannes, geleitet
durch den Heiligen Geist, sich den Jünger nennt,
„den Jesus liebte" — liebte als einen Gläubigen, der
mit Ihm hienieden wandelte. Im ersten Falle ist es die
Liebe, wie sie sich Sündern und Feinden gegenüber geoffenbart
hat, im zweiten Fall die Liebe, die, obwohl in sich immer
vollkommen, in ihrer Ausübung gehindert oder
gefördert werden kann. Im ersten Fall die Liebe, die ohne
jeden Anlaß unserseits gehandelt hat, im zweiten die Liebe,
die in uns (selbstverständlich nur auf Grund der Gna-
d e) einen Anlaß findet, sich zu offenbaren und zu betätigen.
Ähnlich vielleicht wie der Herr dem Vater, der Ihn
Z27
doch vollkommen liebte, einen Anlaß gab. Ihn zu lieben
(selbstredend in ganz anderer Weise und aus anderer
Grundlage als bei uns), weil Er, dem Gebote des Vaters
folgend. Sein Leben gab, um es wiederzunehmen.
Indem ich hiermit schließe, hoffe ich kein Wort gesagt
zu haben, das der Heiligkeit und Zartheit des Gegenstandes
nicht entspricht. Zugleich aber möchte ich der Erwartung
Ausdruck geben, daß in unser aller Herzen ein
tieferes Verlangen geweckt werden möge, nicht nur das
wunderbare Verhältnis, in das wir alle zu dem Vater
und dem Sohne gebracht sind, besser zu verstehen, sondern
auch persönlich in der Verwirklichung desselben
in wachsendem Maße zu erfahren, was die Worte
bedeuten: „Ich werde ihn lieben und mich selbst
ihm offenbarmache n", und: „Mein Vater wird ibn
lieben, und wir werden zu ihm kommen und
Wohnung bei ihm machen".
Krauendienst
Es ist sehr belehrend, den Anteil zu sehen, welchen
Frauen an der Geschichte unseres hochgelobten Herrn hienieden
genommen haben. Tätigkeit im öffentlichen Dienst
kommt naturgemäß den Männern zu, obwohl Frauen im
stillen, im Kreise der Familie usw., eine sehr wertvolle
Tätigkeit ausüben können. Aber es gibt eine Seite im
christlichen Leben, die ganz besonders der Frauen Teil
ist, und das ist die persönliche, liebende Hingabe an Christum.
Es war eine Frau, die den Herrn salbte, während
die Jünger murrten; es waren Weiber, die am Kreuze
standen, während alle Jünger, außer Johannes, geflohen
Z28
waren; Weiber wiederum, die kamen, um das Grab zu
besehen, und die ausgesandt wurden, um den Aposteln die
wunderbare Tatsache der Auferstehung zu verkündigen,
während die Jünger „wieder heimgegangen waren"; so
waren es auch Weiber, die vorher den Bedürfnissen des
Herrn mit ihrer Habe gedient hatten. Und wir könnten
noch anderes nennen.
Hingebung im öffentlichen Dienst ist, wie gesagt,
das Teil des Mannes; aber der Naturtrieb, wenn
ich mich so ausdrücken darf, der Instinkt der Liebe, der
näher und inniger in die Stellung oder Lage des Herrn
eingeht und das Herz unmittelbarer mit Seinen Gefühlen
in Verbindung bringt und es die Leiden Seines Herzens
tiefer empfinden läßt, ist mehr das Teil des Weibes;
und fürwahr, es ist ein beglückendes, gesegnetes
Teil. Die angestrengte Tätigkeit im Dienste des Herrn
rückt den Mann leicht ein wenig aus dieser Stellung heraus,
wenigstens wenn er nicht sehr wachsam ist. Ich rede
natürlich nur von dem, was für beide Teile charakteristisch
ist; denn es gibt Frauen, die in ihrer Weise viel
gedient haben, und es gibt Männer, die viel gefühlt haben.
Beachten wir auch, daß dieses Hangen an Jesu, die
innige Herzensverbindung mit Ihm, die Stellung ist,
in welcher die weitestgehenden Mitteilungen der Wahrheit
empfangen werden. Das erste volle Evangelium wurde
dem armen Weibe verkündigt, das eine große Sünderin
war, aber mit ihren Tränen die Füße des Herrn benetzte
und sie mit ihren Haaren abtrocknete; das Vorrecht, Ihn
zu Seinem Begräbnis einzubalsamieren, wurde der Maria
zuteil; die Verkündigung unserer höchsten Stellung der
Maria Magdalena; und die Mitteilung, die Simon Pe
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trus wünschte, empfing Johannes, der am Busen des
Herrn lag. Wie bedeutungsvoll ist das alles!
Gebetslust
Das Gebet ist ein Bitten um Gottes Hilfe, das
Zeichen der Abhängigkeit von einer höheren Kraft. Darum
ist es nicht der Bereich, in welchem sich die bewegen, die
dem „gegenwärtigen bösen Jeitlauf" angehören. Hier ist
Gott unbekannt. Es ist auch nicht der Bereich des Himmels,
denn dort können Sünden und Schwachheiten nie
mehr anfechten.
Mit Recht ist das Gebet der „Lebensodem" des
Christen genannt worden. Solang er in dieser Welt ist,
bildet es für ihn gewissermaßen einen Bereich, der zwischen
dem „gegenwärtigen bösen Zeitlauf" und „jener
Welt" liegt, die seine ewige Heimat auömacht. Hier kann
er frei atmen, und deshalb sollte er sich hier gewohnheitsmäßig
aufhalten. Ein Christ, der nicht betet, muß im
Kampf unterliegen. Deshalb ermahnt der Herr Jesus
Seine Jünger, „allezeit zu beten und nicht zu ermatten".
Einst atmeten wir alle die Luft dieser Welt; wir
lebten in Sünde und Eigenwillen. Zu jener Zeit wußten
wir nicht, was Beten war. Wir lebten „ohne Hoffnung
und ohne Gott in der Welt". Die Gnade aber hat uns
zu Gott gebracht und uns den Weg ins Heiligtum gebahnt,
in das mit Freimütigkeit einzutreten wir aufgefordert
werden. (Hebr. to, ty.)
Zu Zeiten genießen die Gläubigen schon hier auf
Erden das Vorrecht, Himmelsluft zu atmen. Ich meine
dann, wenn ihre Herzen da weilen, wohin ihr neues Le
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ben gehört, im Heiligtum. Sic genießen dann die Gemeinschaft
des Herrn selbst, als solche, die „geheiligt"
sind, und deren Er sich nicht schämt, sie „Brüder" zu
nennen, weil sie „alle (Er und sie) von einem" sind.
Der Himmel findet sich gleichsam in den drei Worten
ausgedrückt: „bei dem Herrn", und diese drei Worte
kennzeichnen auch das „Heiligtum".
Doch es gibt Zeiten — und sie machen leider oft den
größeren Teil unseres täglichen Lebens aus —, in denen
wir zwar nicht die Luft atmen, in der wir einst lebten,
uns aber auch nicht mit Bewußtsein in dem neuen Bereich
bewegen, zu dem wir gehören. Und was ist die
Folge? Ach! Unzufriedenheit und Murren verraten dann
nur zu oft, wie es um uns steht.
Das Gebet hat eigentlich nichts mit der Sünde zu
tun. Für diese gibt es einBekennen. Es sind vielmehr
unsere Schwachheiten, die uns zum Thron der Gnade
treiben. (Hebr. 4, 45. 4S.) Christus, unser verherrlichtes
Haupt, ist im Himmel, während wir. Seine Glieder, uns
noch in diesem Leibe auf der Erde befinden. Das macht
cs erklärlich, daß uns noch vielerlei Schwachheiten anhaften.
Schwachheiten sind nicht Sünden. Es sind an und
für sich nicht böse Dinge, obwohl sie uns zur Sünde
werden können, sondern Eigenschaften, die uns anhaften,
weil wir noch in dieser Hütte sind, in dem Leibe,
der in seinem gegenwärtigen Zustand nicht unser ewiges
Haus ist.
Solang wir auf der Erde sind, begegnen wir täglich
Dingen, die uns droben nicht mehr behelligen werden.
Da gibt es Mühen, Beschwerden, Leiden und Schwierigkeiten
aller Art, und in unserer Schwachheit würden wir
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diesen auf uns einstürmenden Dingen unterliegen, gänzlich
unter ihren Einfluß kommen, wenn uns nicht der
Dienst unseres großen Hohenpriesters droben zuteil würde.
Er fordert uns auf, uns ihretwegen beständig an Ihn zu
klammern, sie alle zum Gnadenthron vor den Vater zu
bringen. Das ist Beten. Indem wir so nahen, und wir
dürfen es mit aller Freimütigkeit tun, empfangen wir
Barmherzigkeit und finden Gnade „zur rechtzeitigen Hilfe".
Lasse ich das aber aus dem Auge, wendet sich mein
Blick von Christo ab, mache ich von dem Recht, zum
Gnadenthron zu nahen, keinen oder nur einen geringen
Gebrauch, so bin ich den Anforderungen, die täglich an
mich gestellt werden, nicht gewachsen. Ich unterliege dem,
was auf mich eindringt.
Manches Dunkel in unserer vergangenen Geschichte,
vielleicht auch im letzten Jahre, würde uns Hel! werden
durch mehr Gebet. Der Einfluß eines gewohnheitsmäßigen
Betens klärt unseren Blick, macht unö weise und lehrt
uns, vorsichtig zu wandeln. Das Gebet ist uns Hilfe und
Kraft sowohl in unseren Beziehungen zu unseren eigenen
Häusern, als auch zu dem Hause Gottes und schließlich
zu der Welt, in der wir leben.
Doch es gibt noch eine andere sehr gesegnete und
oft erprobte Folge des treuen, anhaltenden Betens. Ich
komme Gott selbst und dem Herrn Jesus dadurch näher.
Und je näher ich komme, desto mehr schwindet die Empfindung
und der Druck der Schwachheiten und Widerwärtigkeiten,
um derentwillen ich nahte. Statt ihrer füllt
dann der Himmel meinen ganzen Gesichtskreis aus, und
das Gebet wird gleichsam zum Vorhof für das Heiligtum.
Ich schreite durch dasselbe zu dem Platze hin, wo
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Christus weilt, und wo Er alles für mich ist. Wir werden
schwerlich ins Heiligtum gelangen, wenn wir nicht
gewohnheitsmäßig Gebetsluft atmen, und wir gehen wohl
nicht zu weit, wenn wir sagen, daß der „enge" Eingang
ins Heiligtum für viele von uns in der Vernachlässigung
des Gebets zu suchen ist. Der Druck der Umstände und
Schwachheiten läßt uns unser wahres Teil nur wenig
genießen. Wir fühlen dann auch selbst, daß wir zu dem
freimütigen Eintritt ins Heiligtum als Anbeter praktisch
nicht passend sind.
Möchte der Herr uns mehr Verständnis geben für
die Kostbarkeit dieser Dinge und Seiner Wünsche für
uns! Je höher wir die heilsame Luft des Gebets schätzen,
desto mehr werden wir, von dem Druck der täglichen
Umstände befreit, passende Gefährten für Ihn dort sein,
wo Er ist.
O Herr, zu Seinen Küßen *!
*) In der Bibel unseres im Jahre 1882 entschlafenen Bruders
I. N. Darby fand man nach seinem Heimgang obiges, in
möglichst getreuer Übersetzung wicdergegebencs Gedicht.
O Herr, zu Deinen Füßen,
Da ist mein liebster Ort.
Du gabst mir tiefe Lehren:
Die Wahrheit fand ich dort.
Sie machte von mir selber,
Von Menschentun mich frei,
Auf daß von allen Ketten
Mein Sinn geloset sei.
Den trotz'gen Willen zwangest
Du in Dein sanftes Joch.
Und doch, ohn' Deine Liebe,
Wär' cr wohl trotzig noch.
Januar 1928
Botschafter