Botschafter des Heils in Christo 1929

02/06/2024
von Christ-und-Buch Günter Arhelger
Botschafter des Heils in Christo Inhaltsverzeichnis: 1929Seite
Ein Wort zum Gruß an den Leser1
Reisen nach Jerusalem6
Glaubensheilungen16
Wie werden wir von Sorgen frei?.23
Du bist mein (Gedicht)29
Einsicht in die Zeiten28
Der Brief an die Römer 37. 70: 103. 119. 152. R. Brockhaus37
Wie ein Berg zur Ebene wurde48
„Sie blickten auf Ihn und wurden erheitert" (Gedicht).55
Fragen aus dem Leserkreise56
Der Eingeborene" und der Erstgeborene"57
Aus einem Briefe80
Ausharren85
„Die mit Tränen säen, werden mit Jubel ernten"96
„Ich will dir nachfolgen, wohin irgend du gehst, Herr"113
Ihr seid des Weges früher nicht gezogen"128
David vor der Bundeslade.135
Zur Freiheit berufen.141
Scheffel und Bett.161
Freude....164
,,Christus alles und in allen".166
Der gute Hirte (Gedicht)168
Stehe auf, nimm dein Ruhebett auf und wandle"169
Jesus in der Wüste.186
Überall Licht.195
Falsches Wissen.196
„Ich danke dir, daß ich nicht bin197
Doch nicht ich?217
Ich mich mein220
Stille Mahnung (Gedicht)224
Das Gebet im verborgenen225
Simeon und Anna.245
Der Schatz im Acker (Gedicht)252
Kann ein Kind Gottes verloren gehen?.272
Für den Namen ausgegangen"279
Das Buch des Lebens281
Daß er ohne Furcht bei euch sei"304
Die Zeit ist kurz.306
Ohne Ende, ohne Schranken (Gedicht)308
Aufwärts - Vorwärts.309
Freuet euch in dem Herrn allezeit!"328

Botschafter
des
Heils in .Christo
„Der Herr ist nahe." (Phil. 4, 5.)
Sieben undsiebzigfter Jahrgang
Elberfeld
Verlag von R. Brockhaus
19 2 9
Inhaltsverzeichnis
Ein Wort zum Gruß an den Leser ..... 1
Reisen nach Jerusalem.................................... 6
GlaubenShcilungen .......... 16
Wie werden wir von Sorgen frei? ...... 23
Du bist mein (Gedicht) ......... 28
Einsicht in die Zeiten ......... 24
Der Brief an die Römer 37. 70. 103. 119. 152.
178. 206. 231. 253. 287. 315
Wie ein Berg zur Ebene wurde ...... 48
„Sie blickten auf Ihn und wurden erheitert" (Gedicht)
................................................................................ 55
Fragen aus dem Leserkreise .... 56. 84. 139
Der „Eingeborene" und der „Erstgeborene" . . 57
Aus einem Briefe .......... 80
Auöharren ............. 85
„Die mit Tränen säen, werden mit Jubel ernten" 96
„Ich will dir nachfolgen, wohin irgend du gehst,
Herr"........................................................................ 113
„Ihr seid des Weges früher nicht gezogen" . . . 128
David vor der Bundeslade ........ 135
Jur Freiheit berufen ................................................ . 141
Scheffel und Bett. .......... 161
Freude............... 164
„Christus alles und in allen" ....... 166
Der gute Hirte (Gedicht) ........ 168
„Stehe auf, nimm dein Ruhebett auf und wandle" 169
Jesuö in der Wüste ..........
Überall Licht . . ..........
Falsches Wissen. ...........................................................
„Ich danke dir, daß ich nicht bin..." . . . .
Doch nicht ich? ...........
Ich — mich — mein..........
Stille Mahnung (Gedicht) ........
Das Gebet im verborgenen ........
Simeon und Anna ........ 245.
Der Schatz im Acker (Gedicht) .......
Kann ein Kind Gottes verloren gehen? . . . .
„Für den Namen ausgegangen" ......
Das Buch des Lebens .........
„Daß er ohne Furcht bei euch sei" ......
Die Zeit ist kurz ...........
Ohne Ende, ohne Schranken (Gedicht) . . . .
Aufwärts — Vorwärts.........
„Freuet euch in dem Herrn allezeit!" . . . . .
Seite
186, 195, 196, 197

Ein V^ort zum Gruß an den Leser
„Am Abend kehrt Weinen ein, und am Morgen
ist Jubel da." (Ps. 30, 5.)
„Wir bringen unsere Jahre zu Ivie einen Gedanken",
hat Mose, der treue Knecht Gottes, einst gesagt, obwohl
er vierzig Jahre in Ägypten, vierzig in Midian und vierzig
in der Wüste als Führer des Volkes Gottes zugebracht
hat. Ein langes, wechselvolles Leben, und doch wie schnell
eilten die Jahre vorüber! Es war ihm, „als flöge er dahin".
(Ps. SO, y. b0.)
Wir machen ähnliche Erfahrungen. Kaum ist ein
Jahr angebrochen, so neigt es sich schon wieder seinem
Ende zu, vor allem dann, wenn es uns viel Arbeit und
Mähe, einen reichen Wechsel von Freude und Leid gebracht
hat. Wollen wir darüber klagen? Nein! Bringt uns doch
jeder Jahresschluß einen bedeutsamen Schritt näher zu
unserem herrlichen Ziel, „dem Morgen ohne Wolken",
der „den Tag des Herrn" einlciten und uns vom Glauben
zum Schauen führen wird; zu jener seligen Stunde,
die in einem Nu all die entschlafenen oder noch auf Erden
pilgernden himmlischen Fremdlinge als eine jubelnde
Schar von Überwindern Ihm entgegenführen wird, der sic
errettet, geleitet und hindurchgetragen hat bis zum letzten
Schritt.
Aber vielleicht hat der Leser im vergangenen Jahr
besonders Schweres erfahren. Vielleicht hat es ihm Kum-
t.XXVII 1
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mer und Not, oder gar Trennung von dem Liebsten gebracht,
das er auf Erden besaß. Trüb und dunkel schaut
das begonnene Jahr ihn an, und zagend fragt das Herz:
Was liegt noch vor mir? Was mag das neue Jahr bringen?
Eins ist gewiß: nicht eine Stunde, nicht einen
Augenblick wird dir die treue Sorge Dessen fehlen, der
selbst einst in allem versucht worden ist wie du, der
deshalb Mitleid zu haben vermag mit deinen Schwachheiten
und als dein großer Hohepriester dich allezeit droben
vertritt.
Welch ein Trost, Ihn in der Stunde der Trauer zu
kennen! Wahrlich, wir brauchen uns nicht zu betrüben
wie „die übrigen, die keine Hoffnung haben". Wir fühlen
den Schmerz freilich, vielleicht noch tiefer als jene,
aber es ist ein Schmerz ganz anderer Art, mit Hoffnung,
ja, selbst mit Freude verbunden. Dabei erfahren wir die
ganze Kraft und Süßigkeit des Mitgefühls Dessen, der
am Grabe des Lazarus mit den trauernden Schwestern
weinte und doch zu gleicher Zeit sagen konnte: „Ich bin
die Auferstehung und das Leben".
Wunderbar ist die Entfaltung göttlicher und menschlicher
Zuneigungen in jener ergreifenden Szene. Die Sünde
war da, und als Folge davon der Tod, und der Mensch
war da: völlig kraftlos, nur fähig, angesichts des ihn
umgebenden Jammers zu weinen. Aber auch Er war da,
der Kranke geheilt, Lahme wandeln gemacht, der der Blinden
Augen aufgetan, der Tauben Ohren geöffnet und die
Zunge der Stummen gelöst hatte. Er war da, der nicht
nur alle jene Leiden stillen, sondern auch das Grab öffnen
und dem Tode seine Beute entreißen konnte.
Die Auferweckung des Lazarus war indes nicht nur
z
ein Beweis der wunderbaren Macht unseres Herrn, sondern
auch die Offenbarung eines Herzens, das die
Schmerzen und Kümmernisse der Seinigen in dieser Welt
vollkommen mitfühlt. Mehr noch. Als Lazarus, dem Rufe
des Herrn folgend, aus dem Grabe hervorkam, war er
„an Füßen und Händen mit Grabtüchern gebunden". Die
Sinnbilder des Todes hafteten ihm noch an, denn er kehrte
in denselben Zustand zurück, in welchem er vor seinem
Tode gewesen war, und er blieb nach wie vor dem Tode
unterworfen. Er war gleichsam in den Todesfluß hinab-
und an derselben Seite wieder heraufgestiegen. Mit einem
Wort, er gehörte noch dieser Schöpfung an.
Diese Tatsache erinnert uns daran, daß der Weg
durch den Jordan noch nicht gebahnt war, daß die Wasser
noch die Ufer überschwemmten. Die Bundeslade war
noch nicht in den Fluß hinabgestiegen, um die Wasser zum
Stehen zu bringen. (Jos. 3.) Jesus mußte erst in den
Tod gehen und das Gericht Gottes über die Sünde tragen,
bevor irgend jemand Ihm zu folgen vermochte.
(Vergl. Joh. 1.3, 3b.) Deshalb seufzte Er auch wohl „tief
im Geiste und erschütterte sich". Es war mehr als Mitgefühl
und Teilnahme, was wir hier sehen. Er stand dem
Tode gegenüber, den die Sünde in die Welt gebracht hatte,
und wie konnte ihm begegnet werden? Ein Machtspruch
genügte nicht. Jesus selbst mußte in den Tod hinein, und
zwar in den Tod am Kreuze! Die Verherrlichung Gottes
im Blick auf die Sünde des Menschen und die Macht Satans
stand in Frage. Gottes Gericht über die Sünde mußte
ertragen werden. O was hatte die Sünde in die Welt
gebracht! Wieviel Tränen, Jammer und Elend und danach
— das Gericht!
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Wird der Sohn Gottes dem allem begegnen und die
Folgen der Sünde auf sich nehmen? Gott sei gepriesen!
Er hat es getan, und dann ist Er aus den Toten auferstanden,
nicht an Händen und Füßen mit Grabtüchern
gebunden, wie Lazarus, sondern als Sieger über Sünde,
Satan, Tod und Grab. So ist Er in eine ganz neue Ordnung
der Dinge eingetreten und hat alle die Seinen mit
sich dort eingeführt: „Sein Vater unser Vater, Sein Gott
unser Gott". Wenn wir denn auch unserem Leibe nach noch
mit einer seufzenden Schöpfung in Verbindung stehen,
haben wir für den Glauben und im Geiste den Todesfluß
doch schon durchschritten. Auferstanden mit Ihm, ja,
in Ihm mitversetzt in die himmlischen Orter, leben wir
schon in dem ewigen Segensbereich, in welchen Er eingegangen
ist, und warten mit sehnendem Verlangen auf
die Sohnschaft, „die Erlösung unseres Leibes". (Röm.
8, 23.) Auch sie wird kommen, sobald unser geliebter Herr
wiederkehren wird, um alle Seine Erlösten dahin zu führen,
wo Er ist, in das Haus des Vaters.
Bis zu jener Stunde ist Seine Liebe unser Teil, und
wie aufmerksam und vollkommen ist sie! Keine Träne
bleibt unbemerkt, kein Seufzer ungehört. Er sieht alles,
hört alles, fühlt alles, und Er gießt in das blutende,
schmerzende Herz den Balsam Seines Mitgefühls. Das
tut Erjctzt, und bald wird Er unsere Tränen für immer
abwischen und die kurze Nacht unseres Weinens in einen
einzigen langen, lichtvollen Tag der Freude umwandeln.
Dann werden wir „für immer bei dem Herrn" sein, um
nie mehr von Ihm oder voneinander getrennt, nie mehr
gestört zu werden in dem Genuß Seiner Gemeinschaft
durch Untreue, Mangel an Wacbsamkeit oder dergleichen.
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Und selbst heute schon, inmitten der Trübsal, sind
Freude und Segen unser Teil. Freilich, Verbindungen mögen
gelöst werden, aber neue werden droben angeknüpft.
Starke Bande der Natur mögen zerrissen werden, daö
Herz mag bluten und seine Einsamkeit fühlen, aber Jesus
selbst kommt, um die Leere auözufüllen und die geschlagenen
Wunden zu verbinden. Und mit welch einer zarten
Hand und innigen Liebe tut Er es! Wohlan denn, mögen
auch irdische Beziehungen gelöst werden, die himmlischen
bleibet, und werden mit vermehrter Kraft gefühlt.
Das Verhältnis von Mann und Weib, Eltern und
Kindern usw., so innig es sein mag, ist zeitlich und hört
mit dem Weilen hienieden auf; aber waö wir einander in
geistlichcm Sinne hier sein, wie wir einander dienen,
stützen, helfen konnten, das alles wird seine Ergebnisse
droben haben, und zurückblickend werden wir uns herzlich
miteinander freuen, wenn dann nur noch die ewigen
Bande, die in Christo sind, bestehen werden. Die Erinnerung
an diese Erde, an die gemeinsamen Kämpfe,
Arbeiten und Prüfungen hier unten wird bleiben und zu
unserer tiefen Freude und zur Ehre Dessen dienen, der
uns nicht nur errettet, sondern auch in nie ermüdender
Treue bis zur Herrlichkeit geleitet hat.
Teurer Leser! Mag denn auch daö neue Jahr bringen,
was es will, vielleicht noch einige heiße Tränen, noch
einige schwere Seufzer — nichts wird uns zu scheiden
vermögen von der Liebe Gottes, die in Christo Jesu ist,
unserem Herrn; und jeder Schritt durch den Wüstensand
bringt uns der Erfüllung unserer Hoffnung näher.
Nur noch e!n wenig wallt ich als Fremdbng hier;
Dann ruh' ich ewig, treuster Hirt, dort bei Dir.
b
Reisen nach Jerusalem
Die Schrift berichtet von verschiedenen bedeutungsvollen
Reisen nach Jerusalem. In 2. Chron. 9 hören
wir von einer Reise, welche die Königin von Scheba unternahm,
„um Salomo mit Rätseln zu versuchen", und in
Matth. 2 wird uns von Magiern oder Sternkundigen
berichtet, die aus dem Morgenlande kamen, um nach dem
neugeborenen „König der Juden" zu forschen. Die Reisen
haben etwas Ähnliches. Beide waren weit und beschwerlich,
und beider Ziel war Jerusalem und ein König der
Juden; aber während die Magier ihre Wanderung antraten
unter dem Zeichen oder der Weisung eines leuchtenden
Sternes, unternahm die Königin von Scheba ihren Zug
auf Grund eines Gerüchts, das im fernen Äthiopien ihr
Ohr erreicht hatte. Die Wege des Herrn sind verschieden,
auch mit denen, die schon Sein sind. Zu Zeiten hat Er sie
besucht oder durch sichtbare Zeichen, Stimmen, Träume,
Engelbesuche und dergleichen geleitet; zu Zeiten läßt Er
sie ein einfaches Gerücht hören, wie in dem Falle dieser
heidnischen Fürstin. Aber wie Er sich auch an uns wenden
mag, der Glaube erkennt Seine Stimme und achtet darauf.
„Meine Schafe hören meine Stimme", sagt der gute
Hirt, „und sie folgen mir."
Die Magier kamen, um anzubeten, und führten
Opfergaben mit sich; die Königin von Scheba klopfte an
die Türen der Weisheit (Spr. 8, 34), um da Unterweisung
und göttliche Belehrung zu empfangen; und um das
zu erhandeln, was kostbarer ist als „feines Gold und auserlesenes
Silber", nahm sie eine Menge der reichsten
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Schätze und besten Erzeugnisse ihres Landes mit auf den
Weg.
Die Reise der Magier ist reich an belehrenden Bildern
für das Leben des Glaubens. Aber Jerusalem befriedigte
sie nicht. Sie mußten nach Bethlehem gehen, um
den Gegenstand zu finden, den sie suchten. Bei der Reise
der Königin des Südens hatte Jerusalem allen Erwartungen
entsprochen.
Betrachten wir diese Reise noch ein wenig näher.
Sie enthält einige charakteristische Merkmale, die in eindringlicher
und heilsamer Weise zu unseren Seelen reden.
Zunächst möchte ich bemerken, daß der bezüglich des
Königs in Jerusalem überbrachte Bericht einen so tiefen
Eindruck auf die Königin machte, daß ihre ganze Denk-
und Lebensweise dadurch verändert wurde. Ihre Reichtümer
und Ehren, so groß und auserlesen sie sein
mochten, genügten ihr nicht mehr. Sie mußte Besseres,
Höheres haben, und ohne sich lang zu bedenken, ließ
sie alle ihre Vorzüge in dieser Welt dahinten und machte
sich auf den weiten, mühevollen Weg von Scheba nach
Jerusalem. Die Tatsache ihrer Reise beweist das ganze
Unbefriedigtscin, ja, die tiefe Unruhe ihrer Seele infolge
der Kunde, die sie von Salomo und Jerusalem empfangen
hatte.
Das redet eine verständliche Sprache zu uns. Es erinnert
uns an die Wirkung, welche der Bericht, der über
einen Größeren als Salomo ausgegangen ist, auf unsere
Herzen machen sollte oder bereits gemacht hat. Die durch
die Kunde von Jesu aufgeweckte Seele wird auch heute
noch von ihrer bedauernswerten Lage überführt; der Zustand,
in welchen die Sünde sie gebracht und worin jene
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Kunde sie erreicht hat, beunruhigt sie. Was ihr bisher genügte
und ihre Wünsche befriedigte, erscheint ihr mit einem
Male in all seiner Hohlheit und Leere. War sie bisher mit
ihren Umständen und mit sich selbst zufrieden, nunmehr
fühlt sie sich unglücklich und unbefriedigt. Warum, weiß
sie vielleicht selbst noch nicht, aber die Tatsache besteht.
Und weiter: Sobald diese hochgestellte Frau Jerusalem
erreicht hatte, ließ sie es sich angelegen sein, das
Besitztum des Königs genau zu untersuchen. Deshalb war
sie gekommen! Und sie war nicht träge. Sie prüfte und
ruhte nicht. Sie legte dem König alle ihre schwierigen
Fragen vor, lauschte andächtig auf seine weishcitsvollen
Antworten und betrachtete seine prächtigen Häuser und
Einrichtungen mit der größten Aufmerksamkeit. Selbst die
äußere Erscheinung und das Sitzen seiner Knechte wie das
Aufwarten seiner Diener entging ihr nicht, noch viel weniger
der Aufgang, auf welchem Salomo in das HauS Jehovas
hinaufging.
Auch das redet zu uns. Wenn wir Jesum erreichen,
so machen unsere Seelen Ihn zum Gegenstand ihrer eingehenden
Betrachtung. Wir lernen von Ihm, wir unterhalten
uns von Ihm, wir suchen in die Geheimnisse Seiner
Gnade und Herrlichkeit einzudringen. Es macht uns
glücklich, daß wir mit Ihm und nur mit Ihm zu tun
haben, und wir begehren nichts anderes.
Doch es gibt noch ein Drittes. Als die Königin des
Südens sich mit allem bekannt gemacht hatte, was dem
König in Zion gehörte, war sie befriedigt. Ihre Seele war
wie von Mark und Fett gesättigt. Ihre Freude war überwältigend.
Sie wußte nicht mehr, wie ihr zumute war.
„Nicht die Hälfte war ihr berichtet worden", wie sie sagt.
9
und Salomo hatte das Gerücht übertroffen, das sie gehört
hatte. Sie geriet ganz außer sich und kehrte dann, voll
von all dem Gesehenen und Gehörten, in ihr Land zurück.
Sie verließ den König, wie viele Jahrhunderte später das
Weib von Samaria Jesum verließ: leer von allem anderen,
aber erfüllt und befriedigt von dem neugefundenen
Schatz.
So war der Pfad dieser Königin. Ihre Reise hatte
begonnen in dem unbehaglichen, beunruhigenden Gefühl
ihres Bedürfnisses nach anderem, Höherem. Aller Glanz
und Reichtum ihres Hauses und ihrer Stellung, all die
Schmeicheleien, von denen sie ohne Frage umgeben war,
hatten die Unruhe nicht beseitigen, die Leere nicht ausfüllen
können. Nun war sie bekannt geworden mit den wunderbaren,
geheimnisvollen Schätzen dcö Ortes, wohin ihre
Reise sie geführt hatte. Sie hatte gefragt, geforscht und
sorgfältig geprüft, und je weiter sie gekommen war, desto
mehr war ihr Herz ergriffen und hingerissen worden. Sie
beendigte ihre Reise wie eine Seele, deren Erwartungen
und Wünsche in einer Weise in Erfüllung gegangen sind,
daß der Becher überfließt.
Die geistliche Anwendung aller dieser Dinge darf ich
wohl dem Leser überlassen. Sie ist so einfach wie lieblich.
Wenden wir uns jetzt zu einer anderen Reise aus
dem Süden nach Jerusalem, die im Neuen Testament
berichtet wird. Ich meine die Reise des mächtigen Schatzmeisters
der Königin Kandare. (Apstgesch. 8.) Sie hat
manches mit der bisher betrachteten gemein.
Der Kämmerer begann seine Reise anscheinend mit
einem beunruhigten Gewissen. Er war nach Jerusa
ro -
lem gekommen, um dort anzubeten, aber er hatte diese
Stadt religiöser Feste und Gebräuche, die Stadt des Tempels
und des äußeren Dienstes Gottes, mit allen ihren
Satzungen, ihrem Priestertum und Opferdienst, unbefriedigt
verlassen. Wir finden ihn auf seinem Wege von Jerusalem
nach dem südlich gelegenen Gaza als einen ernsten
Forscher. Nichts in jenem religiösen Mittelpunkt hatte
seiner Seele Ruhe geben können. Die Anbetung, die er
dort dargebracht, hatte ihn in keiner Weise zu befriedigen
vermocht. Sein Gewissen war nicht gereinigt worden, die
schwere Last war nicht gewichen. Jerusalem hatte ihn enttäuscht,
wie es Jahre vorher die Magier enttäuscht hatte.
Er las in dem Propheten Jesajas, den Gott in Seiner
Güte ihn in Jerusalem vielleicht hatte finden lassen.
Im Beginn seiner Reise unruhig und unbefriedigt, wie
die Königin von Scheba, war er jetzt eifrig mit dem beschäftigt,
was Gott durch Seine Jeugen ihm als Antwort
auf seine Fragen zukommen lassen wollte. Das Wort
Gottes selbst redete zu seiner Seele und brachte auch ihn
ganz außer sich. Das plötzliche Erscheinen des Evangelisten
Philippus auf der einsamen Straße und dessen unerwartete
Frage: „Verstehst du auch, was du liesest?" scheint
ihn gar nicht überrascht zu haben. Alle seine Gedanken waren
auf die geheimnisvolle Sprache des wunderbaren
Buches gerichtet. So sorgfältig und eingehend, wie einst
die Königin das Besitztum Salomos, des Zeugen der
H e r r lich k e i t, betrachtet hatte, forschte er jetzt in den
Reichtümern des Zeugen der Gnade. Und Philippus
führte ihn in das Geheimnis ein, das er vergeblich zu ergründen
suchte.
Seine Antwort auf die Frage des Fremdlings: „Wie
— gz —
könnte ich denn, wenn nicht jemand mich anleitet?" und
seine Bitte an Philippus, auf den Wagen zu steigen und
sich zu ihm zu setzen, offenbaren uns den Zustand seines
demütigen Herzens. Begierig lauscht er auf die Auslegung
der kostbaren Stelle aus Jes. 53, und dann ist er befriedigt,
völlig befriedigt. Sein Herz wird, gleich dem der
Königin, bis zum Überlaufen gefüllt von dem, was ihm
kundgetan wird, und er setzt den zweiten Teil seiner Reise,
von Gaza nach Äthiopien, fort als ein Mensch, der für
alles andere kein Auge mehr hat. Er sah den Philippus
nicht mehr, „denn er zog seinen Weg mit Freude n".
Er konnte jetzt ohne Philippus fertig werden, wenn icb
mich so ausdrücken darf; ähnlich wie das Weib am Jakobö-
brunnen ohne ihren Wasserkrug. Wieder kehrt ein Mensch
nach dem Süden zurück mit einem Herzen, das von Mark
und Fett gesättigt ist, reich in den Entdeckungen, die er
gelegentlich seines Besuchs in Jerusalem gemacht hat.
Diese ähnlichen Charakterzüge sind in den beiden Erzählungen
unschwer zu erkennen. Nur war es, wie gesagt,
daö Gewissen, was den Gewaltigen der Königin Kandare
zu seiner Reise trieb, während die Königin von Scheba
mehr durch einVerlangen nach Höherem geleitet worden
war. Und während sie mit der Herrlichkeit, wie
sie sich an dem Hofe und in den Besitzungen Salomos
entfaltete, in Berührung gekommen war, begegnete der
Kämmerer in den Worten des Propheten Jesajas der
Gnade. Aber ob Gott sich an uns wendet mit einer
Offenbarung Seiner Gnade oder Seiner Herrlichkeit, ob
Er das Herz oder das Gewissen berührt — immer ist es
Sein hohes und göttliches Vorrecht, uns zu befriedigen.
Er sättigt die Seele mit einer Offenbarung Seiner selbst,
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mag diese Offenbarung eine Form annehmcn, welche sie
will, oder sich den Bedürfnissen der einzelnen Seele an-
passcn, wie cs ihr beliebt. Zn den beiden betrachteten Fällen
äußerte sie sich ganz verschieden, aber immer in überaus
gesegneter Weise.
Beachten wir noch einen Zug, der beiden Erzählungen
gemeinsam ist. Der Geist der Königin und des Kämmerers
war frei von allem Neid. Die erste konnte all die Herrlichkeit
Salomos überschauen, die weit überragende Weisheit
und Größe dieses Mannes betrachten, ohne irgendwelche
neidische oder mißgünstige Regungen in ihrem Innern
zu verspüren. Dafür war sie viel zu glücklich. Sie
konnte den König beglückwünschen und seine Diener, die
ihm aufwartetcn, ja, sein ganzes Volk glückselig preisen,
daß es seine Weisheit hören durfte, und dann nach Hause
zurückkehren in dein Bewußtsein des großen Vorrechts,
daß sie ihn hatte besuchen dürfen; aber sie beneidete weder
seine Knechte noch seine Leute um das reiche Teil, das sie
genossen. Ihr Herz war voll von dem Segensantcil, der
ihr selbst geworden war. So auch der Kämmerer, wenn ich
cs anders recht verstehe. Er war bereit, ein Schuldner des
Philippus zu sein, d. i. als der Geringere von dem Besseren
gesegnet zu werden. Mochte Philippus auch den höheren
Platz haben — er war ganz glücklicb, völlig befriedigt;
sein Herz konnte nicht mehr fassen.
Macbt es nicbt auch unsere Herzen glücklich, solche
Beispiele göttlichen Wirkens zu betrachten? Wie herrlich
ist es, wenn auch heute eine Seele, die, durch ihren Zustand
beunruhigt, eifrig nach Jesu sucht und nun, nachdem die
Begegnung mit Ibm stattgefunden hat, zu glücklich ist,
um sick länger mit den häßlicbcn Regungen einer Natur
lZ
zu beschäftigen, die an Neid und Mißgunst Gefallen hat!
Und wie geräuschlos vollzieht sich die Umwandlung! Still
und verargen geht sie vor in dem Innern eines Menschen
mittelst jener Kraft, die dem Wind gleicht, der da weht,
wo er will; man hört sein Sausen wohl, aber man weiß
nicht, woher er kommt und wohin er geht.
Doch es gibt noch einen anderen Gesichtspunkt, unter
welchem wir diese Reisen nach Jerusalem betrachten können.
Zu Zeiten finden wir, daß die Stadt des großen Königs
allen Erwartungen entsprach, die seitens des Herzens an
sie geknüpft wurden. Die Königin von Scheba fand, wie
wir gesehen haben, noch mehr als das: nicht die Hälfte
war ihr von dem gesagt worden, was sie wirklich gefunden
hatte. Zu anderen Zeiten enttäuschte Jerusalem die Erwartungen
bitter. Es war schon so, als die Magier aus
dem fernen Osten kamen. Wo hätten sie nach ihrer Meinung
den König der Juden suchen sollen, wenn nicht in
Jerusalem? Aber sic mußten Jerusalem links liegen lassen
und weiter südlich, nach Bethlehem, ziehen. Mit dem
Schatzmeister der Königin Kandare war cs nicht anders.
Gekommen, um in Jerusalem anzubcten, mußte er die
Stadt unbefriedigt verlassen. Wir fanden ihn nach jener
Ruhe suchend, welche Tempel und Priestertum ihm nicht
hatten geben können. Und dürfe,: wir nicht hinzufügen,
daß Jerusalem auch den Herrn Jesus enttäuscht hat? Anstatt
ein freudiges Willkommen dort zu finden, mußte Er
über die Stadt weinen. Sein Wehe über sie auösprechcn
und schließlich ihr: „Kreuzige, kreuzige Ihn!" vernehmen.
Doch in den letzten Tagen wird Jerusalem gleichsam
wieder aufleben und den Charakter wieder annehmen, den
14
es in den ersten Tagen seiner Herrlichkeit trug. Es wird
den höchsten Erwartungen jener zahllosen Scharen entsprechen,
welche, gleich der Königin von Scheba, pon weither
Heraufziehen werden, um „den König in Seiner Schönheit"
zu erblicken. (Jes. 33, 17.) Die Verkehröstraßen,
so entwickelt sie sein mögen, werden die Mengen der Besucher
nicht fassen können. „Alle Nationen werden zu ihm
(dem Berge des Hauses Jehovas) strömen", lesen wir.
„Und viele Völker werden hingehen und sagen: Kommt
und laßt uns hinaufziehen zum Berge Jehovas, zum Hause
des Gottes Jakobs! Und Er wird uns belehren aus Seinen
Wegen, und wir wollen wandeln in Seinen Pfaden.
Denn von Zion wird das Gesetz ausgehen, und daS Wort
Jehovas von Jerusalem." Und wiederum: „Und es wird
geschehen, daß alle llbriggebliebenen von allen Nationen,
welche wider Jerusalem gekommen sind, von Jahr zu Jahr
hinaufziehen werden, um den König, Jehova der Heerscharen,
anzubeten und das Laubhüttenfest zu feiern". Und
schließlich: „Ich freute mich, als sie zu mir sagten: Lasset
uns zum Hause Jehovas gehen! Unsere Füße werden in
deinen Toren stehen, Jerusalem! Jerusalem, die du aufgebaut
bist als eine fest in sich geschlossene Stadt, wohin
die Stämme hinaufziehen, die Stämme Jahs, ein Zeugnis
für Israel, zu preisen den Namen Jehovas!" (Jes.
2, 2. 3; Sach. 14, 1b; Ps. 122, 1—4.)
Kostbare Zeugnisse von der Befriedigung, welche
Tausende und Millionen in den Tagen des Tausendjährigen
Reiches in diesen Reisen nach der Stadt des großen
Königs finden werden, wenn das Unterpfand, das wir in
der Reise der Königin von Scheba erblicken dürfen, in
wunderbar gesegneter Weise eingelöst werden wird in den
- 15 -
gewaltigen Scharen, die aus allen Sprachen und Zungen
kommen werden, um in den Tagen der Wiederherstellung
Zions dem Herrn der ganzen Erde willig ihre Opfer zu
bringen!
So sehen wir denn, daß Reisen nach Jerusalem entweder
befriedigen oder enttäuschen, und daß die Entscheidung
über das Entweder-Oder beim Herrn steht. Zur Zeit
der Königin von Scheba war Seine Herrlichkeit in Jerusalem
entfaltet, und deshalb hatte ihr Besuch ein befriedigendes
Ergebnis. Aber als der Kämmerer zur Beruhigung
seines erwachten Gewissens nach Jerusalem zog, fand
er die Gnade dort nicht, deren er bedurfte. Am Ende der
Tage wird beides: Herrlichkeit und Gnade, dort gefunden
werden. Die Entscheidung der Frage, welchen Wert die
Stadt hat, hängt also ganz und gar von der Gegenwart
Christi in ihr ab.
Jerusalem, „eine Stadt der Jebusiter", wie sie in
den Tagen der Richter genannt wird (Richt. 1.4, 11),
wird zur „Freude der ganzen Erde", wenn einmal Jesus
ihr Leben und ihre Herrlichkeit ist. (Ps. 48, 2.) Ähnlich
ist es mit dem Berge Sinai oder Horeb. Einmal nur „der
Berg Sinai in Arabien", nimmt er zu anderen Zeiten die
Würde des „Berges Gottes" an, jenachdem es dem Herrn
gefällt. Die gesetzlichen Verordnungen sind kostbare Vorbilder,
„Schatten der zukünftigen Güter", gleichsam die
innere Ausstattung des wunderbaren Hauses Gottes, oder
nur „schwache und armselige Elemente", jenachdem der
Herr sie benutzt oder beiseite legt.
- 1b
Glaukensheilungen
Es ist eine bemerkenswerte Tatsache, daß in unseren
Tagen kirchliche und andere religiöse Systeme die Glau-
benöheilung in ihr Lehrsystem ausgenommen haben. Bei
einigen bildet sie sogar den Mittelpunkt ihres Gottesdienstes.
Auch die katholische Kirche hat ihre Stätten, an denen
Glaubensheilungen stattsinden, wie Lourdes in Frankreich
mit seiner wundertätigen Quelle, Einsiedeln in der Schweiz
mit dem wundertätigen Marienbilde, Kevelaar, Neviges
u. a. in Deutschland. An allen diesen Orten sollen wunderbare
Heilungen erfolgt sein. Auch die „Christliche Wissenschaft^
(cdristisn Science) hat ihre Wunderpraktiker, die
in Krankheitsfällen zur Verfügung stehen und ihre Patienten
davon zu überzeugen suchen, daß es so etwas wie
Schmerz und Krankheit überhaupt nicht gibt, und daß man
ihren Anweisungen nur zu folgen braucht, um völliges
Wohlbefinden zu erlangen.
Ferner gibt es Menschen, die vorgeben, es den
Aposteln gleichtun zu können und dieselben Wunderkräfte
zu besitzen, wie sie im Anfang der Geschichte der Kirche
den Aposteln und anderen Männern von Gott gegeben
wurden, um dadurch den Heiden und anderen unwissenden
Menschen die Wahrheit des Christentums zu beweisen.
Der dem Worte Gottes gehorsame Christ untersucht
alle diese Behauptungen und Lehren mittelst des Wortes,
des einzigen, aber untrüglichen Führers zu aller Zeit, besonders
aber in diesen Tagen, wo die Betrügereien Satans
überall Wahrheit und Irrtum miteinander zu vermengen
suchen, um die Seelen von dem einmal den Heiligen
überlieferten Glauben abzulenken.
- 47 —
4. Joh. 4 gibt uns zwei Prüfsteine an die Hand,
um die falschen Propheten von den echten zu unterscheiden
und die Geister zu prüfen. „Der Geist der Wahrheit"
wird stets Jesum Christum als im Fleische gekommen bekennen,
das heißt, er wird die ganze Wahrheit Seiner
Person aufrechthalten: wahrer Gott und wahrer Mensch,
Gott und Mensch in einer Person. Diese Wahrheit wird
„der Geist des Irrtums" (V. 6) niemals zugeben. Der
zweite Prüfstein ist: „Wir (die Apostel) sind aus Gott;
wer Gott kennt, hörtun s". (V. 6.) Wer auf die Apostel
hört, ist also kein böser Geist. Nun haben wir freilich
heute keine Apostel mehr, aber wir besitzen ihre Schriften,
und „der Geist des Irrtums" wird niemals die in dem
Wort uns gegebenen apostolischen Schriften anerkennen.
Was nun die Wunderwirkungen, die sich in Heilungen
und ähnlichen Dingen kundgeben, betrifft, so zeigt uns
die Schrift, daß solche immer nur im Anfang eines göttlichen
Haushalts oder eines besonderen Zeitabschnittes in
der göttlichen Geschichte gegeben wurden, nicht aber am
Ende, nachdem der Verfall eingesetzt hat.
Nehmen wir als Beispiel das Volk Israel. Wunderbare
Kraftentfaltungen kennzeichneten den Auszug aus
Ägypten, die Wanderung durch die Wüste und den Einzug
in das Land der Verheißung, auch noch die Zeiten eines
Elia und Elisa. Aber in den Tagen des zunehmenden
Verfalls und Götzendienstes, an deren Ende die Juden in
die Gefangenschaft geführt wurden, finden wir derartiges
nicht mehr. Damals griff Gott nur insoweit ein, als Er
in den Wegen Seiner Vorsehung das Wohlwollen des Pcr-
serkönigs dem Volke zuwandte, sodaß er ihnen zur Rückkehr
nach Kanaan verhalf.
l8
Gott war wie immer denen treu, die, wie Esra und
Nchcmia, den Verfall anerkannten und sich unter Seine
züchtigende Hand beugten. Ms der Überrest unter Eöra
den Altar Gottes in der mauerlosen Stadt wieder aufrichtete,
Seinem Schutz vertrauend, da war Er mit ihnen.
Aber weder erschien die Wolke der Herrlichkeit, noch fuhr
heiliges Feuer vom Himmel herab, um die Opfer auf dein
Altar zu verzehren, wie es in den Tagen Salomos geschehen
war. (2. Chron. 7, 7.) Auch war kein Priester
da für die Urim und die Thummim, um die Lücken in den
Geschlechtsregistcrn auszufüllen. (Esra 2, 63.) Hätten die
Juden damals Ansprüche auf den Besitz der Wunderkräfte
gemacht, die sich in vergangenen Tagen unter ihnen
entfaltet hatten, so würden sie damit nur die Stellung
aufgegeben haben, in welcher allein Gott sie noch segnen
konnte. Aber sie dachten nicht daran, sich etwas anzumaßen,
das ihnen nicht zukam, und Gott erkannte ihre
Treue an.
Und wie steht es mit der Christenheit heute? Völlig
verweltlicht, ist sie in lauter Parteien und Sekten zersplittert,
in denen es Leute gibt, die die ungesundesten,
bösesten Dinge lehren. Und dabei sind manche von diesen
Leuten so verblendet, daß sie behaupten, in einer Weise
übernatürliche Kräfte zu besitzen, wie sie selbst kaum am
Platz gewesen wären, als die Kirche noch in Einheit und
in ihrer Reinheit und Einfalt dastand.
Für einen demütigen Christen, der als einzigen Führer
das Wort Gottes anerkennt, ist es klar, daß Gott sich
nicht zu einem verfallenen, verderbten Zustand der Kirche
durch äußere Zeichen, wie Wunderkräfte, Heilungen usw.,
bekennen kann. Die Behauptung, solche zu besitzen, be
- zy —
weist lediglich Unkenntnis bezüglich dessen, was den Schlußtagen
des christlichen Haushalts angemessen ist.
Daß Gott zu gleicher Zeit Derselbe bleibt in Seiner
Treue allen gegenüber, die den Platz der Beugung cinnch-
men, ist eine andere Sache. Solche können jederzeit auf
Ihn rechnen, mögen die Tage auch noch so schwierig werden.
Alle die in späteren Tagen geschriebenen Briefe, wie
der 2. Brief an Timotheus, der 2. Petribrief, der Brief
des Judas, die Briefe des Johannes, lassen deutlich erkennen,
wohin die bekennende Kirche kommen würde. Da
ist keine Hoffnung für irgend eine Wiederherstellung als
Körperschaft. Anderseits gibt uns nicht ein einziger dieser
Briefe irgendwelches Recht, auf Wunderkräfte, Heilungen
und dergl. in der heutigen Zeit zu warten.
Ein verständiger, einfältiger Christ wird in unseren
Tagen nichts anderes begehren, als in Demut seinen Weg
zu gehen, zum Herrn aufschauend, daß Er ihm Weisheit
und Kraft darreichen und ihn befähigen möge, die Wahrheit
festzuhalten, so wie sie enthalten ist in den Schriften,
die vermögend sind, „den Menschen Gottes vollkommen
zu machen, zu jedem guten Werke völlig geschickt".
Was die Frage betrifft, ob mit der heutigen Zeit überhaupt
keine Wunderkräfte vereinbar wären, so ist es selbstverständlich
klar, daß Gottes Macht heute die gleiche ist
wie im Anfang der Kirchengeschichte. Worauf wir Hinweisen
möchten, ist nur dies, daß sie mit dem Ende der christlichen
Haushaltung, in welchem wir stehen, nicht im Einklang
sind. Aber alles Neue und die Sinne Aufreizende
hat heute mehr als je Anziehungskraft für die große Masse,
und so werden unbefestigte Seelen umgarnt.
20
Die bekannte Stelle im Z. Kapitel des Zakobus-
briefes ist wohl ein Hauptstützpunkt für solche, die den
Glaubensheilungen in unseren Tagen daö Wort reden.
Dort wird, wie wir wissen, der Kranke aufgefordert, die
Ältesten der Versammlung zu sich zu rufen, damit sie über
ihn beten und ihn mit Dl salben im Namen des Herrn.
Wenn wir uns der Tatsache erinnern, daß die „Versammlung"
(Gemeinde) alle wahren Gläubigen an dem jeweiligen
Ort umfaßt, gleichviel welcher Benennung sie angehören
mögen, so dürfte es heutzutage nicht so einfach
sein, diese „Ältesten", die wohl in den verschiedenen Parteien
zerstreut sind, zu finden.
Sicherlich ist nichts dagegen einzuwenden, wenn ein
kranker Christ eine Anzahl gottesfürchtiger Männer zum
Gebet zu sich bittet (vorausgesetzt, daß ihm solches auf der
Seele liegt), besonders wenn er die Überzeugung hat, daß
seine Krankheit eine von Gott zugelassene Züchtigung ist
für irgend eine Sünde, die „wir einander bekennen" sollten.
(Vergl. V. tb.) Aber das ist eine ganz andere Sache.
Über die vorliegende Frage ist treffend gesagt worden *) :
„Für die Erlangung des Segens ist wahrer Glaube erforderlich.
Nun aber setzt Gott Segen in die Mitte der Versammlung
wahrer Gläubiger. In Seiner Regierung und
Jucht ist er für den Glauben hier zu finden.... An dieser
Stelle unseres Briefes handelt es sich nicht um Sünden,
welche die Jucht der Versammlung über den einzelnen
bringen, sondern um die Wege Gottes in den gewöhnlichen
Umständen des Lebens, und vor allem in Verbindung
mit Seiner Züchtigung (Erziehung). Indem nun
*) Bergt. I. N. D.. Betrachtungen über den Brief des Jakobus.
8. 8t. vergriffen. Neuauflage bevorstehend.
- 21
der Betreffende die Hand Gottes anerkennt und das, was
ihm begegnet, nicht als einen bloßen Zufall betrachtet, sucht
er Gottes Dazwischentreten gemäß Seiner Gnade...
Wenn Jakobus sagt: „Wenn er Sünden begangen hat,
wird ihm vergeben werden", so ist das so zu verstehen:
Geht der kranke Bruder in sich, indem er die Hand Gottes
erkennt, so werden ihm die Sünden, welche die Züchtigung
Gottes hcrbcigcführt und die Heilung der Krankheit
verhindert haben, vergeben werden, soweit es sich um
die Jucht Gottes in Seiner Regierung handelt."
Es kommen Fälle vor, in denen es nicht Gottes
Absicht ist, wiederherzustcllen. *) Es gibt „Sünde zum
Tode", und es gibt „Sünde, die nicht zum Tode ist".
Für den ersten Fall gilt das ernste Wort: „Nicht für
diese sage ich, daß er bitten solle", (t. Joh. 5, t6.) Scbon
diese eine Stelle beweist das Verkehrte des unterschiedslos
Heilenwollens. Zu beachten ist hier auch, daß das, was an
dieser Stelle vom Tode gesagt wird, sich auf den leiblichen
Tod bezicht. Die Geschichte von Anamas und
Sapphira in Apstgsch. 5 gibt eine Erklärung dazu. Die
Seelen dieser beiden Leute waren errettet, aber sie wurden
ihrer Sünde wegen gerichtlich weggerafft. So gab cs auch
in Korinth manche Schwache und Kranke, und ein gut
Teil war entschlafen. Gottes züchtigende Hand lag auf der
In Fällen, in denen Gott offenbar keine Heilung geben will,
darf man nicht immer, ja, nickt einmal gewöhnlich, annehmen, daß
eine „Sünde zum Tiodc" vvrlrege. Letzteres ist viel eher ein Ausnahmefall.
Krankheit kann eine Aüchiigung sein für die, welche
der He>r lieb hat; sie kann auch e.nfach eine Folge der Schwachheit
unseres Leibes sein, in w.lckem wir seufzen. fBergl. Nom. 8,
2Z.) Gott läßt manchmal Krankbeiten über Leine Kinder kom
men, um Seine eigenen weifen Ansichten auszufübrcn, und damii
sie die Kraft Chrrsti erkennen möchten, die auf ihnen ruht.
22
Versammlung wegen ihres traurigen Verhaltens bei der
Feier des Abendmahls, (t. Kor. tt, zo.)
Der Apostel Paulus, der so viele geheilt hatte, übte
diese Kraft nur aus, um Fernstehenden die Wahrheit des
Christentums zu beweisen. Er wandte sie z. B. nicht an
zu Gunsten seiner nächsten Mitarbeiter. So hören wir ihn
über Epaphroditus sagen: „Er war krank, dem Tode nahe,
aber Gott hat sich über ihn erbarmt". (Phil. 2, 27.) An
sein geliebtes Kind Timotheus schreibt er: „Trinke nicht
länger nur Wasser... um deines Magens und deines häufigen
Unwohlseins willen" (t. Tim. 5, 23), und später:
„TrophimuS habe ich in Milet krank zurückgelassen".
(2. Tim. 4, 20.)
Die in Matth. 8, 47 aus Jes. 53, 4 angeführte,
bekannte Stelle: „Er selbst nahm unsere Schwachheiten
und trug unsere Krankheiten", wird von den Vertretern
der Glaubens-Heilungölehre auch oft als Stützpunkt benutzt.
Aber der Zusammenhang zeigt doch deutlich, daß
die Stelle nichts anderes sagen will, als daß der Herr
im Geist in die Schmerzen derer, die Er heilte, cinging,
und wie voll göttlichen Mitgefühls Er für sie war. Sie
hat nichts mit Seinem Sühnungswerk zu tun, das einzig
und allein auf dem Kreuz vollbracht wurde.
Das so Verkehrte und Böse an der ganzen Sache ist,
daß man aus der Glaubensheilung ei n S y st em m a ch t,
in welchem zweifellos Magnetismus und ähnliche Dinge
eine Rolle spielen. Auch sollte man nicht vergessen, daß
bei den Personen, die also zu heilen vorgeben, das Geldverdienen
vielfach Ursache und Zweck ist. Wenn aber Geld
und Evangelium miteinander verquickt werden, dann dient
diese Mischung stets zum Schaden des Evangeliums. „Sil
23
ber und Gold habe ich nicht", sagte Petrus zu dem Lahmeil,
der ihm freilich nichts geben konnte (Apstgsch. 3),
und zu Simon, dem Zauberer, sagte er: „Dein Geld fahre
samt dir ins Verderben!" (Apstgsch. 8, 20.) Demütige
Abhängigkeit von Gott und Glaubenseinfalt sind die
Dinge, die uns nottun, aber nicht ein System, das Ansprüche
aufstellt, die mit dem Zustand des Verfalls, in welchem
die Kirche sich heute befindet, in keiner Weise vereinbar
sind.
^>i<r werden wir von Sorgen frei?
,, . . indem ihr alle eure Sorge auf Ihn werfet,
denn Er ist besorgt für euch." (I. Petr. 5, 7.)
Die Entdeckung oder Erfindung eines Mittels, durch
welches man mit einem Schlage von allen Sorgen frei
werden könnte, würde in der ganzen Welt mit lautem Jubel
begrüßt werden. Denn wo ist ein Mensch, der den
schweren Druck banger, quälender Sorge noch nie empfunden
hätte?
Ein solches Mittel gibt es nicht, sagt man, und nie
wird eins entdeckt oder erfunden werden. Für die Menschheit
im allgemeinen allerdings nicht. Aber es gibt Menschen,
sie werden „Gläubige" genannt, die ein solches
Mittel kennen. Alle, die durch den Glauben an Christum
in lebendige Verbindung mit Gott gebracht worden sind,
werden aufgefordert, die ganze Last ihrer Sorgen auf ihren
Vater im Himmel zu werfen, und wenn sie das tun,
werden sie nicht nur von dem Druck dieser Last befreit,
sondern haben auch die Gewißheit, daß alles gut werden
wird, denn Er ist ja für sie besorgt.
Manche Kinder Gottes scheinen zwar zu denken, daß
24
sic nur betreffs ihres geistlichen Wohles vertrauensvoll
dem Herrn nahen dürften; die Dinge dieses Lebens behandeln
sie in einer Weise, als wenn es ihnen überlassen
wäre, sich so gut wie möglich mit ihnen abzufinden. Aber
das ist ein schlimmer, verhängnisvoller Irrtum, der ihnen
nicht nur Glück und Frieden raubt, sondern auch ihrem
Wachstum in der praktischen Heiligkeit im Wege steht. Es
ist ja nicht zu leugnen: Solang wir uns noch in dieser
Welt befinden, sind wir von Versuchungen und Schwierigkeiten
aller Art umringt und beständigen Anläufen der
Sorge ausgesetzt. Wenn also ein Gläubiger meint, mit
seinen täglichen Nöten nicht zu Gott kommen zu dürfen,
so irrt er sehr und verbringt einen großen Teil seines Lebens
in einem Zustand praktischer Trennung von Gott.
Welch ein Verlust ist das! Das Christentum will unser Leben
in allen Punkten umgestalten. Es will seinen mächtigen
Einfluß nicht nur in unseren Handlungen geltend
machen, sondern auch das Herz in den Umständen des Lebens
stärken und stützen. Die Schrift redet darüber sehr
klar. Schon der Herr ermahnt Seine Jünger eindringlich,
sich keinen ängstlichen Sorgen hinzugeben. Dabei denkt
Er durchaus nicht an geistliche Dinge, sondern spricht von
„Nahrung" und „Kleidung", und legt es den Seinen ans
Herz, ihre zeitlichen Umstände in den Händen Dessen zu
lassen, der die Lilien kleidet und die Vögel ernährt.
Und in der im Anfang angeführten Stelle fordert der
Apostel Petrus uns auf, alle unsere Sorgen auf Gott zu
werfen, welcher Art sie auch sein mögen. Es ist daher
nichts Ungebührliches, wenn wir uns die Freiheit nehmen,
alle unsere Schwierigkeiten, groß oder klein, dem Herrn
zu bringen. Im Gegenteil, Er wünscht das von uns,
25
und gerade wenn wahre, einfältige Gottesfurcht unser Verhalten
regelt, werden wir dahin geleitet, jede Angst, jede
Sorge, sie möge uns selbst oder andere betreffen, von uns
zu werfen und auf Gott zu legen.
Noch einmal denn: Jede Sorge darf abgewälzt
werden, auch das oft so ängstliche Fragen manches Gläubigen,
wie sich seine Umstände in dieser Welt wohl noch
gestalten mögen. Alles was er zu tun hat, ist, Dem Treue
zu bewahren, der ihn liebt, und seine Umstände durch
Seine göttliche Weisheit regeln zu lassen. Das ist Glaube,
das ist Vertrauen. Doch ach, wie viele Gläubige quälen
und martern sich unaufhörlich mit zeitlichen Sorgen und
Ängsten! Sie werfen wohl einen Teil ihrer Lasten auf Gott,
aber sie behalten einen genügenden Teil zurück, um daraus
eine Quelle steter, quälender Furcht zu machen. Sie brüten
über kommende Übel, trauern über vergangene Mißgeschicke
und können nicht davon loskommen. Was ist das
anderes als unnütze Selbstquälcrei und ein trauriges Vcr-
unchren Gottes? Warum überläßt man seine Angelegenheiten
nicht ruhig und getrost den Händen Dessen, der uns
so liebevoll auffordert, ja, uns darum bittet, Ihn zum
Verwalter aller unserer Schwierigkeiten zu machen? Lege
sie doch zu Seinen Füßen nieder, breite sie vor Ihm aus,
überlaß sic alle Seiner Weisheit, und du wirst erfahren,
daß Er gemäß Seiner Zusage „alle Dinge dir zum Guten
mitwirken" lassen wird.
„Er ist besorgt für euch." Das ist der Boden, auf
den. der Apostel seine Ermahnung stellt. Und wahrlich, er
genüge vollkommen, wenn wir nur glauben können. Wie
oftmals aber wagen wir kaum zu hoffen, daß das kurze
Wort wahr ist! Und die Schwierigkeit, den Zusagen Gottes
26
rückhaltlos zu glauben, wird immer größer, jemehr wir uns
mit den Umständen, oder mit unserer Wert- und Kraftlosigkeit
beschäftigen. In unserem Unverstand will es uns oft
vermessen erscheinen, daß der Gott, dessen Aufmerksamkeit
Myriaden von Wesen unausgesetzt in Anspruch nehmen,
auch uns Seine besondere Sorge zuwenden könnte. Dieser
Gedanke scheint zwar Gott zu ehren, in Wirklichkeit
aber zielt er darauf ab, Ihn auf eine Stufe mit uns zu
stellen. W i r freilich sind trotz unseres Nichts und unserer
Ohnmacht geneigt, unsere Aufmerksamkeit nur solchen
Personen oder Dingen zuzuwenden, die wir dessen würdig
erachten. Aber nach göttlicher Einschätzung gibt es kein
groß und klein. Ob vornehm oder gering, ob reich oder arm,
alle Menschen befinden sich an und für sich in gleich unendlicher
Entfernung von Gott. Doch so wie unsere kleine
Erde Gottes Beachtung auf sich zieht, als gäbe es keinen
anderen Weltkörper im weiten All, ebenso empfängt jedes
einzelne Seiner Kinder so viel von Seiner Sorgfalt, als
gäbe es kein anderes auf Erden.
Wenn wir uns ins Gedächtnis rufen, was Gott es
sich hat kosten lassen, uns zu Seinen Kindern zu machen,
fällt es uns nicht mehr so schwer, zu glauben, daß uns
auch jetzt, nachdem wir Seine Kinder geworden sind, alle
Seine Liebe und Sorgfalt gehört. Die Schrift ist voll herrlicher
Beispiele davon, wie zärtlich und treu Gott Seine
Kinder liebt. Sie zeugt sogar von Seiner Sorge für uns
zu einer Zeit, als wir noch gar nicht da waren. Der Apostel
Paulus, selbst ganz ergriffen von der Größe seines Gegenstandes,
ruft in dem Brief an die Epheser aus: „Gepriesen
sei der Gott und Vater unseres Herrn Jesus Christus,
der uns gesegnet hat mit jeder geistlichen Segnung in
27
den himmlischen Örtern in Christo, wie Er uns auöer-
wählt hat in Ihm vor Grundlegung der Welt!"
Zn welch wunderbarer Weise ist dieser Vorsatz ewiger
Liebe in der Zeit ausgeführt worden! Ja, Gott hat
Seines eingeborenen, geliebten Sohnes nicht geschont, sondern
Ihn sür uns alle hingegeben. Aber damit nicht genug,
sandte Er, als das schwere Werk der Erlösung vollbracht
war. Seinen Heiligen Geist auf die Erde, um die
Gläubigen zu bewahren, zu unterweisen und sie zur Herrlichkeit
zu führen. Er gab ihnen Sein teures Wort, durch
das Er ihnen Seinen Willen, Seine Gedanken und Ratschlüsse
für Zeit und Ewigkeit kundtut. Auch bestellte Er
ihnen eine Obrigkeit in dieser Welt, „Seine Dienerin, ihnen
zum Guten". (Vergl. Röm. 73, 4.) Ist es zu viel, wenn
Petrus im Blick auf alles das sagt: „Er ist besorgt für
uns"?
Und so wie Er für Sein Volk in seiner Gesamtheit
Sorge trägt, so sorgt Er in besonderer Weise für jedes
einzelne Seiner Kinder. Aber hier will unser Glaube so
leicht versagen. Nur sehr zögernd glauben wir, daß Er
für uns persönlich besorgt ist, daß Er „Tag für Tag
unsere Last trägt". (Ps. 68, 4Y.) Und doch ist es Wahrheit,
daß Gott ebensowohl für jeden einzelnen der Seinen
sorgt, wie Er an sie alle denkt. War Er nicht für Lot
besorgt, als Er die beiden Engel sandte, um ihn vor dem
über Sodom hereinbrechenden Verderben zu warnen, und
ihn schließlich fast mit Gewalt der Gefahr zu entreißen?
Dachte Er nicht an Mose, als Er die Tochter des Pharao
zum Flußufer führte und sie willig machte, das ausgesetzte
hebräische Kindlein als ihr eigenes anzunehmen? War
Er nicht für Daniel besorgt, als Er Seinen Engel sandte,
28
um die Rachen der gierigen Arven zu verschließen? oder
für Petrus, als Er wiederum einen Engel sandte, um die
Lore des Gefängnisses aufzutun? Alle diese Gläubigen erfuhren
die besondere Sorgfalt Gottes. Und wir? Besitzen
wir heute nicht noch einen weit größeren Schatz kostbarer
Verheißungen und Zusagen aus Seinem Munde, als die
Gläubigen des Alten Bundes? Wird uns nicht zugerufen:
„Er, der doch Seines eigenen Sohnes nicht geschont, sondern
Ihn für uns alle hingegeben hat: wie wird Er uns
mit Ihm nicht auch alles schenken?"? Werden wir nicht
immer wieder aufgefordert, zu bitten, damit wir empfangen,
auf daß unsere Freude völlig sei? oder „unsere Anliegen
durch Gebet und Flehen mit Danksagung vor Gott
kundwerden zu lassen"? Darum fasse Mut, du Kind Gottes,
wie schwach, niedergeworfen und enttäuscht du dich
auch fühlen magst! Richte dich auf an dem gnadenreichen
Wort: „Er ist besorgt für euch", und laß den darin liegenden
unerschöpflichen Trost deinen Glauben stärken!
du ölst mein
Mei» Heiland Jesus, Du bist mein,
Durch Gottes Gnade bin ich Dein!
Und was Du tatest, was Du bist,
Jetzt meines Herzens Wonne ist.
Du, Herr, erwarbst mir durch Dein Blut
Gerechtigkeit als ew'ges Gut.
Drum danke ich Dir immerhin,
So arm und schwach ich in mir bin.
O lehr' mich wandeln nun mit Dir,
In Dir mich bergen für und für!
Gib Gnad' um Gnade jeden Tag,
Bis ich Dich droben schauen mag!
R. Br.
(Nach dem Englischen)
Einsicht in die Zeiten
Unter den „zum Heere Gerüsteten", die einst zu David
nach Hebron kamen, um ihm das Königreich Sauls
zuzuwenden, befanden sich auch „Männer von Jssaschar,
welche Einsicht hatten in die Zeiten, um zu wissen, was
Israel tun mußte", (t. Chron. t2, 32.) Solche Männer
waren nicht nur damals von großer Wichtigkeit, sie sind
es auch in den Tagen, in die unser Los gefallen ist. Unter
den Unbekehrten, die gleichgültig ihres Weges dahingehen,
dürfen wir sie freilich nicht suchen. Ach! wenn diese den
Ernst dieser letzten Gnadenzeit verständen! Sie würden
über ihren Zustand erschrecken und es ihre größte Sorge
sein lassen, noch vor Toresschluß errettet zu werden. Denn
„es ist furchtbar, in die Hände des lebendigen Gottes
zu fallen". (Hebr. tv, 3t.)
Aber auch für die Gläubigen sind die Tage ernst. Für
sie handelt es sich ja nicht mehr darum, vor dem ewigen
Verderben sichergestellt zu werden. Sie erfreuen sich der
Liebe und Treue ihres Gottes und Vaters und haben die
Hoffnung, binnen kurzem dieses Tränental zu verlassen
und in die ewige, ungetrübte Freude droben einzugehen.
Aber noch ist das Endziel nicht erreicht, noch befinden sie
sich auf dem Pfade des Glaubens. Aber immer näher
rückt der Augenblick, wo sich das in Matth. 25, 2t und
anderen ähnlichen Stellen Gesagte erfüllen wird.
An diesen Stellen ist von einer Belohnung die Rede.
Es ist also möglich für den Gläubigen, neben all dem
I.XXVU 2
— 30 —
Herrlichen, das er in Christo besitzt, noch einen besonderen
Lohn zu empfangen. Soll derselbe auch nicht der Beweggrund,
die treibende Kraft zu seinen Handlungen sein, so
stellt der Herr ihn doch als eine Ermunterung vor unsere
Herzen. Und was muß es sein, wenn ein Knecht oder eine
Magd des Herrn, ich möchte sagen, unerwartet am Ziele
angelangt, aus Seinem Munde die Worte hören darf:
„Wohl, du guter und treuer Knecht! über weniges warst
du treu, über vieles werde ich dich setzen; gehe ein in die
Freude deines Herrn!"
Dem im Worte unterwiesenen Christen sind diese
Dinge auch wohlbekannt. Aber die Erkenntnis bringt uns
keinen Nutzen, wenn sie nicht ihren Einfluß auf uns auS-
übt. Unterscheidet sich das Leben eines Gläubigen wenig
von dem, wie die Welt eö macht, bestehen Freundschaften
mit ihr, stellt er sich in seinem Auftreten, im Reden und
Tun der Welt gleich, so »nag Erkenntnis vorhanden sein,
aber die Verwirklichung des Erkannten fehlt. Man braucht
dabei noch nicht an offenbar Böses zu denken. Es ist sogar
möglich, daß ein solcher Christ regelmäßig den Versammlungen
der Gläubigen beiwohnt, dort immer wieder
kostbare und ernste Dinge hört über die himmlische
Stellung der Erlösten und ihre Absonderung von der Welt,
daß er gar selbst von dem baldigen Kommen unseres geliebte»»
Herrn und von den schreckliche»» Gerichte»» redet,
welche die Bewohner des Erdkreises treffen werden --
und trotz alle»»» in seinen» persönlichen Wandel und Zeugnis
nicht als ein Kind Gottes dasteht, das lauter und unbescholten
inmitten eines verdrehten und verkehrten Geschlechts
wandelt. Er leuchtet nicbt wie ein Licht in der
Welt. (Phil. 2, t5.) Sonst würde die Welt ihn hasse»».
- rr
denn die Finsternis haßt das Licht, weil es sie verurteilt
und ihre Werke bloßstellt. Er aber ist gern gesehen, gilt gar
als ein angenehmer Gesellschafter unter den Kindern dieser
Welt!
Wenn es so um das Christenleben eines Menschen
steht, so kann man ohne Zögern sagen, daß er nicht zu
den Männern gehört, „die Einsicht haben in die Zeiten,
um zu wissen, was das Volk Gottes tun muß". Denn
von dieser Einsicht erwartet unser Herr mit Recht, daß
sie in Taten umgesetzt werde. Wir alle sind Verwalter,
und „an den Verwaltern sucht man hier, daß einer treu
erfunden werde", (t. Kor. 4, 2.) Ein bekanntes Beispiel
mag hier am Platze sein. Ein reicher Herr tritt eine längere
Auslandsreise an und betraut jemand mit der Verwaltung
seines ganzen, ausgedehnten Besitzes. Unter dem Gefühl
seiner Verantwortlichkeit überwacht der Verwalter die Besitzungen
seines Herrn und hält sie in Ordnung. Eines
Tages, vielleicht früher, als er es gedacht hat, erhält er
die Nachricht, daß sein Herr in kurzer Zeit zurückkommen
werde. Was wird der Verwalter jetzt tun? Obwohl
er seine Pflichten treu erfüllt hat, wird die Nachricht von
der nahe bevorstehenden Ankunft seines Herrn ihn dennoch
zu einer eifrigeren Tätigkeit anspornen. Er wird noch einmal
alles gründlich nachsehen und peinlich untersuchen,
ob doch nicht dies oder jenes nicht ganz in Ordnung ist,
mag es sich auch nur um kleine Dinge handeln. Sein
Herr soll bei seinem Kommen das Besitztum in bester
Verfassung und alles geregelt finden.
So einfach das Bild ist, so einfach ist seine Anwendung.
Wir sagten schon, daß wir alle Verwalter über ein
größeres oder kleineres Besitztum sind. Auch haben wir
32
nicht nur die Nachricht in Händen, daß unser Herr wic-
dcrkommt, sondern erkennen aus allem um uns her immer
deutlicher, daß wir ganz kurz vor Seinem Kommen,
in der letzten Stunde der Gnadenzeit, leben. Die Beschreibung
der letzten Tage in 2. Tim. 3 und anderen Stellen
stimmt genau mit unserer Zeit überein: da fehlt kein Zug.
Zudem ruft der Herr der Versammlung in Philadelphia,
d. i., prophetisch betrachtet, den Gläubigen der jetzigen
Zeit, zu: „Ich komme bald; halte fest was du hast,
auf daß niemand deine Krone nehme!" Es handelt sich
also für uns um den Gewinn oder Verlust einer Krone,
eines Siegeskranzes.
Was nach der Entrückung geschehen wird, wissen
wir ebenfalls. Schreckliche Dinge werden sich auf dieser
Erde abspielen, aber die Gläubigen werden von „der
Stunde der Versuchung" nicht erreicht werden. Wenn es
aber wahr ist, daß wir nicht in diese Gerichte hineinkommen,
sie aber schon sich anbahnen und ihre Schatten
vorauöwerfen sehen, wie nahe muß dann das Kommen
des Herrn für uns sein! Der „Morgenstern" geht dem
Anbruch des „Tages" voran.
Damit erhebt sich die Frage für einen jeden von uns:
Wie verhalten wir uns zu dieser Tatsache? Gleichen wir
dem Verwalter in unserem Bilde, der voll Eifer war,
daß sein Herr bei seiner Ankunft auch nicht das Geringste
in Unordnung finden möchte? Möchte es sich nicht lohnen,
wenn wir in unserem Leben einmal Umschau halten wollten,
ob es da nicht das eine und andere gibt, das nicht
ganz in Ordnung ist? Vielleicht eine Verbindung, ein Verkehr,
welche das Wohlgefallen des Herrn nicht haben?
Vielleicht eine Gewohnheit, der wir früher mit gutem Ge
wissen nachgehen konnten, von der wir aber im Laufe
der Zeit erkannt haben, daß es besser wäre, sie abzulegen?
Vielleicht ein Hangen an dem Irdischen, ein Iurückhalten
dessen, was „dem Herrn geheiligt" werden sollte? Wir
könnten noch manches andere nennen, aber es ist am besten,
wenn ein jeder von uns das Licht des Wortes Gottes auf
seinen Weg fallen läßt. Dieses Wort beleuchtet die dunkelsten
Stellen, erhellt die verborgensten Winkel. In unserem
unbekehrten Zustand war unser ganzer Weg dunkel, bis
Gott rief: „Es werde Licht!" Damals liebten wir die
Finsternis, aber jetzt sind wir Licht in dem Herrn und
werden ermahnt, als „Kinder des Lichts" zu wandeln.
(Eph. 5, 8.) Wenn Petrus in seinem 2. Briefe von den
letzten Dingen redet, so ruft auch er den Gläubigen zu:
„Welche solltet ihr sein in heiligem Wandel und Gottseligkeit!"
und fordert sie dann auf, „sich zu befleißigen,
ohne Flecken und tadellos von Ihm erfunden
zu werden in Frieden". (Kap. 3, 44. 44.)
Entsprechen wir diesen Ermahnungen? Vor allem
seitdem wir wissen, daß unser Herr bald wiederkommt?
Haben wir „in Weisheit gewandelt gegen die, welche draußen
sind, die gelegene Zeit auskaufend"? (Kol. 4, 5.) Wir
alle werden bekennen müssen, daß wir hinter dem zurückgeblieben
sind, was wir im Worte Gottes finden, der eine
vielleicht mehr, der andere weniger. Wenn es aber so war,
sollten wir dann nicht den Wunsch haben, daß es besser
werde? daß wir der Treue näher kommen, die von einem
Verwalter erwartet wird? Der Verwalter in unserem Bilde
bemühte sich, auch die Kleinigkeiten richtig zu stellen, und,
nicht wahr? gerade in kleinen Dingen erweist sich am meisten
die Treue. Man hört zuweilen sagen: „Man muß auch
34
nicht allzu gerecht sein! Wenn man ein großes Ziel im
Auge hat, so darf man sich durch die Beschäftigung mit
belanglosen Dingen nicht aufhalten lassen." Aber was
nennt man belanglose Dinge? Daß kleine Ursachen oft
große Wirkungen haben, ist bekannt. Der weise Salomo
sagt uns, daß gerade die kleinen Füchse das Verderben
blühender Weinberge herbeiführen, wenn sie nicht gefangen
und unschädlich gemacht werden. (Hohel. 2, 35.) Und in
Luk. 46, 40 lesen wir: „Wer im Geringsten treu
ist, ist auch in vielem treu, und wer im Geringsten
ungerecht ist, ist auch in vielem ungerecht". — Wahrlieb,
ein ernstes Wort für unsere Tage!
Doch wir können in Verbindung mit unserem Bilde
noch einen anderen Fall annehmen, und zwar den, daß
der Verwalter bis zur Nachricht von dem Kommen seines
Herrn das ihm übertragene Amt schlecht verwaltet hat.
Er hat vieles übersehen und vernachlässigt, sodaß die ihm
anvertrauten Güter in einen Zustand geraten sind, in welchem
er sie seinem Herrn unmöglich übergeben könnte.
Welchen Eindruck würde wohl unter solchen Umständen
die Nachricht auf ihn machen? Er muß notwendigerweise
in große Verlegenheit geraten, ja, vielleicht tief erschrecken.
Wie soll er bestehen, wenn er zur Rechenschaft gezogen
wird? Und die Stunde der Abrechnung liegt nahe, viel
näher, als er in seiner Gleichgültigkeit gemeint hat. Wird
er nicht den Entschluß fassen, bis zum Kommen seines
Herrn so viel wie irgend möglich wieder gut zu machen?
Welch eine Tätigkeit wird bei ihm einsetzen, um das Versäumte
wieder einzuholen! Freilich, die verlorenen Wochen
und Monate sind nicht wieder einzubringen, sie sind
— Z5 —
unwiederbringlich verloren. Aber es liegt doch eine
wenn auch nur kurze Zeit noch vor ihm, die er mit verdoppeltem
Eifer für seinen Herrn ausnutzen kann.
Ist es nicht schon manchen Christen so ergangen?
Sie hatten sich mit der Welt eingelassen, waren über sich
und ihren Weg allmählich ganz blind geworden, bis dann
Gott ernst zu ihnen redete. Plötzlich aus ihrem Todesschlaf
aufwachend, erschraken sie über ihren Zustand, demütigten
sich in ernstem Selbstgericht und — mußten bis
dahin zurückkehren, wo sie den Pfad des Glaubens und
der Treue verlassen hatten! Kostbare Wochen und Monate,
vielleicht Jahre, waren verloren. Unter Umständen
kommt die frühere geistliche Kraft nie wieder zurück.
Ach, wie ernst ist es, wenn der Heilige Geist, anstatt
ungetrübt in uns wirken und uns von Kraft zu Kraft
führen zu können, sich mit unseren Untreuen und Verfehlungen
beschäftigen muß! Welche Verluste, Schmerzen
und Demütigungen bereiten wir uns selbst durch unsere
Untreue in der Verwaltung der „mancherlei Gnade Gottes"!
Und wir sind untreue Verwalter in demselben
Maße, wie wir uns nicht „von der Welt unbefleckt erhalten".
Ein Christ, der auf den Wegen der Welt wandelt,
kehrt in geistlichem Sinne unter die „Toten" zurück, aus
denen er auferweckt worden ist. Daher die ernste Ermahnung:
„Wache auf, der du schläfst, und stehe auf aus den
Toten, und der Christus wird dir leuchten!" (Eph. 5, t4.)
O vernimm den Ruf, teure Seele, die du deinem Bekenntnis
nach einmal den Glaubenspfad betreten hast und
dann wieder davon abgekommen bist!
Das Abirren vom Glaubenspfade kann natürlich ernster
oder geringfügiger sein. Vielleicht konnte der Herr
dich bis zur Stunde vor Sünde und Schande bewahren,
sodaß dein Fall vielleicht zwischen den beiden oben angeführten
Beispielen liegt. Niemand kann dir offenbar
Böses nachsagen; die Gläubigen, mit denen du verkehrst,
geben dir selbst ein gutes Zeugnis. Und doch kann es sein,
daß „mehr als nur Kleinigkeiten" bei dir ungeordnet sind.
In dem Sendschreiben an Ephesus konnte bekanntlich vieles
Gute anerkannt werden; nach außen hin war nichts
Böses zu bemerken, und dennoch mußte der Herr so ernst
reden! (Offbg. 2, 2—5.) Vergessen wir nicht, daß schließlich
auch nicht die Meinung der Menschen maßgebend ist,
sondern das Urteil Gottes, der alles erforscht und „die
Geheimnisse des Herzens kennt". (Ps. 44, 24.)
Wahrlich, wir tun wohl, wenn wir in unserer schnelllebigen,
hastenden Zeit hie und da einmal stillstehen und
uns mit diesen Dingen beschäftigen, vor allem auch im
Blick aus die Kürze des vor uns liegenden Weges. Es
wird dazu dienen, uns die rechte Einsicht in die Zeiten zu
geben, in denen wir leben, und uns zu einem entsprechenden
Handeln veranlassen, sodaß dem ganzen Zeugnis gedient
und der Name des Herrn verherrlicht wird.
„Siehe, ich komme bald, und mein Lohn mit mir,
um einem jeden zu vergelten, wie sein Werk sein wird."
(Offbg. 22, 42.)
„Deshalb beeifern wir uns auch, ob einheimisch oder
ausheimisch, Ihm wohlgefällig zu sein. Denn wir müssen
alle vor den: Richterstuhl des Christus offenbar werden,
auf daß ein jeder empfange, was er in dem Leibe
getan, nach dem er gehandelt hat, es sei Gutes oder Böses."
(2. Kor. 5, 9. 40.) (Nach einem „Eingesandt".)
37

Wie aber sind diese Gnadenwege Gottes im Blick
auf alle Menschen mit den besonderen Verheißungen zu
vereinigen, die Gott Seinem irdischen Volke gegeben bat?
Diese Frage behandelt der Apostel in den Kapiteln 9—ll.
Die Verheißungen waren bedingungslos gegeben worden,
und nachdem die Juden, obwohl die natürlichen Nachkommen
Abrahams, „sieb an dem Stein des Anstoßes gestoßen"
und durch Ungehorsam und Unglauben alle Ansprüche
an jene Verheißungen verloren hatten, war Gott
vollkommen frei. Seine in den Schriften der Propheten
schon nicdergelegtcn Gedanken im Blick auf die Heiden
zur Ausführung zu bringen. Er ist unumschränkt in Seinem
Tun und, in dieser Unumschränktheit handelnd, hat
Er einen Überrest aus Israel errettet und errettet heute
aus Juden und Heiden, wen Er will. (Kap. 9 u. 40.)
Dennoch hat Gott Sein Volk nicht verstoßen. Seine
Gnadengaben und Berufungen sind unbereubar, und wenn
einmal die von Gott bestimmte Vollzahl der Nationen cin-
gcgangcn ist, wird ganz Israel errettet werden; denn „aus
Zion wird der Erretter kommen, und Er wird die Gottlosigkeiten
von Jakob abwenden". Die aus dem Ölbaum
der Verheißung ausgeschnittenen Zweige werden wieder
in ihren eigenen Ölbaum eingepfropft werden. (Kap. 44.)
Mit dem ll. Kapitel schließt der belehrende Teil des
Briefes. Es folgen Ermahnungen, zunächst zu einem Gott
wohlgefälligen Wandel in Erfüllung Seines guten und
vollkommenen Willens, dann im Blick auf das Verhältnis
der Gläubigen zueinander als Glieder eines Leibes
— dies ist die einzige Stelle in unserem Briefe, wo auf
dieses Verhältnis hingedeutet wird — und schließlich im
Verkehr untereinander, sowie der Obrigkeit gegenüber, die
47
nach Gottes Anordnung und als Seine Dienerin in dieser
Welt fteht. (Kap. 12 u. 13.) Es ist, mit einem Wort, der
Christ im Hause Gottes, in der bimmliscbcn Familie, rind
der Christ in der Welt.
Nachdem der Apostel dann im 14. und 15. Kapitel
die Gläubigen ermuntert hat, hinsichtlich persönlicher Meinungsverschiedenheiten
über Essen und Trinken, Halten
von Tagen und dergl., die wohl durch das Vorhandensein
der jüdischen Elemente unter ihnen hervorgerufen waren,
sich gegenseitig zu ertragen, mit den Schwachheiten
der Schwachen Geduld zu haben und alle „gleichgesinnt,
Christo Jesu gemäß", zu wandeln, spricht er noch einmal
von seiner Hoffnung, bald nach Rom zu kommen und
von dort nach Spanien zu reisen.
Im letzten Kapitel folgt eine ungewöhnlich lange
Reihe von Grüßen an Personen, die dem Apostel in Nom
persönlich bekannt waren und sich mehr oder weniger durcb
Treue und Fleiß im Dienst des Herrn ausgezeichnet hat­
ten. Obwohl Paulus, wie wiederholt gesagt, in diesem
Briefe nicht von dem Ratschluß Gottes redet, kann
er doch nicht umhin, in den letzten Versen wenigstens mit
einigen Worten seines Evangeliums zu gedenken und
des Geheimnisses, das in den Zeiten der Zeitalter verschwiegen
war, aber heute geoffenbart und durch prophetische
Schriften, nach Befehl des ewigen Gottes, kundgetan
worden ist. Dieses Geheimnis belebte sein Herz,
füllte sein ganzes Sinnen und Denken aus.
Er schließt mit dem Gebetswunsch: „Dem allein weisen
Gott durch Jesum Christum, Ihm sei die Herrlichkeit
in Ewigkeit! Amen."
48
ein Berg zur Ebene wurde
„Wer bist du, großer Berg, vor Scrubbabel?
Zur Ebene sollst du werden!" (Sach. 4, 7.)
Der „Botschafter" bringt als Regel keine „Geschichten".
Die nachstehende, einem alten, trefflichen Buch entnommene
Erzählung ist aber eine so schöne bildliche
Erläuterung zu den Worten unseres Herrn in Matth.
6, 25—34 und gibt uns einen so verständlichen Anschauungsunterricht,
daß sie wohl eine Stelle in unserem Blatte
verdient, umsomehr als sie den Stempel der Wahrhaftigkeit
an der Stirn trägt. Möchte sie denn allen Lesern zur
Ermunterung und Belehrung dienen und manchen „Geprüften"
unter ihnen „aus der Höhle rücken, da ihn der
Kummer plagt"!
Alles ging verkehrt. Fünf Kinder hatten Gelbsucht
und Fieber, und meine Frau, von der Pflege übermäßig
in Anspruch genommen, sah fast noch müder und kränker
aus, als das kränkste von ihnen. Im Hause war alles
aus der Regel gekommen. Die beiden Dienstboten, die
noch jung und nicht angelernt waren, liefen umher wie ein
Paar ungezügelter Pferde. Selten gab es eine genießbare
Mahlzeit, das Mittagessen fiel meist ganz aus. War ich
zu selbstsüchtig, um einzusehen, daß es unter den vorliegenden
Umständen kaum anders sein konnte? Vielleicht,
aber für einen ordnungsliebenden Mann ist ein Haushalt,
in dem alles drunter und drüber geht, auf die Dauer eine
wirkliche Prüfung; und ich muß gestehen, je länger dieser
Zustand anhielt, desto unzufriedener wurde ich.
Da empfing ich eines Morgens einen Brief, der mich
die häuslichen Schwierigkeiten für den Augenblick völlig
49
vergessen ließ. Ein Freund eröffnete mir, ich sei in eine
dumme Angelegenheit verwickelt. Um seinem und anderer
Wunsch entgegenzukommen, hatte ich erlaubt, daß mein
Name auf die Ausschuß-Liste einer gewissen Gesellschaft
gesetzt wurde, nachdem man mich versichert hatte, es handle
sich um eine bloße Form, die durchaus keine Verbindlichkeiten
für mich in sich schließe. Jetzt wurde mir mitgeteilt,
ein unglückliches Versehen habe Veranlassung zu einem
Prozeß gegeben, der von der Gesellschaft verloren worden
sei, und die sehr erheblichen Kosten müßten von den Mitgliedern
des Ausschusses getragen werden. Wenn ich wirklich
zu der Zahlung meines Anteils verpflichtet war, sah
es schlimm aus, denn ich wußte nicht, woher ich das
Geld nehmen sollte. Eine große Arzt-Rechnung war noch
unbezahlt. Dazu kamen die vielen Sonderauslagen, die eine
Familie mit fünf kranken Kindern mit sich bringt. Und
die geforderte Summe machte nahezu die Hälfte meines
Jahreseinkommens aus!
Ich ging zu einem Rechtsanwalt. Er „hoffte", etwas
zu meinen Gunsten tun zu können. In diesen Tagen muß
ich ein schlechter Tröster für meine vielgeplagte Frau und
ihre Pfleglinge gewesen sein. Mißmutig und voll schlechter
Laune ging ich umher.
Mit schlechtgelaunten Leuten aber geht es niemals
gut. Sie machen Fehler über Fehler, verwandeln Freunde
in Feinde und bereiten sich selbst so viel Ärger und Verdruß,
daß das Übel, über welches sie sich grämen, sich nur
verdoppelt. So mußte ich es erfahren. Die mir untergebenen
Angestellten im Geschäft bekamen meine schlechte
Laune reichlich zu spüren, und die Folge davon war, daß
auch hier alles quer ging. Ze verdrießlicher ich war, desto
so
verdrießlicher wurden sie, und je verkehrter sie waren, desto
verkehrter wurde ich. Endlich faßte ich den Entschluß, mich
auf dem Hauptbüro über sie zu beschweren. Doch ehe ich
diesen Entschluß ausführen konnte, wurde ich von dort
aufgefordert, zu einem der Direktoren zu kommen.
Nach einer kurzen einleitenden Unterhaltung erklärte
mir dieser Herr, es sei die Beobachtung gemacht worden,
daß es in meiner Abteilung nicht mehr so gut vorangehe
wie früher, natürlich ohne jede Schuld meinerseits. Doch
habe man seit einiger Zeit erwogen, ob nicht durch eine
durchgreifende Änderung und die Verschmelzung gewisser
Geschäfte ein billigeres und zugleich nutzbringenderes Arbeiten
erzielt werden könne. Unter diesen Umständen sei es
nicht unmöglich, daß meine Abteilung ganz aufgehoben
werde.
Das war der Gipfelpunkt! Obgleich die Sache erst
in Erwägung gezogen war — ich hatte zwar früher schon
etwas darüber verlauten hören — betrachtete ich sic doch
schon als abgemacht. Ich erledigte den Rest meines Tagewerks,
ohne zu wissen wie. Ich ärgerte mich über niemand
mehr. Als ich nach Hause kam — die Kinder lagen
teilweise noch immer zu Bett, und meine Frau glich mehr
und mehr einer wandelnden Trauerweide, kaum konnte
sie sich noch auf den Füßen halten — ging ich, ohne viel
zu sagen, sogleich in mein Zimmer, schloß die Tür und
setzte mich hin, um mit mir selbst ins Reine zu kommen.
War je ein Mann so geplagt gewesen wie ich? Je so
grausam verfolgt von Prüfung auf Prüfung, Schlag auf
Schlag? Ich hatte einmal von einem gottlosen Landmann
gehört, der nach einer völlig verregneten Ernte eine Handvoll
des schwarzen, verdorbenen Korns auf den Weg ge
SI
morsen und lästernd gesagt hatte: „Da liege zur Beschämung
des Allmächtigen!" Nun, ich bekannte schon seit
Jahren, ein Christ zu sein, und hatte zahllose Gelegenheiten
gehabt, Gott für Sein gnadenreiches Tun mit mir zu preisen.
War ich, während ich dort schwermütig an meinem
Schreibtisch saß, viel besser als jener Landmann? In meinem
Herzen beschuldigte ich Gott. Ich meinte, eine solche
Behandlung Seinerseits nicht verdient zu haben. Und wenn
ich diese Gedanken auch nicht in Worte kleidete, so saßen
sie doch in meinem Herzen und mochten wohl deutlich
genug in meinen Mienen zum Ausdruck kommen.
Der nächste Tag war ein Sonntag. Weniger auö
Herzensdrang als aus dem Wunsche, einer Umgebung zu
entfliehen, die meine Schwermut nur noch vermehrte, ging
ich, um Gottes Wort zu hören. Ich war einige Sonntage
nicht gegangen und hatte dafür allerlei Entschuldigungen
gehabt. Einmal war ich „zu müde durch schlechte Nächte",
dann war ich „nicht in der Stimmung", und schließlich
sagte ich mir: „An dem einzigen Tage, an dem du daheim
bist, mußt du dich ein wenig an der Pflege der Kinder
beteiligen". Bei Licht besehen waren alle diese Entschuldigungen
nur ein trauriges Zeichen meiner Gleichgültigkeit.
Denn was meine Hilfe bei der Pflege betraf,
so war sie so geringfügig, dazu durch meine üble Laune
manchmal so unerquicklich, daß meine Frau eher erleichtert
war, wenn ich ging, als wenn ich blieb.
Während der Betrachtung des Wortes war eö mir,
als beschreibe der Sprecher Punkt um Punkt meinen Fall.
„Da ist ein Mann", so sagte er ungefähr, „ein Christ,
der wie vom Schicksal verfolgt wird. Welle auf Welle bricht
über ihn herein. Das Wasser geht ihm bis an die Kehle.
52
Mit Hiob ruft er aus: „Meine Seele ist meines Lebens
überdrüssig... Ich will zu Gott sagen: Verdamme mich
nicht! laß mich wissen, worüber du mit mir
rechtest", und er spricht mit Jona: „Mit Recht
z ürnei ch"."
„Sehr wahr", dachte ich. „Der Mann bin ich", und
ich kam mir sehr bedauernswert vor.
Nachdem der Sprecher mein Bild in dieser Weise noch
ein wenig ausführlicher gezeichnet hatte, zeigte er, wie
ein Christ inmitten all dieser Wogen aufrecht zu stehen
vermöge, und wie es nur seine eigene Schuld sei, wenn sie
über seinem Haupte zusammenschlügen.
„Alles vermag ich in Dem, der mich kräftigt." Hier
lag der Schlüssel zu dem wunderbaren Geheimnis. Ich
suchte diese Stelle im Philipperbrief aus, und der Kopf
wurde mir heiß, während ich der weiteren Beschreibung
über mich selbst lauschte.
„Daö schwache Herz", so hörte ich, „bleibt fest, solang
kein Sturm der Versuchung ihm naht, aber es wird
zuschanden, sobald Not und Schwierigkeiten kommen.
Hatte Paulus denn ein anderes Herz als wir? War er
aus anderem Stoff geformt? Nein; und doch kannte Paulus
keine Niederlage dieser Art. Er vermochte alles, konnte
alles dulden, ertragen, entbehren. Wie war das möglich?
Nicht in seiner eigenen Kraft, sondern in der Kraft Christi,
der sein Leben war." Und meine Geschichte vervollständigend,
führte der Sprecher aus, wie das törichte Herz, das
vielleicht noch nicht um Hilfe gebeten hat, sich gegen Gott
auflehnt und Ihn beschuldigt, ihm die Hilfe versagt zu
haben; wie es, obgleich es seine Nöte nie glaubend vor
den Gnadenthron gebracht hat, mit Gott hadert, der ihn
— SZ —
grausam behandle, weil Er die Schwierigkeiten nicht wegnehme.
— So ging es noch eine Weile weiter.
„Schuldig! schuldig!" rief mein Gewissen. Alle Beschwichtigungsversuche
waren umsonst. Hatte ich meine
Nöte in der richtigen Weise dargebracht? Hatte ich um
Kraft nach oben geblickt, um sie tragen zu können, wenn
Gott sic nicht von mir nehmen wollte? Mein Gewissen
stellte sich völlig auf die Seite des Redenden und zeugte
gegen mich. „Du hast die reichen Gnadenmittel, die dir
zu Gebote standen, vernachlässigt", rief es mir zu, „und
zwar gerade in einer Zeit, wo du sie am nötigsten bedurftest.
Törichte Entschuldigungen haben dich von Gott
fernzuhalten vermocht, du hast das Gebet und das Lesen
Seines Wortes vernachlässigt, und jemehr du das tatest
und dich von Ihm fernhieltest, desto lauter murrtest du,
daß Er sich von dir fernhalte!"
Mit eincmmal sah ich die ganze Wahrheit. Ich war
tief beschämt und verabscheute mich. Aber gerade s o war
ich fähig, auf den Trost zu lauschen, der nun folgte:
„Jeder, auch der geringste Gläubige", hieß cs weiter,
„kann die Erfahrungen des Apostels machen. Da ist
niemand, der nicht alles, so schwer und schmerzlich es
sein mag, durch Christum vermöchte. Schwierigkeit mag
sich auf Schwierigkeit türmen, bis sich schließlich ein Berg
erhebt, der den Blicken Himmel und Hoffnung verbirgt.
Was schadet es? Der Christ kann mit dem Engel Gottes
in Sach. 4 sagen: „Wer bist du, großer Berg, vor Serub-
babel? zur Ebene sollst du werden!""
Und mein Berg wurde zur Ebene. Nicht unmittelbar.
Nein, die Schwierigkeiten blieben zunächst, aber ich hatte
das Geheimnis entdeckt, sie zu ertragen. Wie war es nur
54
möglich, daß ich zu einem Empörer gegen meinen gnadenreichen
Gott und gewissermaßen zu einem Verräter
an mir selbst und meiner Familie hatte werden können!
Als ich nach Hause kam, sah mich meine Frau erstaunt
an und fragte:
„Hast du heute etwas besonders Schönes gehört?"
Ich bejahte und fragte, ob sie am heutigen Abend
zur gewöhnlichen Familienandacht herunterkommen könne.
— Auch diese hatten wir versäumt!
„Gern", erwiderte sie, „ich freue mich, daß wir damit
wieder beginnen wollen; denn seitdem wir dieses Vorrecht
vernachlässigt haben, scheint alles verkehrt zu gehen."
Am nächsten Tage, nachdem ich vorher ernstlich gebetet
und Gott an Seine treuen Zusagen erinnert hatte,
ging ich mit erleichtertem Herzen ins Geschäft. Die Angestellten
merkten sehr bald, daß ich besser gelaunt und
umgänglicher war, als seit längerer Zeit. Infolgedessen
waren auch sie willig und höflich. Der Teil des Berges
war also schon in sich zusammengefallen.
Jin Laufe des Vormittags rief ich bei meinem Rechtsanwalt
wegen meiner Verbindlichkeit an. Fröhlich erwiderte
er: „Sie können die an Sie gestellten Ansprüche getrost
zurückweisen. Ich habe die Sache genau geprüft, und man
hat nicht das geringste Recht, an Sie heranzutreten." Damit
wich der zweite Teil des Berges.
Meine Kinder, die ich vertrauensvoll, wenn auch mit
recht unvollkommenem Glauben, in die Hand des Herrn
gelegt hatte, genasen schneller, als zu erwarten stand, und
auch meine Frau kam bald völlig wieder zu Kräften. Ordnung
und Behaglichkeit wurden im Hause wiederhergestellt,
und obgleich ich zu rechnen hatte, um die vielen un-
55
vorhergeschenen Auslagen zu bestreiten, gelang es doch
nach und nach. Von der Veränderung im Geschäft aber,
die mich voraussichtlich meine Stellung gekostet haben
würde, hörte ich nichts mehr.
Zwei Monate nach dem Tage, an dem ich in halber
Verzweiflung ausgerufen hatte: „Wo soll das hinführen!"
war mir nichts anderes zu tun übriggeblieben, als meinen
Serubbabel zu preisen, vor dem mein großer Berg zur
Ebene geworden war.
„Sie klickten auf Ihn und
wurden erheitert."
(Psalm 54, 5.)
Wenn ich mich einsam fühle.
Verlassen und bedrückt,
Wenn Schwachheit mir und Kleinmut
Des Weges Ziel verrückt;
Bin ich versucht, schleicht Zweifel
Sich ein in mein Gemüt —
Ein Glaubensblick auf Jesum,
Und jede Wolke flieht.
Wenn vor der Sorgen Schwere
Mein schwaches Herz erbebt,
Wenn Stürme mich umtosen,
Das Meersich wild erhebt;
Wenn alles mir entgegen,
Nur Dunkel um mich her —
Ein Glaubensblick auf Jesum
Verscheucht der Sorgen Hcerr.
Drum sollt' auch alles schwinden,
Worauf ich einst vertraut,
Und selbst der Freund mich lassen,
Auf den ich fest gebaut —
Ich weiß, mein Heiland Jesus
Hält, was Sein Mund verspricht,
Trotz Welt, trotz Tod und Teufel
Laßt Er mich ewig nicht! N.B.
5b
Kragen aus dem Leserkreise
Der Apostel Johannes ermahnt in seinem ersten Briefe: „Liebet
nicht die Welt, noch was in der Welt ist. Wenn jemand
die Welt liebt, so ist die Liebe des Vaters nicht in ihm." (Kap.
2, 15.) Und der Apostel Paulus schreibt an die Korinther: „So
rühme sich denn niemand der Menschen, denn alles ist euer. Es
sei Paulus oder Apollos oder Kephas, es sei Welt oder Leben
oder Tod, es sei Gegenwärtiges oder Zukünftiges: alles ist
euer." (I. Kor. 5, 21. 22.) — Wie sind diese beiden Stellen mit-
einander zu vereinigen?
Die Hauptschwierigkeit für das Verstehen der beiden Stellen
liegt wohl in der verschiedenartigen Bedeutung des Wortes „Welt".
Dieses Wort wird in dreifachem Sinne gebraucht! I. bedeutet es
das All, die ganze Schöpfung, wie Gott sie in wunderbarer Ordnung
in den unermeßlichen Raum hineingestellt hat; 2. die Erde,
auf welcher die Menschen wohnen und wo die Weltordnung ihre
Wirkungen entfaltet, und Z. die Gesamtheit der Menschen selbst in
ihren gesellschaftlichen, sittlichen und religiösen Beziehungen zueinander,
das große System, dessen Gott und Fürst Satan ist. Wenn
nun von unserem Herrn Jesus Christus gesagt wird, daß Er in die
Welt kam, um Sünder zu erretten, so kann man dabei an diese
drei Bedeutungen zugleich denken; denn Er kam in die Welt,
die durch Ihn geworden ist, Er betrat diese Erde, und Er mußte
auf Seinem Wege in Berührung kommen mit dem bösen System,
das durch Augenlust, Fleischeslust und Hochmut des Lebens gekennzeichnet
ist, und für welches cs, nach der Verwerfung des Sohnes
Gottes, nur noch Gericht gibt.
Wenn nun Johannes die „Jünglinge" vor der Welt warnt,
so denkt er an die Welt in dem zuletzt beschriebenen Sinne, nicht
an die Schöpfung oder an die Erde, sondern an das sittliche
System, das dem System des Reiches des Vaters (wenn ich es
so nennen darf) schnurstracks entgegensteht. Jede Verbindung
zwischen beiden ist ausgeschlossen. In einem Menschen, der die
Welt liebt, ist die Liebe desVaters nicht. So sagt auch Jakobus
: „Wisset ihr nicht, daß die Freundschaft der Welt Feindschaft
wider Gott ist? Wer nun irgend ein Freund der Welt sein will,
stellt sich als Feind Gottes dar." (Jak. 4, 4.)
Wenn aber Paulus sagt: „Die Welt ist euer", so geschieht
es in dem ersten oder zweiten Sinne des Wortes, denn alles ist
Christi, des Sohnes des Menschen, der Tod und Teufel zunichte
gemacht und Leben und Unverweslichkeit ans Licht gebracht hat;
und durch Seine Gnade ist alles jetzt unser, denn wir sind Ckristi,
Christus aber ist Gottes. Welch wunderbare, gesegnete Verbindungen
hat doch die Gnade geschaffen, von denen die Welt keine
Ahnung hat! _____________
Ser „Eingeborene" und der
„Erstgeborene"
Der Unterschied zwischen den beiden Titeln unseres
Herrn: „Eingeborener" und „Erstgeborener", war schon
oft Gegenstand fragender Besprechung in den Kreisen der
Gläubigen. So mag ein kurzes Wort darüber willkommen
sein. Von vornherein sei indes betont, daß der Gegenstand
zu den Dingen gehört, die wir nur mit heiliger
Scheu betrachten dürfen, indem wir uns der völligen Unzulänglichkeit
unseres Verstehens und Erfassens bewußt
bleiben und uns deshalb umso ängstlicher an das halten
müssen, was Gottes Wort uns über sie geoffenbart hat.
„Niemand erkennt den Sohn, als nur der Vater", ist ein
Wort aus unseres Herrn eigenem Munde, das uns sehr
vorsichtig machen sollte.
Der Eingeborene
Zunächst sei darauf hingewiesen, daß der Titel „Eingeborener"
oder „eingeborener Sohn", den wir nur in
den Schriften des Johannes finden, ausschließlich auf das
ewige Verhältnis des Sohnes Gottes zum Vater hinweist.
Der zweite Titel „Erstgeborener" steht in Verbindung
mit der Menschwerdung des Sohnes und kommt,
vielleicht mit einer einzigen Ausnahme (Hebr. t, 6) *),
nur in Verbindung mit einem das betreffende Verhältnis
näher bezeichnenden Zusatz vor.
*) Aber auch hier steht er, wenn auch nicht unmittelbar, in
Beziehung zu dem „Erdkreis".
H.XXVII 3
58
Noch einmal sei wiederholt: Wenn die Schrift unseren
Herrn den „Eingeborenen" nennt, so will sie unö
immer das vor Augen stellen, was Er von Ewigkeit
her war und ewiglich bleibt — ein Verhältnis, das auch
durch die Menschwerdung in keiner Weise beeinflußt oder
gar verändert worden ist. Der Herr Jesus selbst sagt:
„Also hat Gott die Welt geliebt, daß Er Seinen eingeborenen
Sohn gab". Und Johannes bezeugt: „Wir
haben Seine Herrlichkeit angeschaut, eine Herrlichkeit als
eines Eingeborenen vom Vate r", und: „Niemand
hat Gott jemals gesehen; der eingeboreneSohn, der
in des Vaters Schoß ist — da wo Sein Platz allezeit
war und allezeit i st —, der hat Ihn kundgemacht". (Joh.
3,1.6.18; 1,14. 18; vergl. auch 1. Joh. 4, y.) Zu diesem
Zweck kam der Sohn Gottes in die Welt. Wer außer Ihm
hätte auch den Vater kundmachen können? Niemand kannte
Gott, niemand hat Ihn jemals gesehen.
„Eingeborener Sohn" ist also der Titel unseres Herrn
als ewiger Gott, als Schöpfer und Erhalter des Weltalls,
als das Wort, der Ausdruck der Gottheit, der
selbst Gott und doch bei Gott war, und der das im
Anfang war, der Natur nach Gott gleich, der Person
nach von Ihm unterschieden. Vor Beginn aller
Dinge, im Anfang, w ar Er da (nicht wurde Er), war
Er Gott und b e i Gott — nicht in der Zeit geboren, auch
nicht nur „göttlichen Wesens", sondern Gott von Ewigkeit
her. Alles wurde durch Ihn, und ohne Ihn ist
nicht eines, das geworden ist. Er schuf alles.
So redet das Wort, und ich frage wieder: Wer anders
als Gott selbst hätte uns diese Dinge mitteilen können?
Es hat Ihm gefallen, den Evangelisten und Apostel
59
Johannes als Werkzeug dazu zu benutzen. An uns ist
es, das Mitgeteilte in einfältigem, nicht zweifelndem oder
grübelndem Glauben anzunehmen und — anzubeten. Ev.
Joh. 4, 4. 2 führt uns also noch über 1. Mose 4, 4 hinaus.
Während wir dort lesen: „Im Anfang schuf Gott",
heißt es hier: „Im Anfang war das Wort", es bestand
also schon. Wann dieser Anfang war, welch unermeßliche
Zeiträume zwischen ihm und der Erschaffung Adams sowie
der Umgestaltung der Erde zum Wohnplatz des Menschen
liegen mögen, wissen wir nicht; aber soweit wir
unsere Gedanken auch zurückwand^rn lassen, „im Anfang
war das Wort".
„Und das Wort ward Fleisch und wohnte unter
uns." Anbetungswürdige Tatsache! Unerklärliches Geheimnis!
Der eingeborene Sohn ist in dieser Welt erschienen,
ist in die Mitte der Menschen getreten. „Ms
die Fülle der Zeit gekommen war, sandte Gott Seinen
Sohn, geboren von einem Weibe." (Gal. 4, 4.) Der Sohn
Gottes, der in Gestalt Gottes war, hat es nicht für einen
Raub geachtet, Gott gleich zu sein, sondern machte sich
selbst zu nichts, legte Seine strahlende Herrlichkeit ab und
nahm das Gewand tiefster Niedrigkeit an. So in Knechtsgestalt
erscheinend, nahm Er teil an Blut und Fleisch,
um das Sühnungswerk vollbringen zu können. Denn ohne
das wäre Er ewig allein geblieben, niemals hätte Er dem
Vater „Söhne" zuführen können. Ja, Er mußte sterben,
denn „wenn das Weizenkorn nicht in die Erde fällt und
stirbt, bleibt es allein". (Joh. 42, 24.) So lernte Er
denn, „obwohl Er Sohn war, an dem, was Er litt, den
Gehorsam und ist, vollendet worden, allen, die Ihm ge
60
horchen, der Urheber ewigen Heils geworden". (Hebr.
5, 8. 9.) „Er wurde gehorsam bis zum Tode, ja, zum Tode
am Kreuz." (Phil. 2.)
Indem Er so in die Welt kam, war Er das wahrhaftige
Licht, welches jeden Menschen erleuchtet, Der,
welcher den Vater allein kundmachen konnte; nicht nur
ein Licht, sondern das Licht. „In Ihm war Leben,
und das Leben war das Licht der Menschen." Deshalb
konnte Er zu Philippus sagen: „Wer mich gesehen hat,
hat den Vater gesehen, und wie sagst du: Zeige uns den
Vater?" (Joh. 14, 9.) Er war der Eingeborene vom Vater,
voller Gnade und Wahrheit. Vor Seinem
Kommen wußte niemand, was Gnade ist; auch die
Wahrheit war nicht in der Welt, denn das Gesetz war
nicht „die Wahrheit". Wohl hatte Gott sich in früheren
Tagen gnädig erwiesen, und Teile der Wahrheit waren
mitgeteilt worden, aber erst „durch Jesum Christum ist
Gnade und Wahrheit geworden". Wir kennen heute
die Wahrheit. Wir wissen, was Gott ist, was die Welt
und ihr Fürst ist, was der Mensch und die Sünde ist, was
Gnade ist usw. Aber wie ernst! Während das Auge des
Glaubens die Herrlichkeit Christi anschaute wie die eines
Eingeborenen vom Vater, hat die Finsternis das Licht nicht
erfaßt. Die Finsternis haßte das Licht. „Die Menschen
haben die Finsternis mehr geliebt als das Licht, denn
ihre Werke waren böse." (Joh. 3, 19.) Zwischen Licht
und Finsternis gibt es keine Verbindung, sie schließen einander
aus. Licht bleibt ewig Licht, Finsternis ewig Finsternis.
Welch eine Gnade, aus der Finsternis zu Seinem
wunderbaren Licht berufen zu sein — einst Finsternis, jetzt
Licht im Herrn! (1. Petr. 2, 9; Eph. 5, 8.)
— 67 —
Bemerkenswert ist wohl noch, daß das durch „Eingeborener"
übersetzte, freilich auch in anderen Fällen (vergl.
z. B. Luk. 7, 72; Hcbr. 77, 77) gebräuchliche griechische
Wort eigentlich „Einziger seiner Art, seines Geschlechts"
bedeutet, während das griechische Wort für „Erstgeborener",
wie im Deutschen, aus der Ordnungszahl „Erster"
und dem Zeitwort „gebären" zusammengesetzt ist.
Der Erstgeborene
Wir kommen jetzt auf den Titel „Erstgeborener" zurück.
Wir sagten bereits, daß dieser Titel fast immer in
Verbindung mit einem erläuternden Zusatz erscheint, seien
es Personen oder Dinge, nicht aber in Verbindung mit
Gott. Wir lesen nicht von dem „erstgeborenen Sohn Got -
t e s" oder dem „Erstgeborenen des Vater s", oder auch
nur von „Seinem Erstgeborenen". Wir brauchen nicht
zu sagen, daß die Person immer dieselbe ist — wie könnte
es anders sein? — aber sie wird von einem anderen Gesichtspunkt
aus betrachtet. Sie wird gesehen in Verbindung
mit der Schöpfung, mit der Versammlung, mit den „Brüdern"
usw. Im Blick auf diese und andere Beziehungen
ist Er der „Erstgeborene".
Was dieser Titel bedeutet, geht aus Psalm 89, 27
hervor, wo wir im Blick auf den Sohn Davids (und im
weiteren Sinne auf Christum) das Wort lesen: „Ich will
ihn zum Erstgeborenen machen, zum Höchsten der
Könige der Erde". Der Erstgeborene einer Familie
hatte von jeher besondere Rechte, eine besondere Stellung.
(Vergl. 7. Mose 49, Z.) In Israel erhielt er ein doppeltes
Erbteil und war zugleich der natürliche Erbe des Ranges
und der Stellung des Vaters, sei es als Haupt des Fami
62
lienhauses oder auch als Fürst des Geschlechts oder Stammes.
Der Titel deutet also auf einen Vorrang, auf eine
besondere Hoheit und Würde hin. Darum, wenn der Herr
in diese Schöpfung eintrat, wenn Er Mensch wurde, so
konnte es nur als der Erstgeborene sein, dem alles
gehört und der in allem den Vorrang haben muß. Anders
war es unmöglich. Allerdings verzichtete Er von vornherein
aus alle diese Rechte und nahm den niedrigsten
Platz in der Welt ein. Er kam nicht, um sich bedienen zu
lassen, sondern um zu dienen und Sein Leben zu geben
als Lösegeld für viele; und doch war Er Derjenige, von
welchem Gott sagen konnte: „Du bist mein Sohn,
heute habe ich dich gezeugt". (Ps. 2, 7; Hebr. 7, 5.)
Beachten wir hier den charakteristischen Unterschied zwischen
dem „Eingeborenen", dem ewigen Gott, der vor
den Uranfängen der Erde war, und dem „Erstgeborenen",
dem Menschen Christus Jesus, dem Sohne Gottes, der
als solcher einen Anfang in der Zeit hatte, der in diesem
Sinne vorher nicht da war.
Aber eö gibt doch nicht einen Sohn, der Gott,
und einen Sohn, der Mensch ist? Ganz gewiß nicht!
Immer wieder möchten wir aufs nachdrücklichste betonen,
daß der Sohn, ob wir Ihn als Eingeborenen
oder als Erstgeborenen betrachten, nur eine
Person ist: Das Wort wurde Fleisch, der eingeborene
Sohn wurde Mensch, aber Er war und blieb stets der
Eingeborene. Wohl entlieh Seine Sohnschaft als Mensch
der ewigen Sohnschaft ihren Charakter, aber doch wurde
Er etwas, das Er vorher nicht war: Mensch, und als
solcher war Er „das Bild des unsichtbaren Gottes". (Kol.
7, 75.) Der, welcher am Kreuze die Reinigung der Sün
— e>3 —
den gemacht und sich dann zur Rechten der Majestät in der
Höhe gesetzt hat, war und ist als Mensch der Abglanz
der Herrlichkeit Gottes, der Abdruck Seines Wesens, der
Träger des Weltalls durch das Wort Seiner Macht. Die
Engel sind erhabene und gewaltige Wesen, an Kraft und
Herrlichkeit uns weit überlegen; sie werden selbst „Söhne
Gottes" im allgemeinen Sinne genannt, insofern Gott sie
erschaffen und ihnen einen Platz in Seiner Nähe gegeben
hat. Aber der Mensch Jesus Christus hat einen vorzüglicheren
Namen vor ihnen ererbt. Er ist der Sohn,
von Gott gezeugt. Wenn darum Gott den Erstgeborenen
in den Erdkreis einführt, spricht Er: „Alle Engel Gottes
sollen Ihn anbeten". Sie sind Diener, die Gott nach
Seinem Wohlgefallen und unumschränkten Willen benutzt,
Er ist der Sohn, der Schöpfer und Erhal-
t e r aller Dinge. (Hebr. 1, Z—14.)
Verschiedenartig sind, wie wir bereits bemerkten, die
Beziehungen oder Verhältnisse, in welchen der Herr als
„Erstgeborener" steht. Zunächst wird Er in Kol. 1, 15
„der Erstgeborene aller Schöpfung" *)
*) Dergl. hierzu den Aufsatz gleichen Titels im Jahrgang 1920
des „Botschafter" (Seite 294—299).
genannt. Es ist schwer verständlich, wie Luther und andere
nach ihm (auch neuere Übersetzer) hier „der Erstgeborene
(oder gar „Sein Erstgeborener") vor aller Schöpfung"
übersetzen konnten. Der in diesem Ausdruck enthaltene Gedanke
ist ganz widersinnig. Wie hätte Christus vor aller
Schöpfung der Erstgeborene sein können, da Er doch als
Erstgeborener erst „in der Zeit", lang nach Erschaffring
des ersten Menschenpaares, in diese Schöpfung eingetreten
ist? Und da, wie wir weiter oben gesagt haben, der A n -
64
fang aller Dinge wohl noch unermeßlich weit vor die Erschaffung
Adams zu setzen ist, so müßte Er schon Mensel-
gewesen sein, als es überhaupt noch keine Menschen und
keine Schöpfung gab. Die Wahrheit ist, daß Er vor
aller Schöpfung der Eingeborene war, nicht aber der
Erstgeborene. Der Name „Erstgeborener" steht nur
mit Seiner Menschwerdung in Verbindung.
Was nun den Titel „Erstgeborener aller Schöpfung"
betrifft, so müssen wir uns zunächst vergegenwärtigen,
daß der Herr wohl in diese Schöpfung eingetreten
ist, nie aber zu ihr gehört, nie einen Teil der Schöpfung
gebildet hat. Er erschien in ihr als der Schöpfer,
nicht aber als ein Geschöpf. Der erste Adam, der „von
Staub", wurde geschaffen; der letzte Adam, der
Mensch vom Himmel, wurde von Gott gezeugt. Darum
sagt der Engel zu Maria: „Das Heilige, das geboren
werden wird, wird Sohn Gottes genannt werden".
(Luk. 4, ZS.) Und Paulus schreibt an Timotheus: „Anerkannt
groß ist das Geheimnis der Gottseligkeit: Gott ist
geoffenbart worden im Fleische, gerechtfertigt im
Geiste, gesehen von den Engeln usw." (4. Tim. Z, 4b.)
Adam war ein schwaches Vorbild von Christo, insofern
er „im Bilde Gottes" geschaffen und als Mittelpunkt
in die Schöpfung gestellt war, die ihm unterworfen
sein sollte. Der Mensch Christus Jesus dagegen war
„dasBilddes unsichtbaren Gottes", Der, welcher Gott
in Seinem wahren Wesen und Charakter vor Engeln und
Menschen darstellte. In Ihm wurde Gott gesehen. Zugleich
gehörte Ihm die ganze Schöpfung, Ihm gebührte die
Oberhoheit über alles, aus dem einfachen Grunde, weil
Er alles erschaffen hatte. „Alle Dinge sind durch Ihn
65
und (darum auch) f ü r Ihn geschaffen". Wenn Christus
deshalb einen Platz in der Schöpfung einnahm, so konnte
es nur der der Oberhoheit sein. Er hatte bedingungslose
Rechte an die ganze Schöpfung. Wir haben schon gesagt,
daß Er diese Rechte nicht geltend gemacht hat. Er hätte
es ja nur im Gericht tun können, und Er war doch gekommen,
um ihr Erlösung zu bringen! Himmel und Erde,
das ganze All, war also Sein, und wenn der Apostel in
unserem Kapitel weiter von dem Sühnungswerke Christi
redet, so schildert er zunächst die herrlichen Folgen desselben
im Blick auf die Schöpfung, auf „alle Dinge". Der
Herr kann nur über einen erlösten und gereinigten Besitz
regieren. Deshalb „war es das Wohlgefallen der ganzen
Fülle (der Gottheit), in Ihm zu wohnen und durch Ihn
alle Dinge mit sich zu versöhnen". (V. t8—20.)
Doch wie war eine solche Versöhnung möglich? Nur
durch den Tod. Der Mensch hatte durch seinen Fall sich
und die ganze Schöpfung unter die Verunreinigung der
Sünde und die Herrschaft des Todes gebracht. Christus
ist in den Tod hinabgestiegen, um durch die Macht des
Lebens, die in Ihm war, diese Herrschaft zu brechen und
nicht nur der Schöpfung Befreiung zu bringen, „indem Er
Frieden gemacht hat durch das Blut Seines Kreuzes"
(vergl. Röm. 8, ty—2t), sondern auch um aus den Menschen
solche zu erlösen, die mit Ihm, dem Auferstandenen,
verbunden werden und an Seiner Herrlichkeit teilhaben
könnten. Auf diesem Wege ist Er zu einer zweiten Art von
Herrlichkeit und Oberhoheit gelangt. War die erste gleichsam
naturgemäß. Ihm eigen als Schöpfer aller Dinge,
so ist die zweite von Ihm erworben worden durch Tod
und Auferstehung. Er ist jetzt das Haupt der neuen
— bb —
Schöpfung, das Haupt des Leibes, der Versammlung, „der
Anfang" einer ganz neuen Ordnung der Dinge, an welcher
wir als Erlöste teilhaben, indem wir des göttlichen
Lebens teilhaftig geworden sind, das in Christo Jesu ist.
In Verbindung hiermit trägt der Herr den Titel:
„Erstgeborener aus den Tote n."
Er soll und muß „in allem den Vorrang haben", Ihm
gebührt in jeder Beziehung der erste Platz, die höchste
Stellung, sei eö im Blick auf die alte oder die neue Schöpfung.
Hat Er die erste geschaffen, so hat Er zu der zweiten
in dem Werke der Erlösung den Grund gelegt. Auf keinem
anderen Wege konnten wir mit Ihm teilhaben an den
kostbaren Vorrechten, die mit dieser neuen Stellung verbunden
sind. In dem Sendschreiben an Laodicäa nennt der
Herr sich selbst den Anfang der Schöpfung Gottes.
Er ist zugleich Schöpfer und Sieger über Tod und Teufel.
Werfen wir in Verbindung mit dem Gesagten noch
einen kurzen Blick auf den Titel:
„Erstgeborener der Toten",
den wir in Offbg. t, 5 finden. Wie das ganze Buch der
Offenbarung uns nicht mit den Vorrechten der Gläubigen
beschäftigt, so stellt es auch den Herrn nicht in Seinen
gesegneten Beziehungen als Haupt Seines Leibes, als Hohepriester,
Sachwalter usw. vor unsere Augen, sondern
in Seinem besonderen Verhältnis zu Erde und Zeit. Er ist
„der treue Zeuge, der Erstgeborene der Toten und der
Fürst der Könige der Erde". Haben sich alle anderen Zeugen
als untreu erwiesen, Er ist der treue Zeuge Gottes hie-
nieden gewesen. War durch den Ungehorsam des ersten
Menschen der Tod in die Welt gekommen, so kam durch
67
den Gehorsam des zweiten die Auferstehung der
Toten. Ja, Er ist als Sohn Gottes in Kraft erwiesen
worden durch Toten-Auferstehung. (Röm. 7, 4.) Als Sieger
über den Tod und über den, der die Macht des Todes
hat, lebt Er jetzt von Ewigkeit zu Ewigkeit und hat „die
Schlüssel des Todes und des Hades". (Offbg. 4, 48.)
Er hat Gewalt über die Toten, sowohl über die Leiber, die
in den Gräbern sind, als auch über die Seelen, die sich in
dem Hades, dem Iwischenzustand der Trennung von Seele
und Leib, befinden. Sie alle unterliegen der Oberhoheit des
auferstandenen Menschen, des „Erstgeborenen der Toten".
Welch eine Freude für die „Toten in Christo", welch
ein Schrecken für alle übrigen!
Im Vorbeigehen sei hier noch des Ausdrucks „Versammlung
der Erstgeborenen" gedacht, dem wir in Hebr.
42, 2Z begegnen. Zu den dort aufgezählten herrlichen
Dingen, zu welchen die Gläubigen aus den Juden gekommen
waren, gehört zunächst der Berg Zion, dann das
himmlische Jerusalem, drittens Myriaden von Engeln, die
allgemeine Versammlung, und viertens „die Versammlung
der Erstgeborenen, die in den Himmeln angeschrieben
sind". Die letztgenannten bilden im Gegensatz
zu den Engeln, in deren Mitte sie sich befinden, eine ganz
besondere Klasse von Personen — nicht einfach Geschöpfe
wie jene, sondern Menschen, die das besondere Vorrecht besitzen,
daß ihre Namen in den Himmeln angeschrieben
sind, eine Versammlung, die Gott mit Christo, dem Erstgeborenen,
einsgemacht hat. Sie werden gleichsam schon
rund um Ihn her sitzend droben gesehen: Er, der Erstgeborene
(Hebr. 4, 6), sie, d i e Erstgeborenen, mit Ihm,
dem Haupte der neuen Schöpfung, für ewig vereinigt.
68
Es bleibt uns noch übrig, unsere Aufmerksamkeit einer
besonders lieblichen Verbindung zuzuwenden, in welcher
der Name „Erstgeborener" vorkommt. Es ist der Ausdruck
„Erstgeborener unter vielen Brüdern"
in Röm. 8, 29. Unwillkürlich erinnert er uns an ein Wort
in Hebr. 2, dessen tiefe, herrliche Bedeutung vielfach übersehen
oder doch nicht genügend gewürdigt wird. Wir lesen
im kk. Verse des genannten Kapitels: „Denn sowohl Der,
welcher heiligt, als auch die, welche geheiligt werden, sind
alle voneinem, um welcher Ursache willen Er sich nicht
schämt, sie Brüder zu nennen". Im vorhergehenden Verse
sagt der Schreiber des Briefes, daß, wenn Gott viele
Söhnezur Herrlichkeit bringen wollte, Er den Anführer
ihrer Errettung durch Leiden zum Ziel führen mußte. Wieder
begegnen wir der bekannten Wahrheit, daß nur der
Tod Christi die Grundlage zur Ausführung des Gnadenratschlusses
Gottes bilden konnte. Wollte Gott Kinder
vor sich sehen, so war es nur auf dem Wege möglich, daß
der Sohn Gottes an Blut und Fleisch teilnahm, mit anderen
Worten Mensch wurde und durch Seinen Tod jene
Kinder „heiligte" und aus der Gewalt Satans befreite.
Gottes Heiligkeit, Gerechtigkeit und Wahrheit forderten
es. „Es geziemte Ihm." Wie hätte Er uns in unseren
Sünden in Seine Herrlichkeit einsühren können?
Christus hat also unsere Natur angenommen, selbstverständlich
ohne Sünde, aber unsere menschliche Natur.
Und nun sind alle von einem. Er, der Heiligende, und
wir, die Geheiligten. Er Mensch, wir Menschen. Er der
Anführer unserer Errettung, und wir die Erretteten, alle
gleichsam meiner Menschheit vor Gott hingestcllt, sodaß
69
Er sich nicht schämt, uns „Brüder" zu nennen. Er ist nicht
mehr allein, sondern hat Genossen, und zwar Genossen
in Seiner Stellung als der auferstandene Mensch vor Gott,
die Seines Lebens und Seiner Beziehung zu Gott teilhaftig
geworden sind. Noch sind wir Ihm nicht gleichgestaltet,
noch sieht kein Auge unsere Herrlichkeit als Söhne Gottes.
Aber wir sind von Gott zuvorbestimmt, dem Bilde Seines
Sohnes gleichförmig zu sein, „damit Er der Erstgeborene
sei unter vielen Brüdern". Wenn der Apostel
diesen wunderbaren Ratschluß Gottes im Blick auf uns sich
vergegenwärtigt: „zuvorbestimmt, berufen, gerechtfertigt
und verherrlicht", kommt Er zu dem bekannten Ausruf:
„Was sollen wir nun hierzu sagen!? Wenn
Gott für uns ist, wer wider uns?" (Röm. 8.)
Warum aber, möchte gefragt werden, heißt es „Erstgeborener
unter vielen Brüdern"? Warum nicht, ähnlich
wie Erstgeborener aller Schöpfung, Erstgeborener der
Toten, auch „Erstgeborener vieler Brüder"? Wir wissen,
im Worte Gottes ist nichts von ungefähr, jeder Ausdruck
hat seine besondere Bedeutung. Sollen wir vielleicht
darauf hingewiesen werden, daß den „Brüdern" gegenüber
die Betonung Seiner hoheitsvollen Stellung gemildert
wird, mit anderen Worten, daß Er in Seiner wunderbaren,
herablassenden Gnade nicht der Erstgeborene über Seine
Brüder, als Herr über sie, sondern wie einer von ihnen
inihrerMitte sein möchte, und daß Gott Ihn so, zur
Befriedigung Seines liebenden Herzens, in der Mitte derer,
die Er Ihm gegeben hat, in Ewigkeit vor sich sehen will?
Daß Er stets Herrist und bleibt, unser anbetungswürdiger
Herr, braucht nicht gesagt zu werden. Niemals wird
Er in der Schrift unser Bruder genannt, und niemals
70
sollten oder werden wir Ihn so nennen; unsere dankbaren
Herzen geben Ihm jetzt und in alle Ewigkeit anbetend
den Ihm gebührenden Platz. Aber E r hat sich nicht
geschämt und schämt sich nicht, uns Brüder zu nennen. E r
hat uns in diese innige Beziehung zu sich und dem Vater
gebracht, um uns so Seine ganze Liebe zu schenken.
O Liebe ohnegleichen!
Kein Sinn kann je erreichen
Die Fülle, die Du gibst.
Selbst Engel werden stehen
Und voll Anbetung sehen.
Wie Du, o Herr, die Deinen liebst.

72
Satans bringen. Und Der ihn berief und aussandte war
Jesus, das verherrlichte Haupt Seines Leibes. Auf seine
Frage: „Wer bist du, Herr?" war ihm die Antwort geworden:
„Ich bin Jesus, den du verfolgst". Alles war
in diesem Falle eigenartig: der Berufende, die Berufung
und der Berufene. Darum konnte Paulus auch das ihm
anvertraute Evangelium sein Evangelium oder das Evangelium
der Herrlichkeit nennen. Es stellte ihn und
die, welche seine Botschaft annahmen, auf einen ganz neuen
Boden. Es nahm sie aus Juden und Heiden heraus und
verband sie nicht mit einem lebenden Messias, sondern
mit dem auferstandenen Menschensohn in der Herrlichkeit
droben, dem Haupte einer neuen Schöpfung. Daher
kannte Paulus auch „niemand nach dem Fleische", selbst
Christum nicht (2. Kor. 5, "lb), obwohl er Ihn in anderem
Sinne durchaus als den Sohn Davids anerkannte.
Diese wunderbare Person war Gegenstand und Inhalt
des von ihm gepredigten Evangeliums. Es war „das
Evangelium Gottes über Seinen Sohn, der aus dem Samen
Davids gekommen ist dem Fleische nach". (V. Z.)
Als solcher, in Erfüllung der Verheißungen, in der Mitte
Seines irdischen Volkes erschienen, war Christus verworfen
worden. Damit hatte Israel als Volk alle Anrechte
an die Verheißungen verloren. Fortan konnte es für die
Nachkommen Abrahams wie für die Heiden, die, entfremdet
dem Bürgerrecht Israels, ohne Gott und ohne Hoffnung
in der Welt waren, nureinen Boden der Annahme
geben, den der bedingungslosen Gnade. Daß Gott, dessen
Gnadengaben und Berufung unbereubar sind, dereinst auch
Sein irdisches Volk segnen und ihm alle Seine Verheißungen
erfüllen wird, ist eine kostbare Wahrheit. Heute aber
73
sammelt Er aus Juden und Heiden ein himmlisches
Volk. Der Heilige Geist ist herabgekommen, um den
„Sohn" zu verherrlichen und Ihm aus allen Völkern
der Erde eine Braut, ein Weib zuzuführen.
So ist denn das, was einst nur als „Verheißung" bekannt
war, zur Wirklichkeit geworden. Die Aussprüche
der alttestamentlichen Propheten (denn nur diese kommen
hier in Frage) sind in Erfüllung gegangen, insoweit sie
die Menschwerdung des Herrn, Seinen Tod und Seine
Auferstehung, sowie die herrlichen Folgen Seines Werkes
betrafen. Die Dinge, welche sie einst für uns bedienten,
sind uns jetzt verkündigt worden durch die Boten
des Evangeliums in der Kraft des Heiligen Geistes. (Vergl.
ü. Petr, 4, 40—72.) Wohl sind auch uns kostbare Verheißungen
für unseren Weg durch diese Welt gegeben,
aber darum handelt es sich hier nicht. Die hier in Rede
stehenden, auf das Evangelium Gottes bezüglichen Verheißungen
sind erfüllt.
Der, von welchem dieses Evangelium redet, ist erschienen,
ist in die Welt gekommen, und zwar in zweierlei
Art oder unter zwei verschiedenen Beziehungen. Er ist der
Sohn Davids, dem Fleische nach, das Er in Gnaden
angenommen hat; und Er ist der Sohn Gottes,
und als solcher „in Kraft erwiesen dem Geiste der Heiligkeit
nach durch Toten-Auferstehung". (V. 4.) Als Sohn
Davids war Er nicht nur der Gegenstand der Verheißungen
Gottes, sondern auch der Erfüller derselben. Wir sagten
bereits, daß das Volk Israel, dem die Verheißungen
gehörten, durch die Verwerfung seines Messias alle Anrechte
an dieselben verloren hat. Aber Gott hat gerade
diese Tat dazu benutzt, um größere und herrlichere Dinge
74
ans Licht zu bringen und Seinen ewigen Ratschluß zu erfüllen.
Gott hat Den, der auf alle Seine Rechte als Sohn
Davids verzichtete und sich in vollkommenem Gehorsam
dem Kreuzestode unterzog, aus den Toten auferweckt und
Ihm Herrlichkeit gegeben. So ist Er als Sohn Gottes
in Kraft erwiesen worden. Gott hatte diese Kraft schon
in der Auferweckung des Lazarus geoffenbart; sie wird
sich in der Auferweckung aller Heiligen wiederum offenbaren,
aber den stärksten Beweis derselben finden wir in
der Auferstehung des Herrn Jesus selbst. (Vergl. Joh.
42, 28; Eph. 4, 20.) Er, der mit unseren Sünden beladen,
für uns zur Sünde gemacht war und als solcher gerechterweise
den Tod als Sold der Sünde erleiden mußte,
ist als Sieger über Sünde, Tod und Teufel aus den Toten
wieder hcrvorgekommen. Die „überschwengliche Kraft"
Gottes hat sich da geoffenbart, wo der Tod als Folge der
Sünde eingetreten war. Christus ist auferstanden; Sein
Fleisch hat die Verwesung nicht gesehen, Seine Seele ist
nicht im Hades zurückgelassen worden. (Ps. 4b, 40;
Apstgsch. 2, 27.)
Doch was bedeutet der Ausdruck: „dem Geiste der
Heiligkeit nach"? Von dem Propheten Jeremia lesen wir,
daß er schon vor seiner Geburt für Gott abgesondert war
(Jer. 4, 5), und von Johannes dem Täufer wird gesagt,
daß er von Mutterleibe an mit dem Heiligen Geiste erfüllt
gewesen sei; aber Christus war, als Mensch, aus
dem Heiligen Geist geboren, und Sein Leben war in
jeder Beziehung der Ausdruck der Wirkungen dieses Geistes.
Seine Worte waren Geist und Leben, und alle Seine
Handlungen geschahen in der Kraft des Heiligen Geistes.
Mit einem Wort, Er erwies sich in Seinem ganzen Leben
75
als der Heilige Gottes, unschuldig, unbefleckt, abgesondert
von den Sündern, und schließlich opferte Er sich ohne
Flecken Gott durch den ewigen Geist. (Hebr. 7, 26; 9, 74.)
Als das vollkommene Speisopfer: Feinmehl, mit Dl gemengt
und mit Ol gesalbt, war Er allezeit der Ausdruck
und Abglanz der Gottheit, deren Fülle leibhaftig in Ihm
wohnte. Erprobt bis in den Tod am Kreuze, im heißesten
Feuer geprüft, zeigte sich in Ihm nichts als Vollkommenheit
und Wohlgeruch. Er starb (und Er mußte sterben),
weil Er unsere Sache übernommen hatte, aber der Tod
konnte Ihn nicht behalten. Getötet nach dem Fleische, ist
Er lebendig gemacht worden nach dem Geiste. (7. Petr.
3, 78.) Das will sagen: In Seiner Auferstehung war die
ganze wunderbare Kraft des Heiligen Geistes wirksam.
Das ändert nichts an der Tatsache, daß der Vater es
Seiner Herrlichkeit schuldig war, Den aufzuerwecken, der
Ihn hienieden verherrlicht hatte, und daß der Sohn die
Gewalt besaß. Sein Leben zu lassen und es wiederzunehmen.
Die Auferweckung des Herrn war das überwältigende,
öffentliche Zeugnis von der Kraft, die während Seines
ganzen Lebens in Ihm gewirkt und Ihn als das erwiesen
hatte, was Er war: der Sohn Gottes.
Der Gegenstand des Evangeliums Gottes ist also
Christus, als Sohn Davids gekommen zur Erfüllung
der Verheißungen, und als Sohn Gottes in Kraft erwiesen
dem Geiste der Heiligkeit nach durch Toten-Auf-
erstehung. Von diesem Herrn, der inzwischen mit Ehre
und Herrlichkeit zur Rechten Gottes gekrönt worden war
und nun als Herr und Christus handelte, hatte Paulus
Gnade und Apostelamt empfangen, um alle Völker der Erde
in Seinem Namen zum Glaubensgehorsam zu führen.
— 7b —
(V. 5.) In derselben Stunde, in welcher die Gnade ihm
begegnet war, und Licht von oben in sein finsteres Herz
hineingeleuchtet hatte, war er berufen worden, von dem
zu zeugen, was er gesehen und gehört hatte und worin
der Herr ihm noch weiter erscheinen wollte. (Apstgsch.
26, tb.) So war von vornherein der Inhalt und Bereich
seines Dienstes weiter als der der Zwölfe. Darum ist hier
auch wohl von Glaubens gehorsam die Rede, der siel-
willig unter die vom Himmel her gebrachte Botschaft
beugt, welche sich jetzt nicht an Israel allein, sondern an
die ganze Welt richtet.
Das also war der Apostel. Wie stand es nun mit
den Gläubigen in Rom? Sie waren nicht zu Aposteln
berufen, und doch waren sie Berufene: „Berufene Jesu
Christi, Geliebte Gottes, berufene Heilig e", und das
alles „durch Jesum Christum, ihren Herrn". Fürwahr,
herrliche Titel, die einerseits ihre neuen Beziehungen zu
dem Vater und dem Sohne zum Ausdruck brachten, und
anderseits darauf Hinwiesen, daß ihre Träger, wenngleich
Paulus mit der Gründung der Gemeinde in Rom nichts
zu tun gehabt hatte, doch seiner Autorität als Apostel der
Nationen unterstanden. Als solcher konnte er mit der
Machtvollkommenheit Christi an sie schreiben und ihnen
seinen gewöhnlichen, aber so tief bedeutsamen Gruß senden:
„Gnade euch und Friede von Gott, unserem Vater,
und dem Herrn Jesus Christus!" (V. 7.) Sie waren
jetzt Kinder dieses großen Gottes und Knechte dieses
reichen und gnädigen Herrn, und es war die Freude des
Heiligen Geistes, sie durch den Apostel als solche anzuerkennen.
Nie vorher waren solche Titel bekannt gewesen, we
77
der zur Zeit der Patriarchen, noch unter der glorreichen
Regierung eines David oder eines Salomo; nie auch wa-
ren Gefühle und Beziehungen kundgetan worden, wie sie
uns in den nächsten Versen unseres Briefes entgegentreten.
Wohl hatte Gott in mancherlei Weise sich geoffenbart und
Seine herrliche Größe oder Seine wunderbare Güte, Geduld
und Treue kundgetan, aber solche Titel oder eine ähnliche
Sprache, wie wir sie hier finden, suchen wir im Alten
Testament vergeblich. Sie waren vor dem Kommen des
Herrn in diese Welt einfach unmöglich. Ja, selbst noch
während Seines Lebens und Wandelns auf dieser Erde
hätten Gedanken und Gefühle, wie sie in den Versen
8—75 zum Ausdruck kommen, in den Herzen der Jünger
nicht aufsteigen können. Dafür mußte das Werk auf Golgatha
erst die Grundlage schaffen. Wenn wir uns vergegenwärtigen,
daß die Versammlung in Rom zum allergrößten
Teil aus Gläubigen bestand, die früher Heiden
gewesen waren, staunen wir umsomehr über die innige
Herzensverbindung zwischen ihnen und dem Apostel, dessen
Angesicht sie noch nie gesehen hatten.
„Aufs erste danke ich meinem Gott durch Jesum
Christum euer aller halben, daß euer Glaube verkündigt
wird in der ganzen Welt." (V. 8.) Die Liebe ist stets bemüht,
das hervorzuheben und anzuerkennen, was eö Gutes
in dem anderen gibt. Paulus war in dieser, wie in
so mancher anderen Beziehung,, ein treuer Nachahmer seines
Herrn. Die Lage und Bedeutung der Stadt Rom als
Mittelpunkt des gewaltigen Römischen Reiches der damaligen
Zeit macht es verständlich, daß die Kunde von der
Treue der dortigen Gläubigen unter mancherlei Verfolgungen
von außen und Versuchungen von innen in alle
78
Welt gedrungen war, ähnlich dem Glauben der Thessalonicher,
der an jedem Orte Makedoniens und Achajas aus-
gebreitet worden war, sodaß der Apostel nicht nötig hatte,
etwas zu sagen. Dafür dankte Paulus seinem Gott,
und jemehr er das tat und die Gläubigen in Rom (samt
so vielen anderen) in brennender Liebe und mit unablässigem
Gebet auf seinem Herzen trug, umso tiefer und
dringender wurde das Verlangen in ihm, sie zu sehen, um
auch ihnen etwas geistliche Gnadengabe mitzuteilen und
sie so im Glauben weiter zu befestigen. (V. 9—77.)
Welch eine Veränderung war doch mit diesem Manne
vorgegangen! Einst ein fanatischer Vertreter des Gesetzes,
ein Verächter und Lästerer des Namens Jesu und ein glühender
Feind Seiner Jünger — heute ein liebeerfüllter, unermüdlicher
Prediger der in Jesu geoffenbarten Gnade,
ein Mann des Glaubens, der durch die Liebe wirkt, ein
Sklave Jesu Christi, der in Mühen und Kämpfen, in Leiden
und Drangsalen sich völlig für andere „verwandte"
und umsomehr lieben wollte, je weniger er geliebt wurde.
Das war der Mann — und wie vieles andere könnte noch
von ihm gesagt werden! — der sehnlich danach verlangte,
„nun endlich einmal durch den Willen Gottes so glück-
l i ch zu sein", auch zu ihnen nach Rom zu kommen. (V. 70.)
Fürwahr, wenn es je einen Mann gegeben hat, der mit
dem Herzen Jesu Christi für das geistliche Wohl der Herde
besorgt war, dann war er es. Unwillkürlich drängt sich
das Gebet auf unsere Lippen: „Herr, laß uns von ihm
lernen! Laß uns seine Nachahmer sein, gleichwie er der
Deinige war!"
Wie müssen solche Worte auch die Herzen der Gläubigen
in Rom bewegt haben! Und Paulus konnte Gott
7Y
selbst zum Zeugen anrufen, daß er die Wahrheit sagte.
Ja, Ihm allein diente er „in seinem Geiste in dem
Evangelium Seines Sohnes". Es war nicht ein Dienst in
nur äußerem Eifer zur Erfüllung einer obliegenden Pflicht,
sondern in innerer Widmung für Gott und bedingungsloser,
liebender Hingabe an das Evangelium Seines
Sohnes. Beachten wir im Vorbeigehen den Wechsel
im Ausdruck. Hörten wir im 7. Verse von dem Evangelium
Gottes, so hier von dem Evangelium Seines
Sohnes. Es ist selbstverständlich dasselbe Evangelium,
nur daß uns im ersten Falle die Quelle desselben gezeigt
wird, im zweiten die Art und Weise, wie Gottes Liebe darin
gewirkt hat, der Weg, den Jesus gegangen ist, um Ver­
lorene zu erretten.
Geradezu rührend und zugleich ein eindrucksvoller
Beweis von der Demut und Bescheidenheit des Apostels
ist der Inhalt des 72. Verses. Wir hörten schon, daß Paulus
nach Rom zu kommen wünschte, um den Gläubigen
dort etwas geistliche Gnadengabe mitzuteilen, um sie zu
befestigen, „das ist aber", so fügt er hinzu, „mit euch getröstet
zu werden in eurer Mitte, ein jeder durch den
Glauben, der in dem anderen ist, sowohl euren
alsmeine n". War es ein einfacher Bruder, einer gleich
ihnen, der nach Rom kommen wollte, oder war es der
große Apostel der Nationen? (Vergl. Phil. 2, 7—3.)
Die Versammlung in Rom sollte auch wissen, daß
der Wunsch, sie zu besuchen, bereits alt war. „Ich will
aber nicht, daß euch unbekannt sei, daß ich mir oft vorgesetzt
habe, zu euch zu kommen, und bis jetzt verhindert
worden bin." (V. 73.) Paulus hatte also oft den Vorsatz
gehabt zu kommen, aber Gott hatte es in Seiner Weis
80
heit nicht geschehen lassen; über die wahrscheinlichen Gründe
haben wir bereits gesprochen. Dennoch war der Wunsch,
„auch unter ihnen einige Frucht zu haben, gleichwie auel-
unter den übrigen Nationen", durchaus berechtigt und Gott
wohlgefällig, denn Paulus war ja als Apostel der Nationen
ein Schuldner „sowohl Griechen als Barbaren
(Fremdsprachigen), sowohl Weisen als Unverständigen".
(V. 1.4.) Und dieser Schuld war er sich bewußt. Darum
war er, soweit es ihn betraf, völlig bereit, auch denen,
die in Rom waren, daö Evangelium zu verkündigen.
(V. 15.) Die Weite der Reise, Furcht vor etwaigen Gefahren
in der großen heidnischen Weltstadt oder irgendwelche
ähnliche Abhaltungsgründe konnten ihn nicht beeinflussen.
Der Herr hat denn auch seinen sehnlichen
Wunsch erfüllt, allerdings auf einem ganz anderen Wege,
als er und die Gläubigen in Rom es damals ahnen konnten,
nämlich als „ein Gefangener Christi Jesu für sie, die
Nationen". (Eph. Z, 1.) (Fortsetzung folgt.)
Aus einem Briefe
...Es geht mir besser; nur der Schlaf flieht meine
Augen, aber die Nachtwachen sind nicht ohne Segen, wenn
wir sie in der rechten Weise benutzen. Schon David hat das
in reichem Maße erfahren. (Vergl. Pf. 63, 5. 6.) Heute
besuchte mich ein Bruder. Uber unsere Unterredung nach-
sinncnd, sitze ich noch auf und will Dir einiges daraus mitteilen.
Ich hoffe, daß die Gedanken richtig sind.
Wir unterhielten uns über die Übungen der drei
Frauen Eva, Sarah und Rebekka und brachten sie in Verbindung
mit Joh. 1, 13, wo wir hören, daß der Herr
8t
denen, die Ihn aufnahmen, das Recht gab, Kinder Gottes
zu werden, und dann in weiterer Erklärung die Worte
finden: „welche nicht aus Geblüt, noch aus dem Willen
des Fleisches, noch aus dem Willen des Mannes, sondern
aus Gott geboren sind".
Eine merkwürdige Gedanken-Verbindung! höre ich
Dich sagen. Aber laß mich Dir erzählen, wie wir dazu gekommen
sind. Bei unserer Unterredung stellten wir die
Übungen jener Frauen einander gegenüber und mußten
unö sagen, daß sie in einem Sinne wohl alle einander
gleichen, in anderer Beziehung doch wieder ganz verschieden
voneinander sind. Eva hatte Herzensübungen über
Kain und Abel, Sarah desgleichen in Verbindung mit
Ismael und Isaak, und Rebekka mußte im Blick auf
Esau und Jakob eine gesegnete Unterweisung lernen. Was
mir so besonders wichtig dabei zu sein schien, war der Umstand,
daß auch wir durch ähnliche Übungen, und wohl
auch in derselben Reihenfolge, zu gehen haben.
Eva mußte lernen, daß der göttliche Same nicht „aus
Geblüt", Sarah, daß er nicht „aus dem Willen des Fleisches",
Rebekka, daß er nicht „aus dem Willen des Mannes"
ist. Eva meinte, als Kain (Erworbenes) geboren
wurde, daß sie „einen Mann mit Jehova erworben
habe"; sie dachte wohl an den verheißenen Samen, der
der Schlange den Kopf zertreten sollte. Aber sie mußte
erfahren, daß auf Grund natürlicher Abstammung nichts
für Gott herauskommt, daß von sündigen Eltern nur sündige
Kinder geboren werden können. Und so nannte sie
ihren zweiten Sohn „Abel" ---- Hauch, Nichtigkeit.
Auch wir müssen zunächst lernen, daß wir, als in
diese Welt hineingeboren, ohne Unterschied sündig und nich
82
tig sind. „Nur Eitelkeit (od. ein Hauch) sind die Menschensöhne,
Lüge die Männersöhne." (Ps. 62, 9.) Da ist
keiner, der Gutes tue, auch nicht einer. (Röm. Z.)
Eine demütigende Entdeckung! Aber was bewirkt sie
im allgemeinen in uns? Den törichten Wunsch, uns zu
bessern, etwas zu tun, um unserem kraftlosen Zustand
abzuhelfen, das Fleisch zu bessern. Wir wollen das Gesetz
benutzen, um eine eigene Gerechtigkeit aufzurichten. Diesem
Willen des Fleisches begegnen wir bei Sarah und in
Ismael. Sarah aber hatte zu lernen, daß der Sohn der
Magd, der nach dem Fleische Geborene, ausgetrie-
ben werden mußte. Alles was vom Fleisch ist, hat vor
Gott keinen Wert, ist vielmehr verwerflich. Nur auf dem
Boden der Gnade, der Verheißung, auf dem Grundsatz
des Glaubens, kann ein göttlicher Same geboren werden.
Alle Anstrengungen der Natur, des Fleisches, so gut sie
gemeint sein mögen, führen nicht zum Ziel. Alle unsere
Segnungen sind nur in Christo, dem wahren Isaak. Auf
die verzweifelte Frage: „Ich elender Mensch! wer wird
mich retten von diesem Leibe des Todes?" gibt es nur
die eine Antwort: „Ich danke Gott durch Jesum
Christum, unserenHerr n". — Führten uns Eva
und Kain zu Röm. 3, so erinnerten uns Sarah und Ismael
an Röm. 7.
Rebekka ihrerseits hatte zu lernen, daß „der Vorsatz
Gottes nach Auswahl besteht" (Röm. 9, 77),
mit anderen Worten, daß Gottes Unumschränktheit in jeder
Beziehung über allem steht, und daß „der Wille des
Mannes" hier keinerlei Raum findet. Zwillingskin­
der, und doch der eine erwählt, der andere nicht! Es ist
auch schon oft darauf hingewiesen worden, daß Esau, der
83
Erstgeborene, als Mensch vor Jakob manch edlen Charakterzug
voraus hatte. Der Mensch würde Esau dem Jakob
unbedingt vorziehen. Rebekka aber mußte lernen, noch ehe
die Kinder geboren waren und weder Gutes noch Böses
getan hatten, daß Gott unumschränkt ist, und daß ihre
Gedanken und Zuneigungen sich Seinem unumschränkten
Willen anpassen mußten. Gott handelt, wie es Ihm wohlgefällt,
und wer darf zu Ihm sagen: „Was tust du?"
Nichts fällt dem Menschen schwerer, als diese Un-
umschränktheit Gottes anzuerkennen und sich unter sie zu
beugen. Denn nichts schließt sein Wollen und Laufen, sein
Tun und Mitwirken so völlig aus wie sie. Unmutig fragt
er: Wie kann Gott so manchen ehrbaren und aufrichtig
strebenden Menschen verloren gehen lassen, und andere,
die in Sünde und Schande gelebt haben, erretten? Ist
das gerecht? Aber Gott handelt nicht nach den Gedanken
der Menschen, fragt nicht nach ihren anscheinend richtigen
und doch so törichten und verkehrten Meinungen, sondern
begnadigt, wen Er will. Er läßt sich dabei nicht durch
die vermeintlich guten Eigenschaften der Esau-Leute leiten,
die übrigens keine Gnade wollen, sondern handelt
nach Seiner göttlichen Unumschränktheit, nach Gründen,
die in Ihm selbst und in Seinen ewigen Ratschlüssen liegen.
Der Glaube erkennt diese Unumschränktheit rückhaltlos
an, rechtfertigt Gott und bewundert Sein Tun in
Gnade und Gericht. Anbetend stimmt er in die Worte des
Apostels ein: „O Tiefe des Reichtums, sowohl der Weisheit
als auch der Erkenntnis Gottes! Wie unauöforschlich
sind Seine Gerichte und unausspürbar Seine Wege!"
(Röm. rr, 33.)
84
Kragen aus dem Leserkreise
Wie sind die Worte des Herrn in Joh. 8, 56 zu verstehen:
„Abraham, euer Vater, frohlockte, daß er meinen Tag sehen sollte,
und er sah ihn und freute sich"? Abraham bat doch nie von
dem Herrn Jesus geredet?
Abraham war ein Mann des Glaubens, er wird sogar der
Vater der Gläubigen genannt. Gott hatte ihm Verbeißungm gegeben,
und Abraham wartete im Glauben auf die Erfüllung derselben.
Er hatte kein Kind. Endlich empfing er Isaak, den Sohn
der Verheißung (auf welchem zugleich alle Verheißungen ruhten),
das Vorbild von Christo, in welchem, als gestorben und auf-
erweckt, alle Nationen der Erde gesegnet werden sollen. (1. Mose
22, 18; Gal. 3, 8. 16.) Abraham erfaßte den Gedanken Gottes
im Glauben, geradeso wie er, weit über die wörtliche Bedeutung
der Verheißung hinausgehend, „die Stadt erwartete, welche Grundlagen
bat, deren Baumeister und Schöpfer Gott ist". (Hebr.
11, 10.) Er selbst war sein Leben lang ein Fremdling und Beisasse
in Kanaan, aber er wußte, belehrt durch den Geist, nicht
nur daß sein Volk einmal das Land der Verheißung besitzen, sondern
auch daß Christus, der wahre Isaak, als König der Könige
herrschen, und daß er (Abraham) an der Herrlichkeit dieses Tages
des Herrn, des Tages des Messias, als Auferstandener teilhaben
würde. (Vergl. Röm. 4, 13.) Deshalb wollte er auch ein
Erbbegräbnis in diesem Lande haben für sich und seine
Familie. Indem nun Abraham diese Dinge, die er glaubte und
erhoffte, durch Glauben verwirklichte, „frohlockte" er.
Doch mehr noch: Gott schenkte ihm auch ein deutliches Bild
von dieser kommenden Herrlichkeit in dem König Melchiscdek (bekanntes
Vorbild von Christo als König des Friedens und der
Gerechtigkeit), der dem von der Niederwerfung der feindlichen Könige
zurückkehrcnden Patriarchen mit Brot und Wein entqegen-
kam und ihn im Namen Gottes, des Höchste n (Name Gottes
im Tausendjäbrigen Reicb), segnete. (1. Mose 14.) So wird Christus,
der wahre Mclchisedek am Ende der Tage, nachdem alle die
wider Israel versammelten Könige endgültig zu Boden geworfen
sind, dem Überrest mit Erquickungen entgegenkommcn und
ibn segnen im Namen des höchsten Gottes.
Ohne eine Behauptung aufstellcn zu wollen, liegt die Annahme
doch nahe, daß der Herr an diese Begegnung im Königstal
(V. 17) gedacht hat, als Er den Juden sagte: „Abraham
sah meinen Tag und freute sich".
Ausharren *)
*) Auszug aus einem vor mehr als vierzig Jahren unter
gleicher Überschrift erschienenen Aufsatz, dessen Wiederabdruck von
Lesern des „Botschafter" als besonders zeitgemäß gewünscht worden
ist.
„Laßt auch uns ... m i t Aus-
harren laufen den vor uns liegenden
Wettlauf."
(Hebr. 12, l.)
Was ist Ausharrcn? Kurz gesagt, das Verharren auf
dem Pfade der Abhängigkeit von Gott, trotz der Versuchungen
des Feindes, unö von demselben abzulenken. Was
könnte in den Augen Gottes auch kostbarer sein, als ein
Wandeln in Abhängigkeit von Ihm und in Unterwürfigkeit
unter Sein Wortl Ein solcher Wandel ist der Ausfluß
eines demütigen, gottergebenen Herzens, ein Wandel
zwar in beständiger Selbstverleugnung und Aufopferung,
aber auch in der Kraft und Freude des Heiligen Geistes.
Der Hcrzenözustand eines also wandelnden Gläubigen
kennzeichnet sich durch ein ungestörtes, inneres Gleichgewicht.
Mag sein Weg durch angenehme oder unangenehme
Umstände, durch Freud oder Leid führen, immer sehen
wir ihn in jener Ruhe des Geistes vorangehen, welche das
beständige Harren auf die Leitung Gottes verleiht. Er läßt
sich weder durch die günstigen Umstände zur Uberhebung
verleiten, noch durch die ungünstigen entmutigen.
Nun, ein solches Verharren auf dem Pfade der Abhängigkeit
erwartet Gott von allen Seinen Kindern. Un
8b
sere Sprache sollte derjenigen des Herrn Jesus gleichen,
welcher einst sagte: „Ich bin vom Himmel herniedergekommen,
nicht auf daß ich meinen Willen tue, sondern den
Willen Dessen, der mich gesandt hat". (Joh. b, 38.) Wir
sind berufen, allezeit zu prüfen, „was der gute
und wohlgefällige und vollkommene Wille Gottes ist".
(Röm. 12, 2.) Aber ach! wie gern folgen wir unserem
eigenen Willen! Wie oft versäumen wir es, besonders in
kleinen Dingen, nach dem wohlgefälligen Willen Gottes
zu fragen! Vielleicht tun wir es bei wichtigen Unternehmungen,
bei Heiraten, bei der Gründung eines Geschäfts,
bei dem Eintritt in eine neue Stellung und dergleichen,
aber bei unwichtigeren Dingen folgen wir so gern den Entscheidungen
unseres Verstandes. Und selbst bei den erstgenannten
wichtigeren Unternehmungen denken manche
nicht einmal daran, den Willen des Herrn zu erforschen;
oder wenn sie es tun, geschieht es doch nur in einer dem
Ernst der Sache wenig entsprechenden Weise. Was sie leitet,
sind ihre eigenen Wünsche und Interessen; sie handeln nach
den Grundsätzen der Kinder dieser Welt, fragen nach dem,
was ihrem äußeren Fortkommen förderlich erscheint, was
ihre irdische Stellung zu verbessern vermag usw. Aber ein
solches Verhalten ist kein Wandel in der Abhängigkeit
vom Herrn. Es fehlt dann an dem aufrichtigen Verlangen,
nichts anderes als den Willen Gottes tun zu wollen; man
versteht nicht den Zweck, für welchen wir in dieser Welt
sind. Die gleiche Gewissenhaftigkeit in kleinen wie in großen
Dingen ist ein untrüglicher Prüfstein wahrer Treue;
denn „wer im Geringsten treu ist, ist auch in vielem treu,
und wer im Geringsten ungerecht ist, ist auch in vielem
ungerecht". (Luk. 16, io.)
87
Daß in dieser Beziehung ein großer Mangel unter
den Gläubigen unserer Zeit besteht, bedarf keiner Frage.
Viele haben kaum eine Ahnung davon, was wahre Abhängigkeit
ist. Man hütet sich so viel wie möglich vor offenbaren
Sünden, aber es fehlt jenes zarte Gewissen, das auf
alle Regungen des Fleisches acht hat und sie verurteilt.
Einen äußerlich ehrbaren Wandel können auch Unbekehrte
führen, und solche beschämen in der Tat oft manchen
Christen. Aber auf dem Pfade steter Abhängigkeit von
Gott zu wandeln, das vermag nur ein Mensch, der sein
eigenes Nichts erkannt und erfahren hat, daß alle seine
Quellen in Gott sind; und auch er bedarf dazu des Auö-
harrens, wie geschrieben steht: „Denn ihr bedürfet des
Ausharrens, auf daß ihr, nachdem ihr den Willen Gottes
getan habt, die Verheißung davontraget". (Hebr. 70, 36.)
Deshalb führt Gott in Seiner Weisheit und Liebe uns
oft Wege, die geeignet sind, unseren eigenen Willen zu
brechen und so das Auöharren zu bewirken.
Das erklärt wohl viele der dem Fleische so bitteren
Wege des Herrn mit den Seinigen, vor allem auch in
unseren Tagen, überall unter den Gläubigen begegnen wir
Schwierigkeiten, Prüfungen, Krankheiten und Leiden. Viele
befinden sich in andauernd drückenden Geschäftsverhältnissen.
Bei aller Anstrengung geht eö eher rückwärts als
vorwärts. Die Ungunst der Verhältnisse spottet aller
Weisheit und Geschicklichkeit. Während anderen alles zu
gelingen scheint, schlagen ihre Unternehmungen ausnahmslos
fehl. Wie gibt es ferner so viele traurige Familienverhältnisse!
Wieviel Schmerz und Kummer bei Eltern, die
ihre Kinder in die Welt zurückkehren sehen müssen, obwohl
sie schon in früher Jugend tiefe Eindrücke empfan-
88
gcn zu haben schienen und auch jahrelang mit den Eltern
treu vorangingen! Die liebevollen und ernsten Ermahnungen
fruchten nichts mehr, die heißen Gebete scheinen unbeantwortet
zu bleiben; die Kinder treiben es je länger je
schlimmer. Wie mancher Gläubige empfindet in demütigender
Weise den beharrlichen Widerstand seiner unbekehrten
Frau! Wie manche gläubige Frau wiederum seufzt
jahrelang unter der harten Behandlung ihres ungläubigen
Mannes, ohne auch nur die geringste Veränderung seines
Benehmens wahrzunehmen! In manchen Familien ist der
einzige Ernährer seit Wochen oder gar Monaten ans Krankenlager
gefesselt! Andere müssen einen ihrer geliebten
Angehörigen hoffnungslos dahinsiechen sehen, während er
doch nach menschlichem Ermessen noch so nötig in ihrer
Mitte wäre! Noch andere, die alt und lebensmüde ihre
gebrechliche Hütte gern ablegen möchten, schleppen ihr Leben
unter großen Schmerzen und Entbehrungen dahin,
zu innigem Leidwesen ihrer Umgebung.
Warum ist das alles und noch vieles andere so? Müssen
wir nicht in allem die wohlberechneten Wege des Herrn
mit den Seinigen erkennen? Wie leicht könnte Er die geschäftlichen
Umstände günstiger gestalten, wie leicht die
störrigen Kinder zur Umkehr bewegen, die Frau oder den
Mann bekehren, den Ernährer der Familie wiedcrherstel-
len oder den Altersschwachen zur ersehnten Ruhe einführen!
Es fehlt Ihm dazu weder an Macht, noch an Liebe
und Einsicht. Aber nach Seiner göttlichen Weisheit hat
Er alle jene ernsten Wege und Umstände genau so abgemessen
und eingerichtet, wie sie zur Erreichung Seiner
Absichten nötig sind. Er, der die Haare unseres Hauptes
alle gezählt hat, und ohne dessen Willen kein Sperling vom
8Y
Dache fällt, hat acht auf jeden Schritt Seiner Kinder. Er
kennt ihre Kümmernisse und ihre Schmerzen, kein Seufzer
entgeht Ihm. Und Er will, daß alles genau so sei,
wie es ist — nicht um sie zu betrüben, sondern weil es der
einzige Weg ist, um Auöharren in ihnen zu bewirken.
Und welch eine unschätzbare Gnade ist es, mag
es auch unseren armen, schwachen Herzen oft wenig einleuchten,
daß Gott nicht abläßt, nach Seinen Gedanken
und nicht nach unseren Meinungen mit uns zu handeln!
Es fällt uns freilich oft schwer, mit dem Apostel zu
sagen: „Wir rühmen uns auch der Trübsale, da wir
wissen, daß die Trübsal Ausharren bewirkt". (Röm. 5,3.)
Die unaufhörlichen Klagen bei vielen Gläubigen bezeugen
es nur zu deutlich, daß der Zweck der Wege Gottes noch
nicht bei ihnen erreicht, der eigene Wille noch nicht gebrochen
und das Ausharren noch nicht bewirkt ist. Denn wo
letzteres der Fall ist, wird man das Leid ohne Murren still
und ergeben vor Gott tragen. Man schüttet sein
Herz vor Ihm aus, fühlt sich erleichtert durch den Genuß
Seiner Nähe und genießt Seine Erbarmungen und Tröstungen.
Das ist die erste Frucht des Ausharrens. Das
Herz ist alsdann in der Gegenwart Gottes und erfährt
den Frieden und die Ruhe des Heiligtums; es genießt den
Trost eines Vaters, der uns unaussprechlich liebt, der mit
uns fühlt und unsere Tränen trocknet. Diesen Platz im
Heiligtum sollten wir nie aufgeben, auch nicht unter den
schwersten Prüfungen. Asaph wurde nicht eher von seinem
Unmut befreit, als bis er „in die Heiligtümer Gottes
hineinging". (Ps. 73.) Dort sah er alles in göttlichem
Licht, nach seiner wahren Gestalt, und seine Sprache ist
90
von da an völlig verändert. Anstatt zu murren über die
Wohlfahrt der Gesetzlosen, verurteilt er seine eigene Torheit
und findet sein Alles in dem Herrn.
Auch David kannte dieses Heiligtum und fand dort
seine Kraft, als er sich in einer Stunde schwerster Prüfung
befand, und sein eigenes Volk im Begriff stand, ihn
zu steinigen. Wir lesen von ihm auö jener Zeit: „Aber-
David stärkte sich in Jehova, seinem Gott", (t. Sam.
30, 6.) Von außen bedrängt und von innen mit Furcht
erfüllt, nahm er seine Zuflucht zu Dem, „der die Niedrigen
tröstet", und fand bei Ihm Trost, Kraft und Leitung.
(Vergl. 2. Kor. 7, 5. 6.) So wird auch der treue Überrest
Israels in den letzten Tagen in seinen schrecklichen Leiden
dieses Heiligtum als seinen einzigen Zufluchtsort kennen.
Wie rührend sind die Worte, die ihm im 42. Psalm in
den Mund gelegt werden: „Meine Tränen sind mir zur
Speise geworden Tag und Nacht, da man den ganzen Tag
zu mir sagt: Wo ist dein Gott?...Was beugst du dich
nieder, meine Seele, und bist unruhig in mir? Harre
auf Gott! denn ich werde Ihn noch preisen, der daö
Heil meines Angesichts und mein Gott ist." Bei allem
Leid findet man hier keine Klagen, kein Hilfesuchen bei
Menschen, wohl aber ein beständiges Harren auf Gott.
Welch ein harter Schlag war es ferner für Aaron,
als ihm durch ein ernstes Gericht plötzlich seine beiden
Söhne entrissen wurden! Trotzdem durfte er das Heiligtum
nicht verlassen, sein Haupt nicht entblößen und seine
Kleider nicht zerreißen; „denn", wurde ihm und seinen
Söhnen gesagt, „das Salböl Jehovas ist auf euch". Und
wie schön drückt der Heilige Geist die stille Ergebenheit
Aarons aus durch die bedeutungsvollen Worte: „Und
— di —
Aaron schwieg". (3. Mose 70, 7—7.) Nichts hätte
seiner Stellung unter diesen Umständen angemessener sein
können.
Mit welch einer Hingebung nahm auch der Apostel
Paulus den ihm gegebenen „Dorn für das Fleisch", die
Faustschläge „des Engels des Satans", hin! Er sagt:
„Deshalb habe ich Wohlgefallen an Schwachheiten,
an Schmähungen, an Nöten, an Verfolgungen, an Ängsten
für Christum". (2. Kor. 72, 7—70.) Und wie erhaben
steht schließlich das Vorbild unseres teuren Herrn
und Heilandes vor unseren Augen! Er war „ein Mann
der Schmerzen und mit Leiden vertraut". Und wie schildert
der Heilige Geist durch den Mund des Propheten
Sein Verhalten in allen diesen Leiden? „Er wurde mißhandelt,
aber Er beugte sich und tat Seinen Mund
nicht auf, gleich dem Lamme, welches zur Schlachtung
geführt wird, und wie ein Schaf, das stumm ist vor
seinen Scherern; und Er tat Seinen Mund nicht
a u f". (Jes. 53.) Auch Petrus ermuntert uns zum Ausharren
in der Ertragung des Bösen, indem er uns auf das
Beispiel Christi hinweist, „der, gescholten, nicht wieder-
schalt, leidend, nicht drohte, sondern sich De in übergab,
der recht richtet". (7. Petr. 2, 20—23.)
Viele Gläubige ermangeln auch deshalb der Kraft
zum Ausharren, weil sie ihre himmlische Berufung und
die damit verbundene lebendige Hoffnung außer acht lassen.
Die Liebe Gottes hat uns mit Christo in einer Weise
einsgemacht, daß wir Mitgenossen Seiner Leiden und Seiner
Herrlichkeit sein sollen. Das Wort redet zu uns als
zu „heiligen Brüdern, Genossen der himmlischen Berufung".
(Hebr. 3, 7.) Infolge dessen ist der Pfad, den
92
wir zu gehen haben, uns genau vorgezeichnet: es ist der
Pfad Christi; und dieser Pfad ist bis zur Herrlichkeit hin
ein Pfad des Auöharrens. Hienicden hat Er „beharrlich
auf Jehova geharrt" (Ps. 40, 4), und auch jetzt noch
wartet Er mit Ausharren auf den Augenblick, da Er Seine
geliebte Braut zu sich nehmen kann. So finden wir denn
in dem Auöharren Christi den Charakter und die
Richtschnur unseres Auöharrens, und Er will in Seiner
herablassenden Gnade unser Ausharren als ein Ausharren
mit Ihm betrachten, wie Er zu Seinen Jüngern sagt:
„Ihr aber seid es, die mit mir ausgeharrt haben in
meinen Versuchungen". (Luk. 22, 28.) Es mag sein, daß
das Ausharren bei uns durch ernste Züchtigungen bewirkt
werden muß; aber sobald es in uns bewirkt ist, treten
wir tatsächlich in. die Fußstapfen Christi und sind Seine
Mitgenossen. Wir genießen alsdann Seine Gemeinschaft
und Seine Tröstungen auf dem Wege inmitten der Leiden;
zugleich richtet Er unsere Blicke auf den herrlichen
Augenblick Seiner nahen Ankunft, auf welchen Er selbst
wartet.
Diese Gemeinschaft mit den Leiden und der Herrlichkeit
Christi verleiht unserem Ausharren seinen wahren Charakter
und seine wahre Kraft; sie gibt ihm das göttliche
Gepräge der Treue und der Absonderung von der Welt.
Von dem Augenblick an, da wir beginnen, das Auöharren
mit Christo als ein Vorrecht zu betrachten, erscheinen
uns auch die Leiden und Prüfungen in einem ganz anderen
Lichte: wir rühmen uns dann derselben. Losgelöst
von den Dingen dieser Welt, hat das Herz Christum
und Seine Verherrlichung zum Gegenstand und wartet
auf Ihn.
yz
Dieser Zustand kennzeichnete die Gläubigen von Philadelphia.
Der Herr sagt zu ihnen: „Weil du das Wort
meines AuSharrens bewahrt hast, werde auch ich
dich bewahren vor der Stunde der Versuchung... Ich
komme bald; halte fest was du hast, auf daß niemand
deine Krone nehme!" (Offbg. 3, 1.0. 11.) Und an die
Thessalonicher konnte der Apostel schreiben: „Unablässig
eingedenk eures Werkes des Glaubens und der Bemühung
der Liebe und des Ausharrenö der Hoffnung auf unseren
Herrn Jesus Christus". (1. Thess. 1, 3.) Ausgestoßen
von der Welt, legten die jungen Gläubigen in Thessa-
lonich durch ihr ganzes Verhalten ein entschiedenes Zeugnis
ab und ertrugen die Verfolgungen in der Kraft und
Freude des Heiligen Geistes und in der beständigen Erwartung
des Herrn Jesus vom Himmel. Das war überaus
köstlich für das Herz des Herrn. Sollte es heute weniger
köstlich für Ihn sein, nachdem die bekennende Kirche
seit Jahrhunderten ihren himmlischen Charakter eingebüßt
und die Erwartung des Herrn aufgegeben hat?
Ausharren kennzeichnete auch das Verhalten und den
Wandel des Apostels Paulus: „Du aber hast genau erkannt
meine Lehre, mein Betragen, .... mein AuS-
harren, meine Verfolgungen, meine Leiden". (2. Tim.
3, 10; vergl. auch 2. Kor. 6, 4; 12, 12.) Ebenso den
Apostel Johannes: „Ich, Johannes, euer Bruder und Mit-
gcnosse in der Drangsal und dem Königtum und dem
Ausharren in Jesu". (Offbg. 1, y.)
In Verbindung mit dem Gesagten möchte ich noch
auf eine Gefahr aufmerksam machen, die uns allen sehr
nahe liegt. Während wir vielleicht bereit sind, in großen
94
Dingen auszuharren, neigen wir gern dahin, „den Tag
kleiner Dinge zu verachten". (Sach. 4, 40.) Mancher
möchte in seinem Eifer für die Sache des Herrn geneigt
sein, in die Fußstapfen eines Märtyrers zu treten, während
ihm in verhältnismäßig unbedeutenden Prüfungen
das Ausharren schwer fällt. Aber wir können versichert
sein, daß der Gläubige, der auf seinem langwierigen Krankenlager
auöharrt und seine Schmerzen mit Geduld erträgt,
oder der sich die Lieblosigkeiten seiner Umgebung
Tag für Tag still und freundlich gefallen läßt, oder der
den ihm von Gott angewiesenen Beruf trotz der damit
verbundenen Mühsale und Schwierigkeiten in Treue und
Liebe gegen Christum ausübt, auf die volle Anerkennung
des Herrn rechnen darf.
Treues Ausharren in kleinen Dingen ist, wie schon
gesagt, immer das Kennzeichen wahrer Treue, und wir
dürfen es ebenfalls als ein Ausharren mitdemHerrn
und in Seinen Versuchungen bezeichnen; denn Er
ist durch alle diese Versuchungen hindurchgegangen. „Er
ist in allem versucht worden in gleicher Weise wie wir,
ausgenommen die Sünde." (Hebr. 4, 45.) Nicht daß Er
persönlich krank gewesen wäre, aber Er nahm durch Sein
vollkommenes Mitgefühl unsere Schwachheiten auf sich
und trug unsere Krankheiten. (Vergl. Matth. 8, 47.)
Außerdem kennt Er das menschliche Leben mit seinen mannigfaltigen
Versuchungen aus eigenster Erfahrung. Nach
den wenigen Andeutungen, welche die Schrift uns darüber
gibt, hat Er den weitaus größten Teil Seines Lebens
in den bescheidensten und einfachsten Verhältnissen zugebracht.
„Denn ihr kennet", sagt der Apostel, „die Gnade
unseres Herrn Jesus Christus, daß Er, da Er reich war,
— 95 —
UM euretwillen arm wurde, auf daß ihr durch Seine Armut
reich würdet." (2. Kor. 8, 9.) Er war unter Seinen
Zeitgenossen bekannt als der „Zimmermann". (Mark.
6, 3.) Das läßt darauf schließen, daß Er alle die mit
einem solchen Berufs- und Familienleben verbundenen
Mühen und Beschwerden kennen gelernt hat. Dieser Teil
Seines Lebens war ein Tag kleiner Dinge im Vergleich
mit Seinem späteren öffentlichen Auftreten. Aber das,
was diesen Abschnitt Seines Lebens so wichtig macht, ist,
daß Er in demselben genau so wie später den Willen Gottes
getan und Seinen Vater verherrlicht hat.
Das allein macht auch unser Leben, mag es nun kurz
oder lang währen, bedeutungsvoll für die Ewigkeit. Die
wichtige Frage wird dereinst nicht sein, durch welche
Umstände wir gegangen, sondern w i e wir hindurchgegangen
sind. Es ist von verhältnismäßig geringer Bedeutung,
ob man hienieden Herr oder Knecht, Fürst oder Untertan,
ein Apostel oder ein gewöhnlicher Handwerker gewesen ist;
vielmehr gilt die Frage, wie man die angewiesene Stellung
ausgefüllt hat. Ohne Zweifel bedingt eine höhere Stellung
eine größere Verantwortlichkeit. Aber ein einfacher, schlichter
Knecht, der mit ausharrender Treue seinem leiblichen
Herrn dient, wird mehr Lohn empfangen, als ein Gläubiger,
der in seiner hohen Stellung weniger treu ist; denn
„er dient dem Herrn Christus". (Kol. 3, 24.) Es ist
daher eine große Torheit, wenn Christen eifrig nach einer
Veränderung oder Verbesserung ihrer Verhältnisse trachten,
während der Herr will, daß sie gerade in den Verhältnissen,
in die Er sie gestellt hat, Ihm dienen sollen.
Die Umstände waren für Paulus in seiner Gefangenschaft
zu Rom wahrlich bitter genug; aber er war in ihnen
Yb
glücklich nnd zufrieden, weil sie zur Förderung des Evangeliums
und zur Ausbreitling der Kenntnis des Namens
Christi dienten. Er hatte betreffs seines Lebens hienieden
nur den einen Wunsch, daß Christus hocherhoben werde an
seinem Leibe, sei es durch Leben oder durch Tod. (Phil,
k, k2—20.) Anstatt selbst seinen Weg zu bestimmen, war
er bereit, den Weg zu gehen, welchen sein Herr für ihn
bestimmt hatte. Das heißt: „mit Ausharren laufen
den vor uns liegenden Wettlauf". Der von Gott
abhängige Glaube wählt nie, sondern nimmt alles aus der
Hand Gottes. Er weiß, „daß denen, die Gott lieben, alle
Dinge zum Guten Mitwirken" müssen, und darum harrt
er in kindlichem Vertrauen auf dem Pfade aus, den Gott
ihn führt.
„Sie mit Tränen säen,
werden mit Dübel ernten"
Ohne Säen gibt es kein Ernten; das erste muß dem
zweiten unbedingt vorangehen. Aber der Mühe des Säens
wird auch stets die Freude des Erntens folgen, denn wir
haben die Verheißung, daß „Saat und Ernte nicht aufhören
sollen". Indes ist der Säende nicht frei von Sorgen.
Es kann sein, daß der Regen zu lang ausbleibt, oder
daß eö zu viel regnet; der Frost und andere schädliche Einflüsse
können daö junge Korn vernichten, und wenn schließlich
die Ernte da ist, kann der Ertrag noch durch ungünstige
Witterung sehr beeinträchtigt werden. Aber mag das
Ergebnis auch verschieden sein, als Regel wird der Landmann,
der seinen Acker gewissenhaft bestellt, auch seine
Ernte halten.
97
So ist es auch mit jedem, der den kostbaren Samen
des Wortes Gottes ausstreut. „Er geht hin unter Weinen
und trägt den Samen zur Aussaat; er kommt heim mit
Jubel und trägt seine Garben." (Ps. 726, 6.)
D e r Säemann, in des Wortes vollster Bedeutung,
ist der Herr selbst. „Siehe, der Säemann ging aus zu
säen." (Matth. 73, 3.) Er kam in diese Welt mit dem
kostbaren Samen des Evangeliums, und Er weinte, indem
Er ihn säte. Wahrhaftig Mensch geworden, nahm Er in
Gnaden teil an den Schwachheiten der menschlichen Natur.
In der Erfüllung Seiner göttlichen Sendung wurde
Er müde und hungrig und bedurfte deö Schlafes und
der leiblichen Erquickung. Äußerlich ermattet und innerlich
beschwert, mußte Er Seine Tätigkeit zuweilen unterbrechen.
Dabei legte Satan Ihm Hindernisse in den Weg,
indem er „Unkraut mitten unter den Weizen säte". Der
Unglaube Seines Volkes und die Enttäuschungen, die es
Ihm bereitete, entlockten Seinen Augen Tränen. Der Unglaube
der Juden ließ Ihn „tief aufseufzen", und Er war
„betrübt über die Verstockung ihres Herzens". Er weinte
über das schuldige Jerusalem, das sich weigerte, Buße
zu tun, und klagte, daß Er „umsonst sich abgcmüht, vergeblich
und für nichts Seine Kraft verzehrt habe". (Jes.
44, 4.) Ja, mannigfaltig und bitter waren Seine Erfahrungen!
Arn Ende Seines Dienstes suchten die, zu deren
Rettung Er gekommen war. Ihn zu ermorden, und denen
Er nur Liebe erwiesen, deren Freunde und Nachbarn Er gesund
gemacht hatte, erklärten Ihn für unsinnig und besessen.
Seine eigenen Jünger verließen Ihn, und das Volk,
das so oft Seinen Reden gelauscht hatte, schrie: „Kreuzige,
kreuzige Ihn!" So ging Er hin, aber — Er kam zurück
— S8 —
mit Freuden. Schon am Tage des Pfingstfestes durfte
Er reiche „Frucht sehen von der Mühsal Seiner Seele",
und wie viele Garben hat Er seitdem gesammelt! Aber
welch eine Schar von glücklichen Erlösten wird dereinst
erst Seinen Thron umgeben!
Möchten darum alle, die Ihm in Seinem Dienste
folgen und auch weinend an der Arbeit stehen, immer
wieder Mut fassen und Hoffnung schöpfen! Ich denke jetzt
nicht nur an solche, denen Er einen besonderen Auftrag
gegeben hat. Zeder Gläubige ist berufen, seinen Gelegenheiten
entsprechend zu säen. Wer irgend zu seinem Nächsten
sagt: „Erkenne den Herrn!" ist ein Säemann; so auch
jeder Sonntagschulhalter, jeder Traktatverteiler, jede Mutter
im Kreise ihrer Kleinen.
Der Same, den sie alle tragen, kommt aus den Kornspeichern
des Himmels. Gott selbst reicht ihn dar. Der
Preis, den Er dafür bezahlt hat, ist das Blut Jesu Christi,
Seines Sohnes. Der Zweck des Säens ist das Heil unsterblicher
Seelen. „Der Same ist das Wort Gottes",
die unverfälschte, göttliche Wahrheit. Wer könnte den Wert
eines solchen Samens ermessen?
Doch obschon der Same so kostbar ist, gehen die
Säenden doch hin „unter Weinen", und zwar in einem
noch anderen Sinne als der Herr. Sie trauern über ihre
Unzulänglichkeit und Schwachheit. Wer find sie, um mit
solch hohem Gut betraut zu werden, um solch kostbaren
Samen auszustreuen? Einst fern von Gott, Fremdlinge
und Feinde, sind sie jetzt allerdings glückliche Kinder Seiner
Liebe geworden, denen alle Gnaden zu Gebote stehen,
aber in sich selbst sind sie genau so schwach und unvollkommen
wie vorher. Wie wenig tief empfinden sie oft
yy
auch die herrlichen Wahrheiten, die sie auösprechen, und
wie schwach stellen sie sie in ihrem Leben dar! Wie unvollkommen
ist ihr Dienst! Wie mischen sich in ihre Beweggründe
oft gar Selbstsucht und Selbstgefälligkeit! — Da
mögen wir wohl fragen, „wer ist dazu tüchtig?"
Neben allem diesem begegnen wir, gleich dem Herrn,
vielen Enttäuschungen. Heute wie damals fällt etliches
von dem Samen an den Weg. Da liegt's auf dem hartgetretenen
Boden, bis die Vögel des Himmels, diese scharfen
Beobachter, kommen und es auffressen. Vieles von
dem, was wir sagen, scheint gar keinen Eindruck zu machen.
Wie manche Ansprache wird gehalten, wie manche
Lehrstunde in der Sonntagschule oder Kinderstube erteilt,
ohne anscheinend den geringsten Erfolg zu haben! Wir
weinen darüber. — Wir weinen auch über den Samen,
der auf steinichten Boden fällt, wo die heiße Sonne der
Versuchung rasch die zarten Pflänzchen, die keine tiefe
Wurzel haben, versengt. Ach, sie schienen das Wort mit
solchem Ernst und mit solcher Freude ausgenommen zu
haben, aber kaum traten erprobende Umstände ein, kaum
nahte eine Versuchung, da sanken sie zurück in ihre frühere
Gleichgültigkeit und Sünde. — Wir trauern auch
über viele, bei denen der Same „unter die Dornen fällt".
Er geht zwar auf, aber die Dornen ersticken ihn. Freuden
oder Sorgen dieses Lebens, Geschäfte, Geselligkeit und
andere ähnliche Dinge verwischen die empfangenen Eindrücke,
überwuchern und ersticken den guten Samen. Wie
betrübend groß ist die Zahl derer, die eine Zeitlang ernste
Christen zu sein scheinen, nach und nach aber wieder in
Weltlichkeit und Vergnügen aufgehen und keine Frucht
bringen!
— koo —
Alle solche Erfahrungen sind dazu angetan, das Herz
niederzudrücken. Der Säemann weint. Doch wie gesegnet!
Ein solches Weinen führt zu Gebet, und das Gebet bewirkt
frische Schauer der göttlichen Gnade. Mit diesen
Schauern aber lebt die Hoffnung auf, und man erinnert
sich des Verheißungswortes: „Die mit Tränen säen, werden
mit Jubel ernten".
Die Verheißung ist sicher. Wenn sie verzieht, so harre
ihrer. (Vergl. Hab. 2, Z.) Monate und Jahre mögen
zwischen Säen und Ernten hingehen, aber „der Ackerö-
mann hat Geduld", und die Zeit wird kommen, wo er
die köstliche Frucht der Erde empfangen wird. „Am Morgen
säe deinen Samen, und des Abends ziehe deine Hand
nicht ab." (Pred. kk, 6.) Gott hat verheißen: „Mein
Wort wird nicht leer zu mir zurückkehren, sondern es wird
ausrichten, was mir gefällt, und durchführen, wozu ich
es gesandt habe". (Jes. 55, kk.) Derselbe Gott ruft uns
deshalb ermunternd zu: „Wirf dein Brot hin auf die
Fläche der Wasser, denn nach vielen Tagen wirst dir es
finden". (Pred. kl, k.) Wir haben nicht die Verheißung,
es schon heute oder morgen zu finden, aber einmal werden
wir es gewiß wiederfinden, wenn auch erst „nach
vielen Tagen". Mancher Missionar hat sich jahrzehntelang
eifrig bemüht, zu säen, ohne irgend nennenswerte Frucht
zu sehen; schließlich aber verwandelte sich die Wildnis in
ein Fruchtgefilde. Mancher Prediger hat erst Jahre später
erfahren, daß seine Predigt zum Segen gewesen war.
Ein Bote des Evangeliums wanderte mehrere Jahre
lang wöchentlich einmal nach einem fast drei Stunden von
seinem Wohnort entfernten Städtchen, um dort an einem
bestimmten Abend die frohe Botschaft von Christo zu ver
— ror —
kündigen. Eisenbahn- oder passende Postverbindungen gab
cö damals nicht. So mußte er regelmäßig den weiten
Weg hin und zurück zu Fuß machen. Stets fanden sich
fast die gleichen Zuhörer ein, einmal mehr, einmal weniger.
Aber alle schienen im geistlichen Tode erstarrt zu
sein. Sie kamen, hörten aufmerksam zu und gingen wieder.
Dabei blieb cö. Unserem Freunde wollte zuweilen der
Mut sinken und der Fuß erlahmen. Aber wartend und
betend harrte er auö. Und siche da, eines Tages gerät ein
junger Mann in große innere Unruhe, andere folgen, und
nach kurzer Zeit umringt ein ganzes Häuflein glücklicher,
erretteter Seelen den dankbaren Evangelisten. Alle bewährten
sich, und noch heute besteht in dem inzwischen größer
gewordenen Städtchen ein stets wachsendes, lebendiges
Zeugnis für den Herrn.
Einmal kommt der Säende „heim und trägt seine
Garben". Wir werden alle an der Freude des allgemeinen,
herrlichen Erntetagcs teilnchmen, doch der einzelne
wird auch seine eigenen, besonderen Garben bringen. Wer
hier „unter Weinen hinging", wird dort „heimkommen
mit Jubel". Wie werden wir uns freuen, dort den Erfolg
von irgend einer Arbeit hienieden zu sehen, aber noch
viel größer wird die Freude darüber für den Herrn der
Ernte sein.
Die Freude des Heimkommenden ist auch deshalb
so groß, weil er teilhat an der Freude der Garben, der unsterblichen
Seelen, die er für Jesum gewonnen hat. Dankbare,
jubelnde Freude wird der eigenen hohen Glückseligkeit
der Diener Gottes hinzugefügt werden, wenn sie
die Freude derer schauen, denen sie den Weg zum Leben
zeigen durften.
102
Und was allem die Krone aufsetzt: wir werden die
Freude Dessen teilen, der die Grundlage zu unserem ewigen
Heil gelegt hat, der für Sünder starb. Wer könnte
Seine Freude beschreiben, wenn Er einmal die vollkommene
Zahl Seiner Erlösten um sich scharen, wenn „Er
die Versammlung sich selbst verherrlicht darstellen" wird?
Dock sind wir auch außer stände, diese Freude zu ermessen,
wir dürfen sie teilen; denn Er wird sagen:
„Wohl, du guter und treuer Knecht!.. gehe ein in die
Freude deines Herrn".
Ja, die mit Tränen säen, werden mit Jubel ernten.
Auch die Prüfungen und Leiden der Gläubigen, deren Bedeutung
wir hier nicht verstehen, sind wie Samenkörner.
Ein Samenkorn ist trocken und von unschönem Aussehen.
So ist auch jedes Leid nicht erfreulich, aber es birgt den
Keim zukünftiger Ernten, „die friedsame Frucht der Gerechtigkeit",
in sich. Wenn das Samenkorn gesät ist, bleibt
es eine Zeitlang verborgen, aber zur bestimmten Zeit keimt
es auf. Wir säen nicht das, was werden soll, sondern „ein
nacktes Korn". Was in Schwachheit und Unehre gesät
wird, wird in unverweslicher Schönheit, als Gerechtigkeit,
Friede und Freude, erstehen. „Licht ist gesät dem Gerechten."
(Ps. 47, 11.)
So laßt uns denn „Samen tragen zur Aussaat" in
dein Bewußtsein, daß, wenn wir auch eine Weile „unter
Weinen dahingchen", wir „heimkommen werden mit Jubel".
1Ü3
Weiter sehen wir, daß der Schriftgelehrte sich nicht
schämte, sich öffentlich für Jesum zu entscheiden. Nikodemus
kam bei der Nacht zum Herrn. Von der wunderbaren
Person Jesu angezogen, wünschte er Ihn näher
kennen zu lernen, aber er scheute die Öffentlichkeit. Der
Schriftgelehrte dagegen kam am Hellen Tage und bekannte
vor allem Volke, daß er Jesu nachfolgen wolle, wohin
irgend Er gehe. Weder Menschenfurcht noch falsche Scham
hielten ihn zurück.
Damit bestand er auch die zweite Probe. Wie viele
Menschen, obgleich überzeugt, schrecken heute vor einem
öffentlichen Bekennen des Herrn zurück! Sie halten sich
ängstlich im Hintergründe, da wo sie kühn hervortretcn sollten.
Es gibt Christen, die ihren Mangel an Entschiedenheit
damit zu entschuldigen suchen, daß sie sagen: „Ich rede nicht
gern öffentlich von solchen Dingen". Aber ist das recht?
Sind wir nicht berufen, ein fröhliches Bekenntnis von
dem abzulegen, was unsere Herzen glücklich macht? Wenn
ein Gläubiger sich wirklich schämt, von dem zu reden, was
Gott an ihm getan hat, wird dann nicht auch „der Sohn
des Menschen sich seiner schämen, wenn Er kommen wird
in der Herrlichkeit des Vaters mit den heiligen Engeln"?
Die Menschen sind freilich sehr verschieden. Der eine besitzt
viel natürliche Freimütigkeit, der andere ist zaghaft
und verlegen; es wird ihm schwer, das rechte Wort zu
finden. Aber die Gnade genügt auch für den Zaghaftesten,
wenn nur das Herz für Jesum schlägt.
Ein dritter Beweis von der Aufrichtigkeit des Schriftgelehrten
ist wohl der, daß er nicht aufschieben wollte.
— ri5 —
Er trat an den Herrn heran, als Er „aus dem Wege
dahinzog". Hätte er nicht besser getan, eine andere Gelegenheit
abzuwarten, oder dem Herrn dahin zu folgen,
wohin Er zu gehen beabsichtigte, um Ihm dort, unbehelligt
von anderen, seinen Wunsch vorzutragen? War
nicht der Augenblick unglücklich gewählt? Nein, das tiefe
Verlangen des Mannes duldete keinen Aufschub. Es war
ihm zu ernst mit seinem Wunsche, mit Christo verbunden
zu sein. Anderes mochte einen Aufschub ertragen, diese
Sache nicht.
Hier ist eine Klippe, an der schon viele gescheitert
sind. Sie wollen auch „nachfolgen", aber nicht „sogleich",
und indem sie den erwachenden Entschluß nicht unverzüglich
in die Tat umsetzen, sich nicht rückhaltlos Christo
übergeben, solang sic noch unter dem Eindruck des Wortes
und den Wirkungen des Geistes stehen, wird das Gehörte
vergessen, die ernsten Eindrücke schwinden, und es
bleibt bei den guten Vorsätzen. „Später einmal" wollen
auch sie folgen, aber aus diesem „Später einmal" wird
nur zu oft ein „Niemals"!
Wir sehen also, daß der Schriftgelehrte genügende
Beweise von seiner aufrichtigen Gesinnung gab. Soweit
sein Verständnis reichte, handelte er richtig und gut. Die
Worte des Herrn hatten sein Herz erreicht. Seine Werke
hatten ihn überzeugt, und mit der ganzen Wärme eines
aufrichtigen Gefühls kam er, um sich auf die Seite Jesu
zu stellen.
Aber nun der Empfang! Wir sind überrascht, auf
die eifrigen Worte des Mannes die Antwort des Herrn
zu hören: „Die Füchse haben Höhlen und die Vögel des
Himmels Nester, aber der Sohn des Menschen hat nicht,
— rrb —
wo Er Sein Haupt hinlege". Sie wirkt fast wie ein kalter
Wasserstrahl. Wir hätten wohl eine andere Antwort
erwartet und eher einen warmen, herzlichen Empfang am
Platze gefunden, als gerade diese Worte. Sie klingen wie
eine herbe Abweisung, ja, fast wie ein Tadel, und das
aus dem Munde Dessen, der zu anderen Zeiten die Menschen
so freundlich einladen konnte: „Komm und folge
mir nach!" oder: „Kommet her zu mir, alle ihr Mühseligen
und Beladenen!" oder: „Wer zu mir kommt, den
werde ich nicht hinausstoßen". Aber derselbe Mund hat
auch gesagt: „Wer irgend mir nachkommen will, verleugne
sich selbst und nehme sein Kreuz auf und folge mir
nach". (Mark. 8, 34.) Und in diesem Wort finden wir
wohl den Schlüssel zu der Antwort des Herrn an den
Schriftgelehrten.
Obgleich aufrichtig, war der Mann augenscheinlich
noch sehr unwissend. Er wünschte Christo nachzufolgen,
aber er dachte nicht daran, daß es dabei ein Kreuz zu
tragen gab. Er hatte versäumt, die Kosten zu überschlagen.
So konnte der Herr ihn aber nicht in Seinen Dienst treten
lassen. Darum Seine Antwort, die sich in die Frage umdeuten
läßt: „Denkst du auch wohl daran, daß du, mir
nachfolgend, viel, ja, alles aufgeben mußt, was das
Leben hienieden angenehm macht?" Es war keine leichte
Sache, in die Nachfolge eines Herrn zu treten, der mehr
von aller äußeren Behaglichkeit entblößt war, als die
Tiere des Feldes und die Vögel des Himmels. Der Diener
eines solchen Herrn mußte sich darauf gefaßt machen,
alle Entbehrungen und Widerwärtigkeiten mit Ihm zu
teilen. Freundlich und voll Gnade gegen alle, weigerte
der Herr sich nicht, den Schriftgelehrten als Seinen Jün
ger anzunehmen. Aber Er warnt ihn, indem Er ihn auf
die Kosten des Turmes hinweist, den er bauen will.
Wir wissen nicht, was aus dem Manne geworden ist; da
uns aber nicht berichtet wird, daß er entmutigt zurückgetreten
sei, dürfen wir hoffen, daß er, bei seinem Wunsche
beharrend, sein Kreuz ausgenommen hat und Christo nachgefolgt
ist.
Die Worte: „Ich will dir nachfolgen", sind einfach,
aber bedeutungsvoll. Sie lehren uns, was echtes Christentum
ist. Christo nachfolgen bedeutet mehr, weit mehr,
als Sein Beispiel nachahmen. Sind wir im Glauben zu
Ihm gekommen und haben Ihm als unserem Heiland
vertrauen gelernt, ist Sein Leben unser Leben geworden,
so sind wir auch berufen, durch Seinen Geist belehrt, in
Seinen Fußtapfen zu wandeln, Seinen Willen zu
tun, unter dem beständigen Einfluß Seines Wortes
zu bleiben, kurz, Ihm zu folgen, wohin irgend Er
geht. Dazu müssen wir bereit sein, um Seinetwillen alles
aufzugeben, und dürfen nicht vor dem Kreuze zurückschrek-
ken, das Er uns reicht. Das ist Nachfolge Christi, das
ist echtes Christentum.
Es ist etwas Großes, wenn ein Mensch aufrichtig sagen
kann: „Ich will dir nachfolgen, Herr", wenn alles
Zweifeln und Zögern ein Ende gefunden hat und der
Schritt mit Herzensentschluß im Glauben getan wird. Für
den Schriftgelehrten brachte dieser Schritt ohne Zweifel
eine gewaltige Veränderung in seinem äußeren Leben mit
sich. In unseren Tagen ist das im allgemeinen weniger der
Fall. Die äußeren Umstände gestalten sich gewöhnlich nicht
viel anders als vorher. Der Kaufmann wartet nach wie
— rrs —
vor seines Geschäftes, der Angestellte bleibt in seiner Stellung,
der Arbeiter in seinem Beruf. Aber dennoch ist die
Veränderung, die in und mit einem Menschen vorgeht,
wenn er Jesu Nachfolger wird, auch heute noch groß und
wunderbar. Abgesehen von der völligen Umwandlung in
seinem Innern, von dem Übergang aus dem Tode in das
Leben, aus der Finsternis in das Licht, hat sich seine ganze
Lage verändert. Die Welt ist zu einer Wüste für ihn geworden,
seine nächsten Freunde und Bekannten verstehen
ihn nicht mehr, seine weltliche Umgebung bemitleidet oder
verspottet ihn, das Leiden m i t Christo und für Christum
beginnt, und alles das umso wirklicher, je näher und
treuer er hinter seinem Herrn hergeht. Der Pfad der
Selbstverleugnung öffnet sich vor ihm.
Wir haben vor dem Schriftgelehrten den Vorzug, daß
wir über die Natur des Dienstes Christi belehrt sind. Wir
erwarten nicht, daß alles glatt gehen werde. Wir wissen,
daß wir ein Kreuz auf dem Wege finden. Wir mögen,
wie gesagt, nicht allen äußeren Bequemlichkeiten zu entsagen
haben und ganz arm und heimatlos werden müssen,
wie unser Herr einst war. Aber Entsagung und Verleugnung
ist unser aller Teil. O möchten wir danach trachten,
willig alles aufzugeben, was Er uns aufgeben heißt,
los und frei zu werden von allem außer Ihm! Kein
wahrer Nachfolger Christi kann dem Kreuze entgehen. Das
Fleisch muß gekreuzigt, die Welt aufgegeben, Selbstverleugnung
muß geübt und Schmach erduldet werden. Auf
alles das weist der Herr uns in Gnaden hin. Er tut es
nicht, um uns abzuschrecken oder unseren Eifer abzukühlen,
noch läßt Er uns in unserer Schwachheit allein. Hat
Er uns nicht zugerufen: „Kommet her zu mir!"? Aber
- Ny —
Er ruft uns mit dem Ruf der Wahrheit. Ihm nachzufolgen,
ohne das Kreuz aufzunehmen, ist unmöglich.
Doch wir wissen, wem wir geglaubt haben und wem wir
vertrauen. Wir kennen Ihn, der vor uns hergeht. Es ist
ein sanftes Joch und eine leichte Last, die wir auf Seinem
Wege finden. Seine Gnade und Liebe und die Kostbarkeit
Seiner Gemeinschaft machen jede Bürde leicht.

„Ihr seid
des Xpeges früher nicht gezogen"
lNos. 3, q.I'
Nach vierzigjähriger Wüstenwanderung hatten die
Kinder Israel das Ufer des Jordan erreicht. Hier rasteten
sie drei Tage, um von ihrem Führer Josua Unterweisungen
zu empfangen und sich auf die Eroberung des verheißenen
Landes Kanaan vorzubereiten. Am Ende der drei
Tage geboten ihnen die Vorsteher des Volkes und sprachen:
„Sobald ihr die Lade des Bundes Jehovas, eures
Gottes, sehet, und die Priester, die Leviten, sie tragen,
dann sollt ihr von eurem Orte aufbrechen und ihr nach
— rzy —
folgen. Doch soll zwischen euch und ihr eine Entfernung
sein bei zweitausend Ellen an Maß. Ihr sollt ihr nicht
nahen, auf daß ihr den Weg wisset, auf dem ihr gehen
sollt; denn ihr seid des Weges früher nicht gezogen."
Wir wissen, daß dieses Wort eine tiefe vorbildliche
Bedeutung hat. Die Bundeslade ist das Bild unseres
Herrn Jesus Christus, und der Jordan das Bild
des Todes, in welchen Er (und wir mit Ihm) hinabsteigen
mußte. Aber ist es nicht auch so, als ob Josua
tröstend zu dem Volke sagen wollte: „Der Weg, der jetzt
vor euch liegt, ist euch völlig unbekannt. Gefahren und
Versuchungen anderer Art als bisher mögen euch begegnen,
aber seid getrost! derselbe Gott, der euch bis zu diesem
Punkte gebracht hat, wird auch fernerhin mit euch
sein und euch den Weg zeigen, der vor euch liegt"?
Und ist es nicht genau so mit denen, die sich auf
dem Wege zu dem himmlischen Kanaan befinden? Die
Reise dahin ist lang und wechselvoll, und auch von ihnen
heißt es: „Ihr seid des Weges früher nicht gezogen".
Vielleicht spielt sich unser Leben längere Zeit hindurch
ruhig ab. Wir haben täglich die gleichen Pflichten
zu erfüllen, haben es mit denselben Menschen zu tun, wir
bleiben von ungewöhnlichen Ereignissen, Not und Tod,
verschont und empfinden so kaum die Schwere der Zeit.
Doch irgend ein Umstand, vielleicht nur ein neuer Lebensabschnitt,
erinnert uns daran, daß es nicht immer in derselben
Weise weitergehen kann. Ehe wir's uns versehen,
können wir in Lagen kommen, in Umstände versetzt werden,
die unseren Glauben auf eine ernste Probe stellen.
Stürme und Versuchungen, die uns bis dahin unbekannt
geblieben sind, können unerwartet über uns hereinbrechen.
130
Doch sollte eine solche Erinnerung uns erschrecken und
mit Sorge erfüllen? Nein; sic sollte sicherlich nicht von
uns übersehen werden, aber zugleich sollten wir daran
denken, daß der Eine, der uns bis heute geleitet und versorgt
hat, auch weiter mit uns sein will.
Der Leser wird dem zustimmen, aber vielleicht sagen:
„M e i n Pfad war doch manchmal sehr rauh, steil
und ermüdend. Freilich muß ich bekennen, daß es immer
der rechte Weg war, und daß Güte und Barmherzigkeit
mir gefolgt sind alle Tage meines Lebens. Aber —"
Warum „Aber"? Wird es nicht auch fernerhin so
sein? Ist Gottes Güte zu Ende? Hat Er vergessen, gnädig
zu sein? (Ps. 77, 8. 9.) Ist es nicht vielmehr eine
ganz natürliche Sache, von der Vergangenheit auf die
Zukunft zu schließen? Anstatt sorgend in die Zukunft zu
blicken, solltest du getrost sagen: „Wenn die Weisheit,
Güte und Huld, die mich bis zu diesem Tage gebracht
haben, mich auch weiterhin geleiten wollen — und diese
Gewißheit habe ich (Ps. 23, 6) —, so brauche ich mich
nicht zu fürchten; es genügt mir, daß Gott versprochen
hat, mein Gott zu sein, mein Führer durch dieses Erdenleben,
bis hin zum Ziele". Der vor dir liegende Weg
mag verschieden sein von den Wegen, die du bisher gegangen
bist, aber du solltest für keinen Augenblick daran
zweifeln, daß es der einzig richtige und gute Weg für
dich ist. Wie der Psalmist sagt: „Du hast mich erfaßt
bei meiner rechten Hand, durch deinen Rat wirst
du mich leiten". (Ps. 73, 23. 24.)
D.'e Bundeslade und die Wolkensäule erinnerten
Israel daran, daß Gott für alle ihre Notdurft sorgen
wollte, vor allem aber riefen sie ihnen stets die wunder-
- 131 —
bare Errettung, die sic erfahren hatten, ins Gedächtnis.
Der, der vor ihnen Herzog und ihnen den Weg zeigte,
war derselbe Gott, der ihrer Ungerechtigkeiten nicht gedacht,
sondern die reichsten Segnungen über sie ausgegossen
hatte. Der Hebräerbries zeigt uns, was Bundeslade,
Gnadenstuhl, Priestertum und Opfer zu bedeuten
hatten. Sie alle wiesen auf Jesum Christum hin, den wahren
Heiland und Führer des heutigen Volkes Gottes, von
welchem Israel nur ein Vorbild war.
Der Christ kann sagen: „Wohin mein Weg mich
auch führen mag, Er geht mit, der die Freude meines
Lebens ist. Was sich auch ereignen mag, nichts kann mich
des Bewußtseins berauben, daß ich begnadigt bin, oder
mich von der Liebe Gottes scheiden, die in Christo Jesu
ist, meinem Herrn." Er kann ferner sagen: „Ich weiß,
daß die Umstände, in die ich noch versetzt werden mag,
nur dazu dienen sollen, mich meine Abhängigkeit von der
Gnade Gottes mehr fühlen zu lassen, und ich zweifle
nicht daran, daß in dem Maße, wie ich diese Gnade bedarf,
sie mir dargereicht werden wird. Warten meiner
neue Pflichten, die Gnade wird mir die zu ihrer Erfüllung
nötige Kraft darreichen. Treten neue Versuchungen an
mich heran, die Gnade will mich mit größerer Kraft und
Widerstandsfähigkeit ausstatten. Erheben sich neue Schwierigkeiten,
als Antwort auf mein Gebet wird Weisheit
von oben mir gewährt werden. Der Herr wird mir
keine Leiden und Trübsale senden, für die Er nicht auch
schon reichlichen und kostbaren Trost für mich bereit
hätte."
„Ihr seid des Weges früher nicht gezogen"; aber
er führt zu dem himmlischen Lande. Jenseit des Stromes,
— rZ2 —
an dem Josua und das Volk lagerten, lag das Land,
das Gott ihren Vätern verheißen hatte, der Gegenstand
der Hoffnung, durch welche sie auf ihren Wanderungen
gestärkt worden waren. Jeder Pfad, den der Herr die
Seinen führt, leitet zum Vaterhause. „Er leitete sie auf
rechtem Wege, daß sie zu einer Wohnstatt gelangten."
(Ps. 707, 7.) Segnet Er uns mit Wohlfahrt und Gedeihen,
es soll uns nur dahin bringen, uns nach der höheren,
himmlischen Glückseligkeit auszustrecken. Sendet Er
Leid, so lautet das stärkende Trostwort: „Das schnell vorübergehende
Leichte unserer Drangsal bewirkt uns ein über
die Maßen überschwengliches, ewiges Gewicht von Herrlichkeit".
(2. Kor. 4, 77.) Sollten wir deshalb auch an
einem noch dunkel vor uns liegenden Lebensabschnitt angelangt
fein, wir sind nicht ohne reiche Glaubensermunterung
und. beseligende Hoffnungsfreude.
Doch hier bietet sich uns noch ein anderer Gedanke.
Die Ruhepausen und gelegentlichen Rastorte auf unserem
Wege legen uns Pflichten auf. Vor allem sollten wir uns
darüber immer mehr klar zu werden suchen, ob wir uns
auch wirklich an der Hand Gottes befinden und nicht etwa
eigene Wege gehen. Gottes Fürsorge erstreckt sich sicher
auf alle Menschen; aber doch können nur solche, die durch
Jesum Christum mit Gott in wahre Lebensverbindung
gebracht sind und nun aufrichtig begehren, in Abhängigkeit
von Ihm ihren Weg zu gehen, die liebende Führung
erwarten, die die Seele in allen Gefahren und vor allem
Verderben des Lebens bewahrt und sie sicher im Vaterhaus
anlangen läßt.
Anderseits sollten wir uns vor beunruhigender Über-
Ängstlichkeit hüten. Weil wir die Zukunft nicht kennen,
— IZZ —
sind wir geneigt, sie in dunkler Vorahnung mit allerlei
Übeln auszufüllen. Gott aber ermahnt uns, nicht um
einen Tag im voraus besorgt zu sein. „Jeder Tag hat
an seinem Übel genug." Ein bekannter Gläubiger sagte
einmal: „Ich vergleiche zuweilen die Mühen und Nöte
eines Jahres mit einem Bündel Stäbe. Das ganze Bündel
ist so schwer, daß ich es unmöglich aufheben könnte.
Aber Gott verlangt das auch nicht von mir. Gnädig löst
Er es aus und reicht mir den Stab, den ich heute tragen
soll, dann morgen einen anderen; und so geht es fort.
Die Last wäre nicht so schwer, wenn wir immer nur die
uns für einen Tag bestimmte Bürde aufnehmen würden.
Doch wir ziehen vor, den Stab von gestern mit dem heutigen
wieder auszunehmen und wenn möglich den morgigen
auch noch hinzuzufügen. So drückt uns dann die
Last zu Boden." Der Herr Jesus sagt: „Seid nun nicht
besorgt — nicht angsterfüllt, nicht beunruhigt — auf den
morgenden Tag, denn der morgende Tag wird für sich
selbst sorgen", d. h. der Herr, in dessen Hand der morgende
Tag so gut ist wie der heutige, wird uns morgen
ebenso wenig versäumen wie heute, wenn wir uns Ihm
nur mit kindlichem Vertrauen überlassen. Darum, laßt
uns Ihm vertrauen und uns nicht fürchten!
Beachten wir noch eins: In Jos. 1, 11 wird dem
Volke gesagt: „Bereitet euch Zehrung; denn in
noch drei Tagen werdet ihr über den Jordan ziehen, um
hinzukommen, das Land in Besitz zu nehmen, welches
Jehova, euer Gott, euch gibt". — Nur noch drei Tage
lagen vor ihnen, dann sollten Zeiten kommen, wo sie an
die Bereitung der nötigen Zehrung nicht denken konnten.
Sie mußten gerüstet durch den Jordan ziehen, was bei
— rZ4 —
der gewaltigen Zahl des Volkes mit all seiner Habe eine
längere Zeit in Anspruch nahm, und, im Lande selbst angekommen,
wartete ihrer der Kampf mit den zahlreichen
Feinden, die dort wohnten. So galt es, die Ruhetage wohl
auszunutzen.
Redet nicht auch das zu unseren Herzen? Wir sagten
schon: Gott schenkt uns zuweilen Zeiten der Ruhe. Benutzen
wir sie, um in der Stille für die vielleicht kommenden
Tage der Unruhe und des Kampfes uns „Zehrung
zu bereiten"? Sind wir begierig nach der vernünftigen,
unverfälschten Milch des Wortes, wie neugeborene
Kindlein nach der Muttermilch, um so innerlich zu erstarken?
Sammeln wir uns einen Vorrat für Tage, die
uns kaum Zeit lassen wollen, das Wort zu lesen? Oder
denken wir mehr an die Pflege unseres Körpers, als an
die Stillung der Bedürfnisse unserer Seele? Sicher dürfen
wir Zeiten leiblicher Erholung dankbar aus der gütigen
Hand unseres Vaters annehmen, aber die Seele ist wichtiger
als der Leib, die Erneuerung des inneren Menschen
wichtiger als die Erstarkung des Körpers.
„In noch drei Tagen!" Wie rasch können Anforderungen
an uns herantreten, die uns nicht nur auf eine
schwere innere Kraftprobe stellen, sondern auch besondere
geistliche Einsicht, ein zielbewußtes, verständiges Handeln
nach göttlichen Grundsätzen bedingen. Wie nun, wenn
solche Zeiten uns unvorbereitet finden?
Schließlich bedürfen wir auch, auf jeden Fingerzeig
des göttlichen Willens zu achten. Die Kinder Israel mußten
einen Raum lassen zwischen sich und der Bundeslade,
sodaß alle sie sehen konnten und so fähig waren, ihren
Spuren zu folgen. Uns geht keine Wolkensäule oder Bun-
— rzs —
deslade voraus, um uns den Weg zu zeigen. Aber wir
besitzen Gottes Wort, den untrüglichen Führer in alle
Gedanken Gottes, dieses lebendige und bleibende Wort,
das uns Trank und Speise, Licht und Wahrheit, Stütze
und Stab zugleich ist. Und wir besitzen den Heiligen Geist,
der uns in alle Wahrheit leitet, uns tröstet und ermuntert,
warnt und straft. Glücklich der Mensch, der dieses
Wort zu seinem vertrauten Ratgeber hat, der in allen
Lagen zu ihm seine Zuflucht nimmt und dessen Grundsätze
auf alle Umstände seines Lebens anwendet! Nie sollten
wir einen Schritt tun, ohne uns zuvor aus dem Worte
Gottes unter Gebet Klarheit verschafft zu haben, wie wir
handeln müssen. Große und wunderbare Zusagen sind
denen gemacht, die im Glauben bitten. Ach! wir vergessen
so leicht, daß sowohl unser eigenes Glück als auch das
Glück anderer sehr oft von einer einzigen richtigen Entscheidung
abhängt; anders würden wir uns bereitwilliger
und völliger dem guten Willen unseres Gottes zur Verfügung
stellen.
Savid vor der Bundeslade
la. Sam. 6.12-2Z.1
Es war ein großer, unvergleichlicher Tag für David,
als er die Lade Gottes aus dem Hause Obed-Edoms nach
Jerusalem heraufholte. Mit einem leinenen Ephod umgürtet,
tanzte er mit aller Kraft vor Jehova. Er hatte wenigstens
eine vorläufige Stätte für Jehova gefunden, eine
Wohnung für den Mächtigen Jakobs. (Ps. ^32, 5.) Aber
als Michal, sein Weib, „den König vor Jehova Hüpfen
und tanzen sah, da verachtete sie ihn in ihrem Herzen".
— rZ6 —
Der Tag seines Sieges über den Riesen Goliath war
nur gering im Vergleich mit diesem Tage des Einzugs
der Bundeslade. Damals hatten andere Davidzu Ehren
getanzt, jetzt tanzte David zu Ehren. Jehovas; und
gerade darin lag das Geheimnis seiner Kraft und Freude.
Michal, die Tochter Sauls, hatte dafür keinerlei Verständnis.
Für sie war das Verhalten Davids ein Ärgernis.
Indem sie nur an sich und ihre eigene Ehre dachte, betrachtete
sie das Tun des Königs von Israel gewissermaßen
als eine persönliche Beleidigung und beschuldigte ihn nachher
mit häßlichen Worten. Wie hatte der König sich nach
ihrer Meinung vor den Augen der Mägde seiner Knechte
erniedrigt! Aber gerade in dem Maße wie David in seinem
Herzen und durch sein Verhalten Gott heiligte und
ehrte, wurde er von Gott erhoben. Es ist auch nicht möglich,
den Herrn im Herzen zu heiligen, ohne daß es
in denWegenin die Erscheinung träte. Und so groß war
die Kraft der Freude in David, daß die Tochter Sauls beschämt
vor ihm verstummen mußte. Zugleich erntete sie
den Lohn ihrer Torheit und Sünde: sie hatte kein Kind
bis zum Tage ihres Todes.
Nichts könnte lieblicher sein, als diese Wertschätzung
der Ehre und Verherrlichung Gottes, wie wir sie hier bei
David finden. Die Bundeslade war die herrlichste Entfaltung
oder Darstellung Gottes in jenen Tagen. Sie ist bekanntlich
das Vorbild der Offenbarung Gottes in Christo,
nicht nur insofern, als Gott uns darin begegnet ist, sondern
vor allem in dem Sinne, daß Erselbst Seine Verherrlichung
in ihr gefunden hat. Bekanntlich wurde am
Versöhnungstage das Sühnungsblut auf die Bundeslade
gesprengt, siebenmal vor und einmal auf den Deckel.
— 437 —
In der Lade ruhte auch „das Zeugnis", die beiden von
dem Finger Gottes beschriebenen Gesetzestafeln, die ihren
vollkommenen Ruheort erst in Jesu Christo, unserem
Herrn, finden sollten. Denn während Mann und Weib
das Gesetz mißachtete und brach, wurde es in Ihm und
durch Ihn groß und herrlich gemacht. (Vergl. Jes. 42,24.)
Die Bundeslade begegnete also nach jeder Seite hin
den Anforderungen Gottes. Das war es, was David,
wenn auch nur dunkel, erkannte und was ihn in unserem
Kapitel so handeln ließ. Wir hören nicht, daß Salomo
mit all seiner Weisheit der Bundeslade je die gleiche Beachtung
geschenkt hätte wie David. Wir finden ihn in
2. Chron. 6, 42 vor dem großen Altar tätig. Der fiel
mehr ins Auge, als die kleine Lade. Alle sahen ihn, und
da man wußte, daß dort den Bedürfnissen der Hinzunahenden
begegnet wurde, gerieten die Gefühle in Bewegung;
aber dabei blieb es — ganz ähnlich so wie heute viele
Gläubige nie über die Bedeutung der Person und des Werkes
Christi für ihre Bedürfnisse hinauskommen. David
sah weiter, tiefer; er blickte auf das Unsichtbare und erkannte
so mehr, was die Lade für Gott bedeutete.
Viele von uns wissen aus Erfahrung, daß die reichsten
Segnungen uns dann zuteil werden, wenn wir dahin
gelangen, über der Beschäftigung mit der Verherrlichung
Gottes in Christo uns selbst zu vergessen. David war nicht
lange vorher sehr bestürzt gewesen, als Ussa von Gott getötet
wurde, weil er nach der Bundeslade gelangt hatte,
um sie zu halten, „denn die Rinder hatten sich losgerissen".
(V. 6. 7.) Als die Philister seiner Zeit einen neuen
Wagen bauten, um die Lade darauf zu stellen, hatte Gott
nicht eingegriffen. Diese unwissenden Heiden verstanden
— 1Z8 —
es nicht besser. Sie taten was sie konnten, um den Gott
Israels zu ehren. Aber David und seinem Volke hätten
die Gedanken Gottes bekannt sein sollen. Warum bauten
sie einen Wagen und brachten Rinder herbei, um die Lade
des Herrn der ganzen Erde damit an ihren Platz zu führen?
Waren nicht die Knechte des Herrn, die Priester und
die Leviten, berufen, der Hut der Lade zu warten? Sollten
nicht die Leviten sie auf ihren Schultern tragen?
War es doch die größte Ehre für sie, die Diener
der Bundeslade sein zu dürfen.
Aber Israel war in jenen Tagen leider wenig mit
dem Worte und Willen Gottes vertraut. Auch sie handelten
in bester Absicht, und als die Rinder sich losrissen,
streckte Ussa, auch seinerseits in guter Meinung, die Hand
nach der Lade aus, um sie vor dem Sturz zu bewahren.
Aber Gottes Zorn entbrannte wider den Mann, der in
seiner Torheit gemeint hatte, die Lade des Gottes, der
Himmel und Erde gemacht hat, bedürfe einer menschlichen
Stütze. Die Geschichte Ussas beweist uns, wie töricht es ist,
wenn wir versuchen, das Werk Gottes nach unseren Gedanken
und Meinungen zu betreiben. Wir sind nur dann
sicher, das Richtige zu tun, werden nur dann Gott verherrlichen,
wenn wir im strikten Gehorsam gegen Sein
Wort wandeln.
Noch ernster war das Gericht Gottes gewesen, als
die Leute von Beth-Semes es gewagt hatten, in die Lade
Jehovas zu schauen, (1. Sam. 6, 1,9.)
Das Gericht Gottes an Ussa machte einen tiefen Eindruck
auf David. Er fürchtete sich vor Jehova und nannte
den Ort Perez-Ussa (Bruch Ussas), weil Gott einen Bruch
an Ussa gemacht hatte. Indem er seinen Gedanken und
— lZY —
Gefühlen folgte, verstand er Gott nicht und meinte gar,
Gott habe einen Fehler gemacht. So sind wir. Gutes ist
nicht in uns. Das einzige Gute, das es in uns geben
kann, ist, der Stimme Gottes lauschen und in Einfalt
Seinen Willen tun.
Kragen aus dem Leserkreise
1 .) Wir lesen in r. Mose y, 16 von einem „ewigen Bunde",
und in Hebr. 13, 20 von „dem Blute des ewigen Bundes". Haben
wir in der ersten Stelle an die Ratschlüsse Gottes bezüglich der Erde
zu denken, und im zweiten Falle an die Erlösung?
Ja. — In 1. Mose d, 16 verheißt Gott, als der treue Schöpfer,
dem Menschen, den Er in den Besitz der durch die Flut gereinigten
Erde wiedereingeführt hat, daß diese nie wieder durch Wasser
untergehen solle. Er macht einen ewigen Bund mit „jedem lebendigen
Wesen von allem Fleische, das auf Erden ist", d. i. mit
Seinen Geschöpfen, und setzt als Zeichen und Bürgen dieses
Bundes den Regenbogen in die Wolken. So oft Er fortan Wolken
(aus denen einst das furchtbare Verderben für die Erde herabkam)
über die Erde führt und der Bogen in den Wolken erscheint, will
Gott Seines Bundes gedenken. (V. 13—15.) Darum umgibt in
Offbg. 4, 3 der Regenbogen, hier in Gestalt eines geschlossenen Kreises,
den Thron des Gerichts. Obwohl Gott im Begriff steht. Seine
gerechten Gerichte über den ganzen Erdkreis zu bringen, deutet der
Regenbogen doch an, daß Er auch Seines Bundes eingedenk ist.
Ewig, d. h. endlos, nie aufhörend, solangSonneundMond
bestehen, soll dieser Bund währen. Das ist in 1. Mose d, 16,
wie an manchen anderen Stellen des Alten Testaments, der Sinn
des Wortes ewig. (Vergl. Ps. 72, 17; 84, 2S. 36. 37.) Solang
es Gott gefällt, die gegenwärtige Schöpfung zu erhalten,
wird auch Sein Bund mit ihr besteben. Wenn einmal Sonne und
Mond vergehen werden, hören selbstverständlich auch die mit ihnen
in Verbindung stehenden Erscheinungen und Verhältnisse auf.
Ganz anders ist es mit dem Bunde in Hebr. 13. Dort ist es
nicht der Schöpfer- Gott, sondern der Gott des Friedens,
der den Bund gemacht hat, und dieser selbst steht in Verbindung
mit dem Blute Jesu Christi und der in dem Werke der
Erlösung geoffenbarten Gnade Gottes. Grundlage und Bürge
dieses Bundes ist „unser Herr Jesus, der große Hirte der Schafe,
den Gott aus den Toten wiedergebracht hat".
Auch hat er nicht Wert und Bedeutung für die Schöpfung oder für
die gegenwärtige Beziehung derselben zu Gott, sondern bildet die
140
Grundlage der neuen Schöpfung und damit der ewigen Erlösung
und himmlischen Stellung aller derer, welche an Christum
glauben; zugleich verbürgt er deren sicheres Anrecht darauf, bei
der Wiederkehr des Herrn all der herrlichen Folgen Seiner Auferstehung
teilhaftig zu werden.
2 .) Wird im Tausendjährigen Reiche wieder geopfert werden?
Nach Hes. 42—46 scheint das so zu sein. Aber was bedeuten dann
diese Opfer, da doch ganz Israel, dessen Bild wir wohl in den
444 000 Versiegelten in Offbg. 7, 4—8 erblicken, errettet sein wird ?
Der Inhalt der aus dem Propheten Hesekiel angeführten Kapitel
beweist unzweideutig, daß im Tausendjährigen Reiche wieder
die verschiedenen Opfer: Brandopfer, Sündopfer, Friedensopfer,
dargebracht werden (vergl. auch Kap. 40, 38—43), zwar auf einer
neuen Grundlage, auf dem Boden der Gnade, im übrigen aber
ganz ähnlich wie im Alten Bunde. Das gleiche geht aus anderen
Stellen des Alten Testamentes hervor, wie z. B. Jes. 5b, 7; Ier.
33, 48. Man darf nicht vergessen, daß Israel ein irdisches
Volk ist, das zwar unter dem Friedenszepter seines großen Königs
Zeiten ungeahnten Segens genießen wird, das aber, solang das „zukünftige
Zeitalter" währt, seinen irdischen Charakter nicht verliert.
Darum wird auch wieder ein irdisches Heiligtum aufgerichtet
werden, und in Verbindung damit ein irdisches Priestertum,
eine von den übrigen Israeliten abgesonderte Klasse von
Personen, die das Volk da vertreten, wo cs selbst nicht hinzunahen
darf. Damit werden dann auch irdische Opfer verbunden sein.
Weiter ist zu beachten, daß im Tausendjährigen Reich wohl
die Folgen der Sünde hinweggetan sind (vergl. Jes. 35) und
damit das Seufzen der Schöpfung aufhört, nicht aber, daß der
Zustand der Unschuld oder Sündlosigkeit wiederhergestellt sein wird,
wie er vor dem Sündenfall bestand. Sünde und Tod sind noch
nicht abgeschafft. (Jes. 65, 20.) Deshalb ist eine fortwährende Erinnerung
an das eine große Opfer nötig, das einst auf Golgatha
zur Abschaffung der Sünde gebracht wurde. Dieser Zustand der
Dinge ist, weil mit der Erde verbunden, vorübergehend; er währt
nur tausend Jahre, und darf in keiner Weise mit unserer gegenwärtigen
himmlischen Stellung oder mit dem ewigen Zustand
in der neuen Schöpfung (Offbg. 24, 4—8) vermengt oder verwechselt
werden.
Die Zahl der Versiegelten (42 mal 42 000) in Offbg. 7 ist,
wie die übrigen Zahlen in diesem Buche, symbolisch zu verstehen, bedeutet
also eine Vollzahl aus Israel. Gemeint ist der ganze,
von Gott erwählte gläubige Überrest aus diesem Volke, dessen wirkliche
Zahl Gott allein bekannt ist und in Hos. 4, 40 mit „dein
Sande des Meeres" verglichen wird.
Kur Krelheit berufen
Freiheit! Mit welchen Gefühlen begrüßt der entlassene
Gefangene, der befreite Sklave dieses Wort! Frei
von drückenden Banden und vielleicht qualvoller Leibeigenschaft,
erlöst aus demütigender Kerkerhaft, darf er
nun mit vollen Zügen die Luft der Freiheit einatmen, sich
bewegen, wie und wohin er will. Er ist ein freier Mann!
Auch das Wort Gottes redet oft von Freiheit, allerdings
in einem anderen Sinne. Der Herr Jesus sagte einst
zu den Juden: „Wenn der Sohn euch frei machen wird,
so werdet ihr wirklich frei sein" (Joh. 8, 36), und der
Apostel Paulus schreibt an die Gläubigen in Galatien:
„Für die Freiheit hat Christus uns freigemacht". (Gal.
5, 1.) In beiden Stellen handelt es sich nicht um eine
äußere, leibliche Freiheit, sondern um eine innere, geistliche
Befreiung, um die Freiheit der Seele. Für diese Freiheit
hat Christus uns freigemacht. Frohlockend dürfen wir
es dem Apostel heute nachsprechen. Einst in den ehernen
Ketten der Sünde liegend, hoffnungslos gebunden durch
Leidenschaften und Lüste, dem Tode verfallene Sklaven
Satans, Kinder des Zornes — heute Erlöste des Herrn,
die, befreit von der Herrschaft der Sünde, fähig gemacht
sind, „in Neuheit des Lebens zu wandeln", geliebte Kinder,
die „Gott wohlgefällig dienen dürfen mit Frömmigkeit
und Furcht". (Hebr. 1.2, 28.) So in jeder Beziehung
freigemacht, frei selbst von dem Joch des Gesetzes, der
heiligen Richtschnur Gottes für den Menschen im Fleische
(nicht für den Gläubigen), werden wir aufgesordert, festzustehen
und uns nicht wieder in ein knechtisches Joch
zwängen zu lassen.
Aber, so fragen wir mit Recht, wie hat sich dieses
Wunder der Befreiung vollzogen? „Christus hatunö
freig emacht!" Beachten wir wohl, daß es nicht heißt:
Christus will unö freimachen oder kann uns freimachen,
sondern: Christus hat uns freigemacht. Und
wenn wir dann weiter fragen: Auf welchem Wege ist
das geschehen? so lautet die Antwort: Durch Seinen Tod
und Seine Auferstehung, und das nicht nur teilweise oder
zeitweilig, sondern voll und ganz, ein für allemal, auf
immerdar! Alles ist durch Ihn, unseren hochgelobten
Herrn, der unseren Platz im Gericht eingenommen und
mit dem ganzen elenden Zustand, in welchem wir uns
von Natur befanden, am Kreuz ein Ende gemacht hat.
Er ist „uns geworden Weisheit von Gott und Gerechtigkeit
und Heiligkeit und Erlösung". (1. Kor. t, 30.) Und
alles das ist uns zuteil geworden auf dem Boden bedingungsloser
Gnade, „durch den Geist aus Glaube n".
(V. 5.) „Durch Gnade seid ihr errettet." (Eph. 2, 5.)
Welch ein wunderbares Werk ist doch das Werk unseres
Herrn Jesus Christus! Und diesem Werk wollten
die Galater etwas hinzufügen, als wäre es nicht vollkommen
genügend. Den überredenden Worten jüdischgc-
sinnter Lehrer Gehör schenkend, hielten sie es für notwendig,
sich beschneiden zu lassen und die jüdischen „Tage" zu
halten. Wer aber das tut, wer dem Werke Christi irgend
etwas als notwendig oder auch nur nützlich zur
Errettung zur Seite stellt, wer, mit anderen Worten,
durch eigenes, noch so gut gemeintes Tun Gott gefallen
und daö Ziel erreichen will, ist grundsätzlich von Christo
abgetrennt, ist aus der Gnade gefallen. (V. 4.) Denn
wer in einem Stücke sich unter das Gesetz stellt, ob er
nun die Beschneidung predigt, Tage, Zeiten und Jahre
hält, oder die Erfüllung irgendwelcher anderer Verpflichtungen
für notwendig erklärt, um vor Gott gerechtfertigt
dazustehen, der gibt den Boden der Gnade auf und ist
schuldig, das ganze Gesetz zu halten. Damit bringt er sich
aber unrettbar unter Fluch und Verdammnis. Wer von
dem eigenen Ich noch etwas erwartet, ihm irgend eine
Tätigkeit zuweist, zeigt damit, daß er die Bedeutung des
Todes Christi noch nicht verstanden hat. Er tut, „als
lebte er noch in der Welt" (Kol. 2, 20), und doch hat
er in der Taufe bekannt, daß er mit Christo gestorben
und eine neue Schöpfung geworden ist in Ihm.
Welch ein Widerspruch! Nein, wer in Wahrheit an
Christum geglaubt hat, befindet sich nicht mehr in seiner
alten Stellung vor Gott, sondern ist „ein Mensch in
Christo", dem Auferstandenen, geworden. „Die aber des
Christus sind, haben das Fleisch gekreuzigt samt den
Leidenschaften und Lüsten." (V. 24.) Mancher wird sagen,
wenn er solche Worte hört: Wie groß und herrlich
ist das! aber dann seufzend hinzufügen: Wenn ich es nur
von mir sagen könnte! Und doch liegt diese Wahrheit nicht
etwa am Ende des Weges eines Gläubigen, ist nicht etwas,
das er, allmählich wachsend und heranreifend, vielleicht
nach vielen Jahren erreicht, vielleicht auch nie erreicht,
sondern ist eine Tatsache, mit der sein Weg als Christ
beginnt. Er hat es ja doch in der Taufe schon bekannt!
144
Durch seine Taufe auf den Tod Christi hat er zu erkennen
gegeben, daß er mit seinem gestorbenen, begrabenen und
aufecstandenen Herrn einsgeworden ist, daß er des
Christus ist und nun in Ihm vor Gott steht — als
ein aus dem Tode auferstandener Mensch, ein „Lebender
aus den Toten", um fortan nicht mehr der Sünde zu
dienen und dem Tode Frucht zu bringen, sondern als ein
von der Sünde Freigemachter Gott zu leben und in
der Kraft des Geistes Frucht zu bringen zu Seiner Ehre.
(Röm. b, 3—14.)
Das Gesagte, ich möchte es noch einmal wiederholen,
ist nicht eine Lehre, die ein Gläubiger erst nach Jahren erfassen
kann, zu deren Verständnis es der Reife eines
„Vaters in Christo" bedarf, nein, sie gehört zu den Anfangsgründen
des Christentums. Gerade sie wird
in den Briefen an die Römer und an die Galater entwik-
kelt, die uns bekanntlich mit den grundlegenden Wahrheiten
des Evangeliums Gottes bekannt machen. Ein junger
Gläubiger mag durch die Entdeckung, daß nach seiner
Bekehrung die Sünde noch genau so in ihm ist wie früher,
tief beunruhigt werden und darüber erschrecken, daß in
seinem Fleische nach wie vor nichts Gutes wohnt. Er mag
in der Überzeugung und dem Wunsche, daß sein ganzes
Leben fortan Christo gehören sollte, sich ernstlich darüber
betrüben, daß er Ihm ach! noch so wenig dient, mag
selbst dahin kommen, an der Echtheit seiner Bekehrung zu
zweifeln. Aber das alles beweist nur, daß er noch nicht
gelernt hat, was er längst hätte lernen sollen, daß er,
wie gesagt, noch nicht einmal die Bedeutung seiner Taufe
erfaßt hat; denn anders würde er wissen, was es ist, einen
Heiland zu haben, der als sein Bürge und Stellvertreter
145
gestorben und auferstanden ist. Fortwährend mit der Verbesserung
des alten Menschen beschäftigt, in der trügerischen
Hoffnung, die bösen Gedanken, Neigungen und
Lüste, die ihm so viel zu schaffen machen, endlich aus seinem
Inneren verbannen zu können, muß er auf dem
Wege schmerzlicher Erfahrung lernen, was der Ausruf bedeutet:
„Ich elender Mensch! wer wird mich retten von
diesem Leibe des Todes?" Ist er dann aber zu Ende gekommen
mit seiner eigenen Kraft, mit all seinem Kämpfen
und Ringen, so darf er auch erfahren, daß Gott durch
Jesum Christum diese Rettung bereits vollbracht hat,—
beachten wir das Wort: „Ich danke Gott durch Jesum
Christum, unseren Herrn!" — daß er also ein Befreiter
des Herrn i st, der nun mit seinem erneuerten Sinne dem
Gesetz Gottes dienen kann, indem er in Christo bleibt und
sich von Seiner Gnade tragen und leiten läßt. (Röm.
7, 24. 25.) Je inniger ein Christ in Christo bleibt, je
näher und unverrückter er Ihn anschaut, desto mehr wird
er die Erfahrung machen dürfen, daß wirklich „das Gesetz
des Geistes des Lebens in Christo Jesu ihn freigemacht
hat von dem Gesetz der Sünde und des Todes" (Röm.
8, 2), und daß er nun wandeln darf in der seligen Freiheit
eines Kindes Gottes, eines Erlösten und von der
Knechtschaft der Sünde freigemachten Menschen.
Damit kommen wir zu der Seite unseres Gegenstandes,
von welcher der Apostel im 13. Verse von Gal. 5
redet. Hat er im 1. Verse von der kostbaren Stellung
gesprochen, in welche wir durch Christum und in Ihm
gebracht sind, und die wir uns durch keine noch so verführerische
„Überredung" rauben lassen sollen (V. 7. 8),
ruft er jetzt den Galatern zu: „Ihr seid zur Freiheit
14b
berufen worden, Brüder; allein gebrauchet nicht die
Freiheit zu einem Anlaß für das Fleisch, sondern durch
die Liebe dienet einander".
Mit anderen Worten: wir kommen jetzt zu der
praktischen Seite der Sache. Aber wie böse und verkehrt
ist doch das menschliche Herz! Will Gott dem Menschen
aus Gnaden Gerechtigkeit schenken, so möchte der
Mensch sie durch eigene Kraft erwirken, möchte seine
Gerechtigkeit an den Platz der Gerechtigkeit Gottes oder
doch neben sie stellen. Bittere Enttäuschung und Verwirrung
ist daö Ergebnis eines solchen Tuns, ja, eine
völlige Abtrennung von Christo wäre das Ende, wenn
Gott nicht in Seiner Gnade ins Mittel träte. Und weiter:
Wenn Gott den Gläubigen zur Freiheit beruft,
so will er sie „zu einem Anlaß für das Fleisch gebrauchen",
sie dazu benutzen, dem Fleische die Zügel schießen zu lassen,
sie gar, wie Petrus es ausdrückt, „zum Deckmantel
der Bosheit" machen. (1. Petr. 2, 1b.) — Was ist doch
der Mensch!
„Ihr seid zurFreiheit berufen worden, Brüder."
Worin besteht denn diese Freiheit? Tun und lassen zu
können, was uns beliebt? Das wäre nicht Freiheit, sondern
Zügellosigkeit. „Sollten wir", fragt der Apostel in
Röm. 6, 15, „sündigen, weil wir nicht unter Gesetz,
sondern unter Gnade sind?" Das sei ferne! Ja, Gott
bewahre uns in Gnaden vor einer solch schrecklichen Schlußfolgerung!
Wie auch vor jener ähnlichen: „Sollten wir
in der Sünde verharren, auf daß die Gnade
überströme?" Beide Fragen zeigen uns, wozu das arme,
menschliche Herz fähig ist. Nein, die Freiheit des Gläubigen
besteht darin, nicht mehr tun zu müssen, was
— 447 —
dem Fleische gefällt, wozu Satan, Sünde und Welt ihn
anleiten wollen, sondern das tun zu können, was den
neuen Menschen kennzeichnet, was des Christus ist und
wodurch Gott verherrlicht wird. Sie besteht darin, an die
Stelle der schrecklichen „Werke des Fleisches", die der
Apostel in den Versen 49—2t aufzählt, die liebliche
„Frucht des Geistes" treten zu lassen, Dinge, wider die
es kein Gesetz gibt, da sie weit über das hinausgehen, was
das Gesetz fordert. (V. 22. 23.)
Zu dieser Freiheit sind wir berufen. Welch eine
Berufung! Wahrlich, sie führt nicht zu Sorglosigkeit und
Leichtfertigkeit, sondern zu praktischer Gerechtigkeit und
Heiligkeit in einem täglichen, aufrichtigen Wandel mit
Gott. Wo diese Berufung wirklich verstanden wird, da
ist der Glaube tätig, der, wie der Apostel im 6. Verse
sagt, „durch die Liebe wirkt" — der Glaube, der die
Seele in steter Verbindung erhält mit der Quelle, mit
Christo, und so den ganzen Menschen umgestaltet in Sein
Bild. Ach, wie wenig war dieser Glaube unter den Galatern
wirksam gewesen, wie wenig hatten sie ihre Berufung
verstanden! Statt Liebe, Friede und Freude, der Frucht
des Geistes, waren die Werke des Fleisches: Hader, Eifersucht,
Zorn, Zank, Zwietracht usw., unter ihnen zutage
getreten. Sie hatten einander gebissen und gefressen und
mochten wohl zusehen, daß sie auf diesem Wege nicht
voneinander verzehrt wurden. Es war nicht Christus, der
in ihnen gesehen und gestaltet wurde, sondern die alte
Natur, der alte Mensch, war auf dem Plan, und das
alles, trotzdem sie so viel von der Erfüllung der Vorschriften
des Gesetzes redeten. Ach! das Gesetz ist eine tötende,
zerstörende Kraft, nicht weil es selbst böse ist, sondern
448
weil unsere Natur so böse ist, daß das heilige und gerechte
und gute Gebot nur dazu dient, die Sünde aufleben
zu lassen. Das Gesetz ist die Kraft der Sünde.
(4. Kor. rs, 5 b.)
Das Gesetz gebietet dem Menschen im Fleische, Gott
zu lieben über alles, seinen Nächsten zu lieben wie sich
selbst usw., aber es gibt ihm nicht die Kraft dazu. Die
Gnade aber gestaltet den Menschen um, gibt ihm Leben
durch den Glauben an den Sohn Gottes, der ihn geliebt
und sich selbst für ihn hingegeben hat, schenkt ihm in diesem
Christus einen Gegenstand, nach dem er sich bilden
kann, und reicht ihm in dem Heiligen Geiste, der in seinem
Herzen Wohnung macht, die nötige Kraft dar zur
Verwandlung in dasselbe Bild. In dem Maße wie diese
Dinge in einem Menschen zur Wahrheit und Wirklichkeit
werden, wird man von ihm sagen können, daß nicht mehr
e r lebt, sondern Christus in ihm. (Kap. 2, 20.) Paulus
konnte so von sich reden. Christus war durch den Heiligen
Geist in ihm die Kraft des Lebens. Was er jetzt
lebte im Fleische, lebte er durch Glauben, und zwar
durch den Glauben an den Sohn Gottes. Christus war die
Quelle und der einzige Gegenstand seines Lebens. Zu leben
für ihn war Christus. (Phil. 4, 24.)
Dies führt uns von selbst zu der weiteren Aufforderung
des Apostels an die Galater: „Ich sage aber:
Wandelt im Geiste, und ihr werdet die Lust des
Fleisches nicht vollbringen". (V. 46.) Damit zeigt Paulus
den gläubigen Galatern den Weg, auf welchem sie,
frei vom Gesetz (Kap. Z), frei von der Sünde (Kap.
5), frei von der Welt (Kap. 6), mit einem Wort „a l s
Freie" (4. Petr. 2, 46), zur Ehre Gottes wandeln
1.44
konnten. Hier lag die Kraft zu einem des Christel, würdigen
Wandel in Reinheit und Heiligkeit. Der Heilige
Geist hatte sie nicht nur im Anfang von ihrem sündigen,
verlorenen Zustand überführt und ein neues Leben in ihnen
gewirkt, sondern war jetzt auch in ihnen die Kraft dieses
Lebens. Persönlich in ihnen wohnend, stand und wirkte
Er jetzt in unmittelbarem, nie endendem Gegensatz zu dem
Fleische. „Denn daö Fleisch gelüstet wider den Geist, der
Geist aber wider das Fleisch; diese aber sind einander entgegengesetzt,
auf daß ihr nicht das tuet, was ihr wollt."
(V. 17.) Solang der Gläubige noch in diesem Leibe ist,
sind Fleisch und Geist in ihm wie zwei feindliche Mächte,
die in stetem Kampf miteinander liegen, „widereinander
gelüsten", wie der Apostel es ausdrückt: was die eine
will, haßt die andere, und was die eine verwirft, übt die
andere aus. Liebt die eine Sünde und Unreinigkeit und
folgt den Lüsten der gefallenen menschlichen Natur, so
strebt die andere nach Reinheit und Heiligkeit und offenbart
die Eigenschaften der Natur Gottes. Nun kommt es
darauf an, welcher von beiden Mächten wir folgen, ob
wir dem Fleische oder dem Geiste zu wirken erlauben.
Beide Mächte ringen um die Herrschaft in uns, auf daß
wir nicht das tun, was wir wollen; denn, leitet der Geist
uns an, das zu tun was des Geistes ist, so macht das
Fleisch seine Einwendungen, lassen wir dem Fleische
Raum, so mahnt und warnt der G ei st. Niemals können
beide Hand in Hand gehen.
Was sollen und wollen wir nun tun? Dem Fleische
folgen? Nein, sondern im Geiste wandeln. Wenn
wir das tun, werden wir die Lust des Fleisches niemals
vollbringen. Wäre der Gläubige wieder unter ein Gesetz
150
gestellt, unter Gebote, die von außen her ihre Forderungen
an ihn stellten, so wäre sein Fall hoffnungslos; aber
der Geist Gottes ist ihm gegeben, dessen Kraft in seinem
Innern wirkt, eine göttliche Person, die sich mit
den Wünschen und Neigungen des neuen Menschen in ihm
einsmacht, die Liebe des Herzens weckt, das Verlangen
nach allem Guten stärkt und die nötige Kraft darreicht,
um alledem zu widerstehen, was aus dem Fleische kommt.
Anstatt also die Freiheit, zu der er berufen ist, als einen
Anlaß zu gebrauchen, um dem Fleische Raum zu lassen,
sich selbst zu leben und zu gefallen, benutzt der Gläubige
sie vielmehr dazu, in selbstvergessender Liebe anderen zu
dienen und so „das Recht des Gesetzes zu erfüllen".
(Röm. 8, 4.)
Jakobus redet in seinem Briefe von einem Gesetz
der Freiheit und nennt es daö „vollkommene" Gesetz.
Er preist den glückselig in seinem Tun, der in dieses Gesetz
„nahe hineingeschaut hat und darinnen bleibt", weil er
nicht nur ein Hörer des Wortes, sondern ein Täter des
Werkes ist. Die Gebote des Herrn sind für einen solchen
Gläubigen nicht eine Last oder gar ein schweres Joch,
sie stehen vielmehr in vollem Einklang mit den Wünschen
seines Herzens. Er liebt sie, in ihnen zu wandeln ist seine
Lust.
Bei einem solchen Wandel kommen dann nicht die
weiter oben genannten, den Eingang in daö Reich Gottes
verschließenden „Werke des Fleisches" zum Vorschein, von
denen der Apostel viermal vier aufzählt, sondern die liebliche
„Frucht des Geistes" wird gesehen, die uns in dreimal
drei kostbaren Stücken vor Augen gestellt wird
und wider die es kein Gesetz gibt. „Die Frucht des Gei
1S1
stes aber ist: Liebe, Freude, Friede, Langmut, Freundlichkeit,
Gütigkeit, Treue, Sanftmut, Enthaltsamkeit." Wahrlich,
wo diese Dinge herrschen, bedarf es keiner das Böse
verurteilenden Gebote. Die durch den Geist geleitet werden
sind nicht unter Gesetz. (V. t8.) Aber gerade in ihnen
wird „das Gesetz des Christus" erfüllt, und über alle,
„die nach dieser Richtschnur wandeln", erfleht der Apostel
Friede und Barmherzigkeit. (Kap. 6, 2. tö.)
Wunderbare Worte der Gnade und Wahrheit! Wir
alle wissen aus schmerzlicher Erfahrung, daß wir, auch
wenn wir nach dein Geiste zu wandeln begehren, immer
wieder zu kurz kommen, daß wir, wie Jakobus sagt, „alle
oft straucheln". Das Vollkommene ist noch nicht gekommen;
wie unser Wissen und Erkennen, so bleibt auch unser
Tun und Verwirklichen Stückwerk, solang wir in diesem
Leibe sind. Aber so lang hören auch Barmherzigkeit und
Gnade nicht auf. Der Geist Gottes wird nicht verfehlen,
uns aufmerksam zu machen, wenn Hochmut, Eitelkeit,
Eigenliebe, Nachlässigkeit oder ähnliche Dinge sich bei unS
geltend machen. Der Vater im Himmel beschäftigt sich
mit uns, Seinen geliebten, irrenden Kindern, züchtigt und
belehrt uns, um uns zur Einsicht zu bringen und Seiner
Heiligkeit teilhaftig zu machen; und unser großer Hohepriester
droben vertritt uns allezeit, bittet für uns, damit
unser Glaube nicht aufhöre, und wäscht uns die Füße,
wenn wir sie verunreinigt haben. Gnade und Barmherzigkeit
umgeben uns, Güte und Huld folgen uns alle
Tage unseres Lebens. Vielleicht müssen wir zuweilen, wie
Hiob, tiefe Wege geführt werden, um die geheime böse
Wurzel in uns zu entdecken, aber „das Ende des Herrn"
mit uns wird immer herrlich sein.
— 152 —
Was bleibt uns alledem gegenüber übrig, als mit
dem Apostel auszurufen: „Wenn wir durch den Geist
leben, so laßt uns auch durch den Geist wandeln"?
(V. 25.) Ein aufrichtiger Christ kann nicht anders als
wünschen, „daß Christus in ihm gestaltet werde", und
sollte Gott, der in Gnaden das Wollen wirkt, nicht
auch in derselben Gnade das Vollbringen schenken?

— 161 —
Scheffel und Bett
„Aus deinen Vorschriften empfange ich Einsicht."
(Ps. I IY, 104.)
In Matth. 5, 14—16 sagt der Herr zu Seinen
Jüngern: „Ihr seid das Licht der Welt; eine Stadt, die
oben auf einem Berge liegt, kann nicht verborgen sein.
Man zündet auch nicht eine Lampe an und setzt sie unter
den Scheffel, sondern auf das Lampengestell, und sie leuchtet
allen, die im Hause sind. Also lasset euer Licht leuchten
vor den Menschen." In den Evangelien nach Markus und
Lukas wird dem „Scheffel" noch das „Bett" hinzugefügt.
(Vergl. Mark. 4, 21; Luk. 8, 16.)
Sicherlich hat der Herr nicht ohne Absicht gerade
diese beiden Gegenstände gewählt, und die Frage, warum
Er es getan hat, ist nicht allzuschwer zu beantworten.
Der Scheffel ist ein Hohlmaß, das zum Abmessen von
Getreide, Früchten und dergleichen benutzt wird, also an
Handel und Geschäftsbetrieb erinnert. Das Bett ist ein
Hausgerät, das zum Ausruhen dient und leicht zur Trägheit
verleitet. Der Faule dreht sich in seinem Bett, wie
die Tür in der Angel. (Vergl. Spr. 26, 14.)
Damit treten die beiden großen Gefahren, die unser
Zeugnis bedrohen, vor unsere Blicke. Wir sind berufen, unser
Licht vor den Menschen leuchten zu lassen, inmitten
des allgemeinen Namen-Bekenntnisses zu beweisen, wer
wir sind. Gott ist Licht, und von Ihm geht alles Licht aus.
Ins Licht gebracht, zu einem Wandel im Licht berufen,
gilt es jetzt für uns, Den in dieser Welt darzustellen, in
welchem Gott sich geoffenbart und der als das wahrhaf
— 162 —
tige Licht einst hienieden geleuchtet hat. Die Leuchtkraft
dieses Lichtes verminderte sich in Ihm nie. Klar und hell
strahlte es allezeit, bei Tag und bei Nacht. So sollen auch
wir unser Licht vor den Menschen leuchten lassen, damit
sie unsere guten Werke sehen und unseren Vater, der in
den Himmeln ist, verherrlichen.
Doch da treten uns eben zwei Hindernisse in den
Weg, die in sich ganz und gar verschieden, beide aber sehr
ernster Natur sind. Mag auch der eine von uns in besonderer
Weise geneigt sein, sich in die Geschäfte des Lebens
zu verwickeln, der andere mehr zur Bequemlichkeit und
Trägheit neigen, so machen uns doch, je nach Zeit und
Umständen, beide Hindernisse zu schaffen. Wir wissen sehr
wohl, wie verhängnisvoll es für unseren inneren Menschen
ist, wenn die Dinge dieses Lebens, der äußere Erwerb, das
Steigen oder Fallen unseres Wohlstandes usw. unsere Herzen
erfüllen. Unser Licht verschwindet dann mehr und mehr-
unter dem Scheffel. Es leuchtet nicht mehr im eigenen
Hause, noch im Kreise der Gläubigen, noch in der Welt.
Man hat schließlich keine Zeit mehr, sich um das geistliche
Wohl der Familienglieder zu bekümmern, noch weniger
Zeit zum Besuch der Geschwister; sie will nicht einmal
mehr ausreichen zum Besuch der wichtigen Gebets- und
Erbauungsstunden an den Wochenabenden, geschweige
denn zu einem liebenden Sorgen um das ewige Wohl
anderer. Der „Scheffel" verdeckt allmählich alles, kein
Lichtstrahl dringt mehr durch seine feste Umwandung.
Schlimm, wenn es s o weit kommt!
Natürliche Trägheit und Hang zur Bequemlichkeit
können zu einem ähnlichen Ergebnis führen, obwohl sie
zu dem bisher Betrachteten in unmittelbarem Gegensatz
stehen: eifrige, vielleicht fieberhafte Tätigkeit in dem einen
Falle, gemächliche Ruhe in dem anderen. Wenngleich man
weiß, dies oder das sollte getan, dieser oder jener Weg
sollte gegangen werden, kommtman dochnichtda-
zu. Vielleicht gibt es, wie einst an den Bächen Rubens,
„große Beratungen des Herzens" (Richt. 5, 1.6), aber
es geschieht nichts. Es ist auch kaum zu verwundern.
Wenn man bei den Hürden liegt und dem lieblichen
Klang der Flöte lauscht, so erscheinen die Mühen des Weges,
die Beschwerden des Dienstes oder Kampfes so groß,
daß man sich nicht aufzuraffen vermag. Der Weg ist so
weit und dunkel, das Wetter so kalt und naß, die Luft
in den Versammlungsräumen so drückend, die Menschen
sind so undankbar und abstoßend, der Verkehr mit ihnen
so ermüdend! Schon Salomo sagt: „Der Faule spricht:
Der Brüller ist auf dem Wege, ein Löwe inmitten
der Straßen". (Spr. 26, 1.3.) Die Lampe ist unter dem
Bett verschwunden. Nur noch ein schwacher Lichtschimmer
am Boden deutet auf ihr Vorhandensein, aber sie nützt
niemand etwas.
Teurer Leser! Male ich zu dunkel? Ist es nicht manchmal
so mit uns gewesen? Hat nicht deine und meine Lampe
oft unter dem Scheffel oder unter dem Bett gestanden,
anstatt hell und fröhlich zu brennen zur Ehre unseres
Herrn und zum Nutzen für unsere Umgebung? Ist ihr
Licht im Familienkreise, in der Versammlung und im Verkehr
mit der Welt nicht oft vermißt worden? Nicht wahr?
wir wollen uns dem Ernst dieser Fragen nicht entziehen.
Sie sind umso berechtigter, jemehr wir den Tag herannahen
sehen, der einem jeden von uns seinen Lohn und
sein Lob bringen wird von Gott. Nur noch eine kleine
164
Weile, und der Kommende wird kommen und nicht verziehen!
(Hebr. 10, 37.) Er selbst spricht: „Siehe, ich
komme bald, und mein Lohn mit mir, um einem jeden
zu vergelten, wie sein Werk sein wird." (Offbg. 22, 12.)
„Für Dich nur darf mein Leben sein,
Und was ich bin, für Dich allein",
so singen wir gern, und es ist recht so. Laßt uns dabei aber
nicht „Scheffel" und „Bett" vergessen!
Kreude
„Bittet, und ihr werdet empfangen, auf daß eure
Freude völlig sei." (Joh. 16, 24.)
„Freuet euch allezeit; betet unablässig." (1. Thess.
5, 16. 17.)
Freude, bewußte, heilige Freude, eine der
lieblichen Früchte des Geistes (Gal. 5, 22), ist nicht so
allgemein bekannt unter dem Volke Gottes, daß die Frage,
wie sie zu finden und zu fördern ist, überflüssig erscheinen
könnte. Unser Herr und Heiland stellt es nicht nur als
möglich, sondern auch als durchaus begehrenswert hin,
„daß unsere Freude völlig sei". Und wenn Paulus den
Thessalonichern zuruft: „Freuet euch allezeit!", so erwartet
er ebenfalls, daß seiner Aufforderung entsprochen
werde. Beachten wir jedoch, daß sowohl die Freude, von
der der Herr Jesus redet, als auch das Freuen, zu dem
Paulus auffordert, in Verbindung mit Gebet steht. Bei
einigem Nachdenken werden wir das auch ganz natürlich
finden. Von Sünden, Sorgen und Leiden aller Art umgeben,
die keine Freude in uns aufkommen lassen wollen,
können wir nur Frieden und Glück finden, wenn
— rb5 —
wir dem Gebot des Herrn: „Bittet!" einen fortgesetzten
Gehorsam entgegenbringen, und so auch fortgesetzt in der
Erfahrung der Wahrheit Seiner Verheißung stehen: „Ihr
werdet empfangen". So bittend und empfangend wird
das Herz reich und voll. Die geistlichen Segnungen einer
anderen Welt erschließen sich uns. Wir halten uns da
auf, wo Christus ist, und wo Er ist, da ist Freude die
Fülle.
Das Bitten, das zu diesem Empfangen und damit
auch zur völligen Freude führt, ist von sehr einfacher Art.
Ein kindliches Herz und ein demütiger Geist verstehen cs
am besten. Es ist keine große Weisheit dazu nötig. Als
der Herr Jesus „im Geiste frohlockte", dankte Er Gott,
daß Er Unmündigen Dinge geoffenbart habe, die vor
Weisen und Verständigen verborgen waren. Wir müssen
Unmündige werden, um Seine Freude teilen zu können.
Diese Freude ist zu unweltlich für den Weltförmigen, zu
hoch für den Stolzen, zu rein für den Jrdischgesinnten.
Aber sie hält ihren Einzug in das Herz des Einfältigen
und kindlich Glaubenden. Wer aufrichtig nach ihr ausschaut,
wird sie finden.
„Freuet euch allezeit!" Als habe der Apostel die
Schwierigkeit, dieser Aufforderung nachzukommen, gefühlt,
fügt er sogleich eine zweite hinzu, die klar und deutlich
allem Erdenleid und allen Schwierigkeiten begegnet:
„Betet unablässig!" Willst du dich „allezeit freuen",
dann „bete unablässig".
Ach, daß es so manche Gläubige gibt, die wenig
bitten und darum auch wenig empfangen und noch
weniger sich freuen!
166
„Christus alles und in allen"
Im Begriff, seine Führerschaft über Israel niederzulegen,
zeigte Moses, der „Mann Gottes", dem Volke an:
„Einen Propheten aus deiner Mitte.. gleich mir, wird
Jehova, dein Gott, dir erwecken; auf Ihn sollt ihr hören".
(5. Mose 18, 15.)
Jahrhunderte später trat dieser Prophet auf den
Schauplatz, und Moses hatte auf dem „Berge der Verklärung"
mit Elias das Vorrecht, in Seiner herrlichen
Gegenwart zu erscheinen.
Das wunderbare Geschehnis auf diesem Berge war
von einem Umstand begleitet, der jenen lang vorhergesprochenen
Worten Moses' einen besonderen Nachdruck verlieh,
denn wir lesen, daß auf den unverständigen Vorschlag
des Petrus: „Herr.., laß uns hier drei Hütten machen,
dir eine und Moses eine und Elias eine", eine lichte Wolke
sie überschattete, und eine Stimme aus der Wolke sprach:
„Dieser ist mein geliebter Sohn, an welchem ich Wohlgefallen
gefunden habe; Ihn höret". (Matth. 17.)
Diese Bemerkung hatte die sofortige Zurückziehung
der himmlischen Gäste zur Folge. Als die Jünger sich
umschauten, „sahen sie niemand mehr, sondern Jesum
allein bei sich". (Mark. 9, 8.)
Der Brief an die Kolosser gibt uns die gleiche Belehrung
und weist auf die Gefahr hin, uns von Christo, der
einzigen Lebensquelle, abzuwenden und uns den Lehren
der Menschen wieder zuzuneigen, mögen diese nun von
wirklichen Weltweisen oder gar von sogenannten christlichen
Lehrern herrühren und, wie man sagt, den Zweck
haben, „die Lehre des Evangeliums zu zieren". Die Gläu
— 167 —
bigen in Kolossä waren in großer Gefahr, ihre Zuflucht
zu „menschlicher Weisheit" zu nehmen. Uns drohen heute
Schriften, die „als Hilfsmittel dienen sollen, um den Geschmack
an Christo zu vermehren".
Im Blick auf diese Gefahr wendet der Apostel Paulus
sich mahnend an die Heiligen, die er persönlich nicht
erreichen konnte (Kap. 2, 1), daß doch niemand sie
verführe durch überredende Worte (V. 4), daß nicht jemand
sei, der sie als Beute wegführe durch die Philosophie
und durch eitlen Betrug, nach der Überlieferung
der Menschen (V. 8), daß niemand sie richte über
Speise und Trank, oder in Ansehung eines Festes usw.
Auch sollte niemand sie um den Kampfpreis bringen,
der seinen eigenen Willen tue in Demut und Engel-Anbetung.
(V. 18.) Mit Christo der Welt gestorben, hatten
sie nichts mehr mit den Lehren und Satzungen derMensch
e n zu tun. (V. 20.)
Vor allen diesen Dingen sollten auch wir auf der Hut
sein. Der Heilige Geist, dessen Bemühen es ist, „Christuni
zu verherrlichen" (Joh. 16, 14), hat den Apostel dahin
geleitet, ausführlich von Ihm zu reden, der in allem den
Vorrang haben muß, der allein allgenugsam ist, mag
cs sich nun um die Schöpfung oder um das Werk der
Versöhnung handeln. Er ist nicht nur der Erstgeborene
aller Schöpfung, sondern auch der Erstgeborene aus den
Toten. (Lies Kap. I, 18-22.)
Im 2. und 3. Kapitel wird die Aufmerksamkeit der
gläubigen Kolosser darauf hingelcnkt, daß „Christus alles
und in allen" sei, und daß sie „vollendet seien in Ihm",
in welchem „die ganze Fülle der Gottheit leibhaftig
wohnt".
1b8
In unseren Tagen, wo christliche Wissenschaft, Spiritismus,
Okkultismus und dergleichen Dinge sich breit-
machen, ziemt es den Gläubigen ganz besonders, sich „zu
hüten" vor dem ungesunden Glauben und dem verstümmelten
Christus, der gepredigt wird. Eitle Lehren, die sich
an den Verstand des Menschen wenden, sind in der
Tat ein elender Ersatz für den Sohn der Liebe Gottes,
wie „der Geist der Wahrheit" Ihn in den Schriften vor
uns stellt und wie Er allein für Herz und Gewissen
genügt.
Ser gute Hirte
Wie selig ist's, zu wandern
Mit Jesu ein und aus!
Cr leitet Seine Herde
Getreu ins Vaterhaus.
Nichts kann sie jemals rauben
Aus Seiner starken Hand,
Stets hält sie fest und sicher
Der Liebe ew'ges Band.
E r kennt die Schäflein alle,
Mit Namen Er sie nennt,
Sie kennen Ihn, den Treuen,
Wie Er den Vater kennt.
Bald langt „die kleine Herde"
Am Ziele droben an,
Bald ist der Weg beendet,
Der letzte Schritt getan.
Wie voll wird dann ertönen
Das Lob der sel'gen Schar!
Das neue Lied sie singen
Dem Lamme immerdar.
Ja, Dank Dir, teurer Heiland,
Mein Jesus und mein Herr!
Jetzt und in alle Zeiten
Anbetung Dir und Ehr'! R. Br.
„Stehe auf,
nimm dein Ruhebett auf und wandle."
IMark. 2, 1—12.1
Markus erzählt in den beiden ersten Kapiteln seines
Evangeliums drei charakteristische Wunder des Herrn, die
in ihrer Reihenfolge dem Bedürfnis des Menschen entsprechen.
Das erste Wunder ist die Austreibung eines unreinen
Geistes, die Befreiung von der bösen Macht Satans.
Das zweite Wunder ist die Reinigung eines Aussätzigen.
Der Aussatz ist das bekannte Bild der Sünde,
des natürlichen Zustandes des Menschen. Die Sünde wirkt,
wie der Aussatz, verunreinigend nach innen und außen. Ein
einziges häßliches, unreines Wort schadet nicht nur dem,
der es spricht, sondern befleckt auch den, der es hört. Im
dritten Falle, der Heilung eines Gelähmten, kommen wir
zu der vollständigen Hilflosigkeit des Menschen.
Ein gänzlich hilfloser Mensch ist der größte Anziehungspunkt
für die Gnade Gottes, da ein solcher dieser
Gnade am meisten bedarf. Das Anziehende für Gott in
dec Witwe von Sarepta war gerade ihre Armut und Not.
So sucht Gott auch heute in den einsamen, verwitweten
Herzen Wohnung zu machen. Und was findet Christus
für Anziehendes in dir? Sind cs deine schönen, edlen Eigenschaften?
Nein, es zieht Ihn zu dir, weil du bedürftig
und arm bist wie das kananäische Weib, das so bedürftig
war, daß cö schon mit den von den Kindern übriggelasse-
170
ncn Brosamen zufrieden sein wollte. Aber ihr Glaube erwarb
ihr den vollen Anspruch an die Hilfe des Herrn.
In dein Gelähmten tritt uns neben der völligen
Kraft- und Hilflosigkeit derselbe Glaube entgegen, der in
dem kananäischen Weibe wirkte. Da wo man nichts
tun kann, wo gar keine Kraft vorhanden ist, kann sich
der Glaube am meisten offenbaren. Der Schächer am
Kreuz ist ein wunderbares Beispiel des Glaubens, und
er erlangte nicht nur das wieder, was im Garten Eden
verloren gegangen war, sondern einen Platz im Paradies
Gottes.
Der Gelähmte war so völlig kraftlos, daß er überhaupt
nicht zu Jesu kommen konnte, und als andere den
Versuch machten, ihn zu Ihm zu bringen, wurden sic
durch das Gedränge daran gehindert. Doch was geschah?
„Da sie wegen der Volksmenge nicht nahe zu Ihm kommen
konnten, deckten sie das Dach ab, wo Er war; und
als sic es aufgebrochen hatten, ließen sie das Ruhebett
hinab, auf welchem der Gelähmte lag." Dem wahren
Glauben kann nichts Einhalt tun. Er strebt zu seinem
Gegenstand hin und läßt sich durch keine Hindernisse zurückschrecken.
Er gleicht dem Strom, der, eingedämmt,
nur umsomehr anschwillt und endlich die Dämme zerreißt.
Der Herr scheint zunächst gar keine Notiz von dem
Gebrechen des vor Ihm liegenden Mannes zu nehmen.
Er sagt: „Kind, deine Sünden sind vergeben". Nicht auf
die Lähmung ist Sein Auge gerichtet. Er schaut tiefer, bis
auf den Grund. Die Sünde war es, die diesen ganzen
Jammer angerichtet hatte. Und Gott sei gepriesen! wenn
Er heute zu einem Menschen sagt: „Deine Sünden sind
vergeben", so meint Er damit nicht nur einige, sondern
171
alle Sünden. Der Gläubige darf sagen: „Ms mein Heiland
Sein Werk auf Golgatha vollbrachte, hat Er alle
meine Sünden restlos hinweggetan". Hätte Er von hundert
nur neunundneunzig entfernt, so würde er um der
einen Sünde willen noch verloren gehen. Aber wir haben
in Ihm „die Vergebung der Sünden", nicht nur der
vor der Bekehrung geschehenen, sondern aller, so wie Gott
sie kannte; auch derer, die zur Stunde meines Glaubens
an Christum noch zukünftig waren. Wenn Er nicht für
sie alle gestorben wäre, wer sollte dann für sie sterben?
Gott hat die Sache des Sünders in Seine Hand
genommen. Wir selbst hätten sie nie in Ordnung bringen
können. Wir können unsere Sünden weder sühnen noch
wieder gutmachen. Und da Er nur mit einem vollkommenen
Sünd- und Schuldopfer sich zufrieden geben konnte,
hat Er selbst dieses Opfer gestellt, indem Er „Hilfe auf
einen Mächtigen legte" und durch Ihn alles Hinwegtat,
was Sein heiliges Auge beleidigte. In Ihm hat Er uns
fähig gemacht, für immer in Seiner heiligen Gegenwart
zu weilen. Nun kann i ch das, was Er in Gnaden gewirkt
hat, vielleicht vergessen, E r aber nie. Christus „ist unserer
Übertretungen wegen dahingegeben und unserer Rechtfertigung
wegen auferweckt worden". Ich gehöre jetzt Ihm
an, der mich erlöst hat. Ich darf fortan mit Ihm wandeln
und dem den Rücken kehren, dem ich bisher folgte,
der mein Verführer war und mich ins ewige Verderben
stürzen wollte.
In dem Augenblick, da ein Mensch an Christum
glaubt, darf er sich zu der Höhe der göttlichen Gnade erheben,
welche spricht: „Kind, deine Sünden sind vergeben".
Nach der Bekehrung mögen zum tiefen Befremden
172
des jungen Gläubigen noch mancherlei Verfehlungen Vorkommen.
Die Sünde ist noch in ihm, und daö Fleisch,
die alte Natur, ist unverbesserlich schlecht. Aber die Sünde
herrscht nicht mehr über ihn; er muß nicht sündigen,
sondern darf, unter der Gnade stehend, „in Neuheit des
Lebens wandeln". (Röm. 6.) Er befindet sich jetzt im
Kindesvcrhältnis zu Gott und darf als ein Kind seine
Sünden betrachten, nicht mehr, wie vorher, als ein verlorener,
Gott ferner Sünder. Freilich wird er als Kind
Gottes sagen: „Es geziemt sich nicht mehr für mich, zu
sündigen. Ich bin jetzt doppelt schuldig, wenn ich cs
tue." Aber wenn er dann mit dem Bekenntnis seiner
Schuld Gott naht, so kommt er als Kind zum Vater, und
Gott, der Vater, „ist treu und gerecht, daß Er ihm die
Sünden vergibt und ihn reinigt von aller Ungerechtigkeit"
— treu im Blick auf Seine Verheißung, gerecht im Blick
auf das Werk Christi.
David sagt in Psalm 32: „Glückselig der Mensch,
dem Jehova die Ungerechtigkeit nicht zurechnet, und in
dessen Geist kein Trug ist!" Diese beiden Dinge gehören
zusammen. Gott rechnet dem Glaubenden nicht länger
Sünde zu, aber dieser wandelt auch in Aufrichtigkeit, sonder
Trug, vor Gott im Licht. Er mag fehlen, aber das
raubt ihm nicht seine neue Stellung vor Gott. Wohl fühlt
er sich in Gottes Gegenwart tief gedemütigt. Er erkennt
und fühlt schmerzlich seine große Schuld, bekennt sie
aufrichtig, und indem er daö tut, weiß er, daß Gott sie
ihm um Jesu willen vergibt und nicht mehr zurechner.
Er gleicht einem unartigen Kinde, das trotz der ernsten
Warnungen der Mutter sein reines Kleid mit Straßenkot
beschmutzt hat und nun wieder sauber gemacht werden
17Z
muß. Tiefbeschämt muß er mit seinem Schmutz vor den
Vater hintreten; nicht das Geringste von dem Straßenkot
darf zurückbleiben, wenn er anders mit dem Vater
im Innern des Hauses wieder Gemeinschaft haben will.
Doch kehren wir zu unserer Geschichte zurück. „Was
redet dieser also?" murren einige der Schriftgelehrten.
„Er lasiert. Wer kann Sünden vergeben, als nur einer,
Gott?" Und Jesus antwortet ihnen: „Was überleget ihr
dies in euren Herzen? Was ist leichter, zu dem Gelähmten
zu sagen: Deine Sünden sind vergeben, oder zu sagen:
Stehe auf, nimm dein Ruhebett auf und wandle?
Auf daß ihr aber wisset, daß der Sohn des Menschen
Gewalt hat auf der Erde Sünden zu vergeben... spricht
Er zu dem Gelähmten: Ich sage dir, stehe auf, nimm
dein Ruhebett auf und gehe nach deinem Hause."
Haben wir bisher davon gehört, was der Herr für
eine Seele zu tun vermag, so kommen wir jetzt zu dem,
was Er i n ihr wirkt. Im ersten Falle ist jedes Handeln
unserseits ausgeschlossen, im zweiten kommt manches
auf uns an. Im ersten Falle tut Gott alles, aber Er
läßt es nicht dabei bewenden. Er vergibt nicht nur, sondern
teilt dem Gläubigen auch eine neue Kraft mit, die
sich darin kundgibt, daß er das Bett, auf dem er gelegen,
also gerade das Bild und Zeugnis seiner Schwachheit, zu
tragen vermag; mit anderen Worten, daß er in den Dingen,
in welchen sich bisher seine ganze Ohnmacht offenbarte,
sich durch die Gnade nunmehr stark erweisen kann.
Der schwache Mann hier, der ohne sein Bett gar nicht
sein konnte, wird aufgefordert, gerade dieses Bett zu tragen.
Die Gnade kehrt unsere Schwachheit ins Gegenteil
174
um. Sie vermag den habsüchtigen Menschen in einen freigebigen,
den stolzen in einen demütigen, den Löwen in
ein Lamm zu verwandeln.
Der zur Rechten Gottes verherrlichte Menschensohn
will uns Kraft darreichen, Ihn auf der Erde zu verherrlichen,
trotz allem, was in uns und um uns her uns
daran zu hindern sucht. Vielleicht wirst du einwenden:
Aber ich bin noch in dem alten Leibe, in welchem die
Sünde wohnt. Das ist allerdings so, aber bedenke, daß
du gerade die Glieder dieses Leibes, mit denen du bisher
der Sünde dientest, zu Werkzeugen der Gerechtigkeit, Gott
zur Ehre, gebrauchen darfst und sollst. Indem du einfältig
mit dem Herrn wandelst, durch Sein Wort dich
üben läßt, auf die Weisungen Seines Geistes achtest, wirst
du immer mehr herausfinden, was deine besonderen Versuchungen
sind, was „dein Bett" ist. Er vermag das,
was die Darstellung Seiner Gnade in dir hindert, zu beseitigen,
so völlig zu beseitigen, daß auch deine Umgebung
erstaunt auörufen möchte: „Niemals haben wir es also
gesehen!" Auch unser Leib gehört dem Herrn, Er hat
uns ganz für sich erworben, wie geschrieben steht: „Ihr
seid um einen Preis erkauft worden; verherrlichet nun
Gott in eurem Leibe".
Die Geschichte eines Gläubigen, der mit Gott wandelt,
wird uns immer zeigen, wie er durch die Gnade
Kraft gewinnt, sich über seine Natur zu erheben. War er
von Hause aus ein harter, eigenwilliger Mann, so werden
wir gerade diese Eigenschaft jetzt an ihm vermissen.
Er hat gelernt und lernt fortwährend, sein Bett zu tragen.
Iemehr der neue Mensch in ihm sich kräftigt, desto weniger
wird er unter dem Einfluß seiner alten Natur stehen.
175
Er ist nicht mehr auf sein Bett angewiesen, sondern er
trägt es.
In Eph. 4, 28 lesen wir: „Wer gestohlen hat, stehle
nicht mehr, sondern arbeite vielmehr und wirke mit seinen
Händen daö Gute, auf daß er dem Dürftigen mitzuteilen
habe". „Wer gestohlen hat, stehle nicht meh r." Hierbei
mögen manche Gläubige stehen bleiben, aber was will
die Kraft Gottes aus einem Dieb machen? Ein Dieb ist
ein Nehmer, die Gnade macht ihn zu einem Geber.
„Er arbeite vielmehr und wirke mit seinen Händen daö
Gute, auf daß er" — sich und seine Familie ehrlich
durchbringe? — nein, sondern „auf daß er dem Dürftigen
mitzuteilen habe".
Wir könnten an manchen Beispielen zeigen, wie Gläubige
gerade darin stark und hervorragend wurden, worin
sie von Natur völlig versagten. Denken wir an den stürmischen,
auf seine eigene Kraft vertrauenden Petrus, der
stets in allen Dingen voran war und wandelte, wohin
er wollte. Nachher durfte er ein Vorbild der Herde sein
in Demut und Gnade und seine schwachen, irrenden Brüder
stärken. Wir alle wissen auch, welch ein listiger Mann
Jakob war. Nur an die Gegenwart und seinen eigenen
Vorteil denkend, ging er eigenwillig seinen Weg. Aber
am Ende seines Lebens finden wir ihn, auf seinen Stab
gelehnt, als einen Anbeter. Daö Herz eines Anbeters
ist ganz hingenommen von dem Gegenstand, der es beherrscht;
mit diesem Gegenstand ist es bewundernd beschäftigt.
Und Jakob betete nicht nur an, vergaß nicht
nur sich selbst, sondern dachte auch, anstatt für die Gegenwart
Pläne zu schmieden, an zukünftige Dinge. Die
Gnade hatte ihn völlig umgewandelt. Er dachte nur an
- k7b -
andere. Obgleich alles für ihn leer und Rahe! auf dem
Wege gestorben war, murrte er nicht. Ist das der Jakob,
wie wir ihn einst kannten? Ja, er ist es, aber alles ist
ins Gegenteil umgekehrt, er trägt sein Bett.
Ein Christ ist berufen, den verherrlichten Menschen,
der im Himmel ist, hienieden darzustellen. Um das
aber zu können, muß er Ihn da anschauen, wo Er ist.
Der Apostel Paulus konnte sagen: „Das Leben ist für
mich Christus". Dieser Mann war nicht durch daö Christentum
„veredelt oder verbessert" worden. Die Kraft
Gottes hatte einen völlig neuen Menschen aus ihm gemacht.
Gott macht nicht einen Sünder zu einem guten
Menschen, sondern bringt Christum in ihm zur Darstellung.
Alle menschlichen Religionen, auch die verschiedenen
christlichen, streben dahin, den Menschen zu veredeln.
Gott aber schafft etwas ganz Neues und bewirkt
in dem Gläubigen den Wunsch, daß Christus hoch erhoben
werde an seinem Leibe. (Phil. 7, 20.) Obwohl von
Natur nur ein wilder Dornzweig, bin ich berufen, den
Duft einer Rose um mich her zu verbreiten.
Möchte der Herr in Seiner Gnade deshalb unser
aller Herzen verständlich machen, daß erstens das Blut
Christi uns vollkommen reingewaschen hat von allem, was
sich wider uns erheben konnte, und daß Gott nun in uns,
als Menschen in Christo, Seine volle Befriedigung findet,
und zweitens, daß uns allen jene göttliche Kraft zur Verfügung
steht, die uns in den Stand setzt, gleich dem Gelähmten
unser Bett zu tragen! Da ist niemand von uns,
der nicht ein Bett hätte, und das Werk Gottes in uns ist
gehindert, solang wir nicht willig sind, unser
Bett zu tragen.
777
Der Gelähmte sollte es auch nicht nur über die
Straße tragen. Er sollte es nach seinem Hause
bringen. Zuhause ist es, wo wir am meisten fehlen, wo
unser Zukurzkommen sich in erster Linie bemerkbar macht,
weil wir geneigt sind, uns zuhause am meisten gehen zu
lassen.
Ich weiß nicht, was dein Bett ist. Das meine glaube
ich zu kennen. In einem Sinne können wir wohl alle
sagen: Es ist das Fleisch in uns in allen seinen Eigenschaften,
das was Christum hindert, durch mich zu leuchten.
Nachdem wir Christum i n uns ausgenommen haben,
handelt es sich für uns alle darum, Christum auö uns
hervorleuchten zu lassen.
„Alle gerieten außer sich", lesen wir. Es ist auch
heute ein erstaunlicher Anblick, wenn Christus aus solch
armen Geschöpfen, wie wir sind, hervorleuchtet, wenn die
Kraft Gottes in unserer Schwachheit vollbracht wird. Gott
will, wie wir hörten, in unserem Leibe von uns verherrlicht
werden. Unser Angesicht sollte allezeit, selbst in schwerer
Zeit, den Frieden unserer Herzen widerstrahlen. Ja,
Gottes Wille ist, daß wir uns „allezeit freuen". Und
dieselbe Kraft, die einst in Christo wirkte, wirkt heute in
uns, um uns in Sein Bild zu verwandeln. Gott sei gepriesen!
bald werden wir völlig in Sein Bild umgestal­
tet werden.
Und wenn wir, nach dieser Zeit,
Dort mit Dir verherrlicht stehen,
Wird doch jeder in uns sehen,
Herr, nur Deine Herrlichkeit.
778

Jesus in der V?üste
Der Herr Jesus, als vollkommen abhängiger Mensch,
und Satan, der Fürst dieser Welt, standen einst in der
Wüste einander gegenüber. Diese Begegnung fand statt,
ehe der Herr Seinen öffentlichen Dienst begann. Satan
bezweckte, Ihn von dem Wege des Gehorsams und der
Abhängigkeit von Gott abzulenken. Aber der Herr schlug
alles aus, was Satan Ihm anbieten konnte, und Satan
verließ Ihn für eine Zeit, um Ihm am Ende Seines
Weges, im Garten Gethsemane, noch einmal entgegenzutreten
und Ihm die Schrecken des Todes als Sold der
Sünde vor die Seele zu stellen. Später, am Kreuze, zerbrach
der Herr Satans Macht und machte ihn vollständig
zunichte.
187
Werfen wir einen kurzen Blick auf die Ereignisse, die
der Begegnung in der Wüste voraufgingen. Durch den
größten Propheten, der je aufgestanden ist, ließ Gott die
Bewohner von Jerusalem, Judäa und der ganzen Umgegend
des Jordan auffordern, von dem Wege der Untreue
gegen Ihn umzukehren, Buße zu tun und sich von
Johannes im Jordan taufen zu lassen. Viele folgten der
Aufforderung, indem Gott in ihren Herzen wirkte; und
zu ihnen sagt Jesus gleichsam: „Ihr geht den rechten
Weg, und ich will mit euch gehen". Indem Er zu Johannes.
kam, um auch selbst getauft zu werden, machte Er
sich mit Leuten eins, die „ihre Sünden bekannten". Zugleich
stellte Er in dem Werke der Erfüllung „aller Gerechtigkeit"
Johannes mit sich auf einen Boden. Beachten
wir jedoch: Er machte sich nicht eins mit den Sünden
jener Bußfertigen, sondern mit dem Werke Gottes in
ihnen. Das erste Gute in einem Sünder ist das Bewußtsein,
daß nichts Gutes in ihm ist.
Unsere Sünden trug der Herr lediglich am Kreuze,
wie geschrieben steht: „Welcher selbst unsere Sünden an
Seinem Leibe aüfdemHolze getragen hat", (t. Petr.
2, 24.) Er trug sie nicht im Garten Gethsemane, noch zu
irgend einer anderen Zeit. Auch wenn von dem Fluche
eines gebrochenen Gesetzes die Rede ist, wird er mit dem
Kreuze in Verbindung gebracht: „Christus hat uns losgekauft
von dem Fluche des Gesetzes, indem Er ein Fluch
für uns geworden ist; denn es steht geschrieben: „Verflucht
ist jeder, der am Holze hängt!"" Zu gleicher Zeit konnte
von dem Herrn gesagt werden: „Der durch den ewigen
Geist sich selbst ohne Flecken Gott geopfert hat".
Während Seines ganzen Lebens, hienieden hat Er kein Un
188
recht begangen, nie ist ein Trug in Seinem Munde gewesen.
(Jes. 53, y.) So konnte Er der Gerechtigkeit Gottes
ein vollkommen reines, fleckenloses Opfer darbringen. Aber
dann hat diese Gerechtigkeit mit Ihm gehandelt, wie die
Sünde es verdiente. Wer kann das ermessen? Wer diese
beiden Dinge miteinander vereinigen? Und doch ist es am
Kreuze geschehen, wie wir lesen: „Den, der Sünde nicht
kannte, hat Er für uns zur Sünde gemacht, auf
daß wir Gottes Gerechtigkeit würden in Ihm".
Wir lesen in Joh. 3, 21: „Wer die Wahrheit tut,
kommt zu dem Lichte". Stände da: „Wer das Gute tut",
so müßten wir alle verzagen. Aber Gott sei Dank! wir
sind nicht darauf angewiesen, unser Bestes zu tun,
sondern die Wahrheit zu tun. Folgen wir der Aufforderung,
so finden wir alles, was wir nötig haben, in
Gottes Herz für uns. Er hat Lust an der „Wahrheit im
Innern" (Ps. 51, 6), und Er findet sie in Menschen,
die ehrlich bekennen: „In mir, daö ist in meinem Fleische,
wohnt nichts Gutes". So machte auch der Herr sich einst
in Güte mit jenen Armen eins, die zu Johannes kamen
und ihre Sünden bekannten, in einer Güte, die auf das
Kreuz vorausblickte, das die Unreinen ebenso passend für
die Herrlichkeit machen sollte, wie Er selbst es war. Mil
dem Kreuze vor Seinen Augen erblickte Er in ihnen „die
Heiligen und Herrlichen" der Erde, an denen alle Seine
Lust war. (Vergl. Ps. 16, 3.)
Gelegentlich der Taufe des Herrn öffnen sich die
Himmel über Ihm, und zum erstenmal findet eine Offenbarung
der göttlichen Dreieinheit statt. Bis dahin hatte
Gott nie völlig geoffenbart werden können. Jetzt aber war
daö Wort Fleisch geworden. Auf die Erde herabgekommen,
189
um den Vater hienieden vollkommen zu offenbaren, ist
der Sohn Gottes dann in die Herrlichkeit zurückgekehrt,
aber nicht eher, als bis Er die Reinigung unserer Sünden
gemacht hatte. Wie annehmlich wir fetzt vor Gott
sind und wie nahe Seinem Vaterherzen gebracht, können
wir daran ermessen, daß der Sohn schon dort ist, der einst
unser Fernsein von Gott am Kreuze in seiner ganzen Größe
ausmessen und auskosten mußte.
Die Himmel sind geöffnet. Der Vater bekundet Sein
Wohlgefallen an Dem, der soeben durch Sein Tun von
jenen armen, ihre Sünden bekennenden Menschen bezeugt
hat: „an ihnen ist alle meine Lust", und der Heilige Geist
bestätigt die Äußerung des Vaters, indem Er sich in Gestalt
einer Taube auf den Sanftmütigen und von Herzen
Demütigen herabläßt. Welch ein Schauspiel: Auf der einen
Seite der gefallene Mensch in seinem ganzen Verderben,
auf der anderen der vollkommene Mensch, der sich zu
jenem bekennt, und dann Gott, wie Er in Seiner Herrlichkeit
erscheint und der Handlung Jesu Beifall zollt!
Aber dürfen wir nicht auch heute noch Ähnliches erleben?
Wo immer ein überführter Sünder oder ein auf
Grund Seines Fehlens niedergebeugter Gläubiger feine
Schuld bekennt, da ist „Wahrheit im Innern" vorhanden,
und der Herr Jesus, „Derselbe gestern und heute
und in Ewigkeit", tritt gleichsam an die Seite beider und
zeigt dem einen die Kraft des kostbaren Blutes, das in
der Gegenwart Gottes ein Gewissen ohne Anstoß zu geben
vermag, und wendet bei dem anderen „Waschbecken"
und „leinenes Tuch" in ihrer geistlichen Bedeutung an
zur Wiederherstellung der Gemeinschaft mit dem Vater
und der Freude in Seiner Gegenwart. (Joh. 13, 4. 5.)
ryo
Es war der Geist, der den Herrn „in die Wüste
hinaufführte, um von dem Teufel versucht zu werden".
Der Sohn Gottes mußte, um in allem erprobt zu werden,
Satan begegnen. Nachdem Er vierzig Tage und vierzig
Nächte ohne Nahrung unter den wilden Tieren zugebracht
hatte, hungerte Ihn danach. Das bot Satan Gelegenheit,
seine ganze List und Verschlagenheit an den Tag
zu legen.
Wir sahen, daß Menschen, die sich als sündige, schuldbeladene
Geschöpfe bekennen, dieWahrheit tun. Satan
und seine Helfershelfer handeln genau entgegengesetzt.
Statt ihre Bosheit offen zu zeigen, geben sie sich einen
äußeren guten Schein. „Satan selbst nimmt die Gestalt
eines Engels des Lichts an; es ist daher nichts Großes,
wenn auch seine Diener die Gestalt als Diener der Gerechtigkeit
annehmen." (2. Kor. 44, 44.) So trat er auch
hier vor den Herrn; doch nur die letzten drei Versuchungen
werden uns erzählt.
Schon das erste Wort, das er spricht, kennzeichnet
ihn als den „Lügner", in welchem keine Wahrheit ist.
(Vergl. Joh. 8, 44.) „Wenn du Gottes Sohn bist",
sagt er. Mit anderen Worten: Hier hast du eine Gelegenheit,
zu beweisen, wer du bist. Warum solltest du es nicht
tun? Lang genug hast du gefastet. Warum solltest du,
wenn du der Schöpfer und Erhalter des Weltalls bist,
hungern? Darum: „Sprich, daß diese Steine Brot
werden". — Satan sucht zugleich, wie bei dem ersten
Adam, Mißtrauen im Blick auf Gottes Güte in dein
Herzen Jesu wachzurufen. Wenn Er Gottes Sohn war,
wie konnte Gott Ihn dann so lang auf die Befriedigung
Seiner menschlichen Bedürfnisse warten lassen?
ryr
Nichts gibt dem Worte Gottes einen wichtigeren
Platz, als die Antwort des Herrn aus diese böse Einflüsterung
des Feindes. Als der gehorsame, abhängige Mensch,
dessen Wille nur durch das Wort des Vaters in Tätigkeit
gesetzt werden konnte, wartet Er auf Ihn. Anstatt Seine
göttliche Macht zu Seinem Vorteil zu gebrauchen, was
für uns weder ein Vorbild noch eine Ermunterung gewesen
wäre, zieht Er sich dem Angriff Satans gegenüber
in den Schutz des allgenugsamen Wortes zurück. So bewahrt
Er den Boden, den Sein Volk Israel aufgegeben
und darum Niederlage auf Niederlage erlitten hatte. „Es
steht geschrieben: Nicht von Brot allein soll der Mensel-
leben, sondern von jedem Worte, das durch den Mund
Gottes ausgeht." *) Hungrig wie Er war, wartete Er auf
ein Wort des Vaters, das Ihn zum Handeln veranlassen
konnte. Was konnte Satan einer solchen Abhängigkeit,
einem solchen Vertrauen gegenüber tun? Der Sohn ruhte
*) Cs ist sehr bezeichnend, daß der Herr zu Seinen drei Antworten
auf die Versuchungen Satans ausschließlich Stellen aus
dem 5. Buche Mose benutzt. Der Inhalt dieses Buches kennzeichnet
in ganz besonderer Weise den damaligen Zustand des Volkes
Israel: Eigenwillen und Ungehorsam, verbunden mit einem kraftlosen,
äußeren Zercmonicndienst. Schon als das Buch gegeben
wurde, hatte Israel seinen Ungehorsam Gott gegenüber in den
schlimmsten Formen bewiesen, und nur die in Mose wirkende Gnade
Gottes hatte diesen Mann befähigen können, noch einmal mit solch
ergreifenden Worten zu dem Herzen und Gewissen des Volkes zu
reden und ihm kundzutun, was sich für sie geziemte.
Aber ach! Israel hatte damals kein Verständnis gezeigt für
die Ermahnungen des treuen Knechtes Gottes, und zur Zeit des
Herrn Jesus war es noch weniger der Fall. Aber je geringer die
Gefühle der Juden waren, umsomehr fühlte Jesus für sie, und es
ist tief ergreifend, gerade Ihn, den wahren Israeliten, der niemals
um eines Haares Bxeitc von den Geboten Gottes abgcwichcn war,
das offenbaren zu sehen, was das einzige Hilfsmittel für eine Zeit
des Verfalls ist: den Geist eines einfältigen, willigen, unweigerlichen
Gehorsams Gott und Seinem Wort gegenüber.
7Y2
in dem Bewußtsein, daß der Vater alle Seine Bedürfnisse
kannte und zur rechten Zeit befriedigen würde. So
hat der Herr uns den Beweis geliefert, daß das Wort
den abhängigen Gläubigen dem Feinde gegenüber unverwundbar
und unüberwindlich macht.
Satan ist geschlagen. Auch von uns würde er jederzeit
besiegt werden, wenn wir in gleicher Weise abhängig
wären. Ach, daß wir immer wieder zu eigenen Hilfsquellen
unsere Zuflucht nehmen und nicht allein auf Gott
warten! Das ist es, was den Feind so oft triumphieren
läßt. Die besten Absichten und Beweggründe genügen nicht.
Der Feind wird den Gläubigen stets überwinden, der nur
aus solchen Beweggründen heraus handelt. Dagegen hat
er es noch nie fertig gebracht, einen Gläubigen zu besiegen,
der ihm mit dem einfältigen Gehorsam gegen Gottes Wort
entgegentrat.
In seinem zweiten Angriff führt Satan selbst eine
Bibelstelle an und fordert den Herrn auf, auf Grund der
darin enthaltenen und auf Ihn selbst bezüglichen Verheißung
zu handeln. Fürwahr, ein feiner, listiger Betrug!
War das Angeführte nicht Gottes Wort? Noch dazu eine
Stelle, die ausdrücklich für den Messias geschrieben war?
Und war die darin gegebene Zusage nicht sicher? Alles
daö war durchaus so, aber hatte Gott gesagt: „Wirf dich
von dem Tempel herab, dann will ich meinen Engeln
über dir befehlen"? Hätte ein solches Tun nicht wieder
geheißen: handeln, ohne eine Anweisung von Gott zu haben?
Za, mehr noch: handeln, um Gott auf die Probe zu
stellen, ob Sein Wort auch wirklich eintreffen würde?
Der Herr antwortet deshalb, indem Er wieder aus dem
Buche eine Stelle anführt, das davon erzählt, wie Israel
193
seiner Verantwortlichkeit nicht entsprochen hat: „Wiederum
steht geschrieben: Du sollst den Herrn, deinen
Gott, nicht versuchen". Mochte Satan in seiner List und
Vcrdrchungskunst auch das Wort Gottes selbst anfüh-
rcn, der abhängige Mensch konnte und wollte Gott nicht
versuchen.
Durch die Antwort: „Wiederum steht ge-
schriebe n", gibt der Herr uns ein zweites Beispiel, wie
wir uns niemals aus unserer Festung hinauötreiben lassen
sollen, auch nicht wenn der Feind das Wort selbst uns in
bctrüglicher Weise entgegenhält. Er fand auch jetzt vollkommene
Befreiung in dem Gehorsam gegen das Wort,
aus welchem Er einen klaren, bestimmten Ausspruch anführt,
der Satans böse, mißbräuchliche Benutzung des
91. Psalmes ans Licht stellt. Laßt uns Seinem Beispiel
folgen und nicht auf Verhandlungen uns einlassen, sondern
dem bestimmt ausgesprochenen Willen Gottes einfältig
folgen. Wenn geschrieben steht, daß wir Gott
nicht versuchen sollen, wie kann uns dann eine andere
Stelle zu dem Gegenteil auffordern?
„Wiederum nimmt der Teufel Ihn mit auf einen
sehr hohen Berg und zeigt Ihm alle Reiche der Welt
und ihre Herrlichkeit, und spricht zu Ihm: Alles dieses
will ich dir geben, wenn du niederfallen und mich anbeten
willst." Im 5. Buch Mose wird uns berichtet, wie das
Volk Israel Gott verlassen. Ihn durch fremde Götter
zur Eifersucht gereizt und „Dämonen und nicht Gott geopfert"
hat. Der Herr Jesus, sich wieder auf dieses Buch
stützend, antwortet dem Teufel: „Es steht geschrieben:
Du sollst den Herrn, deinen Gott, anbeten und Ihm
allein dienen". Hatte Israel im Unglauben und Unze-
144
horsam gehandelt, Er nimmt als der abhängige Mensch
den Platz des gehorsamen Dieners Gottes ein, der bereit
war, um jeden Preis Seinen Dienst zu erfüllen.
Noch ein Wort zu dieser letzten Versuchung. Als
Sohn Gottes in diese Welt hineingeboren, als Messias
und König von Israel erschienen, gehörte dem Herrn alles,
was Satan Ihm zeigte. Der Feind hatte es widerrechtlich
an sich gerissen, und der Mensch in seiner Untreue war ihm
gefolgt. Aber der Herr Jesus wollte es weder von Satan,
noch unter einem der obigen Titel annehmen. Hätte Er
es getan, so hätten wir nie Seine Miterben werden können.
Durch den Sündenfall und das darauf folgende Gericht
Gottes hatte Satan Macht erlangt über alle Menschen,
den einen vollkommenen Diener ausgenommen. Jesus
allein hätte frei ausgehen können. Aber Er sagt: „Ich
liebe meinen Herrn" — Er hatte den Platz des Dieners
freiwillig eingenommen —, „ich liebe mein Weib" —
„die Braut, das Weib des Lammes", — „ich liebe meine
Kinder", — „siehe, ich und die Kinder, die Gott mir
gegeben hat" — „ich will nicht frei ausgehen". Anstatt
also Sein rechtmäßiges Besitztum anzutreten, nimmt Er
den Platz des leidenden Menschensohneö ein und zerbricht
am Kreuze die ganze Macht des Feindes über uns. Indem
Er das Gericht Gottes über die Sünde erduldete, die dem
Tode seine Schrecken und Satan seine Macht über die
Menschen gegeben hatte, kehrte alle Macht zu Ihm, dem
gestorbenen und auferstandenen Menschensohne, zurück.
Und nachdem Er so das wunderbare Werk vollbracht hat,
das uns die gleichen Rechte gibt, die Er selbst besitzt, ist
Er in den Himmel eingegangen und hat uns hier auf der
Erde, gleichsam zwischen Kreuz und Herrlichkeit stehend,
195
zurückgelassen, damit wir die Zeugen Seiner Siege sein
und eine Kraft offenbaren sollen, die nicht wir besitzen,
in der Er aber, je nach Bedürfnis, f ü r uns und i n uns
wirkt.
Überall Licht
Während des Bürgerkrieges zwischen den nördlichen
und südlichen Staaten von Nordamerika lag ein Feldprediger,
von einem bösartigen Fieber befallen, in seinem
Zelt. Er war mutlos und verzagt und vergaß, seine Zuflucht
zu Gott zu nehmen.
Eines Morgens steckte eine Negerin ihren Kopf durch
den Jeltbehang, erkundigte sich teilnehmend nach seinem
Befinden und fragte dann treuherzig:
„Massa die Lichtseite gar nicht sehen?"
„Nein, Noomi", erwiderte der Prediger, „ich sehe
nirgendwo Licht. Alles ist dunkel um mich her."
„Das aber seltsam sein, Massa! Noomi überall
Licht sehen."
„Ist das möglich, Noomi? — Aber vielleicht hast du
noch nie schwere Leiden in deinem Leben durchgemacht?"
„Das ich doch meinen", erwiderte die Frau und erzählte,
wie ihre Kinder, nachdem sie herangewachsen waren,
eines nach dem anderen nach dem Süden verkauft
worden seien. Danach hatte ihren Mann dasselbe Los getroffen,
und schließlich war auch sie nach einem Ort verschleppt
worden, wo sie sehr schwere Arbeiten zu verrichten
hatte. „Aber", so schloß sie, „Massa vielleicht noch mehr
durchgemacht haben, als Noomi."
Der Prediger war tief beschämt. Was war sein Lei-
196
den im Vergleich mit den Erfahrungen dieser schwergeprüften
Frau?! Er konnte nicht sofort antworten. Endlich
fragte er:
„Und trotz alledem sichst du noch überall Licht,
Noomi? Wie ist das nur möglich?"
„O wenn Noomi schwarze Wolke kommen sehen",
entgegnete die Negerin, „dann schnell nach der anderen
Seite schauen. Da Noomi Jesus sehen. Und wo Jesus ist,
da immer hell!"
Kölsches wissen
Ein Mensch weiß vielleicht viel über Steine und Felsen,
aber sein Herz bleibt dabei so hart wie sie. Er mag
über Winde und Stürme reden können, und ist doch der
Spiclball seiner Leidenschaften, die so wild sind wie jene.
Er mag ein berühmter Sternkundiger sein, und doch einem
Meteor gleichen, das nach kurzem, strahlendem Lauf in
ewiger Finsternis erlischt. Er mag über die Wunder des
Meeres zu reden wissen, und doch gleicht seine Seele den
gewaltigen Wogen, die nie zur Ruhe kommen können. Er
mag wissen, wie er den Blitzstrahl von seinem Hause
fernhalten kann, aber nicht, wie er den Zorn Gottes von
seinem schuldigen Haupte abwenden soll. Er mag viele
Geheimnisse kennen und das Verborgene erforschen, aber
er hat keine Kenntnis von der Liebe Gottes, wie sic in
Christo den sündigen Menscben begegnet ist. — Was
kommt bei dem allen heraus?
„Was wird es einem Menschen nützen, wenn er die
ganze Welt gewönne und seine Seele einbüßte?"
(Mark. 8, 36.)
„Ich danke dir, daß ich nicht bin ..
Der Mensch hört nicht gern die ganze Wahrheit über
sich. Er bleibt lieber an der Oberfläche haften und scheut
sich vor einer Aufdeckung seines inneren Zustandes, der
Tiefen seines Herzens. Mit anderen Worten: er möchte
nicht gern vor sich und anderen so schlecht erscheinen, wie
er ist. Es ist auch demütigend zu hören, daß man ein unreiner,
verlorener Sünder sein soll, zu nichts Gutem
tauglich. Und doch ist gerade das der Zustand des
natürlichen Menschen vor Gott. Menschen mögen anders
urteilen und einander liebenswürdig, achtbar und selbst
fromm nennen, aber vor Gott sind alle verloren. Sic
sind in diese Welt gekommen als hilflose, unreine, hoffnungslos
verlorene Wesen, und sie haben sich seitdem als
solche erwiesen.
Das ist die Wahrheit im Blick auf alle Menschen
von Natur, so befremdlich es manche auch finden mögen,
„die auf sich selbst vertrauen, daß sie gerecht seien, und
die übrigen für nichts achten". (Luk. 48, y.) Es gab solche
Menschen zur Zeit des Herrn Jesus, und es gibt heute
solche, ja, ihre Zahl ist groß. Der Herr, der „alle kannte
und nicht bedurfte, daß jemand Zeugnis gebe von dem
Menschen" (Joh. 2, 24. 25), durchschaute sie und tat
ihnen kund, was ihre Gedanken waren (Am. 4, 43), indem
Er folgendes Gleichnis zu ihnen sprach:
„Zwei Menschen gingen hinauf in den Tempel, um
zu beten, der eine ein Pharisäer und der andere ein Zöllner."
(Luk. 48, 40.) Wir sprachen eben von Unterschieden
ry8
unter den Menschen, und in der Tat, äußerlich bestehen
sie: der eine ist reich, der andere arm, der eine religiös,
der andere ungläubig. Aber Gott nimmt wenig Notiz von
diesen Unterschieden. So unterschied sich auch der Pharisäer
äußerlich sehr von dem Zöllner, aber vor Gott standen
beide Männer auf demselben Boden: „Zwei Mcn-
s ch c n" gingen in den Tempel hinauf, beide sündig, beide
verloren. Freilich, der eine war ein verlorener Pharisäer,
der andere ein verlorener Zöllner, aber nach dem Urteil
Gottes war kein Unterschied. Sein Urteil lautet: „Da ist
keiner, der Gutes tue, auch nicht einer", alle haben gesündigt.
Es mag gut sein, bei dieser Gelegenheit darauf hinzuweisen,
daß auch in anderer Beziehung kein Unterschied
besteht. Und so ernst diese Wahrheit in dem einen Falle
ist, so kostbar ist sie in dem anderen. All. ind verloren,
aber für alle ist auch Gottes Güte und Mc. 'chcnliebc
heilbringend erschienen: „derselbe Herr von allen reich
für alle, die Ihn anrufen". (Röm. 3, 23; 10, t2.)
Auf Grund dieser beiden Stellen lassen sich die zahllosen
Unterschiede, welche die Menschen machen, auf nur zwei
zurückführen, vielleicht mit einigen Schattierungen, die
aber bedeutungslos sind: da sind solche, die auf sich
selbst vertrauen, und solche, die auf Christum vertrauen.
Schreiber und Leser dieser Zeilen gehören auch zu
der einen oder der anderen dieser beiden Klassen, und je
früher und klarer ein Mensch zu der Erkenntnis dieser
Wahrheit kommt, umso besser für ihn.
Es gibt einen Charakterzug, der alle auf sich selbst
vertrauenden Menschen kennzeichnet: sie alle haben eine
ganz einseitige Vorstellung von sich und ihrem Zustand.
— 199 —
Dieser Zug tritt in dem Bilde, das des Meisters Hand
selbst gemalt hat, ganz besonders auffallend hervor: „Der
Pharisäer stand und betete bei sich selbst also: O Gott,
ich danke dir, daß ich nicht bin wie die übrigen der Menschen".
Beachten wir wohl: „er betete bei sich selb st".
Ein auf sich selbst vertrauender Mensch weiß nichts von
Gemeinschaft mit Gott. Das Pharisäertum hat keinen
Raum für anderes und andere, nur für das eigene Ich.
Es baut sich aus auf eigenes Tun und infolge dessen auf
einen vermeintlichen Selbstbesitz.
„O Gott, ich danke dir." Wofür? Etwa für Gottes
Gnadcnerweisungen, für Seine freigebige Hand, Sein
Leiten und Bewahren? Oder für Seine Güte und Langmut
einem unwürdigen, stets irrenden Sünder gegenüber?
Daö wäre verständlich. Aber nein, von solchen Anlässen
zum Danken weiß ein Pharisäer nichts. Er sagt: „Ich
danke dir, daß ich", nicht: „Ich danke dir, daß du ..."
Er ist nur von dem „Ich" erfüllt. Alles andere ist ausgeschlossen.
Das ist in der Tat ein schlimmes Ding. Denn
wahre Beweggründe zum Danken findet die Seele nur
in dem Tun eines Anderen, in den Offenbarungen Gotte
ö, sei es in Seiner Güte und Treue als Schöpfer, oder
in Seiner Gnade als Heiland-Gott, der den Tod des Sünders
nicht will, sondern ihn von Tod und Verdammnis
erretten möchte. Aber ein auf sich selbst vertrauender
Mensch weiß davon nichts, bedarf und sucht auch nichts
derartiges.
Wofür dankt denn ein Pharisäer? Er sagt: „Ich
danke dir, daß ich nicht bin". Seltsames Gebet! Er
dankt nicht etwa für das, was Gott ist und gibt, oder für
das, was er selbst ist und empfängt. An beides denkt er
200
»
nicht. Die Frage, was erist, hat ihn noch nie beschäftigt.
Sonst würde es ihm nicht in den Sinn kommen, in solcher
Selbstgefälligkeit vor Gott hinzutrcten. Selbsterkenntnis
zerstört jedes Selbstvertrauen. Was könnte es auch in
einem Menschen geben, in seinem Zustand, seinem Charakter
oder Verhalten, das ihm gerechten Anlaß böte, Gott
dafür zu danken? Er mag meinen, daß alles wohl stehe,
solang er nur das betrachtet, was er nicht ist; sobald
er aber wirklich dahin kommt, zu sehen was er i st, bricht
alle Eigengerechtigkeit und Selbstgefälligkeit zusammen.
Wir finden darum stets, daß Gott, wenn Er sich
mit einer Seele beschäftigt, ihr zeigt, was der Mensch
ist, und nicht, was er nicht ist. Als die Herrlichkeit Jehovas
mit ihrem Lichtglanz den Propheten Jesaja umstrahlte,
offenbarte sie ihm nicht das, was er nicht war,
sondern das, was er war. Tieferschreckt ruft er aus:
„Wehe mir! denn ich bin verloren; denn ich bin ein
Mann von unreinen Lippen". Vergleiche mit seinen Nächsten
würden ihn niemals zu dieser Erkenntnis gebracht
haben. „Seine Augen hatten den König, Jehova der
Heerscharen, gesehen!" (Jes. b, k—5.) Ähnlich war
es mit Hiob. Solang er sich mit anderen verglich, hatte
er viel Rühmendes von sich zu sagen; sobald aber sein
Auge den Herrn sah, verabscheute er sich. (Hiob
42, S. 6.) Genau so Petrus: überwältigt von der Herrlichkeit
des Herrn, „fiel er zu den Knieen Jesu nieder!
und sprach: Gehe von mir hinaus, denn ich bin ein
sündiger Mensch, Herr". (Luk. 5, 8.) Er denkt
nicht daran zu sagen: „Ich danke dir, daß ich nicht bin
wie Jakobus oder Johannes". In der Gegenwart Gottes
wird ein Mensch niemals so töricht reden.
201
So werden auch dereinst vor „dem großen weißen
Thron", wenn „die Bücher aufgetan werden", die Menschen
mit Schrecken erkennen, was sie sind, nicht, was
sie nicht sind. Was nützt es auch zu sagen: Ich bin
nicht das, ich bin nicht jenes, wenn schließlich doch einmal
die Frage beantwortet werden muß: Was bin ich??
Ein jeder Mensch ist etwas, und mit diesem „etwas" muß
Gott handeln, entweder in Gnade oder im Gericht.
Was nun ein Mensch nach seiner Meinung auch sein mag,
eines ist gewiß: er ist nicht das, was er vor Gott sein
sollte. Es wird kaum einen Verbrecher geben, der nicht
noch einen anderen, nach seiner Meinung schuldigeren Verbrecher
nennen könnte; aber was kommt dabei heraus?
Ein verlorener, schuldiger Sünder bedarf der Erlösung,
und zwar nicht einer halben Erlösung oder einer Hoffnung
auf Erlösung, sondern einer vollen, gegenwärtigen
und ewigen Erlösung. Und diese Erlösung offenbart das
Evangelium.
Der Pharisäer bedurfte einer solchen Erlösung nicht.
Er meinte, ein zweimaliges. Fasten in der Woche und ein
Verzehnten all seines Erwerbes sei eine vollwertige Sühnung.
Welch ein Betrug, welch eine verderbliche Täuschung!
Und doch, wie viele Tausende und Millionen von
Menschen leben darin! O mein Leser, mache dich frei davon!
Sieh zu, daß du ruhst, einzig und allein ruhst in
dem vor neunzehnhundert Jahren auf Golgatha vollbrachten
Werke, in der Erlösung, die dort ein für allemal für
Sünder geschah!
Wenden wir uns jetzt zu dem Zöllner. „Und der
Zöllner, von ferne stehend." Das war der Platz, den
202
er in Aufrichtigkeit einnahm. Er fühlte, daß er kein Recht
hatte, näher zu treten. „Ihr, die ihr einst ferne wäret",
lesen wir in Eph. 2, 13. Das kurze Wort bezeichnet
den wahren Zustand des Menschen, ferne von Gott. Wir
begegnen diesem Wort wiederholt im Evangelium Lukas,
dem Buch von der in Christo erschienenen Gnade Gottes.
Die zehn aussätzigen Männer, die in Kap. 1.7 dem
Herrn begegnen, standen „von ferne". Der verlorene
Sohn ging in ein fernes Land, und als er noch ferne
war, sah ihn sein Vater. (Kap. 15, 13. 20.) Auch der
reiche Mann sah, als er in Qualen war, Abraham von
ferne. Ach! er war in seinem Leben auf dieser Erde fern
von Gott gewesen, und nun trennte ihn eine unübersteig-
liche Kluft von den Segnungen des Himmels. Er war
für ewig fern! Furchtbare Erkenntnis!
Der Zöllner stand „von ferne". Er war nicht mit
dem beschäftigt, was er nicht war; er erkannte seinen
wirklichen Zustand. „Er wollte sogar die Augen nicht aufheben
gen Himmel." Wir können uns vorstellen, wie der
Pharisäer mit frommem Augenaufschlag seine vermeintlich
reinen Hände zum Himmel emporhob. War er doch
nicht „wie die übrigen der Menschen, Räuber, Ungerechte,
Ehebrecher, oder auch wie dieser Zöllner". Wenn irgend
jemand, so hatte er ein Anrecht auf die Anerkennung des
Himmels. Aber der Zöllner, weit entfernt von dem Gedanken,
irgend ein Anrecht auf den Himmel oder das
Wohlgefallen Gottes zu haben, wagte nicht einmal, seinen
Blick dahin zu richten, „sondern schlug an seine Brust".
Es ist wie wenn er sagen wollte: „Hier, tief in meinem
Innern, da sprudelt die Quelle alles Bösen, da liegt die
Wurzel meiner Krankheit, der Sitz meines tiefen Scha
203
dens". „Er schlug an seine Brust und sprach: O Gott,
sei mir, dem Sünder, gnädig!" (V. 13.)
Der Zöllner sah und fühlte, was er war. Und
was war die Folge? Hielt er Fasten und Zehnten für genügend
für seinen Zustand? Konnten sie seine Sünden
auslöschen, ihn vor Gott rechtfertigen? Nein! Er wußte,
daß er „ferne" war und „nahe gebracht" zu werden
bedurfte, und daß das nur auf dem Wege bedingungsloser
Gnade geschehen konnte. Er kannte ja noch nicht das
kostbare Blut des Sohnes Gottes, das von aller Sünde
reinigt, aber er wandte sich im Lichte der Heiligkeit Gottes,
die ihn verzehren mußte, an Gottes Gnade. Nur
hier gab und gibt es Hoffnung für einen schuldigen, überführten
Sünder. Er wird „umsonst gerechtfertigt" durch
Gottes Gnade, „durch die Erlösung, die in Christo Jesu
ist, welchen Gott dargestellt hat zu einem Gnadenstuhl
durch den Glauben an Sein Blut, zur Erweisung
Seiner Gerechtigkeit". (Röm. 3, 24. 25.)
Das war der Boden, auf welchen der Zöllner seinen
Fuß setzte, obwohl er noch nichts von Christo wußte. Er
dachte auch nicht im entferntesten daran, in seinem Schreien
zu Gott etwas Verdienstliches zu finden, wie so viele
Menschen in ihrer Torheit das meinen, und wie es seitens
der menschlichen Religionen gelehrt wird. Er setzte sein
Vertrauen einzig und allein auf die Gnade, „die durch
Gerechtigkeit herrscht zu ewigem Leben durch Jesum Christum,
unseren Herrn". (Röm. 5, 2l.) Alles das können
wir heute in seinem kurzen, schönen Gebet lesen.
Also sind Gebete doch wohlgefällig? Sicher gefällt
es Gott, wenn der Sünder um Erbarmen zu Ihm schreit,
oder wenn der Gläubige „unablässig" zu Ihm, seinem
204
himmlischen Vater, betet. Gottes Wort fordert zu beidcm
auf. Aber in diesen Gebeten liegt ebenso wenig Verdienstliches
wie in dem Notschrei eines Ertrinkenden oder in
dem Dank eines Kindes für eine empfangene Gabe. Fasten,
Zehnten, Gebete und dergleichen mögen von allen, die auf
dem Boden des Pharisäers stehen, als ein Beruhigungsmittel
betrachtet werden, aber sie werden niemals die Not
eines erwachten Gewissens stillen. Ein solches bedarf der
Rechtfertigung von seinen Sünden.
Und siehe da, genau das wird dem Zöllner zuteil.
„Dieser ging gerechtfertigt hinab in sein Haus."
(V. 44.) Beachten wir es wohl, es wurde ihm nicht nur
Vergebung geschenkt, er ging „gerechtfertigt" in sein Haus.
Er erlangte, gleich Abel und anderen, „das Zeugnis, daß
er gerecht war". (Hebr. 44, 4.)
Nicht Fasten und Zehnten, nicht brünstiges Flehn
Nimmt eine der Sünden hinweg,
Cs bahnte der Tod des Geliebten allein
Zum Herzen des Vaters den Weg.
Ja, nur in dem kostbaren Blute Christi ist Versöhnung
zu finden. Alle, die zu diesem Blute glaubend ihre
Zuflucht nehmen, werden „von allem gerechtfertigt", wovon
sie im Gesetz Moses nicht gerechtfertigt werden konnten.
(Apstgsch. 43, 39.) Durch ein Opfer werden sie
„aus immer vollkommen gemacht". „Geheiligt", „gereinigt
vom bösen Gewissen", dürfen sie nun mit Freimütigkeit
in Gottes Heiligtum eintreten, auf dem neuen und
lebendigen Wege, den das Blut Jesu geschaffen hat.
(Hebr. 40.)
„Dieser ging gerechtfertigt hinab in sein Haus vor
jenem." Das will nicht sagen: mehr als jener, als
Wenn auch der Pharisäer, wenngleich in geringerem Maße,
205
gerechtfertigt worden wäre. Nein: vor jenem, oder gegenüber,
im Gegensatz zu jenem. Aus dem Boden
des eigenen Tuns ist jede Rechtfertigung ausgeschlossen.
„So viele aus Gesetzeswerken sind, sind unter dem
Fluche", sind „abgetrennt von Christo". (Gal. Z, 40;
5, 4.) Daö sind ernste, den Hochmut des Menschen vernichtende
Worte. Sie lassen dem Tun des Menschen keinerlei
Raum, nehmen ihm jeden Ruhm. Darum fügt
der Herr hinzu: „Denn jeder, der sich selbst erhöht, wird
erniedrigt werden; wer aber sich selbst erniedrigt, wird
erhöht werden". (V. 1.4.)
Ium Schluß noch eine kurze, praktische Bemerkung
für den gläubigen Leser, der, gleich dem Zöllner, auf dem
Boden bedingungsloser Gnade Vergebung und Rechtfertigung
gefunden hat. Er hat gelernt, daß in ihm nichts Gutes
wohnt, und daß er nur durch den Glauben an das
Werk eines anderen Leben und Frieden finden konnte. Und
doch — wie unausrottbar ist die Neigung des menschlichen
Herzens, sich mit dem zu beschäftigen, was man nicht
ist, was geeignet sein könnte, uns im Vergleich mit anderen
in ein besseres Licht zu stellen! — und doch können
so leicht pharisäische Gedanken und Gefühle in unseren
Herzen sein, wenn wir auch die Worte des Pharisäers
niemals auf unsere Lippen nehmen würden!
Haben wir uns nicht schon dabei ertappt, daß wir
im stillen Vergleiche zogen zwischen uns und unseren Mitgläubigen,
und daß wir dann nach unserer Meinung „gut"
oder doch „leidlich gut abschnitten"? Und ist das nicht eine
pharisäische Stellung oder Gesinnung? Wer sich mit dem
beschäftigt, was er ist, vor Gott ist, wird nicht leicht
206
in die Gefahr kommen, daran zu denken, was er im Vergleich
mit anderen nicht ist. Nicht daß er daö Böse oder
Verkehrte, das er bei seinen Geschwistern zu bemerken
glaubt, gut hieße oder entschuldigte. Keineswegs! Aber jene
Beschäftigung wird ihn vor Gefühlen der Selbstzufriedenheit
oder gar Selbstgefälligkeit bewahren und ihn dahin
führen, das Gute in dem Bruder oder der Schwester zu
erblicken, das ihm selbst vielleicht noch fehlt. Und das ist
dann ein gutes Ergebnis.

Doch nicht ich?
Das Ende des Herrn nahte heran. Immer klarer
und bestimmter konnte erkannt werden, daß Er wirklich
das wahre Passahlamm war. Nun, angesichts des bittern
und schmachvollen Kreuzestodes strahlt Seine Liebe noch
einmal in ganz besonderer Weise hervor. Welch eine Mühe
hatte Er sich gegeben, um den Jüngern zu zeigen, welchen
Weg Er gehen mußte, hinauf nach Jerusalem, hinauf
nach Golgatha! Aber alles war umsonst gewesen. „Sic
verstanden nichts von diesen Dingen, und dieses Wort
war ihnen verborgen." (Luk. 18, 34.) Da versammelt
der treue Herr die Seinen noch einmal um sich, um sie
über alles zu belehren, was Ihn betraf. Nur besorgt um
sie, vergißt Er ganz sich selbst. Als sündige Menschen
ihre Hände an Ihn legen wollen und Er sie mit den Worten:
„Ich bin's", zu Boden wirft, da spricht Er: „Suchet
ihr denn mich, so lasset diese gehen". Das war der
Zweck, daö Ziel Seines Kommens: Sünder sollten frei
ausgehen, frei von dem Gericht eines heiligen und gerechten
Gottes. Er allein war fähig, das ganze schwere Gericht,
den Sold der Sünde, zu tragen, Er, der vollkommen
Reine, in dessen Munde nie ein Trug erfunden wurde.
„Und als es Abend geworden war, kommt Er mit
den Zwölfen. Und während sie zu Tische lagen und aßen,
sprach Jesus: Wahrlich, ich sage euch: Einer von euch wird
mich überliefern, der welcher mit mir isset. Sie aber fingen
an betrübt zu werden und einer nach dem anderen zu
Ihm zu sagen: Doch nicht ich? und ein anderer: Doch
nicht ich?" (Mark. 14, 17—19.)
Der Sohn Gottes, das Lamm ohne Fehl, stand im
218
Begriff, Sein Leben als Lösegeld zu geben. Jur Erinnerung
daran schenkt Er den Seinen das Abendmahl, die
Zeichen Seiner Liebe. An Ihn, an Sein Opfer, Seinen
Leib, Sein Blut, Seine Liebe sollten sie allezeit gedenken.
Und wo und wann wir es tun, in besonderer Weise dann,
wenn wir die Zeichen Seiner Liebe vor uns haben, fließt
das Herz unwillkürlich über von Dank und Anbetung.
Doch beachten wir, daß der Geist Gottes uns hier
darauf aufmerksam macht, wie die Jünger, ehe sie das
kostbare Teil genießen konnten, betrübt wurden. Nichts
ist von ungefähr im Worte Gottes, auch nicht die Erwähnung
dieser Betrübnis. Erinnert sie uns nicht an die bitteren
Kräuter in 2. Mose 12, 8?
„Einer von euch wird mich überliefern." Einer
von euch! War es denn möglich?! Nachdem sie doch
nichts als Liebe und Güte genoffen hatten, Jahre lang?
Konnte das menschliche Herz wirklich so verderbt, ihr Zustand
so hoffnungslos böse sein? Aber sie wußten, daß
der Herr nur die Wahrheit sagte, Er, der die Wahrheit
selbst war. Daher wurden sie betrübt und fragten: „Doch
nicht ich? und ein anderer: Doch nicht ich?" Diese Fragen
zeigen, daß sie doch ein Gefühl darüber hatten, was in
ihren Herzen war. Sie konnten nicht auf sich selbst vertrauen.
Im Gegenteil, sie hielten sich wohl alle einer solchen
Tat für fähig.
„Doch nicht ich?" Ja, das ist die richtige Herzensstellung,
wenn wir am Tische des Herrn sind: das Gedenken
an unseren traurigen.Zustand von Natur, an das,
was unserem Herrn ein so tiefes, bitteres Leiden bereitet
hat. Jemehr eine Seele im Lichte Gottes wandelt, desto
mehr erkennt sie, daß in ihrem Fleische Gutes nicht wohnt;
21Y
aber umso größer und kostbarer wird ihr auch das werden,
was der Herr an ihr und für sie getan hat, und
umso voller und wahrer werden Lob und Anbetung zum
Ausdruck kommen, zur Verherrlichung des Herrn und
zum Preise Gottes, des Vaters.
Doch es kann auch anders sein. Wir können sagen:
Doch nicht ich? und dabei an andere denken. Vielleicht an
den Andreas oder an den Philippus, aber nicht an uns.
Dann erheben wir uns über die anderen. Wir halten etwas
von uns. Und in dem Maße, wie wir das tun, wird d e r
Herr und Sein Werk kleiner vor unseren Augen,
und das Lob wird schwächer. Der Feind findet dann
auch Anknüpfungspunkte in uns, und ehe der Hahn zweimal
kräht, haben wir den Herrn dreimal verleugnet. Möchten
wir darum auf das achten, was der Herr uns durch
Seinen Geist zu sagen hat! Ein Wandeln in Furcht und
Jittern wird uns vor Verunehrungen des Herrn bewahren
und uns befähigen, an Seinem Tische eine Anbetung darzubringen,
die emporsteigt zu dem Throne Gottes.
Doch noch in einem dritten Sinne können wir vielleicht
das: „Doch nicht ich? und ein anderer: Doch nicht
ich?" betrachten. Es kann sein, daß es dem Feinde gelingt,
etwas zwischen zwei Gläubige zu bringen, sodaß sie
nicht mehr eines Sinnes sind. Auch dann hat der Feind
sein Ziel erreicht. Er weiß wohl, daß niemand und nichts
uns aus der Hand des Herrn und aus des Vaters Hand
zu rauben vermag, aber er frohlockt, wenn er die Herzen
entzweien und so die Anbetung stören, ja, vielleicht völlig
zerstören kann. Dann liegt die Betrübnis auf der Seite
des Herrn, der doch so viel für die Seinen getan hat. Trauernd
schaut Er von oben auf sie herab.
220
Manche Gläubige gehen lange Zeit dahin, wissen,
daß der Bruder oder die Schwester etwas wider sie hat,
und wollen sich doch nicht versöhnen. (Matth, s, 23.)
Der eine sagt: Doch nicht ich? und der andere sagt: Doch
nicht ich? Keiner will sich in Wahrheit beugen, keiner
wirklich betrübt sein. Und doch wissen wir aus dem Worte
Gottes, daß der Herr es nur dem von Herzen Aufrichtigen
und Demütigen gelingen läßt. In der Gesinnung
Jesu ist uns alles möglich. Ist sie in uns, so werden wir
die Sonne nicht untergehen lassen über unserem Zorn und
werden uns selbst reinigen, gleichwie Er rein ist.
Wer zum Tische des Herrn geht mit einem ungerichteten
oder unversöhnlichen Herzen, der denke nicht, daß
sein Loben und Danken Gott angenehm sei. Einem solchen
gilt das ernste Wort: „Wer unwürdiglich ißt und trinkt,
ißt und trinkt sich selbst Gericht, indem er den Leib nicht
unterscheidet", (r. Kor. U, 2y.) Darum, prüfen und
beurteilen wir uns selbst, damit nicht der Herr gezwungen
ist, uns zu richten! (Eingesandt.)
Ich - mich - mein
Tief, fast unausrottbar wurzelt im Herzen des Menschen
das Gefühl von der eigenen Wichtigkeit. Schon dem
kleinen Kinde ist das „ich — mich — mein" geläufiger
als alles andere. Und in der Geschichte des Menschen, wie
die Heiligen Schriften sie uns darstellen, begegnen wir
immer von neuem einem Selbstbewußtsein und Hochmut,
die uns erstaunen, ja, erschrecken.
„Wer ist Jehova, auf dessen Stimme i ch hören soll,
221
Israel ziehen zu lassen? Ich kenne Jehova nicht, und
auch werde ich Israel nicht ziehen lassen", lautete die
stolze Sprache des Pharao. (2. Mose 5, 2.)
„Die Königin Esther hat niemand mit dein König zu
dem Mahle kommen lassen, das sie bereitet hatte, als
nur mich; und auch auf morgen bin i ch mit dem König
von ihr geladen", sagte der ruhmsüchtige Haman. (Vergl.
Esther S, 11. 12.)
„Ist das nicht das große Babel, welches ich zum
königlichen Wohnsitz erbaut habe durch die Stärke mei-
n c r Macht und zu Ehren meiner Herrlichkeit?" fragte
der durch die Größe seiner Macht verblendete Nebukadne-
zar. (Dan. 4, 30.)
„Wisset ihr nicht, was ich und meine Väter
allen Völkern der Länder getan haben? Haben die Götter
der Nationen der Länder irgendwie vermocht, ihr Land
aus meiner Hand zu erretten?... wieviel weniger wird
euer Gott euch aus meiner Hand erretten!" höhnte der
siegestrunkene Sanhcrib. (2. Chron. 32, 13—15.)
„Ich bin ein Gott, ich sitze auf einem Gottessitzc
im Herzen der Meere!" sprach der Fürst von Tyrus. (Hes.
28, 2.)
„Wer wird mich zur Erde hinabstürzen?" fragte
Edom in seinem Herzen. (Obadja 3.)
„Ich bin reich und bin reich geworden und bedarf
nichts", ist die vermessene Sprache Laodicäas. (Offbg.
3, 17.)
Aber wie wahr sind die Worte Gottes: „Die Treuen
behütet Jehova, und Ervergiltreichlichdem,der
Hochmut üb t"! (Ps. 31, 23.) Der Pharao wurde mit
seiner ganzen stolzen Macht ins Meer gestürzt. Haman
222
wurde an einen Baum gehenkt. Nebukadnezar wurde von
den Menschen ausgestoßen, das Herz eines Tieres wurde
ihm gegeben, und er aß Kraut wie die Rinder. Sanherib
wurde ein Ring in seine Nase gegeben und ein Gebiß in
seine Lippen, und er wurde auf dem Wege zurückgeführt,
auf welchem er gekommen war. Der König von Tyrus
wurde in die Grube hinabgestürzt, und er starb den Tod
eines Erschlagenen im Herzen der Meere. Von Edom heißt
es: „Wenn du dein Nest auch hoch bauest wie der Adler,
und wenn es zwischen die Sterne gesetzt wäre: ich werde
dich von dort hinabstürzen, spricht Jehova"; und zu Lao-
dicäa endlich wird gesagt: „Ich werde dich ausspeien aus
meinem Munde".
Die Menschen reden auch heute noch „von oben herab",
„sie setzen in den Himmel ihren Mund, und ihre
Junge wandelt auf der Erde". (Ps. 73, 8. 9.) Aber wir
gehen der Zeit entgegen, wo der Hochmut des Menschen
gebeugt und die Hoffart des Mannes erniedrigt werden
wird. An jenem Tage wird Jehova allein hoch erhaben
sein, und kein „Ich" des Menschen wird sich mehr breit
machen. (Vergl. Jes. 2, 72—14.) Gott aber bewahre uns
heute schon vor jedem Hochmut, vor aller Selbstüberhebung!
Sein Wort ist voll von diesbezüglichen Warnungen
und tröstlichen Ermahnungen, wie z. B.: „Gott widersteht
den Hochmütigen, den Demütigen aber gibt Er
Gnade". (1. Petr. S, 5.) „Sinnet nicht auf hohe Dinge,
sondern haltet euch zu den niedrigen." (Röm. 12, 16.)
„Der niedrige Bruder rühme sich in seiner Erhöhung, der
reiche aber in seiner Erniedrigung." (Jak. 1, 9. 10.)
„Kommt Übermut, so kommt auch Schande; bei den Bescheidenen
aber ist Weisheit." — „Des Menschen Hoffart
223
wird ihn erniedrigen; wer aber niedrigen Geistes ist, wird
Ehre erlangen." (Spr. 44, 2; 2d, 23.) „Ich will niedrig
sein in meinen Augen." (2. Sam. 6, 22.) Und Jesus
selbst sagt: „Lernet von mir, denn ich bin sanftmütig und
von Herzen demütig". (Matth. 'N, 2y.)
Das ist die Gesinnung, die sich für die Jünger Jesu
geziemt; aber ach! die Überlegungen unserer armen Herzen
gehen oft dahin, wer wohl der Größte unter uns sein
möge. (Vergl. Luk. y, 46—48.) Was ist der Mensch!
was sind wir! Hochmut in einem Christen ist ein schreckliches
Übel. Darum die Ermahnung: „Seid mit Demut
fest umhüllt!" (1. Petr. 5, S.) Wenn es eine Sünde
gibt, die mehr als andere satanisch ist, so ist es wohl der
Hochmut. Denn Überhebung war die Ursache des Falles
Satans. (Vergl. Hes. 28, 43—47.) Der Herr sagt: „Ich
wohne in der Höhe und im Heiligtum, und bei dem, der
zerschlagenen und gebeugten Geistes ist". (Jes. S7, 45.)
Und David singt in einem seiner Psalmen: „Jehova ist
hoch, und Er sieht den Niedrigen, und den Hochmütigen
erkennt Er von ferne". (Ps. 438, 6.) Wenn man an
einem Kornfelde vorübergeht, so erblickt man häufig Ähren,
die hoch über die anderen emporragen; sie sehen sehr
hübsch aus, sind aber meist leer, während andere, die ihr
Haupt demütig beugen, schwer von Korn sind. So gibt
es auch Blumen, die nur durch ihre blendenden Farben
und ihren stolzen Wuchs die Aufmerksamkeit auf sich ziehen,
während andere niedrig und versteckt stehen, aber
einen kostbaren Duft um sich her verbreiten. Möchten wir
solch lieblich duftenden Blümlein gleichen! „Wer sich
rühmt, der rühme sich des Herrn!"
224
Stille Mahnung
Ist es denn wirklich wahr, von all den andern,
Die auf dem gleichen Weg vorübcrwandern,
Nicht eine, die zu ihr die Schritte wendet,
Nicht eine, die ein Wort des Trostes spendet,
Nicht eine, die di« Hand ihr flüchtig drückt,
Ja, nur im Wandern freundlich auf sie blickt?!
Auch du gehst? — Ließ der Herr umsonst dich sehn
Dies Aug' voll Tränen und das wehe Klagen,
Kannst du Sein leises Mahnen nicht verstehn,
Willst du kein Wort als Seine Botin sagen? —
Geh nicht vorbei, ein Wort der Liebe ist
Wie Regenschauer auf die dürre Erde,
Wie Sonnenschein, der Wintcrflurcn küßt,
Daß grün die Saat und wach die Blume werde.
Vielleicht, daß hier im letzten heißen Ringen
Die Seele kämpft, eh sie zusammcnbricht.
Geh nicht vorbei, heut mußt du Hilfe bringen,
Ob du cs morgen kannst, das weißt du nicht.
Vas Gebet im verborgenen
„Du aber, wenn du betest, so gehe in deine Kammer
und, nachdem du deine Tür geschlossen hast, bete zu deinem
Vater, der im verborgenen ist." (Matth. 6, 6.)
Das ist, dürfen wir wohl sagen, das Bedürfnis der
Gegenwart: daö Gebet im Kämmerlein! Es ist ein Heilmittel
für alle möglichen Übel. Und doch finden wir so
selten Zeit dazu, und der Entschuldigungen sind viele. Liegt
aber in Wirklichkeit die Sache nicht so: wenn wir keine
Zeit zum Gebet im verborgenen erübrigen können, ist es
dann für den Herrn von Bedeutung, ob wir Zeit zum öffentlichen
Dienst oder zu irgend einer anderen Arbeit für
Ihn haben? Es kann sein, daß wir für alles andere Zeit
finden, nur nicht, um in unser Kämmerlein zu gehen und
die Tür zu schließen, um mit Gott allein zu sein. Wir
finden Zeit, Besuche zu machen, uns mit unseren Geschwistern
zu unterhalten; die Minuten fliegen dahin, bis
sie zu Stunden werden, und wir empfinden es gar nicht
als eine Last. Wollen wir aber in unser Kämmerlein gehen,
um eine Zeitlang mit Gott allein zu sein, so stellen
sich dem zahllose Schwierigkeiten in den Weg. Zehntausend
Gegner erheben sich gleichsam, um uns von diesem
heiligen Ort fernzuhalten. Ja, es kommt dem Feinde nicht
so sehr darauf an, womit wir uns beschäftigen, wenn
unsere Beschäftigung uns nur davon abhält, das Angesicht
t^XXVII 9
226
unseres Vaters zu suchen. Er weiß sehr gut, daß jede
Unterbrechung der Verbindung zwischen uns und Gott verhängnisvoll
für uns ist.
Es ist seltsam, wie viele Gläubige wirklich für alles
Zeit finden können, nur nicht für dieses „in die Stille
Gehen", um im Gebet mit Gott zu reden. Man vermag
selbst Zeit zu finden, das Evangelium zu verkündigen oder
den Gläubigen zu dienen, während die eigene Seele dürr
und kraftlos bleibt, weil sie den verborgenen Umgang mit
Gott vernachlässigt. Vor den Menschen können wir so vielleicht
als gute Christen dasiehen. Das Kämmerlein aber,
bei verschlossener Tür, wo niemand uns sieht, niemand
uns hört als Gott allein, ist nicht der Ort, um mit einer
schönen Außenseite zu glänzen. Da ist kein Mensch gegenwärtig,
vor dem wir eine besondere Frömmigkeit zur Schau
tragen könnten, niemand, um unseren Eifer für Gott
wahrzunehmen; und Ihm vorzuspiegeln, wir wären besser,
als wir in Wirklichkeit sind, das wagen wir nicht. Wir
fühlen, daß Er uns durchschaut und durch und durch
kennt.
Das Kämmerlein ist in der Tat ein heiligender Ort
— allein mit»Gott! Es ist daher kein Wunder, wenn
man sich gern entschuldigt, nicht viel Zeit dort zubringen
zu können. Aber, geliebte Geschwister, ist nicht gerade der
Mangel an Zeit für diesen Ort das Geheimnis der Kraftlosigkeit
unserer Tage? Ja, es wäre nötig, dringend nötig,
daß eine völlige Umwälzung in den Gebetsgewohnheiten
des Volkes Gottes einträte. Wir können nicht beten durch
Stellvertretung, d. h. es durch andere für uns tun lassen,
ebensowenig wie unser Leib gedeihen kann, wenn ein anderer
für uns ißt. Wir bedürfen des persönlichen
227
verborgenen Umgangs mit Gott. Die Gebetsversammlung
ist gut, und das Vorrecht, ihr beiwohnen zu dürfen, ist
groß, aber sie allein genügt nicht.
„Du aber, wenn du betest, so gehe in deine Kammer
und, nachdem du deine Tür geschlossen hast, bete."
Diese Aufforderung ist persönlich, rein persönlich. Manche
Gläubige haben in unseren Tagen das Gebet im Kämmerlein
ganz aufgegeben. Ihr persönlicher Umgang mit
Gott ist allmählich so völlig unterbunden worden, daß es
den Anschein hat, es gebe für sie überhaupt keinen Gott
mehr.
Wir übertreiben nicht, wenn wir so reden. Alle, die
ein wenig bei Gläubigen aus- und eingehen, werden uns
recht geben. Man macht bei solchen Besuchen oft tiefbetrübende
Erfahrungen. Daß Gott Seine treuen Beter hat,
ist gewiß, und wir freuen uns, daß es so ist. Der Herr ist
nie ohne Getreue, die Tag und Nacht zu Ihm schreien,
wenn es auch immer nur ein „Überrest" sein wird. Doch
der schreckliche, nach unten führende Strom unserer Tage
reißt „die Vielen" mit sich fort. Der Feind der Seelen
hätte sich keines wirksameren Mittels, um zu seinem Ziel
zu gelangen, bedienen können, als daß er das Flehen der
Heiligen vor dem Gnadenthron zum Stillstehen brachte.
Wird das Gebet im Kämmerlein vernachlässigt, so ist
„das ganze Haupt krank und das ganze Herz siech". Es
fehlt dann an geistlichem Hunger, und das Bedürfnis
nach der Gemeinschaft mit Gott schwindet immer mehr.
Die Wirksamkeit des Heiligen Geistes in der Seele hört
auf und macht dem Wirken eines anderen Geistes Platz.
Allerlei Versuchungen stürmen auf die Seele ein, und
Satan erlangt mit geringer Mühe Vorteile über sie. Nichts
228
will mehr gelingen, alles geht verkehrt; und es kann nicht
anders sein, denn:
„Ich kann allein nicht gehen, nicht einen Schritt".
Wenn ein Bruder oder eine Schwester einige Male
oder gar gewohnheitsmäßig in der Gebetsversammlung
fehlen, so kann man mit ihnen darüber reden, sie warnen.
Ihr Fernbleiben wird bemerkt. Das Fernbleiben rom Kämmerlein
aber können Menschenaugen nicht sehen. Man
fühlt nur, wenn man mit solchen Seelen in Berührung
kommt, daß es mit ihrem geistlichen Leben nicht stimmt.
Welch ein Verlust heute schon, und wer kann den ewigen
Verlust ermessen, den die Vernachlässigung des Gebets
im Kämmerlein zur Folge hat!
Ein Gläubiger gab einmal auf die Frage, wie es seiner
Seele gehe, die ehrliche Antwort, daß er ein Untreuer
sei. Er habe die himmlischen Freuden geschmeckt, sei aber
in die Welt zurückgegangen. Sein Abgleiten hatte mit seiner
Vernachlässigung des Gebets im Kämmerlein begonnen.
„Ich wurde nachlässig im Gebet", erzählte er, „und
nach und nach versäumte ich es ganz. Auf diese Weise verlor
ich meine Kraft, bis endlich alles meinen Fingern entglitt
und ich mich wieder in die Welt verlor."
Es steht zu befürchten, daß daö gleiche von vielen
wahr ist. Ein kleiner Anfang, eine geringe Vernachlässigung,
und das Übel schreitet fort, bis der Wunsch, ins
Kämmerlein zu gehen, um Gott zu begegnen, völlig aus
dem Herzen verschwunden ist.
Wie anders ist es dagegen mit solchen, die, ungeachtet
eigener Wünsche oder Vorteile, sorgfältig darüber wachen,
daß der Herr zu Seinem Rechte kommt! Ihr Reden und
Tun, ihr ganzes Verhalten zeugt davon, daß sie sich gern
22Y
dort aufhalten, wo himmlische Luft weht und Tau von
oben die Seele benetzt. Ihr Vater, der sie im verborgenen
sieht, belohnt sie öffentlich. Sie tragen, obgleich ihnen
selbst unbewußt, den Stempel des verborgenen Plätzchens
an sich, wo sie im stillen mit Gott, wie ein Freund bei
seinem Freunde, geweilt haben. Aber die Zahl dieser Seelen
ist gering im Vergleich mit denen, die sich von dem
breiten Strom der Zeit forttragen lassen, dem Kämmerlein
und dem Alleinsein mit Gott entfremdet.
Ist es nicht so, daß viele Gläubige sich in Kleidung,
Sitten und Gewohnheiten kaum von den Kindern der
Welt unterscheiden? daß ihnen das Brot des Lebens nicht
mehr mundet, und sie unempfänglich geworden sind für
die einfachsten Lehren und Gebote des Wortes Gottes?
Wir brauchen uns kaum darüber zu verwundern. Solche
Gläubige sind wie ein leckes Schiff, das sich weigert, dem
Druck des Steuerruders zu gehorchen. Das Gewissen hat
seine Empfindsamkeit verloren, sie sind „blind" und „kurzsichtig"
geworden, das Erforschen des Wortes und das
persönliche Gebet hat seinen Reiz für sie verloren.
„Das Geheimnis Jehovas ist für die, welcheIhn
fürchten, und Sein Bund, um ihnen denselben kundzutun."
(Ps. 25, 1.4.) Ein Abraham kannte in der seligen
Gemeinschaft mit Gott das Schicksal Sodoms, ehe
die Bewohner jener Stadt nur von Gefahr träumten. Und
derselbe Abraham stand des Morgens früh auf und beeilte
sich, das zu tun, was Gott ihm befohlen hatte, mochte
es ihn kosten, was es wollte. (S. 1. Mose 22.) Menschen
der „Gemeinschaft" sind auch Menschen des „Gehorsams".
Die, deren Freude es war, sich nahe bri dem König
David aufzuhalten, setzten auch bereitwillig ihr Leben
230
aufs Spiel, wenn es galt, ihm einen erquickenden Trunk
aus dem Brunnen zu Bethlehem zu holen. (S. 7. Chron.
kk, 77.) Und zu allen Zeiten waren es Menschen des „Gebets",
die den Arm der göttlichen Allmacht in Bewegung
gesetzt haben. Gerade die Leute, die es am wenigsten nötig
zu haben schienen, haben wohl stets das Gebet im Kämmerlein
am meisten geschätzt.
Bon unserem großen Vorbild lesen wir, daß Er
„frühmorgens, als es noch sehr dunkel war, aufstand und
hinausging an einen öden Ort und daselbst betete". (Mark,
k, 35.) Laßt uns Ihm folgen, wohin Er geht! Und wenn
Er, der himmlische Fremdling, in böser Stunde der Stärkung
bedurfte, wieviel mehr wir! Ach, daß es von dem
Volke Gottes wieder mehr verstanden würde, daß das Gebet
im Kämmerlein das wesentliche Element des geistlichen
Lebens ist, ohne das unser eifrigster Dienst kraft- und
fruchtleer bleiben muß! Gewiß, wir haben es mit einem
Gott zu tun, der bis in die verborgensten Falten unseres
Herzens schaut, aber auch mit einem Gott, dem wir vertrauensvoll
alles sagen, in dessen Gegenwart wir unsere
Kraft beleben und erneuern können, um dann in dieser
Kraft zu wandeln und zu siegen.
„Ich habe jetzt ein kleines Zimmer ganz für mich
allein", sagte einmal ein Bruder.
„Ein kleines Zimmer für dich allein? Wozu denn?"
„O ein Zimmer, in das ich gehen, dessen Tür ich
verschließen, und wo ich dann eine Zeitlang mit dem Herrn
allein sein kann."
Der Bruder sprach, als ob er eine große Errungenschaft
gemacht hätte, und es war doch nur ein enges Dach
23r
zimmer. Aber es genügte für seinen Zweck. Es war ähnlich
wie mit der Tür an Noahs Arche. Wie damals schloß
dieselbe Tür, die die Welt ausschloß, ihn mit Gott ein.
Er hatte einen Platz des ungestörten Alleinseins mit Gott
gefunden, und das beglückte ihn. Viele Menschen gingen
bei ihm aus und ein, und immer wieder gab eS etwas,
das ihn ablenkte; aber nun hatte er einen Raum, wo er
den Herrn ganz für sich haben konnte.
Ist es nicht das, was Gott allen Seinen Kindern
wünscht: daß sie Gelegenheit suchen und finden möchten,
wo sie Ihn ganz für sich haben?

245
Simeon und Anna
(Luk. 2, 25—35)
Am Schluß des Propheten Maleachl begegnet uns
ein Überrest, der inmitten des allgemeinen Verfalls bemüht
war, den Gedanken Gottes zu entsprechen. In den
Herzen der Getreuen, die den Überrest jener Tage bildeten,
lebte auch die Erwartung, daß Jehova Seine Verheißungen
hinsichtlich der Sendung des Messias und der Segnung
des Volkes erfüllen werde. Sie schauten aus nach
dieser Erfüllung und sehnten sie herbei.
Wenn wir nun von dem letzten Buch des Alten Testaments
zu den ersten Büchern des Neuen, den Evangelien,
hinüberschreiten, so finden wir hier diesen Überrest wieder.
Ganz besonders ist es das Evangelium Lukas, das uns
ihn vor Augen stellt. Wir begegnen dort einem Zacharias
und seinem wackeren Weibe, einer Maria, einem Joseph
und schließlich den Hirten auf Bethlehems Fluren. Weiter
werden in der Zahl der gläubigen Männer und Frauen,
neben anderen, die nicht mit Namen aufgeführt werden,
noch Simeon und Anna genannt. Bei diesen beiden wollen
wir ein wenig verweilen, und der Herr möge uns, die wir
inmitten des Verfalls der Christenheit auch einen Überrest
bilden, diese Beschäftigung zum Segen gereichen lassen!
Der Evangelist Lukas macht uns in Verbindung mit
der Darstellung des Herrn im Tempel zu Jerusalem sofort
einige kurze, aber lehrreiche Mitteilungen über beide
Personen. (Kap. 2, 22—38.) Sie zeigen uns, welch ein
Wohlgefallen Gott an den treuen Zeugen jener Zeit hatte,
und sollen uns anspornen, auch unserseits in den letzten
24b
bösen Tagen den Platz treuer Absonderung inmitten des
Verderbens um uns her einzunehmen und so auch das
Wohlgefallen Gottes zu erlangen.
Jerusalem war damals noch eine reichbevölkerte
Stadt. Viele Tausende von Menschen wohnten in ihr.
Unter ihnen wiederum viele, die reich und angesehen waren,
Leute, die einen Namen unter ihren Zeitgenossen hatten.
Aber nicht auf solche lenkt der Heilige Geist unsere
Blicke. Nein, ein Mann wird uns vorgestellt, der wohl
ganz unbeachtet seinen Weg ging, womöglich gar, gleich
so vielen treuen Gläubigen anderer Zeiten, mit verächtlichem
Achselzucken betrachtet wurde — ein Sonderling
mit eigentümlichen Anschauungen und veralteten Grundsätzen,
den man nicht ernst zu nehmen brauchte. Aber
Gott sah in ihm wichtige Dinge, die Er uns dann auch
anerkennend mitteilt.
„Und siehe, es war in Jerusalem ein Mensch, mit
Namen Simeon", so beginnt der Bericht. Die Augen Jehovas,
welche die ganze Erde durchlaufen, hatten in diesem
alten, einsamen Manne einen Gegenstand gefunden,
der des Betrachtens wert war, denn „dieser Mensch war
gerecht". Gottes Wort redet von Gerechtigkeit unter
zwei verschiedenen Gesichtspunkten. Von den Menschenkindern
im allgemeinen wird klar und deutlich gesagt, daß
„alle abgewichen sind", und daß „da kein Gerechter
ist, keiner, der Gutes tue, auch nicht einer". (Ps. t4,2;
5Z, 3; Röm. 3, to.) Wenn nun „kein Gerechter"
da ist, wie ist es dann möglich, daß Gott doch von einem
Menschen sagen kann, daß er „gerecht" war?
Das 3. und 4. Kapitel des Briefes an die Römer
geben uns klare Belehrung darüber, wie ein Mensch in
247
die Stellung eines Gerechten vor Gott kommen kann.
Wir lesen in Kap. 4, Z: „Abraham aber glaubte Gott,
und es wurde ihm zur Gerechtigkeit gerechnet". Auch
von Abel wird gesagt, daß er durch Glauben das Zeugnis
erlangte, „daß er gerecht war". (Hebr. 74, 4.)
An Hand dieser beiden Stellen können wir klar erkennen,
auf welchem Boden der heilige und gerechte Gott aus
einem Sünder und Unreinen einen Gerechten machen kann.
Das Opfer Jesu Christi, von welchem das Opfer Abels
ein Vorbild war, hat Ihn im Blick auf die Sünde vollkommen
verherrlicht. Wenn nun ein Mensch im Glauben
das Zeugnis Gottes annimmt, sowohl hinsichtlich seines
eigenen Zustandes von Natur, als auch des Opfers des
Herrn Jesus und dessen Wirksamkeit, so wird er gerechtfertigt
und kann triumphierend sagen: „Da wir nun
gerechtfertigt worden sind aus Glauben,
so haben wir Frieden mit Got t". (Röm. 5, 4.)
Die Gläubigen des Alten Testamentes mochten diese Wahrheit
nicht so kennen, wie der Gläubige sie heute kennt, aber
sie hatten doch auf Grund der vorbildlichen Opfer, die
alle auf den kommenden Erlöser Hinwiesen, mehr oder
weniger das Bewußtsein, daß Gott sie freigesprochen, gerechtfertigt
habe. Dieses Zeugnis wird wohl auch Simeon
besessen haben, wenn uns auch nichts darüber gesagt wird,
wie und wann er es erlangt hat.
Gottes Wort redet aber auch von einer praktischen
Gerechtigkeit, die den Gläubigen auf seinem Pfade
durch eine Welt der Ungerechtigkeit kennzeichnen soll. Der
Gläubige wird unterwiesen, „die Gottlosigkeit und die
weltlichen Lüste verleugnend, besonnen und gerecht und
gottselig zu lebenin dem jetzigen Zeitkauf". (Tit. 2,72.)
248
Auch Jakobus redet von einer Rechtfertigung aus Werken,
und zu der Waffenrüstung Gottes gehört „der Brust-
harnisch der Gerechtigkeit". (Eph. 6, 44.) Wenn
nun Simeon als „gerecht" uns vorgestellt wird, so soll
uns damit sicherlich nicht nur gesagt werden, daß er ein
durch Glauben gerechtfertigter Sünder war, sondern auch
daß er im praktischen Leben „gerecht" wandelte. Wenn
wir damals in Jerusalem gelebt und uns bei den Nachbarn
nach Simeon erkundigt hätten, so würde er uns ohne
Frage als ein Mann geschildert worden sein, dem man
nicht nur nichts nachsagen konnte, sondern der seinen Mitmenschen
ein Vorbild in allem Guten war.
In unseren Tagen gibt es durch Gottes Güte viele,
welche wissen, daß sie gerechtfertigt sind. Dieses Bewußtsein
darf aber nicht ohne praktische Folgen im Leben
bleiben. Aber ach! vielfach wird das gute Bekenntnis nicht
durch einen geziemenden gerechten und gottseligen Wan -
d e l bestätigt. Was sollen wir da tun? Uns vor Gott demütigen
und viel um Gnade zu Ihm rufen, daß es anders
werde und Gott auch von einem jeden von uns sagen
könne, sowohl hinsichtlich der Stellung als auch des Lebens:
„Der Mensch so und so ist gerecht". Welch ein
gesegnetes Zeugnis wäre das inmitten der Menschen, die
in Ungerechtigkeit wandeln!
Weiter wird uns von Simeon gesagt, daß er „gottesfürchtig"
war. Da nun „die Furcht Jehovas der
Weisheit Anfang ist", so besaß Simeon auch „Weisheit
von oben", verbunden mit „guter Einsicht". Das
geht aus der ganzen Mitteilung hervor. In unseren Tagen
haben wir leider auch über Mangel an wahrer Gottesfurcht
zu trauern, und doch ist sie gerade heute so nötig, wo
249
mehr denn je von den Menschenkindern gesagt werden
muß: „Es ist keine Furcht Gottes vor ihren Augen".
(Röm. 3, 48.) Gottesfurcht hält den Gläubigen ab
von Taten und Wegen, die den Herrn verunehren und den
Gläubigen verunreinigen. Da wo die Seinigen gottesfürchtig
waren, ist Gott stets verherrlicht worden. (Vergl.
l. Mose 39, 9; Ps. 47, 4; Dan. 4, 8; 3, 47. 48; 6, 44.)
Der gerechte und gottesfürchtige Simeon war aber
auch ein wartender Gläubiger; er „wartete auf
den Trost Israels". Aus diesem Wort geht hervor,
daß Simeon, gleich einem Daniel in früheren Tagen
(s. Dan. 9, 2), auf das Wort Jehovas merkte.
Dasselbe hatte ihn belehrt, sowohl über die Verheißungen
Gottes hinsichtlich der für Israel bestimmten Segnungen,
als auch hinsichtlich des Messias, der diese Segnungen
herbeiführen sollte. Diese Belehrungen lebten in seinem
Herzen und entfalteten hier ihre Wirkung auf das tägliche
Leben und Verhalten des treuen Mannes. Er hatte nicht
nötig, bei der Kunde von der Geburt des Königs der
Juden „bestürzt" zu sein, wie der König Herodes und
ganz Jerusalem mit ihm. (Matth. 2, 3.) Wer sein Leben
und sein tägliches Verhalten in Übereinstimmung mit dem
Kommenden zu bringen sucht, dessen Herz sehnt sich
nach dem Erscheinen des Herrn.
Geliebte Geschwister! diese einfachen, aber lieblichen
Mitteilungen sind lehrreich und zugleich anspornend für
uns. Wir sind von dem Herrn belehrt über die für uns
„bereitete Stätte" im Vaterhause. Er hat sich uns auch
schon angekündigt durch das Wort: „Siehe, ich komme
bald". Zugleich sagt Er uns, daß wir Menschen gleich
sein sollen, die mit umgürteten Lenden und brennenden
250
Lampen auf ihren Herrn warten. Er nennt die Knechte
„glückselig", welche Er „wachend" finden wird,
und stellt ihnen köstliche Gemeinschaft und Segen als Belohnung
in Aussicht. (Luk. 42, 34—38.)
Wollen wir uns nun nicht einmal aufrichtig fragen:
Gleichen wir in unserem „Warten" wohl dem bejahrten
Simeon, der, im Glauben nicht schwach geworden,
von Tag zu Tag nach dem Verheißenen ausschaute?
Schauen auch wir so sehnend dem Erscheinen „des glänzenden
Morgensterns" entgegen? O möchte das Warten
auf Ih n wieder lebendiger und wirklicher in unserer Mitte
werden, damit wir aus der Tiefe unserer Herzen heraus
Ihm entgegenrufen: „Am e n; komm, Herr Jesus!"
Weiter wird uns von Simeon gesagt, daß der Heilige
Geist auf ihm war. Daö ist ja nicht dasselbe wie daö
Wohnen des Heiligen Geistes in dem Gläubigen der Jetztzeit.
Simeon hatte nicht das Zeugnis, daß er ein Kind
Gottes war, er konnte nicht „Abba, Vater" rufen, wußte
auch nichts von dem Heiligen Geist als „Siegel und Unterpfand
des Erbes"; aber es ist doch bezeichnend, von
ihm zu hören, daß der Heilige Geist auf ihm war.
In Verbindung damit werden uns noch zwei wichtige
Dinge mitgeteilt. Zunächst hören wir, daß der Heilige
Geist ihn unterweisen, und zweitens daß Er ihn
leiten konnte. Er belehrte ihn, machte ihn vertraut mit
den Gedanken Gottes und führte ihn dahin, wo er den
Christus des Herrn sehen sollte und zu seiner Freude auch
sah.
Dieselbe Wirksamkeit entfaltet der Heilige Geist
heute im Blick auf uns. Aber die Frage ist, ob wir Ihn
so zu unserem Herzen reden lassen, daß Er uns unterwei
25r
sen, belehren und dahin führen kann, wo Er uns haben
will, ob wir wirklich unter Seiner Leitung stehen. Bei
Simeon war beides vorhanden, und so kam er dahin, wo
er Christum auf seine Arme nehmen und lobend und preisend
mit Ihm vor Gott hintretcn konnte. Fürwahr, ein
ergreifendes Gemälde!
Jemehr der Gläubige unter der Leitung des Geistes
und unter Gebet das Wort erforscht, umsomehr lernt er
die Gedanken Gottes hinsichtlich aller Dinge und Fragen
kennen. Er wird hinausgeführt aus allem Menschlichen,
aus allem, was nicht dem Worte Gottes entspricht, dahin,
wo die Heiligen sich um ihren teuren Herrn scharen und,
mit Ihm in der Mitte, in der Gegenwart Gottes erscheinen
als Anbeter und heiligePriester. Ganz von selbst
wird dann Christus der Gegenstand der freudigen Betrachtung
des Herzens, und Gott wird gepriesen für Seine
Liebe, die Er in der Hingabe Seines geliebten, eingeborenen
Sohnes geoffenbart hat.
Die Sehnsucht Simeons, des Knechtes Gottes, war
gestillt. Er war bereit, den Pfad des Glaubens und Dienstes
in dem Frieden, der sein Herz erfüllte, zu verlassen
und zur Ruhe einzugehen. Er hatte keinen Wunsch mehr.
Doch solang er noch da war, mußte er weiter von Christo
reden. Mit dem Kindlcin auf den Armen spricht er von
dem Heile Gottes, das Er vor dem Angesicht aller Nationen
bereitet, von dem Licht, das Er zur Offenbarung
der Herrlichkeit Seines Volkes Israel angezündet hatte.
Alles ist hier an seinem Platz. Die Völker der Erde
gehen hier Israel voraus, in Übereinstimmung mit
dem Ratschluß Gottes. In alten Zeiten war es anders.
Da mußte der Prophet den Nationen den zweiten, und
252
dem Volke Israel den ersten Platz geben. (Jes. 42, b;
49, 6.) Joseph und Maria empfangen Segen. Schließlich
legt Simeon noch ein Zeugnis ab von der Wirkung
der Einführung der Person des Herrn: sie bringt die Überlegungen
der Herzen ans Licht. Er ist gesetzt zum Fall
und Aufstehen vieler. Die einen verwerfen Ihn, gehen
an Ihm vorüber, und Zorn und Gericht ist ihr Teil, die
anderen ergreifen Ihn im Glauben zu ihrem ewigen Heil.
Teurer Leser, bist du durch Ihn zum „Aufstehen",
zur Errettung und zum Heil gekommen? Dann lerne von
Simeon, in Treue deinen Weg zu gehen, bis Er
kommt!
(Schluß folgt.)
Ser Schatz tm Acker
Nach Silber und Golde und Edelgestein,
Vom Schöpfer gelegt in die Erde hinein,
Viel Tausende forschen und graben.
Doch siehe, ein Schatz allerseltenstcr Art
Ward Einem, ja, Einem dort aufbewahrt,
Er sollte Ihn ewiglich haben.
Den Schah hatte nimmer ein Auge erblickt,
Nie hatt' er das Herz eines Menschen beglückt,
Der Eine nur sollt' ihn erwerben.
Und schaut, an den Ort, wo der Schatz sich befand,
Da pflanzte ein Holz hin die göttliche Hand,
Dran mußte der Eine nun sterben!
Der Schah lag im Schoße der sündigen Welt,
Verborgen, beschmutzt-bis der Eine sich stellt,
Um ihn, den ersehnten, zu heben.
O Wunder der Liebe, die, stark wie der Tod,
Sich willig zur Rettung der Schuldigen bot,
Den Wertlosen Wert selbst zu geben! H. K.

Simeon und Anna
iLuk. 2, 36—381
(Schluß)
Uber Anna wird uns nicht viel gesagt, aber das wenige
birgt manche Unterweisung in sich. Besonders auffallend
ist die Zusammenstellung der Namen. Uber Simeons
Herkunft wird nichts berichtet, bei der Anna wird sowohl
Vaterhaus als auch Stamm angegeben. Das ist sicherlich
nicht bedeutungslos. Bei der Erklärung und besonders
bei der bildlichen Anwendung biblischer Namen ist
Vorsicht am Platz, aber es gibt Fälle, die uns sofort erken­
nen lassen, daß der Name in Verbindung mit seinem
Träger bedeutungsvoll ist. Zu diesen Fällen dürfen wir
wohl den vorliegenden rechnen und ohne Bedenken sagen,
daß die in Verbindung mit unserer Prophetin genannten
Namen uns manches zu sagen haben.
Schon der Name Anna (griechisch) oder Hanna (hebräisch)
ist bezeichnend. Er bedeutet „Begnadigte". Das
267
erste, was einem sündigen, dem Gericht Gottes verfallenen
Menschen nottut, ist Gnade. Ohne sie ist der Mensch dem
ewigen Verderben verfallen; er kann nicht vor Gott bestehen,
noch weniger sich Seiner Gemeinschaft erfreuen.
Die Gläubigen aller Zeiten haben die Begnadigung Gottes
gekannt, ohne sie wären sie überhaupt keine Gläubige gewesen.
Mag auch die Stellung der Begnadigten heute
eine viel höhere sein als die der Gläubigen des Alten Testamentes,
der Grundsatz bleibt immer derselbe.
Schon im Garten Eden sehen wir den begnadigenden
Gott hervvrtreten, um sich mit Adam und Eva zu beschäftigen.
Es war der begnadigende Gott, der Noah dem Gericht
entrinnen ließ, und es war Gnade, die sich eines Jakob
oder eines David annahm. So hat es auch ganz gewiß in
dem Leben der Anna eine Zeit gegeben, wo ihr die Gnade
Gottes zu ihrem ewigen Heil begegnete, wo Friede und
Freude ihr zuteil wurden und ihr ganzes weiteres Leben
kennzeichneten. Ein Kennen und S ch ä tz e n der Gnade
ist ja von ausschlaggebender Bedeutung für den ganzen
Pfad des Gläubigen. Aus dem wenigen, daö über Anna
gesagt wird, dürfen wir schließen, daß sie ein tiefes
Bewußtsein von Gnade gehabt haben muß.
Ist es bei uns auch so, die wir „begnadigt sind in
dem Geliebten" und die „Vergebung der Vergehungen"
erfahren haben „nach dem Reichtum Seiner Gnade"?
Eine wachsende Erkenntnis der Gnade, die uns den Tiefen
unseres Verderbens entrissen und uns „heilig rind tadellos
in Liebe" vor Gott hingestcllt hat, wird unser ganzes
Verhalten hienieden beeinflussen und Dankbarkeit und
Hingabe in uns wecken. In dem Leben des Apostels Paulus
sehen wir, welche Wunder die Erkenntnis dieser Gnade
268
Gottes in einem schwachen Menschen bewirken kann. Sie
kann und möchte ähnliches in uns vollbringen.
Die Prophetin Anna war eine Tochter „Manuels".
Dieser Name wird mit „Anschauer Gottes" übersetzt. Als
solche, die in Verbindung und in Gemeinschaft mit Gort
gebracht sind, haben die Begnadigten das Vorrecht, Gott
zu schauen, Ihn zu betrachten in Seinen Wegen,
in Seinem Tun und in Seinen Offenbarungen. Nicht daß
man Gott, „den keiner der Menschen gesehen hat, noch
sehen kann", mit Augen sehen könnte. Aber Gott hat sich
dem Glauben auf mannigfaltige Weise geoffenbart. Männer
wie Henoch, Abraham, Jakob, Mose usw. haben solche
Erfahrungen von Ihm gemacht. Sie haben Ihn geschaut,
und dieses Scharren hat wunderbar auf sie einge-
wirkt und Segen, reichen Segen in ihren Herzen und auf
ihren Wegen hervorgebracht. Etwas davon wird gewiß
auch Anna erfahren haben, da sie ja „nicht von dem Tempel
wich, indem sie Nacht und Tag mit Fasten und Flehen
diente".
Auch für uns gilt das Wort: „Niemand hat Gott jemals
gesehen", aber wir wissen, daß „der eingeborene
Sohn, der in des Vaters Schoß ist, Ihn kundgemacht
hat". Und Seinen Jüngern konnte der Herr sagen:
„Wer mich gesehen hat, hat den Vater gesehen".
(Joh. 1., t8; 44, 9.) O wunderbares Geheimnis der Gottseligkeit:
„Gott, geoffenbart im Fleische!" Und wenn auch
bei dem Anschauen desselben die Heiligkeit uns zurufen
muß: „Nahe nicht hierher! Ziehe deine Schuhe aus von
deinen Füßen, denn der Ort, auf dem du stehst, ist heiliges
Land", so belehrt uns doch die Gnade, daß kraft des
Werkes Jesu Christi wir „Gemeinschaft haben mit dem
269
Vater und mit Seinem Sohne Iesuü Christus". (2. Mos.
3, 5; st. Joh. 'st 3.) Welch herrliche Felder geistlicher Betrachtung
tun sich hier vor unseren Blicken auf!
O Golt der Liebe! ohne Hülle
Bist Du im Sohu geoffenbart.
Schon unermeßlich ist die Fülle,
Die hier der Glaub' in Ihm gewahrt.
Sollten wir nicht mehr danach trachten, uns praktisch,
im täglichen Leben, dieser Gemeinschaft mit dein
Vater und dem Sohne zu erfreuen, als „Anschauer Gottes"?
Gott schenke es uns!
Wir kommen jetzt zu der Bedeutung des letzten Namens
in unserem Abschnitt, zu „Äser". Äser bedeutet:
„Glückselig", (st. Mose 30, st3.)
In Psalm 32, st u. 2 wird der Mensch glückselig gepriesen,
„dessen Übertretung vergeben, dessen Sünde zugedeckt
ist, dem Jehova die Ungerechtigkeit nicht zurechnet".
Und fürwahr, groß ist die Glückseligkeit eines solcben
Menschen. Aber vor Gott zu stehen, erwählt zu sein
und herzunahen, ja, wohnen zu dürfen in den
Vorhöfen Gottes ist eine Glückseligkeit noch höherer Art,
und sie war das liebliche Teil der Anna. (Ps. 65, 4.)
Das „Eine", was sich David von Jehova erbat, alle
Tage seines Lebens im Hause Jehovaö zu wohnen
(Ps. 27, 4), ist ihr gesegnetes Teil gewesen. Simeon
wurde durch den Geist in den Tempel geführt, sie
w i ch n i ch t von dem Tempel. Auch das hat uns viel zu
sagen. Der Herr hat in unseren Tagen viele der Seimgen
belehrt über Seinen Tempel, der, im Unterschied von dem
steinernen Tempel in Jerusalem, aus lauter „lebendigen
Steinen", d. h. aus allen wahren Gläubigen besteht.
Jahrhunderte lang hat man diese Wahrheit nicht
270
mehr gekannt, aber, durch den Heiligen Geist auf das
Wort hingewiesen, sind viele der Geliebten des Herrn zu
dem zurückgekehrt, „was von Anfang war". Er hat ihre
Augen aufgetan und ihnen Kraft geschenkt, alle menschlichen
Verbindungen zu lösen und den Weg zu diesem
Tempel zu finden, wo irgendwelche Mitgliedschaft weder
Wert noch Raum hat, wo Gott selbst die Steine einfügt
und einem jeden den Platz gibt, den Er will.
In diesem „geistlichen Hause", dem „heiligen Tempel
im Herrn", ist alles Menschliche wertlos, hier kann
nur das Anerkennung finden, was vom Herrn ist. Alles
andere hindert und stört nur die praktische Darstellung der
„Behausung Gottes im Geiste". (Eph. 2.)
Anna wich nicht vom Tempel. Wie wichtig und
gross ist er ihr gewesen! Laßt auch uns nicht um eines
Haares Breite abweichen von dem, was der Herr uns
wieder anvcrtraut hat! Der Feind möchte es uns wieder
rauben, uns davon abbringen. Darum wird uns zugerufen:
„Halte fest was du hast, auf daß niemand deine
Krone nehme!"
Anna diente Nacht und Tag mit Fasten und Flehen.
Sie trauerte und betete. In dem Geiste eines Daniel
stehend, wird sicherlich das Volk Gottes, daö sich damals
auch in einem so traurigen Zustand befand, der Gegenstand
ihres Flehens gewesen sein. Wollen wir nicht von
ihr lernen und auch mit Fasten und Flehen eintreten für
die Geliebten des Herrn? Der Apostel Paulus ermahnt
uns, zu aller Zeit zu beten mit allem Gebet und Flehen,
indem wir dazu w a ch e n „in allem Anhalten und
Flehen für alle Heiligen". (Eph. 6, 78.) Eine solche Gesinnung
und ein solches Tun ist wohlgefällig vor unserem
274
geliebten Herrn und findet Lohn und Anerkennung. So
war es auch mit Anna. Sie durfte noch einen Dienst als
Prophetin tun.
Als „daö Kindlein Jesus" von den Eltern in den
Tempel gebracht wurde, und Simeon es Gott lobend und
preisend auf seine Arme nahm, da trat auch Anna herzu
und „lobte den Herrn und redete von Ihm zu
allen, welche auf Erlösung warteten in Jerusalem". Ja:
„Glückselig, die da wohnen in deinem Hause! stets werden
sie dich loben." (Ps. 84, 4.)
Im Lichte von 4. Mose 49, 20 und 5. Mose 33, 24.
25 erscheint Anna schließlich in geistlicher Hinsicht als eine
wahre Tochter Äsers. In der Nähe Gottes weilend, vermochte
sie „Fettes" und „königliche Leckerbissen" auözu-
teilen. Unter der Wirksamkeit des Geistes Gottes stehend,
ging sie umher, indem sie „in Ol ihren Fuß tauchte".
Sie bekam „Kraft" zum Ausharren, so wie die Tage es
erforderten, und „die Riegel", die sie von allein Bösen
absonderten, fehlten bei ihr nicht. So war sie auch „wohlgefällig
ihren Brüdern", ein Segen für die auf Erlösung
Harrenden in Jerusalem.
Lange hatten die Getreuen in den alten Zeiten nach
dem Verheißenen auögeschaut. Der Unglaube sprach:
„Vergeblich ist es, Gott zu dienen, und was für Geivinn,
daß wir Seiner Hut warteten?" (Mal. 3, 44.) Der
Glaube aber harrte aus, bis Er kam. Nun war Er da,
und welche Freude löste Sein Kommen aus!
Die Braut des Herrn wartet auch schon lange. Der
Unglaube spricht: „Wo ist die Verheißung Seiner Ankunft?
denn seitdem die Väter entschlafen sind, bleibt
alles so von Anfang der Schöpfung an." (2. Petr. 3, 4.)
272
Aber die Gläubigen dürfen getrost ihre Blicke gen
Himmel erheben. Sie wissen: „Noch über ein gar
Kleines, und der Kommende wird kommen
und nicht v erzieh e n". (Hebr. 70, 37.) Ja, die Nacht
ist weit vorgerückt. Der ersehnte Augenblick, der uns mit
allen auferweckten Heiligen Ihm entgegenführcn wird,
ist nahe gekommen. Der Morgen tagt,
An dem die Braut, in Wolken heirngetragen,
In Seines Anblicks Wonne sich verliert.
Kann ein Kind Gottes verloren gehen Z
Die Frage, ob ein Kind Gottes verloren gehen könne
oder nicht, hat von jeher die Herzen der Gläubigen beschäftigt.
Sie ist gewiß auch schon in manchen Lesern des
„Botschafter" aufgestiegen oder von außen an sie herangetreten.
Der Feind hört ja nicht auf, unbefestigte Seelen
durch sie zu beunruhigen und zu verwirren. Der
Wunsch, solchen zu helfen, veranlaßt die Veröffentlichung
der beiden nachstehenden Briefe. Der Schreiber des ersten,
der die Frage in bejahendem Sinne beantwortet, sagt
unter anderem folgendes:
In der Schrift gibt es zwei Linien, die parallel nebeneinander
hergehen. Die eine Reihe von Schriftstellen
sagt uns klar und deutlich, daß Kinder Gottes nicht verloren
gehen können, die andere Reihe sagt ebenso klar
und bestimmt das Gegenteil. Zu den Stellen, aus denen
hervorgeht, daß Kinder Gottes nicht verloren gehen können,
gehört z. B. Joh. 70, 27—29, wo es heißt: „Sie
gehen nicht verloren ewiglich, und niemand wird sie aus
meiner Hand rauben". Auf der anderen Seite stehen Stel
— 273 —
len wie Hes. 3, 20, wo es heißt, daß auch ein Gerechter
sich von seiner Gerechtigkeit wendet und Böses tut, oder
Stellen wie Offbg. 2, 5: „Gedenke nun, wovon du gefallen
bist, und tue Buße und tue die ersten Werke; wenn
aber nicht, so komme ich dir und werde deiner» Leuchter-
aus seiner Stelle wegrücken, wenn du nicht Buße trist".
Ebenso Offbg. 2, 2 t und 3, 3: „Gedenke nun, wie du
empfangen und gehört hast, und bewahre es und tue Buße.
Wenn du nun nicht wachen wirst, so werde ich über dich
kommen wie ein Dieb, und du wirst nicht wissen, um
welche Stunde ich über dich kommen werde." Dann der
ganze Brief an die Gemeinde zu Laodicäa, Offbg. 3,
t4—22. Außerdem erzählt uns das Neue Testament Geschichten
von solchen Personen, welche einst im Glauben
standen rind dann zurückgingen. Ich erinnere an Judas,
Demaö, Ananias, Sapphira, Hymenäus, Philetus, Alexander
u. a.
Der zweite Brief lautet:
Es ist wahr, daß in Verbindung mit der vorliegenden
Frage im Worte Gottes zwei Linien nebeneinander herlaufen,
aber nicht so, wie der Schreiber es darstellt. Ich
möchte die beiden Linien die g ö tt l i ch e und die m e n s ch-
liche Seite der Bekehrung oder Errettung nennen. Jede
muß für sich betrachtet werden. Bei der ersten gibt es
kein „Wenn" und kein „Aber". Alles ist sicher und zuverlässig.
Wie könnte es anders sein? Wie könnte Gottes
Auserwählung je umgestoßen, oder Sein Werk zerstört
werden? Wer oder was könnte die neue Geburt, daö
Werk des H e i l i g e n G e i st e ö, wieder ungeschehen machen?
Wer oder was die durch das Blut des Sohnes
Gottes geschehene Reinigung, eine Reinigung von al
274
len Sünden, so wie Gott sie kannte, in Frage stellen?
Wer könnte die durch den Willen Gottes mittelst des e i n
für allemal geschehenen Opfers des Leibes Jesu
Christi Geheiligten je wieder für unheilig erklären?
Wer die mit einem Opfer auf immerdar
vollkommen Gemachten wieder unvollkommen machen?
Wer einen „Menschen in Christo" zu seinem früheren
natürlichen Zustand zurückführen? Ist einmal ein Mensch
durch den Glauben an Christum errettet, so ist er ein
Kind Gottes, dessen „Same in ihm bleibt". (4. Joh.
3, 9.) Wäre es nicht so, hinge unser ewiges Heil auch nur
zu dem denkbar geringsten Teile von uns oder unserem
Tun ab, so wären wir alle hoffnungslos verloren, und
— bedenken wir es wohl! — das Werk Christi wäre
unvollkommen!
So weit die göttliche Seite der Frage. Bezüglich
der menschlichen lesen wir in Jer. 34, 48. 49: „B e -
kehre m i ch, daß ich mi ch bekehre, denn du bist Jehova,
mein Gott. Denn nach meiner Bekehrung empfinde ich
Reue, und nachdem ich zur Erkenntnis gebracht worden
bin, schlage ich mich auf die Lenden." Der Mensch
von Natur ist geistlich tot, da ist niemand, in dem
nur ein Funke göttlichen Lebens wäre. Gott muß die Toten
zunächst aufwecken, und Er tut daö. Er läßt sich an
keinem Menschen unbezeugt. Er benutzt allerlei Mittel
und Wege, zumeist Sein Wort, um Herz und Gewissen
des Menschen zu erreichen. Damit kommt dann die menschliche
Seite zu ihrem Recht. Jetzt heißt es zu dem Aufwachenden:
Bekehre dich! Tue Buße und glaube an den
Herrn Jesus usw. Wenn er der Aufforderung folgt, so ist
die Errettung sein Teil.
275
Ähnlich ist es nachher mit dein Erretteten. So wie
ein Mensch sich selbst nicht erretten kann, so kann auch
nur die Gnade ihn ans Ziel bringen. Aber ein Gläubiger
kann nach seiner Errettung treu sein oder gleichgültig werden,
er kann den Weg der Wahrheit einhalten oder verlassen,
Jesu nachfolgen oder sich wieder zur Welt wenden
usw. Was nun? Jetzt läßt Gottes Wort ihm sagen: Wenn
du den Weg der Sünde wieder wählst, erreichst du daö
Ziel nicht. Der Weg der Sünde endet im Tode. Da gibt
es kein Entrinnen, keine Ausnahme. (Röm. 8, 13.) Nur
wer ausharrt wird errettet werden. Wie konnte eö anders
sein? Gott kann dem Untreuen unmöglich sagen: Du
bist nun errettet, darum kannst du ganz unbesorgt sein;
wenn du auch nicht als ein „Geheiligter" wandelst, du
kommst doch sicher anS Ziel. Daß das Fleisch, daö arme
natürliche Herz, solche und ähnliche böse Schlüsse ziehen
kann, beweisen Stellen wie Röm. 6, 1. 75; Gal. 5, 13;
7. Petr. 2, 16. Aber Gottes Wort redet anders. Es sagt
dem Menschen, der auf dem Wege der Sünde wandelt,
ob er gläubig zu sein bekennt oder nicht, daß das Ende
seines Weges unfehlbar der Tod ist.
Die Sache liegt doch einfach so: Wenn jemand von
Berlin nach Magdeburg gehen will, und kehrt unterwegs
um, so kommt er nicht nach Magdeburg, es sei denn daß
er wieder umwende. So jeder, der errettet zu sein bekennt.
Kehrt er auf dem guten Wege um, so gelangt er, soweit
eö an ihm liegt, nicht ans Ziel. Mehr noch: Seine
Leichtfertigkeit kann sogar für andere zum Fallstrick werden.
Er bringt, wiederum soweit es an ihm liegt, seinen
Bruder in Gefahr, auch das Ziel zu verfehlen. (Vergl.
Röm. 14, 15; 1. Kor. 8, il.) (Daö Umgekehrte finden
276
wir in Jak. 5, ry. 20.) Vergessen wir aber nicht, daß
Gott über allem steht, und was Er in Seiner Gnade tut,
um die Seimgen trotz aller Gefahren und Versuchungen
ans Ziel zu bringen, ist eine zweite Sache. Hier berühren
sich die beiden Linien.
Ich führe ein bekanntes Beispiel an. Eö hinkt ein
wenig, wie fast alle Beispiele, ist aber doch gut. Ein geübter
Bergsteiger muß mit seinem Sohn einen gefahrvollen
Weg durch die Berge machen, der an Schluchten
und Abgründen vorbeiführt. Er sagt ihm: „Halte dich
stets nahe zu mir, sieh, wohin ich trete, mache es genau
wie ich usw., sonst kommst du in Gefahr abzustürzen".
Der Sohn folgt der Anweisung, und eine Weile geht alles
gut. Allmählich aber wird er sicherer und sorgloser, und
siehe da, plötzlich gleitet er an einer gefährlichen Stelle
aus und würde unfehlbar abstürzen, wenn nicht das Auge
des Vaters über ihn gewacht hätte und seine starke Hand
ihn im letzten Augenblick von dem Abgrund zurückrisse.
Die Anwendung des Bildes ist einfach. Uns wird gesagt:
Seid wachsam, blicket hin auf Jesum, wandelt die
Zeit eurer Fremdlingschaft in Furcht, bewirket eure
eigene Seligkeit, d. i. die Errettung, die am Ende des Weges
liegt, mit Furcht und Jittern usw. Wenn Lindas
tut, werdet ihr niemals straucheln, denn der Gott,
der das Wollen bewirkt, gibt auch das Vollbringen. Was
meinen Sie? Wird im Himmel wohl ein Gläubiger sagen:
Ja, wenn ich nicht so wachsam und treu gewesen
wäre, dann hätte des Vaters Hand mich nicht durchbringen
können, daö Werk Christi hätte mir nichts genützt, ich
wäre schließlich doch noch ins Gericht gekommen? Der
Schreiber des obigen Briefes wird sagen: Ja, s o meine
277
ich eS nicht. Vielleicht nicht. Aber dahin führt unfehlbar
seine Behauptung. Sie entspringt der schier unausrottbaren
gesetzlichen Neigung des Menschen, der doch etwas
zu seiner schließlichen Errettung mit beitragen will. Darum
noch einmal: Wenn nicht Gnade, bedingungs -
lose Gnade uns hindurchbringt, so sind wir alle verloren.
DaS berührt aber in keiner Weise die Frage unserer
Verantwortlichkeit. Im Gegenteil: Ze größer und reicher
die Gnade, desto höher und ernster die Verantwortlichkeit!
Jemehr mir vergeben ist, desto größer ist meine
Schuld dem Vergebenden gegenüber.
Nun die Frage: Könnte durch diese Betonung der
Gnade doch nicht bei manchen Seelen daö Bewußtsein der
Verantwortlichkeit geschwächt werden und sie in Gefahr
bringen, es mit der Sünde leicht zu nehmen? Ja, die
Gefahr besteht, und darum warnt Gottes Wort so ernst
vor einem Mißbrauch der Gnade und zeigt leichtfertigen
Seelen, wohin ein solcher Mißbrauch führt.
Aber wenn---------ganz allgemein schreibt: „Die Folge
davon ist, daß solche Brüder, welche die Überzeugung haben,
daß Kinder Gottes nicht verloren gehen können, e i -
nen weltförmigen Wandel führen, indem
sie eö mit der Sünde nicht ernst und genau
nehmen", so ist daö eine unfaßliche Behauptung.
Grundsätzlich ist, wie schon gesagt, genau daö Gegenteil
der Fall. Ein wahres Verständnis von der Gnade, wie
sie uns in Christo Jesu zuteil geworden ist, bewirkt in
jedem aufrichtigen Gläubigen ein unendlich tieferes
Gefühl darüber, was die Sünde in Gottes Augen ist, und
weckt einen weit ernsteren Abscheu vor ihr, als ein Gebot
eö je zu tun vermöchte.
278
Zum Schluß noch einige kurze Bemerkungen über die
angeführten Stellen. In Hes. 3 handelt eö sich nicht um
zugcrcchnete göttliche, sondern um m enschliche Gerechtigkeit,
und nicht um Errettung oder Verderben für
die Ewigkeit, sondern um Gottes Regierungö-
w e g e in der Zeit. Daö liegt so offensichtlich zutage, daß
man sich wundern muß, wie inan nur einen Augenblick
darüber im Zweifel sein kann.
Die Anführung der Sendschreiben aus der Offenbarung
ist auch schwer verständlich. Dort haben wir ein
korporatives Zeugnis, eö handelt sich um die Frage,
wie die „Leuchter" ihrer Verantwortlichkeit, Licht zu verbreiten,,
entsprechen. Von den persönlichen Beziehungen
der Seele zu Gott ist gar keine Rede.
TaS Wort in Röm. 8, 17: „wenn wir anders
nütlcidcn, auf daß wir auch mitverherrlicht werden", will
im Grunde nichts anderes sagen alö: „wenn wir anders
Christen sind". Die Stelle kann weder mit Phil, t,
2d nocb mit Phil. 3 in Verbindung gebracht werden. Man
übersieht leicht, daß an dieser Stelle steht: „mitleiden".
Nicht jeder Christ hat das Vorrecht, „für Christum" zu
leiden, oder „der Gemeinschaft Seiner Leiden teilhaftig
zu werden", aber jeder leidet mit Christo. Daö liegt
in der Natur der Sache. Sobald ein Mensch bekehrt
wird, die neue Natur empfängt, fühlt er sich in seiner
sündigen und feindseligen Umgebung nicht mehr wohl.
Alles ist verändert. Was er sieht und hört verursacht ihm
jetzt Leiden. Ich brauche nicht zu sagen, daß dieses Leiden,
daö bei Christo vollkommen war, bei uns der Stärke
und Tiefe des geistlichen Lebens in uns entspricht; aber
grundsätzlich ist es dasselbe Leiden. Selbst der Räuber
279
am Kreuz hat noch mit Christo gelitten; die Worte seines
Genossen, der Haß der Juden gegen Christum usw. verursachten
ihm, nachdem er bekehrt worden war, tiefen
Schmerz.
„Kür den Namen ausgegangen"
Der Apostel Johannes ermuntert in seinem Z. Briefe
den „geliebten Gajus", die Brüder, die da kamen, um
ihnen Christum zu verkündigen, in Liebe aufzunehmen und
„auf eine gotteswürdige Weise zu geleiten". „Denn", sagt
er, „sie sind für den Namen ausgegangen und nehmen
nichts von denen aus den Nationen." (B. 6. 7.)
„G o t t e s würdig" — dieses Wort sollte auch uns
solchen Brüdern gegenüber leiten. Das würde uns einerseits
vor Kärglichkeit und anderseits vor jeder Großtuerei
bewahren.
Was jene Brüder betrifft, so bestand ihr Ausweis
nicht in einer Bevollmächtigung seitens deö Apostels oder
irgend einer menschlichen Autorität: sie waren „für den
Namen aus gegangen". Welcher Name gemeint ist,
braucht nicht gesagt zu werden. Eö gibt nur einen Namen,
um dessentwillen man alles aufgeben soll. Diesen Naincn
zu verkündigen, den Träger desselben zu verherrlichen
durch Ehrfurcht und Liebe — daö war der Gedanke und
das Ziel jener Männer. Deshalb waren sie „ausgegangen",
von keinem Menschen gesandt oder bevollmächtigt.
Dieser Name war ihre Vollmacht.
Zugleich zeichneten sie sich aus durch Genügsamkeit
und einen gesunden geistlichen Sinn. Der Zweck ihrer
Tätigkeit war nicht die Erwerbung eines Unterhalts. Jeder
280
Arbeiter ist seines Lohnes wert, und unser reicher und
gnädiger Herr will gewiß nicht, daß Seine Knechte Ihm
umsonst dienen. Aber ein wahrer Diener überläßt die
Sorge für seinen Unterhalt diesem Herrn. Zugleich iü er
vorsichtig und nimmt nichts von solchen, die er nicht als
Handlanger des Herrn betrachten kann. Jene Männer
nahmen nichts von denen aus den Nationen.
Was uns betrifft, so sind wir schuldig, solche
Brüder „aufzunehmen, auf daß wir Mitarbeiter de r
Wahrheit werden". (V. 8.) Diotrepheö tat es nicht.
Ja, „er wehrte auch denen, die eö wollten, und stieß sie
aus der Versammlung". (V. 9. 1.0.) Sein Tun wird uns
verständlich, wenn wir lesen, daß „er gern unter ihnen der
erste sein wollte". Solche Männer lieben auch heute
nicht den Besuch von Brüdern, für die derName ein und
alles ist.
„Geliebter", so ermahnt der hochbetagte Apostel seinen
Bruder und damit uns alle, „ahme nicht das Böse
nach, sondern das Gute." Welch ein Vorrecht ist es,
durch Fürbitte und tätige Handreichung Mitarbeiter der
Wahrheit zu werden! Wir sind nicht alle berufen,
„auözugehen" — der Herr erwählt Seine Diener und gibt
ihnen Mut und Kraft für Seinen Dienst — aber wir
können alleauf dem angedeuteten Wege Mitarbeiter werden.
Zu Gafus konnte Johannes sagen: „Treulich tust
du, was du an den Brüdern, und zwar an Fremden, getan
haben magst", und dem Demetrius wurde „Zeugnis gegeben
von allen und von der Wahrheit selbst". (V. 12.)
Möchten wir diesen treuen Männern nicht ähnlicher
werden?
Sas Buch des Lebens
Wiederholt ist in der Schrift von Büchern in bildlichem
Sinne die Rede. Der Heilige Geist benutzt dieses Bild aber
wohl nur, um uns Menschenkindern die jeweils damit verbundenen
Gedanken verständlicher zu machen. Der allwissende
Gott bedarf nicht eines wirklichen Buches, um
auf Grund der darin gemachten Eintragungen festzusiellen,
ob z. B. jemand errettet ist oder nicht. Er ist nicht wie
ein Mensch, der „Bücher" nötig hat, um die Namen seiner
Schuldner und die Höhe ihrer Schuld fcstzuhaltcn.
Gott redet oft in Bildern und Gleichnissen zu uns, damit
selbst der Einfältige den Sinn Seiner Worte zu erfassen
vermöge.
Weil nun an mehreren Stellen der Schrift von einem
Aus lösch en aus dem Buche Gottes oder dein Buche
des Lebens die Rede ist, hat man gefragt, ob wohl alle
Menschen bei ihrer Geburt in dieses Buch eingetragen würden,
oder ob gar schon vor oder doch b e i der Erschaffung
des Menschen die Namen aller nach Gottes Allwissenheit
darin eingetragen worden seien, um dann später, je nach
dem Verhalten der einzelnen, entweder in dem Buche erhalten
zu bleiben oder aus ihm gestrichen zu werden. Dieser
Gedanke bedarf wohl kaum der Widerlegung. Denn
über der ganzen Menschheit als solcher steht als Inschrift
Tod, nicht Leben. Gottes Urteil lautet: „Der Todist
t_XXVII 11
282
zu allen Menschen durchgedrungen, weil sic alle gesündigt
haben." (Röm. 5, t2.)
Wenn wir nun nach dem Sinne unseres Bildes forschen,
so können wir sagen, daß es eine allgemeine, weitere
und (vor allem im Neuen Testament) eine begrenzte,
engere Bedeutung hat. Im ersten Falle steht cs mit der
äußeren religiösen Stellung, dem Bekenntnis eines Menschen,
ob Jude oder Christ, in Verbindung, im zweiten
mit den Ratschlüssen Gottes von Gründung der Welt
an, oder vor Grundlegung der Welt. Im ersten Falle
gleicht es einem amtlichen Namenverzeichnis, in welchem
Eintragungen und Streichungen vorgenommen werden
können, einem Register, das bei gewissen Gelegenheiten als
Unterlage oder Ausweis dient, z. B. um die Berechtigung
der Verzeichneten zur Vornahme irgend einer Handlung
(Wahl oder dergl.) festzustellen. Im zweiten Falle ähnelt
es mehr einer feststehenden Urkunde, an der nichts geändert
werden kann, nichts gedeutelt werden darf. In jedem
Falle aber hat es mit der religiösen Stellung von
Menschen Gott gegenüber zu tun, sodaß die Anwendung
des Wortes auf alle Menschen ohne Unterschied schon
dadurch ausgeschlossen erscheint. Die Namen von Heiden,
Mohammedanern, Gottesleugnern usw. könnten niemals
in dem „Buche" stehen, weder in seiner engeren noch in
seiner weiteren Bedeutung. Sie alle befinden sich weder
auf dem Boden des jüdischen noch des christlichen Bekenntnisses.
Von einem Buche in bildlichem Sinne hören wir
wohl zum erstenmal in 2. Mose 32, 30—33, wo Mose
für sein geliebtes Volk, nachdem es das goldene Kalb gemacht
hat, Fürbitte tut und in tiefer Herzensbedrängnis
28Z
zu Jehova sagt: „Und nun, wenn du ihre Sünde vergeben
wolltest!... Wenn aber nicht, so lösche mich doch
aus deinem Buche, das du geschrieben hast", worauf er
die Antwort erhält: „Wer gegen mich gesündigt hat, den
werde ich aus meinem Buche auslöschen".
Gott hatte in jenen Tagen aus allen Völkern der
Erde ein Volk (Israel) zu Seinem Eigentum erwählt,
und wer zu diesem Volke gehörte, dessen Name stand in
dem Buche Jehovas — ob mit Recht oder Unrecht, mußte
sich erweisen. Vorher hören wir nie von einem „Buche".
Aus der Geschichte Israels wissen wir, daß nur ein ganz
kleiner Teil des Volkes in Wahrheit Gott fürchtete. „Nicht
alle", schreibt Paulus an die Römer, „die aus Israel
sind, diese sind Israel, auch nicht weil sie Abrahams
Same sind, sind alle Kinder". (Kap. 9, 6. 7.) Beschneidung
und Abstammung von Abraham gaben noch kein
Anrecht auf eine wahre Verbindung mit Gott. Dazu bedurfte
es des persönlichen Glaubens und der Wiedergeburt,
und verhältnismäßig wenige kamen zu diesem Glauben.
Die Namen dieser Wenigen erwiesen sich, gleich dem
gläubigen Überrest aus Israel am Ende der Tage, als
„zum Leben eingeschrieben" (vergl. Jes. 4, Z), ihre Namen
wurden nicht ausgelöscht. Alle Namen aber, deren
Träger im Unglauben verharrten oder gar in offenbarer
Gottlosigkeit vorangingen, wurden gestrichen. „Wer gegen
mich gesündigt hat, den werde ich aus meinem Buche auslöschen."
Demselben Gedanken begegnen wir in Psalm 69,28,
wo der in David redende Geist Christi im Blick auf die
höhnenden, grausamen Gottlosen, die das Kreuz auf Golgatha
umgaben, in die Worte auöbricht: „Laß sie ausge
284
löscht werden auö dem Buche des Lebens, und nicht eingeschrieben
mit den Gerechten!" Unter diesen Menschen gab
es Schriftgclehrte, Pharisäer, Hohepriester und andere
Führer des Volkes, gekannt und geachtet wegen ihrer religiösen
Stellung; aber ihre Namen werden sich in dem
Buche Gottes n i ch t finden, ebensowenig wie die Namen
der Lügenpropheten zur Zeit Hesekiels „in das Buch des
Hauses Israel eingeschrieben" werden sollten. (Vergl. Hes.
43, 9.) Nur die, „die im Buche geschrieben gefunden werden",
werden „in jener Zeit" als Erlöste und Errettete
dastehcn. (Vergl. Dan. 42, 4.)
Im Neuen Testament hören wir nur einmal von
einem „Auslöschen auö dem Buche des Lebens", und zwar
in Offbg. 3, S. Auch hier müssen wir den Ausdruck wohl
so deuten wie in den bisher besprochenen Stellen. Das
Sendschreiben an Sardes stellt uns die bekennende Christenheit
vor Augen, die den Namen hat, daß sie lebe, aber
tot ist. (Vers 4.) In ihrer Mitte gibt es einige wahre,
treue Gläubige, aber die große Masse ist ohne göttliches
Leben — viele einzelne vielleicht äußerlich fromme, gewissenhafte
Menschen, selbst eifrige Verteidiger ihrer Religion,
sodaß man ihren Namen auf der Erde einen Ehrenplatz
gibt — aber ach! obwohl sie den Schein erwecken,
Leben zu haben, und man meinen möchte, ihre Namen
müßten sich in dem Buche des Lebens finden, werden sie
doch nicht „eingeschrieben mit den Gerechten". Sie gehören
nicht zu denen, von welchen der Herr sagt: „Wer überwindet,
der wird mit weißen Kleidern bekleidet werden,
und ich werde seinen Namen nicht auslöschen aus dem
Buche des Lebens, und werde seinen Namen bekennen vor
meinem Vater und vor seinen Engeln".
285
Da es sich im Neuen Testament naturgemäß um
daö ch ristliche Bekenntnis handelt, kommen neben Heiden,
Mohammedanern, Gottesleugnern usw. selbstverständlich
auch Juden nicht in Betracht. Das „Buch" ist
in der eben betrachteten Stelle, Offbg. 3, 5, das Verzeichnis
aller derer, die sich zum Christentum bekennen,
deren Namen, wie einst bei Israel, mit Recht oder
auch mit Unrecht darin stehen können. Anders ist es in
den späteren Kapiteln der Offenbarung. Da lesen wir
z. B. in Kap. 1Z, 8: „Und alle, die auf der Erde wohnen,
werden es (das Tier) anbeten, ein jeder, dessen Name
nicht geschrieben ist in dem Buche des Lebens des geschlachteten
Lammes von Grundlegung der Welt an".
Schon der Ausdruck: „Buch des Lebens des geschlachteten
Lammes" weist darauf hin, daß es sich hier nicht
einfach um ein Verzeichnis von christlichen Bekennern handeln
kann. Eö ist vielmehr jene Urkunde, wie wir sie nannten,
die, von Gott selbst auf Grund Seiner auserwählenden
Gnade aufgestellt, unveränderlich feststeht, sodaß im
Blick auf sie es weder Streichungen noch nachträgliche
Eintragungen gibt. Die in dieses Buch Eingeschriebenen
sind durch das Blut des geschlachteten Lammes auf immerdar
gereinigte und erlöste Menschenkinder, die in den
„letzten Tagen", kurz vor der Erscheinung des Herrn,
auf dieser Erde weilen werden. Sie gehören zwar nicht zu
der Braut Christi, dem Weibe des Lammes, — die Braut
ist zur Zeit der Herrschaft des Tieres gar nicht mehr auf
der Erde, zugleich sind alle, die zu ihr gehören, vor
Grundlegung der Welt auserwählt (Eph. 1, 4; 1. Petr.
1, 2), während die hier genannten Gläubigen erst von
Grundlegung der Welt an (vergl. auch Offbg. 17, 8) in
286
das Buch eingetragen sind, — aber sie werden mit dem
Lamme leben und regieren. Es sind, wie schon angedeutet,
d i e Gläubigen, welche in den Tagen der „großen Drangsal",
zur Zeit des Tieres und deö falschen Propheten,
hienieden leben und um ihres Glaubens willen verfolgt
und vielfach getötet werden.
An das „Buch" in dem gleichen Sinne müssen wir
wohl denken, wenn in Offbg. 20, 72, gelegentlich des
Gerichts vor dem großen weißen Thron, dem Endgericht,
wo alle die Toten nach ihren Werken gerichtet und Tod
und Hades in den Feuersee geworfen werden, „das Buch
deö Lebens" aufgetan wird, um festzustellen, daß nicht
ein einziger Name der dann Gerichteten in diesem Buche zu
finden ist. Ach! sie hätten eingeschrieben werden können,
wenn ihre Träger in der Zeit der Gnade dem Liebesruf
Gottes gefolgt wären. Aber sie haben ihre Herzen verhärtet,
und nun ist es auf ewig für sie zu spät, ihr Teil ist
in dem Feuersee! (V. 75.)
Bei derselben Gelegenheit lesen wir: „Bücher wurden
aufgetan", was uns unwillkürlich an ein anderes, in
Daniel 7, 70 erwähntes Gericht erinnert, „und die Toten
wurden gerichtet nach dem, was in den Büchern geschrieben
war, nach ihren Werken". Wir werden hier wie in
Dan. 7, 70 auch wohl kaum an wirkliche „Bücher" zu
denken haben. Wir sagten uns schon, daß Gott nicht, wie
der Mensch, solcher Mittel bedarf, um Seinem Gedächtnis
zu Hilfe zu kommen. Alles ist Ihm gegenwärtig,
nichts ist von Ihm übersehen oder vergessen. Das Bild
wird wohl nur gebraucht, um uns Menschen in allgemein
verständlicher, ergreifender Weise daran zu erinnern, daß
einmal eine Stunde kommt, wo „Gott jedes Werk, es sei
287
gur oder böse, in das Gericht über alles Verborgene bringen
wird" — ein Tag, an welchem „der Herr auch das
Verborgene der Finsternis ans Licht bringen und die Ratschläge
der Herzen offenbaren wird". (Pred. 72, 74;
7. Kor. 4, 5; vergl. Röm. 2, 76.)
In Offbg. 27, 27 heißt es dann noch, daß nur „die
geschrieben sind in dem Buche des Lebens des Lammes" in
das himmlische Jerusalem eingehen werden, und schließlich
bezeugt der Apostel Paulus in Phil. 4, 3 von seinen
treuen Mitarbeitern und Mitkämpfern, daß ihre Namen
im „Buche des Lebens" seien. Es liegt auf der Hand, daß
wir auch an diesen beiden Stellen an das Buch des Lebens
in dem zuletzt betrachteten engeren Sinne zu denken haben,
ähnlich wie in Luk. 70, 20, wo der Herr zu Seinen
Jüngern sagt: „Nicht darüber freuet euch, daß euch die
Geister untertan sind; freuet euch aber, daß eure Namen
in den Himmeln angeschrieben sind".
306
sondern im Gegenteil liebevoll ermuntert, unterstützt und
anderen empfohlen worden sind. Ist nicht auch das zu unserer
Belehrung und Nachahmung geschrieben? Sollten
nicht auch wir Augen haben für jedes treue Bemühen im
Werke des Herrn, bei wem es sich zeigen mag, und ein bereitwilliges
Verstehen und Entgegenkommen zeigen für jede
gute geistliche Regung in unserer Mitte? Manche Jüngere
unter uns werden davon berichten können, wie wohltuend
und fördernd ein zur rechten Zeit und in der rechten Weise
gesprochenes Wort der Ermunterung für sie gewesen ist;
vielleicht können sie aber auch vom Gegenteil reden. Gott
gebe uns Weisheit und Gnade in allen Dingen!
Sie Zeit Ist kurz *)
*) Auszug aus einem Briefe, der im Jahre 1875 an zwei
leidende Geschwister geschrieben wurde. Schreiber und Empfänger
dursten inzwischen längst in die ewige Ruhe eingehcn.
... Vor einigen Tagen erfuhr ich mit tiefer Teilnahme,
daß der Zustand Deiner lieben Frau in letzter Zeit bedenklicher
geworden ist. Möge der treue Herr Euch recht
nahe sein und Seine Kraft, Seine mächtige Hilfe und
Sein Mitgefühl Euch in Euren Trübsalen reichlich erfahren
lassen! Es ist Seine Liebe, die sich auf diese Weise
mit Euch beschäftigt. Gott hat vor Grundlegung der Welt
bei sich selbst beschlossen, uns als geliebte Kinder in Seine
Herrlichkeit zu bringen, und hat uns in unaussprechlicher
Gnade durch das teure Opfer Seines eigenen Sohnes dazu
erworben; aber durch viele Trübsale müssen wir in diese
Herrlichkeit eingehen.
Er hat uns keine Verheißungen für das Fleisch gege
307
ben; aber Seine Güte ist unser Teil, und sie ist besser als
Leben. (Psalm 63, 3.) Nichts kann uns von Seiner Liebe
scheiden. (Röm. 8.) Alle unsere Nöte rufen die tiefen Gefühle
Seines treuen Vaterherzens wach und setzen die überschwenglichen
Hilfsquellen Seiner Gnade gegen uns in
Tätigkeit, sodaß in allen diesen Herzensübungen und Glaubensproben
wir Ihn selbst desto inniger kennen lernen.
Welch ein Segen für uns!
Das Ziel aller Erziehungswege des Vaters mit uns
ist, uns Seiner Heiligkeit teilhaftig zu machen. Er will
unsere Herzen dahin bringen, von jedem anderen Gegenstand
abzusehen und in Seiner göttlichen Liebe allein zu
ruhen, in dem süßen Bewußtsein, daß wir Sein sind.
In der Tat, ein gesegneter Ruheplatz! Die Liebe Gottes ist
ausgegossen in unsere Herzen durch den Heiligen Geist,
welcher uns gegeben worden ist. (Röm. 5, 5.) Der Geist
richtet unsere Blicke nach oben auf Ihn, der uns erlöst
hat und uns schon vorangegangen ist, um eine Stätte im
Vaterhause droben für uns zu bereiten. Inzwischen wissen
wir, daß denen, die Gott lieben, alle Dinge zum Guten
mitwirken (Röm. 8, 28), sodaß wir für alles dem Vater
danksagen dürfen. Und Jesus kommt bald, um uns
„die Sohnschaft, die Erlösung unseres Leibes", zu bringen.
DieZeit ist kurz, und die Leiden der Jetztzeit sind
nicht wert, verglichen zu werden mit der zukünftigen Herrlichkeit,
die an uns geoffenbart werden soll. (Röm. 8, 78.)
Und dann die unaussprechliche Freude: „Also werden wir
allezeit bei dem Herrn sein!" (ch. Thess. 4, 77.)
Der Herr gebe Euch viel Gnade, Trost und Ermunterung
zum Ausharren mit Geduld in Glauben und Hoffnung,-
um nicht zu ermatten! Er ist treu. Er wird nicht
308
zulasscn, daß Ihr über Euer Vermögen versucht werdet,
sondern wird „mit der Versuchung auch den Ausgang
schaffen, sodaß Ihr sic ertragen könnt", (t. Kor. t0, kZ.)
Wie herrlich ist aber erst der Ausgang, den Er unö allen
schassen wird, und der unö so nahe bevorsicht! Dann werden
wir Ihn sehen von Angesicht zu Angesicht, werden
erkennen, wie wir erkannt worden sind, und nie mehr
werden wir in Seinem Lobe ermüden! Ihm sei jetzt schon
unser schwacher Dank! C. V.
Ohne Ende, ohne Schranken
Ohne Ende, ohne Schranken
Jesu Liebe vor mir steht,
Liebe, die nicht wankt noch weichet,
Ohn' Ermüden mit mir geht.
Herr, ich fühl's, Du liebst mich innig,
Gabst Dich selbst ja für mich hin,
Und doch wollen ird'sche Dinge
Ost noch blenden meinen Sinn!
Ach! ich weiß, wie Deine Nähe
Allezeit so reich beglückt.
Wenn das Auge Deine Fülle,
Deine Herrlichkeit erblickt;
Wenn die Wärme Deiner Liebe
Herz und Sinne mir durchdringt
Und Dein Bild, im stillen wirkend,
In mir zur Gestaltung bringt.
Herr, ich muß mich billig schämen,
Daß ich armer, eitler Tor
Deinem Reichtum, Deiner Fülle
Crdentand noch ziehe vor.
Und doch wankt nicht Deine Liebe,
Ruft mir stets von neuem zu:
Folge mir! auf andrem Wege
Findest nimmer Ruhe du! R. Br.
Aufwärts - Vorwärts
Unsere Herzen haben die Neigung, die Gegenwart
mit der Vergangenheit zu vergleichen; doch das macht
uns mutlos und schwach, anstatt uns zu ermuntern und
zu stärken. Unser Los ist in Zeiten gefallen, in denen die
Verhältnisse im allgemeinen schwer und die Zustände böse
sind. Rundumher zeigt sich dem Auge wirtschaftlicher, sittlicher
und geistlicher Verfall. Um diese Tatsachen nicht zu
sehen, müßte man blind sein; sie nicht zu fühlen und mitzufühlen,
hieße gefühllos und gleichgültig, ja, selbst untreu
sein; sich aber in verkehrter, fleischlicher
Weise mit ihnen zu beschäftigen, wäre töricht und schädlich.
Was soll man nun angesichts dieser Dinge in den
„schweren Zeiten" des Endes tun? Oder fragen wir: Was
tut der Geist Gottes ihnen und uns gegenüber? Der
Mensch, der mit seinen Gedanken und Erwägungen nur
„unter der Sonne" lebt, fragt: „Wie ist es, daß die
früheren Tage besser waren als diese?" Doch nicht
aus Weisheit fragt er danach. (Vergl. Pred. 7, 10.)
Gottes Weise ist es, das Herz und den Blick Seiner
Kinder aufwärts und vorwärts zu richten; aufwärts
zu Ihm selbst, zum Thron der Gnade, vorwärts
in unsere gesegnete Zukunft.
Ist es nicht so, wie wir so oft singen: „Die Schätze
Deiner Gnade sind auf dem Pilgerpsade den Deinen reich-
ÜXXVI! 12
— 370 —
lich aufgetan"? Ja, Ihm sei Dank, daß es so ist, und
es steht geschrieben: „Gott aber ist mächtig, jede Gnade
gegen euch überströmen zu lassen". (2. Kor. y, 87)
Wieviel Mut, Trost und Kraft fließen uns aus solch tröstlichen
Worten zu, und wieviel Hilfe bergen die Schätze
Seiner Gnade! Unsere wirtschaftlichen Schwierigkeiten mögen
nicht gering sein, der sittliche Verfall und der Rückgang
an geistlicher Frische und Kraft mag sich uns schwer
auf die Seele legen wollen, ja, wir mögen in unseren eigenen
Häusern, bei unseren Kindern, bei der Jugend im allgemeinen
und leider auch in den Versammlungen es deutlich
zu spüren bekommen, daß wir in den „letzten Tagen"
leben; dennoch dürfen wir (bei aller notwendigen Demütigung
dieser Dinge wegen) unsere Augen auf heb en
zu den Bergen, woher unsere Hilfe kommt. Wir dürfen
sagen: „Ich hebe meine Augen auf zu dir, der du thronest
in den Himmeln", dürfen es tun, „bis Er uns gnädig
ist", und glaubend sagen: „Meine Hilfe kommt von
Jehova, der Himmel und Erde gemacht hat". (Vergl.
Psalm 727 u. 723.) Mehr noch: Dieser „Jehova, der
Himmel und Erde gemacht hat", „der da thront in den
Himmeln", ist unser Gott und Vater in Christo Jesu,
der „uns selbst lieb hat". Und zu Seiner Rechten gewahrt
unser Auge den „großen Hohenpriester", welcher
„vermag, völlig zu erretten die durch Ihn Gott nahen".
(Hebr. 7, 25.)
So laßt uns denn, „da wir einen großen Hohenpriester
haben, der durch die Himmel gegangen ist, Jesum,
den Sohn Gottes, mit Freimütigkeit hinzutreten zu dem
Thron der Gnade, auf daß wir Barmherzigkeit empfangen
und Gnade finden zur rechtzeitigen Hilfe"! (Vergl.
— 344 —
Hebr. 4, 44. 46.) Oder wollen wir, trotzdem wir „Zugang
haben zu dieser Gnade, in welcher wir stehen" (Röm.
5, 2), unsere Seelen ermüden durch ein stetes Blicken aus
den oft steilen und dornigen Weg? Wollen wir Gott selbst
gleichsam übergehen und die uns von Ihm gegebenen
Hilfsquellen unbeachtet lassen? Oder Seine freundlichen
und gnädigen Zusprüche und Verheißungen überhören?
Ach! wie würden wir damit Gott betrüben und gegen unsere
eigenen Seelen sündigen! Nein, wir haben eine sichere
Bürgschaft für die Wahrhaftigkeit der Verheißungen Gottes,
und diese Bürgschaft ist Gott selbst, Gott in
Seiner Person, ein unveränderlicher Gott, ein Gott, der
nicht lügen kann.
Von schwerer wirtschaftlicher Bedrängnis redet der
Prophet in Hab. 5, 47. Der Feigenbaum blüht nicht, an
den Reben ist kein Ertrag; die Frucht des Olivenbaumes
trügt, und die Getreidefelder tragen keine Speise. Aus der
Hürde ist verschwunden das Vieh, und kein Rind ist in
den Ställen. Doch was tut der Glaube alledem gegenüber?
Er spricht: „Ich aber, ich will in Jehova frohlocken,
will jubelnin dem Gott meines Heils. Jehova,
der Herr, ist meine Kraft, und macht meine Füße
denen der Hindinnen gleich und läßt mich einherschreitcn
auf meinen Höhen." (V. 48. 4y.)
Von bösen Tagen mit traurigen, sittlichen Zuständen
redet der Prophet Micha in Kap. 7, 4—6. Der freundliche
Leser wolle die Stelle nachschlagen und lesen. Auch
hier folgt das kostbare „I ch abe r". — „Ich aber will
nach Jehova ausschauen, will harren auf den Gott meines
Heils; mein Gott wird mich erhören. Freue dich nicht über
mich, meine Feindin! denn bin ich gefallen, so stehe ich wie
3k2
der auf; denn sitze ich in Finsternis, so ist Jehova mein
Licht." (V. 7. 8.) Sollten wir hinter dem also Redenden
zurückstehen? Nein, uns allen, dem Schreiber und den
Lesern dieser Zeilen, sei vielmehr zugerufen: Aufge-
s ch aut!
Bleibt mein Aug' auf Dich gericht't,
Wanke und verzag' ich nicht!
Doch nicht nur aufwärts und auf die gegenwärtige
Hilfe richtet der Geist Gottes unseren Blick, sondern ebenso
oder noch mehr vorwärts, auf unsere zukünftigen
Segnungen. Auf jene gesegnete Zukunft, wo unser Leib
der Niedrigkeit umgestaltet sein wird „zur Gleichförmigkeit
mit Seinem Leibe der Herrlichkeit"; auf die Zeit, wo
der Herr die Versammlung sich selbst darstellen wird,
verherrlicht, „ohne Flecken oder Runzel oder etwas dergleichen",
wo wir Ihm gleich sein und Ihn sehen werden,
„wie Er ist". (Phil. Z, 20. 2k; Eph. S, 27; k. Joh. 3, 2.)
Als der aus Babylon in sein Land zurückgeführte
Überrest Israels, „die Alten unter ihnen", bei der Grundsteinlegung
des Tempels niedergebeugt war, weil er im
Vergleich mit dem Salomonischen Tempel so klein und
unansehnlich erschien, und sie sich vergangener Herrlichkeit
erinnerten (Esra 3, k2. k3), da erging von feiten
Jehovas die Botschaft an sie: „Fürchtet euch nicht!...
Ich werde dieses Haus mit Herrlichkeit füllen, spricht
Jehova der Heerscharen.... Die letzte Herrlichkeit dieses
Hauses wird größer sein als die erste, spricht Jehova
der Heerscharen." (Lies Hagg. 2, 3—y.) So suchte Gott
die Trauernden aufzurichten, die Schwachen zu ermuntern,
indem Er die zukünftige Herrlichkeit der Gegenwart und
Herrschaft des Messias vor ihren Augen entfaltete.
— 313 —
In ähnlicher Weise stehen auch alle Verheißungen,
die in den Sendschreiben an die sieben Versammlungen den
Überwindern gegeben werden, mit der Zukunft in Verbindung.
Ja, von jeher hat Gott den Blick Seiner Gläubigen
auf ihr zukünftiges Erbe gerichtet. Sie sahen die
Verheißungen von ferne und begrüßten sie, obwohl ihnen,
im Vergleich mit uns, nur wenig geoffenbart war. Im
Laufe der Zeit nahm dann die Offenbarung der Gedanken
und Ratschlüsse Gottes fortwährend zu, bis hin zur Vollendung
des Wortes Gottes, zu dessen Verständnis Er unö
den Heiligen Geist gab, „auf daß wir die Dinge kennen,
die unö von Gott geschenkt sind" (1. Kor. 2, 1,2), und
damit Er uns auch das Kommende verkündige. (Joh.
16, 13.) Und bald wird unser geliebter Herr selbst kommen
und damit die kostbarste aller Seiner Verheißungen
erfüllen: „Ich komme wieder und werde euch zu mir nehmen,
auf daß, wo ich bin, auch ihr seiet". (Joh. 14, 3.)
„Und also werden wir allezeit bei dem Herrn sein.
So ermuntert nun einander mit diesen Worten." (1. Thess.
4, 17. 18.)
Möchte denn in dem besprochenen Sinne auch bei
unö immer mehr das Wort des Apostels wahr werden:
„E ines aber tue ich, vergessend was dahinten,
und mich ausstreckend nach dem, was vorne
ist,jage ich, das Ziel anschauend, hin zu dem
Kampfpreis der Berufung Gottes nach oben in Christo
Jesu"! (Phil. 3, 14.)
Doch es könnte gefragt werden: Richtet Gott nicht unseren
Blick zuweilen auch in die Vergangenheit?
Allerdings, aber dann zu anderen Zwecken und in einer
314
ganz anderen Weise, als unsere natürlichen Herzen es so
gern tun. Schmerzlich und demütigend ist es (obgleich
auch darin die Gnade sich verherrlicht), wenn Gott einen
Gläubigen, der gestrauchelt ist und sich vor Ihm nicht
beugen will und darüber der Tage vielleicht viele werden
läßt, in Seiner Treue immer wieder an das Zurückliegende
erinnern muß, um ihn dadurch zum Selbstgericht
und zur Wiederherstellung zu bringen. Besser ist es schon,
wenn Gläubige, wie es in Hebr. 10, 32—34 geschieht, an
vergangene Tage erinnert werden, um sie zu ermuntern,
sich wieder zu derselben Freudigkeit des Glaubens und des
Auöharrens aufzurafsen, die sie einmal gezeigt haben, und
um dann ihren Blick auf den „Kommenden" zu richten.
(Vers 35—3d.) Noch besser ist es, wenn wir uns gern
daran erinnern lassen, was und wo wir einst waren: in
Finsternis und Tod, „in Welt und Sündenlust verstrickt",
und wie Gott Seine Gnade gegen uns hat überströmen
lassen in Christo Jesu. Und überaus gesegnet, wenn unsere
Herzen dann in tiefer Dankbarkeit der Gnade gedenken, die
Er in vergangenen Tagen, seitdem wir auf dem schmalen
Pfade pilgern, ja, von Kindesbeinen an so groß an uns
gemacht hat. Wir möchten dann wohl mit dem Psalmisten
ausrufen: „Vielfach hast du deine Wundertaten und
deine Gedanken gegen uns erwiesen.. .nicht kann man sie
der Reihe nach dir verstellen. Wollte ich davon berichten und
reden, es sind ihrer zu viele, um sie aufzuzählen." Oder:
„Der Jahre der Rechten des Höchsten will ich gedenken,
der Taten des Iah; denn deiner Wunder von altersher
will ich gedenken; und ich will nachdenken über all dein
Tun". (Ps. 40, 5; 77, 10—12; vergl. Hiob 5, 9; 9,10.)
So wollen wir denn, zu Gottes Verherrlichung und
315
unserem eigenen Nutzen, in keiner Weise den Eingebungen
unserer törichten, zaghaften und arglistigen Herzen, sondern
dem Zuge des Geistes Gottes folgen. Dann wird
auch das Rückwärtsschauen uns Segen bringen. Es wird
uns ergehen wie dem Volke Israel am anderen Ufer des
Roten Meeres, das im Rückblick auf den zurückgelegten
Weg in die Worte ausbrach: „Singen will ich Jehova!...
Meine Stärke und mein Gesang ist Iah!...
Dieser ist mein Gott, und ich will Ihn verherrlichen,
meines Vaters Gott, und ich will Ihn erheben."
(2. Mose is, 1. 2.) Oder wie der Prophetin Debora zur
Zeit der Richter, die nach der Niederwerfung der Kanaaniter
Könige und Fürsten aufforderte, auf sie zu hören: „Ich
will, ja, ich will Jehova singen, will singen und
spielen Jehova, dem Gott Israels". (Richt. 5, 3.)

— zzr —
seres Weges wird zeigen, daß die Schwierigkeiten, denen
wir begegneten, lauter Segnungen waren. Unser Vater
im Himmel hat Seine Kinder völlig von Zukunftssorgen
befreit, sodaß sie glücklich singen dürfen:
Wie könnt' ich ängstlich sorgen,
Da Dn mein Vater bist?
Du bist es heut' und morgen.
Dein Herz mich nie vergißt.
Und:
Du sorgst für alle Ding-
So weise, treu und gut,
Nichts ist Dir zu geringe,
Drum mein Herz sorglos ruht.
Cs ruht in Deiner Liebe
So selig und so frei;
Und wenn mir nichts mehr bliebe,
Dein Vaterhcrz bleibt treu.
Ja, Er ist für uns besorgt, und jedes neue Erlebnis
von dieser Seiner Sorge um uns, jede neue Glaubenserfahrung
auf dem Wege stärkt unser Vertrauen und bringt
eö uns deutlicher zum Bewußtsein, daß wir „teuer, wertvoll
sind in Seinen Augen", ja, daß Er uns lieb hat.
Wir haben also Grund, unö auch im Blick auf die
Zukunft zu freuen. Gott wird alle unsere Geschicke regeln.
Er bürgt sowohl für unsere Sicherheit auf dem Wege
als auch für unser ewiges Glück. Darum hinweg mit
allen Befürchtungen für die Zukunft, mit allem ängstlichen
Sorgen um das vor uns Liegende! Gottes Weg,
obwohl heute noch dunkel und unbekannt für uns, ist „im
Heiligtum". (Ps. 77.) Der Glaube erfaßt das und ist
völlig gewiß, daß wir den rechten Weg nach der oberen
Stadt nicht verfehlen werden. Alle Bestimmungen Gottes
über uns sind herrlich und gut, sie müssen ja alle zum
— ZZ2 —
ewigen Segen für uns auöschlagen. Wollen wir deshalb
nicht unsere Wege und alles, was das Herze kränkt, der
allertreusten Pflege Dessen befehlen, der Erd' und Himmel
lenkt? Gewiß, Er wird für uns handeln und stets
Wege finden, die unser Fuß gehen kann.
Und zu allem hinzu darf sich der Gläubige darüber
freuen, daß ihm die Herrlichkeit droben winkt. Mögen
denn auch Kampf und Leiden sein Teil hienieden sein,
und die Nöte der Gegenwart und der Blick in die Zukunft
seinen Frieden oft stören wollen, eins ist gewiß: er
darf vorausschauen auf eine Zeit, wo sein Glück nie mehr
getrübt und seine Freude nie mehr gestört werden wird.
Wer wollte sich durch ein wenig schnell vorübergehenden
Schmerz zu Boden werfen lassen, wenn er weiß, daß über
ein gar Kleines ein Leben nie endenden Genusses folgt?
Darum aufgeschaut! Mögen die Drangsale und Widerwärtigkeiten
des gegenwärtigen Augenblicks auch zuweilen
drücken, die Erwartung des unaussprechlichen Glük-
keö, den Herrn zu schauen und mit Ihm ins Vaterhaus
zu gehen, wird Licht und Freude in unsere Seelen geben.
Blicken wir auf Paulus! Er ermattete nicht auf dem
Wege. Wenn auch sein äußerer Mensch verfiel, wurde
doch der innere erneuert von Tag zu Tag, und das
schnell vorübergehende Leichte seiner Drangsal bewirkte
ihm ein über die Maßen überschwengliches, ewiges
Gewicht von Herrlichkeit, indem er nicht das anschaute,
was man sieht, sondern das, was man nicht
sieht. Machen wir es auch so!