Botschafter des Heils in Christo 1937

02/06/2024
von Christ-und-Buch Günter Arhelger
Inhalts //Verzeichnis (1937)
Die Herrschaft der Gnade 1
Bemerkungen über den Brief an die Kolosser (Kelly), 142
Rechter Gottesdienst 12


Wirkliches oder gewohnheitsmäßiges Christentum? 21
Bitte. (Gedicht) 28
„Sollte ich vor Abraham verbergen?" 29
Gedanken 84 84
Druckfehler-Berichtigung 48
Herr, leite mich! (Gedicht) 49
vom rechten Beten 50
Letzte Handlungen dreier Patriarchen 57
„Das Wort." 57
Eins ist not 73
Der „Wandel ohne Wort" 79
Saulus von Tarsus 85
Vorurteil 85
Baltenlied. (Gedicht) 102
Ein jeder aber prüfe sich selbst!" 103
Abraham und Lot 104
Meine Seele ist Ml zu Gott. (Gedicht) 119
Kann ein Gläubiger verloren gehen? 123
Alles zu seiner Zeit 124
An unsere Leser 132
Die Stille 133
Der Mensch und Die Bibel 137
Der wunderbare Besucher 150
Bücherschau .....................................(59. 204, 259, 279 154
„Deine erste Liebe." 303
Um die Einheit der evangelischen Kirche 161
Kostbarer Glaube 168
„Also laßt uns nun dem nachstreben, was des Friedens ist 171
Kein Lied. (Gedicht) 179
Die Herzensrichtung 180
Bekennermut 185
„Meins schwache Seite" 187
Werden alle Gläubigen ausgenommen, wenn der Herr kommt ? 192
Hans Nielsen Hauge . . ... (96. 227. 254. 276. 300
„Offene Fenster." 205
Ein Brief über die augenblickliche Lage usw 212
Durch Nacht zum Licht. (Gedicht) 216
„war's voll?" 216
Die Einzigartigkeit des Opfers von Morija 218
Das Bekenntnis eines modernen Zweiflers 222
Geöffnete Himmel 233
Erntedankfest. (Gedicht) 242
Was kann die Familie für die Seele ihrer Kinder tun? 243
„Auf daß die Welt glaube." 249
Zwei letzte Wünsche 261
Was können wir für die Seele unserer Kinder tun? 268
Glaube und Unglaube. (Gedicht 278
„Mehre uns den GlaubenI" 279
Zum Jahresschluß (Gedicht) 281
„Bund" oder „Versammlung"? 282
„Ich bin allen alles geworden" 287
Gethsemane "nach der Darstellung des Lukas 291
„Auf daß die Welt glaube" 293
Der Ratschluß des Herrn in bezug auf die Vereinigung der
Heiligen auf der Erde 297
Ich habe gegen Jehova gesündigt" 298

Letzte Handlungen dreier Patriarchen (Hebr. 44, 20—22.)
„Dies ist der Sieg, der die Welt überwunden hat: unser Glaube", schreibt Johannes. (1. Joh. 5, 4.) Das ist ein großes Wort, bedeutet es doch nicht weniger, als daß Gott Seinen Kindern die Freude des Sieges selbst inmitten der bittersten Leiden und der schwersten Prüfungen und Widerstände schenkt. „Unser Glaube" überwindet die Welt. Dieser Glaube gibt uns auch die Kraft, zu erkennen, was wahres Glück, und ebenso, was wahres Unglück ist, und zwar vom göttlichen Standpunkt aus betrachtet. Der Glaube befähigt den Menschen, mit den Augen Gottes zu sehen und in den mannigfachsten Umständen Seine Stimme zu erkennen. Letzteres ist deshalb so wichtig,
weil ein starker Trost in der Gewißheit liegt, daß Gott durch alle Umstände und Prüfungen, durch die Er uns führen mag, uns etwas zu sagen hat. Gewiß können wir uns täuschen über das, was Er uns sagen will, aber dann weiß Er wieder und wieder zu uns zu reden, und Er wird nicht müde darin, obwohl wir oft so träge im Hören und schwerfällig im Lernen sind. Er ist der Gott, der Sorge um uns trägt, der uns liebt und uns zu „mehr als Überwindern machen will durch Den, der uns geliebt hat". (Röm. 8,37.)


Bei: einem die Welt überwindenden Glauben, und zwar bei den alter: Vätern, finden wir herrliche Beispiele in Hebr. 44. Auf drei von ihnen möchte ich Hinweisen, und zwar auf die drei Männer, von denen in dem genannten Kapitel nur letzte Handlungen berichtet werden, während über das ganze lange übrige Leben ein Schleier gebreitet wird. Diese Männer sind Isaak, Jakob und Joseph. Ihre Geschichte ist sehr verschieden voneinander. Daß von der Lebenögeschichte Isaaks nichts weiter in Hebr. 'N berichtet wird, wundert uns nicht so sehr, denn sie war nicht eben reich an Begebenheiten, besonders nicht an Glaubenstaten. Auch erscheint Isaak als ein Mann schwachen Charakters. 
Wenn uns von ihm auch nicht gerade Verirrungen grober Art mitgeteilt werden, — jedenfalls hat er, was seinen Sohn Jakob und das Erkennen der Ratschlüsse Gottes betreffs seiner angeht, ganz offensichtlich gefehlt, und er kam erst spät dahin, seinen Irrtum einzusehen. Es bedurfte
besonderer Wege, um ihn dahin zu führen.


Das Nähere, wie der Entschluß in dem alt und blind gewordenen Vater reifte, seinen älteren Sohn, den Esau, zu segnen, ist unö bekannt. Ach, Isaak hatte Esau deshalb lieb, weil er ein jagdkundiger Mann war, der es verstand, ein Wildbret zu erjagen, „denn Wildbret war nach seinem Munde". Als er ihn segnen wollte, ließ er sich zunächst „ein schmackhaftes Gericht" bereiten. Aber Gott stand im Begriff, dem Isaak eine demütigende Lehre zu erteilen.


Auf den Rat seiner Mutter benutzte Jakob die Abwesenheit des älteren Bruders, um sich listig des Segens zu bemächtigen, den der Vater dem anderen zugedacht hatte. Diese Tat wurde eine Quelle des Leids für den Überlister, wie es stets der Fall fein wird, wenn wir durch eigenes Tun herbeiführen wollen, was wir Gott überlassen sollten. Anderseits aber läßt der Heilige Geist aus diesem Vorfall etwas hervorgehen, das uns belehrt und erbaut. Denn ist es nicht wunderbare Gnade, daß Gott den Augenblick benutzt, wo Isaak, Ihn ganz vergessend, in Gefahr steht, sich um seine eigene Ehre zu bringen — daß Er, wiederhole ich, gerade diesen Augenblick benutzt, um für Seinen Knecht „d i e Furcht Isaaks" zu werden (vergl. 4. Mose 3l, 42. 53) und seine Seele wiederherzustellen? Denn jetzt erkennt er mit einemmal den Segen, der von feiten Gottes einem jeden der beiden Söhne zugedacht war. (t. Mose 27, 33.) Isaak hatte auch früher schon Grund gehabt, sich seines Verhaltens wegen zu verurteilen, er, der gläubige Mann, dem Heiden gegenüber. (Vergl. t. Mose 26, 7—-tt.)

 Aber hier muß er es doch am allerernstesten tun. Es ist schon nicht leicht, als Sünder, der seine Sache noch nicht mit Gott geordnet hat, den Stab über sich zu brechen, aber viel schwerer ist's, sich als Gläubiger zu verurteilen. Wir möchten ja stets dem richterlichen Spruch aus dem Wege gehen, den Gott über alles gefällt hat, was wir sind. Es ist so tief demütigend. Aber es ist das einzige Mittel oder wenigstens eine unerläßliche Bedingung zu einem wirklich geistlichen Dastehen. Wir können nicht stark sein im Herrn, wenn wir nicht „allezeit das Sterben Jesu am Leibe umhertragen, auf daß auch das Leben Jesu an unserem Leibe offenbar werde". (2. Kor. 4, 40.)

Im vorliegenden Falle sehen wir Isaak durchaus unwissend über Gottes Gedanken. Er hatte sie sich nicht zu eigen gemacht. Aber dann, nachdem Rebekka und Jakob ihren Betrug bis zum Ende geführt haben, tritt Gott auf den Schauplatz. Er verhindert, daß etwas geschieht, was Seinen Gedanken entgegen ist. Ja, Er erlaubt Isaak, sein Siegel auf das Geschehene zu drücken, dadurch daß er den Segen anerkennt, den Gott dem Jakob gegeben hatte, indem Er ihn über Esau setzte. Einzig und allein durch die all 
— 60 —
vermögende Gnade Gottes hatte er, und zwar gegen den eigenen Willen, Jakob zunächst gesegnet. Aber als er jetzt weiß: „Es ist Jakob!", als der Vorhang gefallen ist vor seinen Augen, da ist er imstande, zu sagen: „Er wird auch gesegnet sein". Er unterwirft sich Gott, Dessen Hand er in den Vorgängen erkennt; er vernimmt Seine Stimme, und Sein Herz ist in Frieden.
Ist es nicht bezeichnend, daß der neutestamentliche Schreiber durch die Wirksamkeit des Heiligen Geistes gerade diese Sache berichtet? Nichts wird gesagt von dem ganzen langen Leben Isaaks. Er führt uns zu dem Punkt, wo die Augen des Patriarchen schwach geworden sind und nicht mehr zu sehen vermögen, und zeigt uns, wie die Gnade sein geistliches Auge schärft, damit er mitGottes Augenzu sehen vermöge. „Durch Glauben segnete Isaak, in bezug auf zukünftige Dinge, den Jakob und den Esau." Wir kommen zu Jakob. Sein innerer Zustand ist ein völlig anderer als der seines Vaters Isaak. Bei ihm haben wir es nicht mit einem Manne zu tun, der erst sehr spat
erkennt, was in seinem Herzen ist, sondern der sein Leben lang durch eigene Schuld besondere Prüfungen und große Schwierigkeiten über sich hat ergehen lassen müssen und — seine Lehren daraus gezogen hat. Von Jakob berichtet der neutestamentliche Schreiber: „Durch Glauben segnete Jakob sterbend einen jeden der Söhne Josephs und betete an über der Spitze seines Stabes". Das ist das Ergebnis einer Jahre dauernden göttlichen Erziehung. Schmerzliche Wege hatte Gott diesen Gläubigen führen müssen, um ihn zu reinigen, um das kostbare Metall von den Schlacken zu befreien.

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Aber nun tritt uns auch ein Geläuterter entgegen. 61 Unter den Patriarchen ist nicht einer, dessen Sterbebett von solchem Glanz umgeben wäre wie dasjenige Jakobs. Er „betete an über der Spitze seines Stabes". Dieser Stab war der Begleiter seiner langen Pilgerschaft gewesen, die so
reich war an beschämenden Verirrungen, aber auch reich an durch die göttliche Gnade bewirkten Wiederherstellungen. Jetzt betet er an, sich über den Stab neigend. Und in dieser Verfassung segnet er die Söhne Josephs. Er tut es im Glauben, während neben ihm die Schwachheit ihres Vaters zutage tritt, des Mannes, der von seiner Jugend an und sein ganzes Leben hindurch ob seiner Weisheit berühmt gewesen ist. Hier haben wir Veranlassung, von dem weisen Jakob zu reden, während Joseph versagt. Der sterbende Jakob beweist größere Einsicht als sein großer Sohn. Früher
war Jakobs Handeln oft genug tadelnswert gewesen, während Joseph ein leuchtendes Vorbild war. Jetzt aber ist es Joseph, der sich von rein menschlichen Gefühlen leiten läßt, indem er dem älteren Sohn den Platz einräumen will, der nach Gottes Willen dem jüngeren gehören soll. Wunderschön ist die Art, in der der sterbende Greis den Sohn zurechtweist, erhaben die Würde, mit der er redet. „Ich weiß es, mein Sohn, ich weiß es. Auch e r wird ... groß sein; aber doch wird sein jüngerer Bruder größer sein." 

Der Glaube Jakobs wirft sein Licht auf die bedeutsame Szene. Mit dem Blick des Glaubens schaut er die Zukunft. So hat der Glaube in Jakobs Leben den Sieg davongetragen. Er schaut zu Gott empor und „betet an". Am Ende der langen Pilgerschaft ruht sein Herz in vollkommenem Frieden, indem der Gott, zu Dem sein Geist zurückkehren will, schon jetzt der Gegenstand seiner Freude ist. — Jin Himmel wird unsere Anbetung kein Ende nehmen, aber
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auch solange wir noch auf Erden sind, sollten wir allezeit als Pilger in Seiner Gegenwart weilen, um anzubeten. „Durch Glauben gedachte Joseph sterbend des Auszugs der Söhne Israels und gab Befehl wegen seiner Gebeine." Wenn es je einen Menschen gab, der allen Grund hatte, sich mit Ägypten verbunden zu fühlen, so war es Joseph, der dritte der ster benden Patriarchen aus Hebr. U. Nach Ägypten hatte Gott ihn gesandt; dort hatte Er ihn groß werden lassen. Ägypten verdankte ihm seine Erhaltung, und dort wurde ihm eine neue Familie gegeben, denn die alte — was verband ihn noch mit ihr, nachdem seine Brüder ihn hinauögestoßen hatten? Und doch ist er es, der hier vor uns tritt als einer, der sterbend des Auszugs der Kinder Israel aus Ägypten gedenkt. Welch ein klares Zeugnis von der Tatsache, daß sein Herz nicht in Ägypten weilte. Jenes Land war für ihn nur ein Ort, wo
er sich aufgehalten hatte, um dort den Willen Gottes auszuführen.

Gott hatte durch ihn große Dinge in Ägypten getan, aber deswegen hing sein Herz doch nicht an dem
„fremden Lande". (Apstgsch. 7, 6.) Indem er nun davorsteht, aus diesem Leben zu scheiden, tauscht sein Glaube gleichsam schon im voraus ein besseres dafür ein, das Leben Kanaans nämlich. Damit aber richtet sich sein Auge auf eine bessere Hoffnung und auf eine kostbarere Herrlichkeit,
denn das Volk soll nicht nur durch Moses nach Kanaan geführt, sondern auch einer Auferstehungssegnung teilhaftig werden. „Er gab Befehl", heißt es, „wegen seiner Gebeine."
Gottes Geist geht immer bis zur endgültigen vollkommenen Segnung des Volkes Gottes.
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Daß gerade diese beiden Punkte aus dem so reichen Leben Josephs, reich als Mensch und reich als Vorbild, in dem herrlichen Kapitel der Glaubenszeugen erwähnt werden, beweist ihre hohe Bedeutung in den Augen Gottes. „Der Glaube" ließ ihn des Auszugs Israels gedenken und
des eigenen Leibes, der nicht in Ägypten, sondern in dem verheißenen Lande der zukünftigen Herrlichkeit entgegenschlummern sollte.


allen Sachen allezeit einen Ausweg. Dies im Gedächtnis zu behalten, ist für unsere Seelen sehr wichtig. „Und seid dankbar." Nicht ängstlich besorgt, noch verdrießlich, son­
dern dankbar. Was unrecht ist, muß verurteilt, muß gerichtet werden. Aber die beste Vorbereitung, um recht zu richten, ist, selbst zu tun, was gottgemäß ist. Es ist unser Vorrecht, in allem, was wir beginnen, an Christus zu denken.
„Laßt das Wort des Christus reichlich in euch wohnen, indem ihr in aller Weisheit euch gegenseitig lehret und ermahnet mit Psalmen, Lobliedern und geistlichen Liedern,
Gott singend in euren Herzen in Gnade." (V. 76.) Hier haben wir einen bemerkenswerten Gegensatz zwischen Evangelium und Gesetz. Das Gesetz traf Entscheidungen über dies und das. Und nicht das allein. Dem Gesetz gegenüber gibt's nur einen ganz bestimmten Gehorsam. Es läßt einem
wachsenden Maß von Geistlichkeit keinen Raum. Im Christentum dagegen gibt's Elastizität. Es läßt Raum für Unterschiede in geistlicher Hinsicht. Zwar paßt dies den Gedanken der menschlichen Natur nicht, die feste Regeln wünscht. Aber so entspricht es der Vollkommenheit in dem
Geiste und in den Wegen Gottes, der auf solche Weise Zuneigungen
und Urteilsvermögen bildet. Und gerade hier ist
Raum für das Wort des Christus. Hier gibt es Wachstum
in jeder Art Weisheit und auch Raum für Übungen im
geistlichen Urteil. Im ersten Kapitel fanden wir einen ähnlichen
Grundsatz, aber mit dem Unterschied, daß es dort
hieß: „Auf daß ihr erfüllt sein möget mit der Erkenntnis
Seines Willens ..., um würdig des Herrn zu
wandeln zu allem Wohlgefallen". Dagegen lasen wir
im vorliegenden Kapitel, daß „das Wort des Christus reich
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lich in euch wohne in aller Weisheit". Hier handelt es sich
nicht um den Wandel, sondern um Genuß und Anbetung.
Daher heißt es weiter: „Indem ihr euch gegenseitig lehret
und ermahnet...". Wenn ich Genuß und Anbetung sage,
meine ich nicht deren öffentliche Ausübung, sondern ihren
Geist, der im Verkehr miteinander zur Auswirkung koyr-
men soll.
Was den Unterschied zwischen Psalmen, Lobliedern
und geistlichen Liedern anlangt, so nehme ich an, daß ein
Psalm eine Komposition erhabeneren Stils war als ein
geistliches Lied, das mehr der christlichen Erfahrung, unseren
Gefühlen usw. Ausdruck gibt. Beides war in seiner Art
und zu seiner Zeit sicherlich sehr gut. Aber es war oder ist
nicht das Beste und Höchste. Während ein Psalm also wohl
feierlicher sein mag, wendet sich das Loblied unmittelbar
an Gott und besteht aus Lobeserhebungen. Bei Psalmen
denke ich, nebenbei bemerkt, natürlich nicht an die Psalmen
Davids, sondern verstehe unter ihnen christliche Kompositi­
onen.
Die Mahnung, in Gnade oder im Geiste der Gnade zu singen in ihren Herzen, war wohl deshalb gegeben, weit die kolossäischcn Gläubigen sich nicht in einem so guten Zustand
befanden, wie es — so dürfen wir wohl annehmen —
z. B. die Epheser waren.
„Und alles, was immer ihr tut, im Wort oder im
Werk, alles tut im Namen des Herrn Jesus, danksagend
Gott, dem Vater, durch Ihn." (V. r7.) Dieses Wort entspricht
dem, was schon erwähnt worden ist, nämlich, daß
wir in alles den Herrn Jesus hineinbringen sollen. Tun wir
cs, so ist Segnung unser Teil, statt daß wir überall Betrübendes
finden. Alles in dem Namen des Herrn Jesus
73
tun, umfaßt nicht bloß den Gedanken, daß man Ihm angehört,
sondern daß in Ihm vollkommene Gnade gefunden
wird. Doch ist der Ausdruck „Herr Jesus" bemerkens­
wert. Es heißt nicht einfach Christus, sondern „Herr
Jesus". Dieser Zusatz schließt unser Verhältnis zu Seiner
Autorität ein. Soviel Gnade uns auch erwiesen werden
mag, die Autorität wird nicht dadurch geschwächt, und das
Ergebnis ist, daß wir Gott, dem Vater, danksagen durch
Ihn. Ein Christ, ob Mann, Weib oder Kind, entehrt den
Herrn, wenn er dem undankbaren Geist der Welt folgt.
„Was immer ihr tut, im Wort oder im Werk, alles tut
im Namen des Herrn Jesus." Unsere Art, zu reden sowohl,
als auch unsere Weise, zu handeln, sollte ein Beweis sein
von unserer Unterwürfigkeit unter Den, vor Dem alle Himmel
sich neigen.

„Das (Joh. 1, l-5)
Das Evangelium nach Johannes ist das Evangelium des Sohnes Gottes. Alles in diesem Evangelium geht darauf aus, die Herrlichkeit und Größe Dessen darzustellen, der, obwohl wirklicher Mensch, zugleich wahrer Gott ist. Schon die Anfangsverse tun es. Da steht Er vor uns als
Gott von Ewigkeit, nicht etwa als ein Teil der Schöpfung.
„Sein Name heißt: Das Wort Gottes." (Offbg. 19, 13.)
„Das Wort" und Seine Person Pein Begriff. Wie Christus
nicht einTeil der Schöpfung ist, so auch „das Wort"
nicht. „Das Wort" ist also nicht etwas, was geworden ist,
sondern etwas, was war, und zwar war vor Grundlegung
der Welt. Das Wort ist der Ausdruck alles dessen.
— 74
was Gott ist. Es ist ewig, nicht nur göttlich, sondern Gott
selbst. Wenn wir das nicht beachten, laufen wir Gefahr,
das Wort nur als einen Ausfluß Gottes zu betrachten. Das
wäre ein großer Irrtum, um nicht mehr zu sagen. „Im
Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und
das Wort war Gott" — fürwahr, eine deutliche, unzweideutige
Sprache. „Das Wort war Gott." Weil dies ein zu
großes Ärgernis für den Unglauben ist, leugnet er die göttliche
Inspiration des Evangeliums Johannes — eine allerdings
bequeme Weise, sich über etwas, was einem lästig
ist, hinwegzusetzen. Der Gläubige aber bewundert und betet
an. Ist die Kraft nicht über jede menschliche Kritik erhaben,
mit der der Heilige Geist die Göttlichkeit des Sohneö
hinstellt? „Im Anfang war das Wort, und das Wort war
bei Gott, und das Wort war Gott." Warum „daö Wort"?
Weil Christus der lebendige Ausdruck der Gedanken, des
Willens und der Macht Gottes ist.
Als Gott, wie im Anfang des ersten Buches der Bibel
zu lesen ist, die heutige Welt ins Dasein rief, geschah es
durch Sein Wort. Immer wieder heißt es: „Und Gott
sprach:... Und es ward also". Die Bibel beginnt mit den
Worten: „Im Anfang schuf Gott die Himmel und die
Erde". Dieser Anfang ist gleichbedeutend mit der Grund­
legung der Welt. Zu der Zeit war „das Wort" schon da.
Denn „alles ward durch dasselbe, und ohne dasselbe
ward auch nicht eines, das geworden ist". *) Das Wort
kennt keinen Anfang. Es war immer da, wie Gott immer
da war. Dann kam das Wort zu uns. Es „ward Fleisch
'°') Nicht eines, was geschaffen ist, ist ohne das Wort gewo»
den. Aber was nicht werden konnte und nicht geworden ist, das
ist das Wort. Ls war!
75
und wohnte unter uns". Weshalb kam und wohnte es unter
uns? „In Ihm war Leben, und das Leben war das
Licht der Menschen." (V. 3. 4.) Das Wort war Leben, und
das Leben war das Licht. Die sichtbare Schöpfung begann
mit der Erschaffung des Lichts. Das Johannes-Evangelium,
das mit Recht das Evangelium der Neu schöp-
fung genannt worden ist, beginnt ebenfalls mit dem Licht.
Dieses Licht ist Christus. Als Mensch trat Gottes Sohn unter
die Menschen. Als Kindlein wurde Er in Bethlehem
geboren. Als verherrlichter Mensch weilt Er jetzt droben in
der Herrlichkeit. In Seiner Person war „das Licht der
Menschen" unter die Menschheit getreten. Gott ist ohne
Frage Licht für alle und für alles. Er ist das Licht, das die
Himmel, die Engel, die Schöpfung erleuchtet. Aber hier
leuchtete das Licht dem Menschen, der in tiefer Finsternis
gefangen lag. Auch leuchtete das Licht in einer Art, die die
Engel nicht kannten, nämlich in Gnade, Barmherzigkeit
und Erbarmen. Dieser Dinge bedürfen die heiligen Engel
nicht. Aber der Mensch bedarf ihrer, denn er ist ein gefallenes
Geschöpf. „Und das Licht scheint in der Finsternis, und
die Finsternis hat es nicht ersaßt." (V. 5.) Bei der Erschaffung
der Erde wich die Finsternis dem Licht. Es ist
das Wesen des Lichts, daß es die Finsternis zum Weichen
bringt. Als aber das wahre Licht auf der Erde erschien, geschah
etwas durchaus Unnatürliches und Fremdes: Die
Finsternis nahm das Licht nicht an; sie „hat es nicht erfaßt".
Die völlige Gegnerschaft der Finsternis diesem Licht
gegenüber kam zum Ausdruck. Der mit hohen Geistesgaben
ausgerüstete Mensch blieb in seiner feindseligen Stellung
Gott gegenüber, selbst als das Licht zu ihm kam. Ins
Licht gestellt, zog er die Finsternis vor; und diese Finster
7b
nis liegt heute noch, gleich einem großen, schrecklichen Leichentuch,
den Tod in sich bergend, über dem Erdkreis.
Fassen wir den Inhalt der fünf ersten Verse von
Ioh. 7 zusammen, so müssen wir die unfaßliche, ewige
Liebe Gottes bewundern. Die Urzeiten der Ewigkeit begeben
sich gleichsam zu dem in Finsternis gefangenen Menschen.
Gott, das Wort, das Licht, das Leben, den Menschen —
alles finden wir in diesen fünf Versen. Gott steigt durch
Sein ewiges Wort, das Fleisch wird, herab zu dem verlorenen
Menschen und bringt ihm Licht und Leben, aber die
Finsternis, der Mensch in seinem sündigen Zustande, erfaßt
das Licht nicht. Doch Gott läßt sich nicht beirren. Der
Strom der Gnade zieht sich nicht zurück. Er fließt weiter,
bis er ausgerichtet, was Gott sich in Seinem unerschütterlichen
Ratschluß vorgenommen hat, und was in solch ergreifender
Weise in den bekannten Worten — gleichsam der
Summe des Evangeliums — zum Ausdruck kommt: „Also
hat Gott die Welt geliebt, daß Er Seinen eingeborenen
Sohn gab (d. h. in den T o d), auf daß jeder, der an Ihn
glaubt, nicht verloren gehe, sondern ewiges Leben
habe".
Kragen aus dem Leserkreise
Wie ist das Wort Lxhes. 26 zu verstehen: „Zürnet, und
sündiget nicht!"? Setzt es eine Möglichkeit voraus, zu zürnen, ohne
zu sündigen? Gder will es uns auffordern, nicht zu zürnen und
nicht zu sündigen?
Ja, es gibt ein Zürnen, das keine Sünde ist. Solch ein Zürnen
ist nicht aus dein Fleische, sondern aus den: Geiste. Ls liegt
ihm aber kein feindliches Gefühl gegen den Mitmenschen, der die
Ursache davon ist, zugrunde. Die Gefahr, zu sündigen, liegt
freilich nahe. Daher die Warnung.
Ls ist ein heftiges, heiliges Aufwallen des Gemüts in Fällen,
wo die Lhre Gottes durch des Menschen Widerspenstigkeit oder
77
Bosheit geschändet wird. Linen solchen Zorn finden wir bei Moses.
(2. Moss 11, 8 u. 32, l I.) Samuel war in dieser Gemütsverfassung
Sauls wegen, (s. Sam. s5, ss.) Lr „entbrannte".
„Das Wort bezeichnet sowohl Betrübnis als Zorn", sagt dis Fußnote
der Elberfelder Übersetzung. Dis Gemütsbewegung über die
Widerspenstigkeit, dis Saul Gott gegenüber an den Tag legte, war
so stark, daß Samuel dis ganze Nacht zu Gott schrie vor Schmerz.
In ähnlicher Gemütsverfassung war der Herr in der Synagoge.
(Mark. 3, 5.) Als die auf Ihn Lauernden auf Seine Frage, ob es
am Sabbath erlaubt sei, Gutes zu tun oder Böses, das Leben zu
retten oder zu töten, die Antwort schuldig blieben, „blickte Lr auf
sic umher mit Zorn, betrübt über die Verstockung ihres
Herzens".
Wenn wir heute Menschen kennen, denen die Gnade begegnet
ist, und dis unsere über alles Begreifen erhabene Berufung und
Stellung in Christus kennen gelernt haben, aber die nachber
Schmach auf den Namen des Herrn bringen und mit frecher Gemeinheit
die geringsten Forderungen Seiner Heiligkeit mit Füßen
treten, so mag wohl eine heftige, heilige Gemütsaufwallung in uns
hochsteigen. Doch sollte sie gepaart sein mit dem selb st richtende
n Geiste der Buße, damit wir nicht in fleischliche Zornsserre-
gung kommen, die Sonne über ihr untergingc, und wir dem Teufel
Raum gäben. Vers 3 s von Lphes. weist uns deutlich in die geziemenden
Schranken.
Die Form des Satzes: „Zürnet, und nicht sündiget" (so im
Griechischen), mit dem Nomina nach „Zürnet", zeigt deutlich, daß
er so gemeint ist, wie crläntert. Übrigens ist das Wort aus Psalm
4, übernommen, wie das vorhergehende: „Redet Wahrheit, ein
ieder mit seinem Nächsten", aus Sach. 8, s6. Beide Ausdrücke
sind nach denr Tert des griechischen Alten Testaments übernommen.
Das hebräische Wort in ps. H: ..Seid erregt", hat
auch die Bedeutung „zürnen, sich erzürnen". (Dasselbe Wort wie
Sprüche 2H, g.) Weil die Septuaginta'H in Psalm H „zürnet"
setzt, hat Paulus es auch übernommen. Die Apostel lebten und
webten eben in den Aussprüchen des Alten Testaments. So konnte
dem Paulus der Geist Liese Worte leicht ins Gedächtnis rufen, weil
er vom Ablegen der Lüge, dessen, was falsch ist, spricht, und der
-s. Psalm in Vers 2 von Männersöhnen redet, welche die Lüge
suchen.
*1 Sie griechisch« Uebersehung des Alten Testaments.
* * * *
Jede Verheißung ist das, was der Glaube daraus macht.
Abhängigsein von Gott macht unabhängig von Menschen.
78
Unter diesem Titel soll, so Gott will, möglichst in jeder
Nummer ein vier bis etwa acht Seiten umfassender Aufsatz über
die eine und andere wichtige Lebensfrage in unserer Zeit sprechen.
Das christliche Leben, das des einzelnen sowohl wie das der Allgemeinheit,
soll in diesen Aufsätzen in praktischer Weise behandelt
werden. Und damit auch jede Gefahr der Einseitigkeit vermieden
wird, soll dies in Form der „Unterredung" erfolgen, in einer Art
also, die Gelegenheit zu offener brüderlicher Aussprache gibt.
Eins ist not
EinWort an vielbeschäftigte Frauen und
Mütter
Ich weiß nicht, ob eö manchen Frauen auch schon so
gegangen ist wie mir. Ich habe mich früher manchmal an
der Erzählung Luk. 70, 38—42 von Maria und Martha
gestoßen. Wer würde nicht lieber hinsitzen und zuhören,
wenn Jesus selbst zu Gast ist, als für die Bedürfnisse des
Leibes herumrennen und sich abmühen? Das ist ja gerade
die Not in unserem Frauenleben, daß wir oft unsere ganze
Zeit an die Sorge für den Körper unserer Lieben verwenden
müssen und dadurch so stark ermüdet werden, daß unsere
Seele sich nicht mehr aufschwingen kann zu dieser Ruhe und
unbekümmerten Stille, wo uns das Wort Jesu segnend begegnen
kann.
Eins ist not! heißt es einfach in jenem Bericht — aber
sind nicht so viele Dinge nötig? Die Kinder müssen versorgt
werden, das Essen muß gekocht werden, es muß
gewaschen und geflickt werden. Täglich steht eine Reihe von
Pflichten da, die getan werden müssen. Und nur „eines"
soll eigentlich not sein? Ja, wenn wir im Orient leben würden,
wo es so schön warm ist, wo man so wenig Kleidung
braucht, wo man von Früchten leben kann, wo das Leben
nicht nach der Uhr sich richten muß! Aber bei uns drängt
eine Notwendigkeit die andere. Da ist nicht nur eines
7d
not. Im Gegenteil, man kommt gar nicht alledem nach,
was man eigentlich tun müßte.
Warum hat uns aber der Herr die Geschichte der beiden
Schwestern erzählt und die Maria hingestellt als diejenige,
die das „gute Teil" erwählt hat, das nicht von ihr
genommen werden wird, auch nicht durch uns Menschen
der Jetztzeit? Ist das auch für uns noch das einzig Nötige,
still zu Jesu Füßen zu sitzen?
Wir wollen einmal die Geschichte in Lukas bO näher
ansehen. Es ist eine Freude, zu bemerken, wie lieb die beiden
Schwestern den Herrn hatten. Martha ließ all ihre anderen
Geschäfte stehen und fing an, den Herrn und Seine
Jünger zu bedienen. Gewiß holte sie frisches Wasser, um
die Füße der Wanderer zu waschen, und hurtig deckte sie
den Tisch und holte das Beste, was sie hatte, aus ihrer
Küche. Sie war beschäftigt mit vielem Dienen. Ich kann
mir nicht anders vorstellen, als daß Maria ihr am Anfang
nach Kräften mitgeholfen hat. Wir sehen an anderer Stelle,
daß Maria keine träge Natur war. In Joh. bl, 2d u. 3 b
hören wir, daß sie schnell aufstand, als der Meister sie
rief. Und daß sie eine Frau entschlossener Tat war, sehen
wir an dem „guten Werk", das sie tat, als sie den Herrn
salbte im Hause Simons. Sie liebte den Meister über alles
und war bereit zu jedem Dienst für Ihn. Als aber Martha
sich nicht genug tun konnte mit Aufwarten und Bedienen,
ließ Maria sie allein und setzte sich still hinten zu Jesu Füßen
nieder und hörte den Worten Jesu zu, die Er mit Lazarus
und den Jüngern redete. Er, der Meister, und Seine
Worte waren ihr viel wichtiger als ihr Dienst für Ihn, hatte
Er doch gesagt, daß Er „nicht gekommen war, um bedient
zu werden, sondern um zu dienen".
Martha aber überhörte durch ihre Geschäftigkeit Jesu
Worte. Vielleicht brachte ihr vieles Hin- und Hergehen sogar
eine gewisse Störung in die Aufmerksamkeit der Zuhörer.
Auf alle Fälle wurde ihr Inneres immer unfähiger,
auf Jesu Worte zu lauschen, denn ein Groll stieg darin auf,
ein Arger. Warum kam ihr Maria nicht zu Hilfe? Sah
80
denn der Herr nicht, wie übermüdet sie war? Sie ärgerte
sich über Maria; sie stieß sich an dem Meister. Sie mußte
nun den beiden sagen, was sich gehörte. Sie meisterte den
Meister: Sage Maria, daß sie mir helfe. Kümmert es Dich
nicht, daß sie mich allein gelassen hat, zu dienen? Martha
fühlte sich so ganz im Recht, sie sah so deutlich die Fehler
der anderen. Sie mußte sich eben selbst Recht verschaffen,
wenn die anderen nicht bemerkten, wie ihr zu viel zugemutet
wurde! — Wie unerwartet kam da die Antwort Les
Meisters: „Martha, Martha, du bist besorgt und beunruhigt
um viele Dinge; eines aber ist not".
Martha verstummte. Der Meister wollte also gar
nicht, daß sie sich so beunruhigte. Nur eines war eigentlich
notwendig? Sie hatte doch Ihm gedient, für Ihn sich
gemüht, und nun wäre es besser gewesen, sie hätte es wie
Maria gemacht und still zugehört!? Martha mußte ganz
umdenken lernen. Sie hatte also nicht recht gehabt, und ihr
Ärger war ganz unnötig gewesen? Eö war nicht leicht für
diese tatkräftige und rechtschaffene Natur, sich unter Jesu
Wort zu beugen. Aber ich glaube, sie tat es. Der Herr Jesus
hat sie nie mehr getadelt. Martha wurde still und hörte.
Nein, sie, die praktische Frau, wollte nichts Unnötiges tun!
Aber sie merkte, daß sie nicht von selbst wußte, was das
Nötigste ist. Mit ihrer guten Meinung war sie ganz in die
Irre gegangen. Der Meister mußte zuerst gehört
werden. —
Und wir, liebe Schwestern, die wir täglich so viel Arbeit
vor uns haben, haben wir eö nicht auch besonders nötig,
auf Jesu Stimme zu hören? Wollen wir nicht gleich in
der Frühe des Tages vor Gott still werden und Ihn bitten,
das für heute Nötige uns zu zeigen? Sagen wir nicht: „Bei
uns ist der Fall klar; da sind die kleinen Kinder zu versorgen,
da brauch' ich gar nicht lange zu fragen". Gewiß, unausweichliche
Pflichten liegen da, aber es ist viel schöner,
sich die Pflichten aus Gottes Händen geben zu lassen als
Dienst für Ihn, als Gottesdienst. Ihm dürfen wir dienen,
wenn wir unsere Kinderlein pflegen und unseren Haushalt
— 8r
besorgen. Aber die richtige Art dazu müssen wir uns von
Ihm schenken lassen. Wir haben so manche Unart an uns,
die wir erst gewahr werden, wenn Sein Licht darauf fällt.
Der Herr will uns mit Seinen Augen leiten. Damit Er
dies wirklich tun kann, müssen wir immer wieder zu Ihm
aufblicken. Vielleicht müssen wir einmal mitten in einer
Arbeit aufhören, weil Er es uns klar gemacht hat, daß jetzt
etwas anderes viel nötiger ist. Wir müssen bewegliche Dienerinnen
werden, die nicht ihre eigenen Überzeugungen für
heilig halten, sondern die bereit sind, sich zurechtweisen zu
lassen.
Mit wieviel unnötigen Sorgen belasten wir doch unseren
Tag! Lassen wir es doch bei der Sorge für heute! Machen
wir es uns einmal klar, wieviel Gegenwartssorgen wir
eigentlich haben, und wieviele Sorgen Zukunftssorgen sind!
„So seid nun nicht besorgt auf den morgenden Tag", tönt
die Stimme des Meisters. Wollen wir ihr nicht heute folgen?
Es kommt eine neue Ruhe und Stille in unser Tagewerk
hinein, wenn uns nicht mehr die Umstände jagen und
Hetzen, sondern wenn wir in unseren Verhältnissen die liebende
Hand unseres himmlischen Vaters erkennen, der tatsächlich
unser Bestes will.
Da werden wir auch nicht so unglücklich sein über die
vielen Störungen bei unserer Arbeit. Vielleicht entdecken
wir hintennach, daß die unliebsame Störung gerade die
nötigste Aufgabe unseres Tages war, daß Gott selbst uns
„störte".
Wir Hausfrauen und Mütter haben durch unser bewegtes
Leben besonders reichlich Gelegenheit, uns als Marien
zu erweisen, die inmitten all der Geschäftigkeit einen
feinen Sinn haben für das einzig Notwendige, für
das Hören auf Jesu Stimme.
In Deinem Namen, Jesu Lhrist,
Steh' ich vom Lager auf;
Zu Dir, der allenthalben ist,
Nicht' ich mein tser; hinaus.
82
Nun warten wieder viel auf mich Geschäfte, Sorgen, Müh'.
O lieber Herr, ich bitte Dich, Lehr' mich, verrichten sie.
Nach Deinem Willen, Deinem Sinn Das kleinste, größte Werk!

Sei, wenn ich im Gedränge bin, Nur Du mein Augenmerk.
Du siehest, Herr, ich habe nicht Zum Beten lange Zeit,
Und Du verstehst, wenn's Auge spricht: Sieh, Herr, ich bin im Streit.

Ja, stärke, Herr, mich in dem Streit. Mit dem, was Dir mißfällt,
Und siegen werd' ich wieder heut', Wenn Deine Hand mich hält.
Und drängt mich der Geschäfte Last, Will ich entlaufen Dir,

Der Du den Sturm gestillet hast, Still' auch den Sturm in mir.
Lehr' mich in allein Dich verstehn, Nur sehn auf Deinen Wink!
Heißt Du mich auf den Wogen gehn, So halt' mich, wenn ich sink'.

Ach, laß im Sinken, Herr, mich nicht! Du weißt, ich bin ja Dein.
Und wenn mir's heut' an Mut gebricht, So ruf mir: Du bist mein!
Anna Schlatter, (773—(826
(St. Gallen)


A. Sch. war eine Raufmannsfrau in St. Gallen, die den ganzen
Tag im Laden stand und verkaufte und Mutter von dreizehn
Rindern war.
— sk —
83
der „Dandel ohne V>or1"
Unter den Gläubigen, auch denen, die den „Botschafter"
lesen, befinden sich viele Frauen. Ihnen zu besonderem
Nutzen hat Gott in Seinem Worte das Bild mancher
Frauengestalt festgehalten.
Blättert man die Bibel durch und fängt an, die darin
verzeichneten Frauen zu zählen, dann ergibt sich eine stattliche
Zahl, so daß man ganz erstaunt ist und vielleicht dahin
kommt, das Leben dieser Frauen genauer anzusehen.
Allen voran steht Eva, die Mutter der Lebendigen,
schön und wohlgestaltet aus der Hand Jehovas hervorgegangen,
aber die Augen, die einst das Paradies in seiner
Schönheit sahen, voll Trauer über das schmerzlich Verlorene,
und das Herz voller Sehnsucht nach dem Sündentilger,
dem Manne, der, wie verheißen war, einmal „der
Schlange den Kopf zermalmen wird".
Da istSara, die glaubensmutig auf Gottes Geheiß
mit ihrem Mann in ein fremdes Land zieht, und die als
Neunzigjährige „durch Glauben Kraft empfängt, einen
Samen zu gründen,... weil sie Den für treu achtete, der
die Verheißung gegeben hatte". Im Gegensatz zu ihr Lots
Weib, der es wohlgefiel inmitten der Sodomiter, und die
darob so ganz und gar ihren Beruf verfehlte, „Gehilfin"
ihres Mannes zu sein. Später sehen wir Jokebed, die mutige
Mutter des großen Führers Moses, die dem grausamen
Pharao trotzt und, durch Gottes Geist geleitet, im Glauben
einen Weg findet, der die Absicht des Pharao in bezug
auf ihr Kind zuschanden macht.
Und was alles haben sie sonst noch zu berichten, die
Frauengestalten Alten und Neuen Testaments!? Sie
antworten durch Stillesein und Harren,
durch entschlossenes Handeln und liebende
Treue auf alle wichtigen Fragen auch
des heutigen Frauenlebens, das mit Gott
rechnet.
84
Wir dürfen sogar achthaben aus Frauen, deren kaum
Erwähnung geschieht in Gottes Wort. Auch das Schweigen
der Schrift kann sür den, der hören will, etwas bedeuten.
Mir steht da eine Frau vor der Seele, deren Name
überhaupt nicht genannt, und von der nicht eine Einzelheit
berichtet wird. Es ist das Weib Noahs, Mutter von drei
Söhnen und Schwiegermutter von drei Schwiegertöchtern.
War es nicht eine Großtat des Glaubens, sich zu
Noah und den wenigen zu bekennen, die auf trockenem
Land in der Zeit gleichmäßig ablaufenden Naturgeschehens
ein Schiff bauten, riesig in seinen Ausmaßen und merkwürdig
in seiner Anordnung?
So sehe ich sie vor mir stehen als eine Frau und Mutter,
die dem Worte Jehovas geglaubt hat, das Er zu ihrem
Manne redete. Sie hat diesen Geist des Gottgehoc-
chens ihremHauseaufgeprägt — denn das Haus
ist der Bereich der Frau —, sie hat am bösen Tage mit ihrem
Gatten, mit ihren zu Männern erwachsenen Söhnen
und den Schwiegertöchtern den bewahrenden Schritt in die
Arche tun dürfen und ist gerettet worden. Das letzte, was
wir auch von ihr lesen, ist das Verlassen der Arche, um
Gott Dank und Ehre zu geben.
Das Weib Noahs ist uns eine der vielen Unbekannten,
die durch den Segen, der von ihnen ausging, für ihren engeren
oder weiteren Kreis zu „Wohlbekannten" geworden
sind. Möchte auch in unserer Zeit des neuentbrannten
Kampfes für oder wider Christus der Einfluß aller derer,
die ihrem Herrn dienen wollen, ohne öffentlich hervortreten
zu können, spürbar sein in dem Segen, den sie in ihrer Umgebung
verbreiten! — wt —
Gedanke
Die Liebe denkt nie an sich, umsomehr aber an das
Wohl der anderen. Sie redet auch nie von sich, umsomehr
aber von dem Guten, das sie in anderen sieht. Da sie das
Gegenteil von unserer alten Natur ist, ist es nötig, nach
ihr zu streben. (4. Kor. 44, 4.)
Saulus von Tarsus
(Nach einem alten „Botschafter")
Nicht von dem „Apostel Paulus" will ich heute reden,
dem Mann, dem wir so viel zu verdanken haben, sondern
Saulus von Tarsus möchte ich vor uns stellen, und
zwar wie er war, bevor er sich zu Jesus von Nazareth bekehrt
hatte. Auch an Saulus können wir als Gläubige
Studien machen, die uns nützlich sein dürften. Denn könnten
wir uns einen Menschen denken, der geeigneter als er
wäre, an der eigenen Person zu zeigen, was die Gnade vermag,
und was ein Höchstmaß menschlich-gesetzlicher Tätigkeit
nicht vermag?
Wenn es je einen Menschen auf Erden gegeben hat,
dessen Geschichte die Wahrheit belegt, daß wir „durch
Gnade errettet sind", und nicht durch „Gesetzeswerke", so
ist Saulus von Tarsus dieser Mensch gewesen. Man hat
fast den Eindruck, als ob Gott in der Gestalt dieses merkwürdigen
Mannes als einem lebendigen Beispiel hätte zeigen
wollen, in welch tiefen Abgrund ein Mensch sinken
kann, und bis zu welch hohem Gipfelpunkt er anderseits
emporzusteigen vermag. Saulus von Tarsus war einerseits
der erste oder der vornehmste der Sünder, d. h. einer, der
als Sünder den ersten Platz einnahm, der es in seiner
Feindschaft und Bosheit gegen den Gesalbten Gottes weiter
gebracht hatte als irgend ein anderer, und anderseits
war er der Mann, der in bezug auf gesetzliche Gerechtigkeit
alle übertraf. Er nahm die unterste Stufe ein, was sein
»5. Jahrg. 4
86
Fernsein von Gott anging, und er stand auf dem Höhepunkt,
was seine Gerechtigkeit als Mensch betraf. Er war
der Sünder der Sünder und der Pharisäer der Pharisäer.
Betrachten wir ihn zunächst als den
ersten der Sünder.
Dieser Ausdruck findet sich im ersten Brief des Apostels
an Timotheus. An ihn schreibt er: „Das Wort ist gewiß
und aller Annahme wert, daß Christus Jesus in die
Welt gekommen ist, Sünder zu erretten, von welchen ich
der erste bin".
Es ist Paulus selbst, der diesen Ausdruck prägt. Zugleich
aber redet Gottes Geist durch ihn. Es ist ein
Zeugnis Gottes, daß Saulus „der erste" der Sünder war.
Zweifellos liegt Demut, wahre, tiefe Demut in der Selbstbezichtigung
des Apostels, aber das ist, wie mir scheint,
nicht das Wichtigste. Worauf es ankommt, sind nicht die
Gefühle des durch den Geist Gottes geleiteten Schreibers,
sondern der Bericht des Heiligen Geistes selbst. Daß die
Schrift durch den Heiligen Geist eingegeben ist, ist eine
Wahrheit von solch erhabener Größe, daß ihr gegenüber
die Art des Schreibers völlig zurücktritt, mag sie noch so
schön und feierlich sein. Da vielfach von den verschiedenen
heiligen Schreibern in einer Weise geredet wird, die geeignet
ist, die Kraft und Bedeutung obiger Wahrheit abzuschwächen,
sei besonders auf sie hingewiesen. Es gibt in der
heutigen Zeit viel geistige Tätigkeit, viel Verstandesarbeit,
dabei natürlich auch viel spekulatives Denken, wobei man
in seinen Schlüssen oft bis zur äußersten Grenze geht. Da
ist die Gefahr groß, der Unfehlbarkeit des göttlichen Wortes
Abbruch zu tun, auch ohne es zu wollen. Vergessen wir
nicht: Es sind allerhöchste Offenbarungen, die uns dieses
87
heilige Buch bringt. Es ist ein Schatzkasten der Gedanken
Gottes. Von Gottes Geist geleitet, gibt Petrus dieser Tatsache
entsprechenden Ausdruck in den Worten: „Die Weissagung
wurde niemals durch den Willen des Menschen
hervorgebracht, sondern heilige Männer Gottes redeten,
getrieben vom Heiligen Geiste". (2. Petr, b, 2b.)
Ich wiederhole also: Beim Lesen von b. Tim. b, b5
ist es nicht das Wichtigste, von den gottgewirkten Gefühlen
und Überzeugungen eines Menschen getroffen zu werden,
sondern zu bedenken, daß es sich um eine göttliche
Urkunde handelt. Und diese Urkunde erklärt: Saulus von
Tarsus war der erste der Sünder. Von keinem anderen
Menschen wird das gesagt. Daß ein von der Sünde überführtes
Gewissen dahin kommt, zu sagen: Es gibt keinen
schlechteren Menschen, kein verabscheuungswürdigeres Geschöpf
als ich, ist ganz in der Ordnung, kann auch sehr
wohl durch Gottes Geist gewirkt sein; aber das ist ganz etwas
anderes. Es ist eine persönliche Sache des Betreffenden
und hängt von der Aufrichtigkeit der persönlichen Buße
ab. Man kann vielleicht sogar sagen: So sollte jeder überführte
Sünder sprechen. Damit wird die Sache aber nicht
zu einer Urkunde, durch die Gott zu anderen redet. Das tut
der Heilige Geist durch Saulus von Tarsus. Von ihm hat
Er ausdrücklich erklärt, daß er „der erste der Sünder" sei,
und der Umstand, daß diese Erklärung durch die Feder des
Paulus selbst erfolgt ist, schwächt nicht im geringsten die
Wahrheit und den Wert des Berichts. Für alle Zeiten steht
Saulus von Tarsus vor uns als „der erste der Sünder".
Wie sündig sich jemand auch vorkommen mag, Paulus
!agt: „Ich bin der erste". Wie tief gesunken in den Ab-
frund des Verderbens, und damit wie rettungslos verloren
88
ein Mensch in seinen eigenen Augen auch ist — er höre auf
die Stimme, die von einer noch tieferen Stufe aus an sein !
Ohr tönt: „ich bin der erste" Es kann nicht zwei „erste"
geben. Man kann wohl zu zweien an der Spitze marschieren,
und dann hätte Paulus von sich sagen können: Ich
bin einer von diesen Zweien. Aber das steht nicht da. Er war
„der erst e". Gott selbst hat es bezeugt.
Und was bezweckte Gott nun mit diesem Manne, der
allen Sündern voranstand? Darüber schreibt Paulus selbst:
„Darum ist mir Barmherzigkeit zuteil geworden, auf daß
an mir, dem ersten, Jesus Christus die ganze Langmut er-!
zeige, zum Vorbild für die, welche an Ihn glauben werden j
zum ewigen Leben". Der erste der Sünder ist im Himmel.
Gottes Gnade ist an ihm erwiesen worden. Durch das Blut -
Christi wurde ihm das ewige Leben zuteil. Er steht da als
ein Beispiel für alle, nach denen je der Heiland-Gott Seim
liebende Hand ausgestreckt hat und ausstreckt. Alle mögen
diesen Saulus von Tarsus anschauen und erkennen, bis zu
welchen Tiefen die Gnade gegangen ist. In derselben Weise
wie „der erste" können und müssen alle nachfolgenden errettet
werden. Die Gnade, die den ersten erreichte, kann alle
erreichen. Das Blut, das den ersten reinigte, kann alle reinigen.
Das Recht, durch das der erste in den Himmel ein-
ging, ist das Recht für alle. Der am weitesten abgeirrte
Sünder unter dem Himmel darf aufhorchen, wenn er Pau-!
lus sprechen hört: „Ich bin der erste der Sünder, und den-!
noch habe ich Barmherzigkeit empfangen. Als ein Beispieb
von der Langmut Christi stehe ich da, solange nur das
Evangelium Seiner Gnade verkündigt wird." Er war ei !
Lästerer und Verfolger und Gewalttäter, und wozu hatdu
Gnade ihn gemacht! So gibt es keinen Sünder diesseit dei
8Y
Pforten der Hölle, sei es selbst ein Abtrünniger oder sonst
ein ganz tief Gefallener, der außerhalb des Bereichs der
Liebe Gottes, des Blutes Christi oder der Wirksamkeit des
Heiligen Geistes stünde.
Wenden wir uns jetzt zu der anderen Seite und betrachten
Saulus von Tarsus als den tadellosen Mann des
Gesetzes, als den — so dürfen wir wohl sagen —
ersten der GesetzrSmrnschen.
Was seine Stellung als gesetzeseifriger Jude betraf,
so konnte Saulus mit Recht von sich sagen, daß er Ursache
hatte, auf Fleisch zu vertrauen. „Wenn irgend ein anderer
sich dünkt, auf Fleisch zu vertrauen — ich noch mehr."
Er nahm also in dieser Hinsicht den gleichen Platz ein, wie
im Blick auf seine Stellung als Sünder. Keiner war über
ihm. Das ist ein überaus wichtiger Punkt. Saulus von
Tarsus stand wirklich auf dem erhabensten Felsen der Höhe
menschlicher Gerechtigkeit. Er hatte die oberste Stufe der
Leiter der höchsten menschlichen Religion erreicht. Nicht einen
einzigen Menschen brauchte er in diesem Stück über sich
zu dulden. Sein Streben hatte zum gewünschten Ziel geführt.
„Ich nahm in dem Judentum zu über viele Altersgenossen
in meinem Geschlecht, indem ich übermäßig ein
Eiferer für meine väterlichen Überlieferungen war." (Gal.
I, 14.) Sein Ringen nach Selbstgerechtigkeit war echt,
md von keinem wurde er darin übertroffen. „Wenn irgend
in anderer sich dünkt, auf Fleisch zu vertrauen — ich noch
mhr." Ist da jemand, der auf sein mäßiges, gutes Leben
,vertraut"? Paulus konnte sagen: „ich noch mehr". Ist
a jemand, der auf seine Sittenreinheit „vertraut"? Pauls
konnte sagen: „ich noch mehr". Ist da jemand, der auf
M regelmäßiges Kirchengehen, auf seine Gebete, auf die
— 90 —
peinliche Beobachtung aller von irgend einer Seite ihm
auferlegten Seelenübungen „vertraut"? Paulus konnte sagen:
„ich noch mehr". Ist da jemand, der auf seine Rechtgläubigkeit
„vertraut"? Paulus konnte sagen: „ich noch
mehr". Mit einem Wort, mag jemand den Gipfel aller
menschlichen Gerechtigkeit erreicht haben, er wird immer
noch von einer noch höheren Stufe herab eine Stimme hören:
„ich noch mehr".
Diese beiden bis zur äußersten Grenze gehenden Gegensätze
sind es, die die Geschichte des Saulus von Tarsus
so überaus eindrucksvoll und lehrreich machen. Während j
er in seinem gottfeindlichen Fanatismus abgrundtief von
Gott entfernt war, stand er zugleich auf dem Gipfel der
Selbstgerechtigkeit. Er vereinigte in seiner Person den^
schlechtesten *) und den besten der Menschen. Stellen wir
dann aber den späteren Apostel Paulus dem einstigen
Saulus von Tarsus gegenüber, so erfassen wir mit einem
Blick die ganze Kraft des Blutes Christi, sowie anderseits
die gänzliche Wertlosigkeit einer menschlich-gesetzmäßigen
Gerechtigkeit. Wer diesen einzig dastehenden Mann betrachtet,
kann sagen: Kein Sünder braucht zu verzweifeln, und
kein Gesetzesmensch hat Grund, sich zu rühmen. Ist der
erste der Sünder im Himmel, so kann auch jeder andere
dorthin gelangen, und hat dem religiösesten, dem weckgerechtesten
Menschen, der je gelebt hat, all sein Mühen, Eifern
und Streben nichts genützt, so hat auch jeder andere,
Zur Vermeidung jedes Mißverständnisses sei hinzugefögf
daß dieser Ausdruck nicht auf sein sittliches Verhalten bezogen werden
darf. Saulus von Tarsus war sittenrein. Aber er war eii
Feind Jesu von einem Ausmaß, das alles übertraf. Gibt s
Schlimmeres?
— S1 —
der bisher sein Vertrauen auf seine Religion und seine
Werkgerechtigkeit gesetzt hat, alle Ursache, Bemühungen
dieser Art ein- für allemal einzustellen. Sie nützen nicht
nur nichts, sondern bringen nur immer weiter ab von dem
erstrebten Ziel.
Wie ist's mit Saulus von Tarsuö gegangen?
Er durfte heraufsteigen aus der Tiefe, und er mußte
herunter von seiner Höhe, und er fand Ruhe zu den durch-
grabenen Füßen Jesu von Nazareth. Die Größe seiner
Schuld war kein Hindernis, diese Ruhe zu finden, und seine
Gerechtigkeit, die die Menschen priesen, erwies sich zu diesem
Ende als gänzlich nutzlos. Was wurde aus der Schuld?
Sie wurde hinweggewaschen durch das Blut Christi. Was
aus seiner Gerechtigkeit? Verlust und Dreck. Mochte er,
was die Sünde angeht, sagen müssen: „ich bin der erste
der Sünder", mochte, was die Gerechtigkeit betrifft, die
aus dem Gesetz ist, seine Sprache lauten: „ich noch mehr"
— das Kreuz Christi machte beidem ein Ende. Dieses
Kreuzes sich zu rühmen, und nur dieses Kreuzes, war in
späteren Tagen das Begehren seines Herzens. „Don mir
aber sei es ferne, mich zu rühmen", schreibt dieser erste der
Sünder und Fürst der Gesetzesmenschen aus dem Gefängnis,
wohin das Kreuz ihn gebracht hatte, „als nur des
Kreuzes unseres Herrn Jesus Christus, durch welchen mir
die Welt gekreuzigt ist, und ich der Welt". (Gal. 6, 14.)
Saulus von Tarsuö hatte in jeder Beziehung über dem
Durchschnitt gestanden. Aber der Mann, der im Kampf für
)ie väterlichen Überlieferungen mit „vielen Altersgenos-
en in seinem Geschlecht" sich den Siegeslorbeer hatte aufs
Haupt drücken können, war dahin gekommen, diesen Kranz
K etwas völlig Wertloses am Fuße des Kreuzes niederzu
Y2
legen. Er, der auf der finsteren Sünder-Strecke alle über- -
troffen hatte, war durch die Kraft des Kreuzes ein Vorbild
geworden von der Macht der Liebe Gottes und der Wirksamkeit
des Blutes Christi. O das Kreuz Christi! Allen,
die in den Tiefen der Sünde einherschreiten, mögen sie nun
den Giftbecher sündiger Lust schlürfen oder die Fackel des
Hasses gegen Jesus von Nazareth schwingen, ruft es zu:
„Komm herauf!" Und denen, die einen Sinai eigener,!
gesetzlicher Gerechtigkeit bezwungen haben, ruft es zu:
„Komm herab!" Saulus von Tarsus war in seiner Ei-i
genschaft als der erste der Sünder ebensoweit von Christus
entfernt, als er es war als der tadellos Erfundene im Blick
auf die Gerechtigkeit, die im Gesetz ist. Seine Tätigkeit als
gesetzeseifriger Pharisäer und seine Verfolgung der Jünger
des Nazareners standen, was ihren Wert angeht, vor Gott
auf gleicher Stufe. Errettung wurde ihm einzig und allein
zuteil durch Gnade, Blut und Glauben. Es gibt keinen anderen
Weg für den Sünder wie für den Rechtschaffenen.
Das ist's, waö ich über Saulus von Tarsus zu sagen
habe in seinem Doppelcharakter als erster der Sünder und
vornehmster der Gesetzesmenschen. Damit ist eigentlich
mein Thema erschöpft. Aber ein kurzes Schlußwort sei nm:
noch gestattet über die Weiter-Entwicklung dieses Manneü
unter der göttlichen Gnade. Hatte sein eigener Weg/
mochte er dabei auch von den besten Absichten geleitet wor>
den sein, nur Früchte für das Fleisch gebracht, so sehen wi'f
auf der Wegstrecke, die er fortan unter Gottes Führung
ging, den Kranz jener Lebensfrüchte reifen, der in der Ewigkeit
seinHaupt zieren wird alsKrone der Gerechtigkeit. Stel
Saulus von Tarsus vor uns als der erste im Blick auf SV
deund gesetzliche Gerechtigkeit, so der Apostel Paulus s
93
der erste der Arbeiter.
Er, der sich den „geringsten der Apostel" nennen
mußte, „nicht würdig, ein Apostel genannt zu werden",
konnte zugleich, geleitet durch den Heiligen Geist, schreiben:
„ich habe viel mehr gearbeitet als sie alle", (1. Kor.
15, d. 10.) Er, der in seiner rasenden Wut gegen die Anhänger
des verhaßten Nazareners, Drohung und Mord
schnaubend wie ein wildes Tier, die Reise nach Damaskus
antrat, die er nach der wunderbaren Begegnung mit dem
Herrn des Himmels und dem Herrn der Seinigen hilflos
wie ein Kind vollendete — er begann mit derselben Tatkraft
für Jesus von Nazareth zu arbeiten, wie er bisher
gegen Ihn gekämpft hatte. Unmittelbar setzte seine Arbeit
für seinen neuen Herrn ein, und sie endete mit seinem
Tode. „Nicht ungehorsam dem himmlischen Gesicht", sagt
er in seiner großen Rede an Agrippa, „verkündigte ich denen
in Damaskus zuerst und Jerusalem und in der ganzen
Landschaft von Judäa un d den Nationen, Buße zu tun
und sich zu Gott zu bekehren, indem sie der Buße würdige
Werke vollbrächten." (Apstgsch. 26, 19. 20.) Den Apostel
im Geiste auf seinem Wege der Arbeit für Jesus zu begleiten,
ist eine dankbare Aufgabe. Ich möchte hier nur erinnern
an die geradezu riesenhaften Ausmaße dieser Arbeit
im Werke des Herrn, an seine Unermüdlichkeit bei Tage
md Nacht, an seine Tränen, seine Gebete, seine Mühen,
eine Reisen, seine Verfolgungen und Kämpfe, an seine
Sande und an die Stunde, wo es auch für ihn keine Ret-
ung mehr gab „aus dem Rachen des Löwen".
Die Geschichte des Apostels Paulus zeigt wie keine
ndere, wie es um ein Leben ohne und mit Christus beicht
ist. Auch ohne Christus war, wie wir hörten, seine
44
Sittlichkeit hochstehend, seine Rechtgläubigkeit streng, sein
Streben ernst, sein Ringen und Kämpfen ohn' Ende. Aber
wie kalt war die Atmosphäre, die er verbreitete, wie kraftlos
sein Glaube, wie nutzlos, ja, eitel sein Tun! Als die entscheidende
Stunde kam, stürzte das Gebäude seiner guten
Werke zusammen wie ein Kartenhaus. Es konnte nicht anders
sein, da der Mittelpunkt, um den sich alles drehte,
das eigene Ich war. Nachdem er aber mit dem Selbst
zu Ende gekommen, nachdem an die Stelle des Saulus
von Tarsus Christus getreten war, als sein Leben der Eine
ausfüllte, der allein das Leben ist, da ward auch in ihm
das Wasser, das ihm gegeben worden, zu einer Quelle
Wassers, das ins ewige Leben quillt. (Vergl. Ich. 4, t4.)
Da gingen lebendige Ströme von dem Mann aus, dessen
Tritte vordem Todesspuren hinterlassen hatten (vergl.
Apstgsch. 26, 44), und Friede und Freude ließen sein Herz
überwallen, dessen Leere ein sich selbst verzehrender Fanatismus
niemals hatte füllen können.
Wir aber rühmen mit Paulus die Gnade Gottes, die
aus dem ersten der Kämpfer gegen Christus den erste»
der Arbeiter für Christus zu machen imstande war. „Ich
habe viel mehr gearbeitet als sie alle; nicht aber ich, sondern
die Gnade Gottes, die mit mir war."
(4. Kor. 45, 40.)
Der Glaube ist ein groß herrlich Merk.
Wer glaubt, der ist ein Herr.
Und ob er gleich stirbt, so muß er doch wieder leben. Ist ei
ncr arm, so muß er Loch reich sein; krank, so muß er doch rviedci
gesund werden.
95

Vorurteil
Allmonatlich kommt ein Mann von der Gasgesellschaft und
sieht den Zähler nach. Lr ist nicht beliebt: immer finster, hager,
gebückt, ungeschlachte, rissige Hände.
„Der sieht aus, als könnte er gelegentlich etwas mitgehen
lassen", sagte der Dater.
„Dem ist nicht zu trauen", bestätigte das Mädchen. „Paßt
nur auf, ob er den Zähler richtig abliest,"
Man paßte auf, aber es stimmte immer. Doch das Mißtrauen
blieb.
„Mancher ist eineni von vornherein unsympathisch", sagte die
Mutter.
So ging es einige Jahre lang. Linmal, Lnde Januar — der
Gstwind fegte durch die Straßen — kam der Mann gerade zu
Friedels Geburtstag. Friedel, die noch in die Grundschule ging,
tanzte um ihren reichen Geburtstagstisch herum, als der finstere
Mann in der Tür erschien, und in der Freude ihres kleinen Herzens
rief sie ihm zu:
„Aber heute müssen Sie mit Raffee trinken!"
Als die Mutter bemerkte, daß der Mann ganz blaß war und
vor Rälte zitterte, bestätigte sie mit fraulicher Herzlichkeit die
Einladung und schob ihm eine Tasse hin. Man sah es, wie wohl
ihm diese warme Tasse Kaffee tat. ,
Dann gab ein Wort das andere, und so erfuhren sie von seinem
Schicksal: eine gelähmte Frau, ein Sohn in der Heilanstalt,!
zwei klein» Rinder, eins davon krank. Der Mann erzählte schlicht,
— ros —
er klagte nicht, und doch hatten alle den Eindruck von stillem, starkem
Heldentum. Als er wegging, gab ihm die Mutter ein großes
Paket Rüchen mit.
Heute ist er, so oft er kommt, herzlich willkommen, und die
Mutter und Friedel besuchen die kranke Frau. Ls ist eine Freund ­
schaft entstanden.
Vorurteile beeinflussen so leicht unsere Gedanken und führen
uns dahin, in unserem Verhalten anderen gegenüber ungerecht
zu sein. Möchten wir mehr über unser Her; wachen!
Aus „Handreichungen"
Ballenlied
Weiß ich den Weg auch nicht, Du weißt ihn wohl;
Das macht die Seele still und friedevoll.
Ist doch umsonst, daß ich mich sorgend müh',
Daß ängstlich schlägt das Herz, sei's spät, sei's früh.
Du weißt den Weg ja doch, Du weißt die Zeit,
Dein Plan ist fertig schon und liegt bereit.
Ich preise Dich für Deiner Liebe Macht,
Ich rühm' die Gnade, die mir Heil gebracht.
Du weißt, woher der wind so stürmisch weht,
Und Du gebietest ihm, kommst nie zu spät;
Drum wart' ich still, Dein Wort ist ohne Trug,
Du weißt den Weg für mich, — das ist genug.
Hedwig von Redern ch
— rv4 —
„Ein jeder aber prüfe sich selbst"
(r. Kor. u, 28.)
„Ein jeder aber prüfe sich selbst!" lautet die Ermahnung
des Apostels an die Korinther, nachdem er vorher von
der Einsetzung des Mahles des Herrn geschrieben, an der
er selbst nicht teilgenommen, über die er aber eine besondere
Offenbarung vom Herrn empfangen hatte.
Weshalb diese betonte Aufforderung zur Selbstprüfung?
Der Apostel mußte bei den Gläubigen, an die er seine
Mahnung richtete, die sehr schroff in Erscheinung tretende
Verwechslung eines in ungezügelter Form stattfindenden
Festmahles mit dem Herrenmahl feststellen. „Habt ihr
denn nicht Häuser, um zu essen und zu trinken?" Diese
Frage, in Verbindung mit der ihr vorhergehenden Feststellung:
„Der eine ist hungrig, der andere ist trunken", zeigt
deutlich, wie es bei den in Frage stehenden Zusammenkünften
in Korinth zuging. Gegenüber der unwürdigen Art eines
solchen Zusammenkommens ist die Darlegung des Apostels
über das Wesen des Abendmahls als eines Gedächtnismahles
in ihrer klaren Kürze überaus eindrucksvoll:
„Dies tut zu meinem Gedächtnis!" Das waren die
eigenen Worte des Herrn. Sie gibt der Apostel wieder und
knüpft daran seine Gedanken.
Beim Überdenken der Aufforderung: „Ein jeder aber
prüfe sich selbst", erhebt sich die Frage: Hat diese Mahnung
der heutigen Zeit noch etwas zu sagen, die wohl allgemein
nicht mehr in Gefahr steht, die heidnische Unsitte eines in
Schwelgerei ausartenden Gastmahles auf das Herrenmahl
zu übertragen? Und damit verbunden, erhebt sich die zweite
— ros —
Frage: Welcher Gedanke lag der Mahnung des Apostels
damals zugrunde, und wie ist der Gedanke zu übertragen,
so daß die Aufforderung zu einer für alle Zeiten und für
alle Gläubigen bindenden wird?
Untersuchen wir zunächst kurz, auf welche Weise es bei
den Korinthern zu der von dem Apostel so ernst gerügten
Verirrung kommen konnte.
Daß Unkenntnis über das Wesen des Mahles des
Herrn der Grund der eingetretenen gröblichen Unordnung
war, ist schon aus dem von dem Apostel in Vers 23 genannten
Grunde nicht anzunehmen. Denn in diesem Verse
sagt Paulus ausdrücklich, daß er ihnen das von dem Herrn
Empfangene „überliefert habe" Sie wußten also
Bescheid.
Was konnte dann der Grund sein? Der Mittelpunkt
des Mahles des Herrn ist unser Herr Jesus selber. Er
selbst. Sein Leiden und Sein Sterben, gibt diesem Mahle
seine Bedeutung. Das eigene Ich hat dabei völlig auszuschalten.
Es ist ein Mahl zuSeinem Gedächtnis. Bei dem
Platz, den das Herrenmahl von vornherein in der Lehre der
Apostel einnahm, ist nicht daran zu zweifeln, daß die Korinther
über seine hohe Bedeutung durchaus unterrichtet
waren. Wir besitzen zwar hierüber keinerlei Bericht, aber
es besteht kein Grund zu der Annahme, daß sie im Anfang
das Zusammenkommen zu diesem erhabenen Zweck nicht
gebührend geschätzt hätten. Das war nun anders geworden.
Der geistige Charakter dieses Mahles als eines Gedächt -
nisMahles war verloren gegangen zugunsten eines rein
äußerlichen, die Gelüste des eigenen Ichs befriedigenden
Festmahls. Das Mahl, das dem Gedächtnis des leidenden
und gestorbenen Herrn dienen sollte, wurde zu einer Gelegenheit
erniedrigt, bei der die eigene Person in Form der
Befriedigung der leiblichen Bedürfnisse im Mittelpunkt
stand. Der „Leib" wurde nicht mehr „unterschieden". Man
genoß Brot und Kelch wie jede andere Speise. Statt daß
die eigene Person möglichst beiseite und der Herr in die
Mitte gestellt wurde, trat sie in den Mittelpunkt zur Be
— ros —
friedigung leiblicher Gelüste. Daß ein solches Vergessen des
Zwecks des Zusammenkommens — man muß hier bedenken,
daß die Korinther Götzendiener gewesen waren —
schließlich zu Unmäßigkeit, d. h. zu einer jedes Maß überschreitenden
Sorge für den eigenen Leib führte, während der
andere, der Bruder, übersehen wurde (vergl. V. 22), ist
nicht allzu verwunderlich. Denn da, wo das Wesen einer
Sache ins Gegenteil verkehrt wird, steht, da man doch nun
einmal grundsätzlich von der rechten Linie abgewichen ist,
Tür und Tor für jeden weiteren Irrtum offen.
Aber was hat dies alles mit unserer Zeit und den
heute so ganz anderen Verhältnissen zu tun? Ich denke, sehr
viel. Gewiß, die Verhältnisse haben sich geändert. Die Gefahr,
beim Mahle des Herrn den Unsitten heidnischer Opfermahlzeiten
und götzendienerischer Schwelgereien zur
Beute zu werden, besteht nicht mehr, wenigstens nicht in
den christlichen Ländern. Aber wir Menschen sind die gleichen
geblieben, und die Möglichkeit, bei unseren Zusammenkünften
am Tische des Herrn die eigene Person, das eigene
Ich, in irgend einer Form an die Stelle unseres Herrn zu
setzen, besteht heute wie damals.
„Ein jeder aber prüfe sich selbst!"
Was heißt das für mich und für dich? Darauf möchte
ich erwidern: „Prüfe dich selbst!" heißt im Grunde nichts
anderes, als: Untersuche, ob deine eigene Person, ob etwas
von dir selbst einer würdigen Feier des Mahles des Herrn,
des Mahles zu Seinem Gedächtnis, hindernd im
Wege stehe.
Wie aber soll man sich ein solches Untersuchen bezüglich
der eigenen Person vorstellen? Ich denke da an drei
Möglichkeiten, wie sie sich in mehr oder weniger scharf ausgeprägter
Form praktisch vorfinden. Diese Möglichkeiten
betreffen:
t. Gläubige, die sich in einem schlechten Zustand be-
finden. :
2. Gläubige, die das Mahl des Herrn mit Ernst und
in würdiger Weise zu halten wünschen.
— ro7 —
3. Gläubige, die sich fürchten teilzunehmen, im Blick
auf ihre persönliche Unzulänglichkeit.
Beginnen wir mit dem Gröbsten, bezüglich dessen
ein Gläubiger sich zu prüfen haben könnte, d. h. also mit
praktisch Bösem, wie z. B. sittlichen Verfehlungen, Beleidigungen,
Veruntreuungen, Verleumdungen, Jank und
Streit und dergl. Bei der Erwähnung solcher Dinge möchte
gefragt werden: Kann ein Gläubiger, auf dessen Wege derartiges
liegt, es überhaupt wagen, in solcher Verfassung
dem Tisch des Herrn zu nahen? Ach, Erfahrungen traurigster
Art lassen leider die Frage bejahen. Zn Korinth herrschten
zweifellos auch solche Zustände. (Vergl. Kap. 5, r—8.)
Ein Außerachtlassen der Tatsache, daß wir „den alten Men-
I schen mit seinen Handlungen ausgezogen und den neuen
! angezogen haben", liegt durchaus im Bereich der Möglichkeit.
Es ist möglich, daß wir dem eigenen Ich, der alten bösen
Natur soweit nachgeben, daß wir nicht nur in die Sünde
i fallen, sondern auch darin verharren und in diesem Zustand
ruhig, als wäre nichts geschehen, am Tisch des Herrn erscheinen,
und das nicht nur einige, sondern viele Male. Angesichts
solcher Möglichkeiten ist wahrlich die Mahnung am
Platze: „Prüfe dich, prüfe dich!" Wie muß in den genann-
i ten Fällen das Selbstprüfen vernachlässigt worden sein,
daß es soweit kommen konnte! Es muß da schon von einer
völligen Ausschaltung,der Person des Herrn aus dem ganzen
Leben geredet werden. Man hat die ernste Feststellung
des Johannes vergessen: „Wer die Sünde tut, ist aus dem
Teufel". Man ist den zügellosen Forderungen des eigenen
Zchs gefolgt. Unwürdiglichhat man gegessen und getrunken
und sich durch sein unheiliges Teilnehmen an des
Herrn Leib und Blut verschuldet.
Wie ist's nun im Blick auf solche Zustände mit dem
Wort des Apostels: „Ein jeder aber prüfe sich selbst, und
also esse er von demBrote und trinke von
dem Kelche!"? Hier möchte ich vor einer falschen Anwendung
warnen. Bestimmt ist dieses Wort nicht für den
geschrieben, der sein schuldbeladenes Gewissen dadurch zu
— ros —

beruhigen sucht, daß er in der Versammlung, am Tische
des Herrn, eine Selbstprüfung vornimmt (so wie er sie
eben auffaßt), und dann an dem Mahle des Herrn teilnimmt,
als sei jetzt alles in Ordnung. Das ist nicht der
Weg, um solch böse Dinge zu ordnen. Hier kann es nicht
mit einem einfachen: „Prüfe dich und dann iß..." sein
Bewenden haben. Der Apostel hatte viel zu viel Erkenntnis
von dem Wesen der Sünde als einer von Gott gehaßten Erscheinung,
als daß er sie so leicht hätte nehmen können.
Hier kommt nicht nur ein Sichprüfen in Frage. Hier heißt
es: Prüfe dich und dann — bekenne, tu Buße, schreie zu
Gott um Vergebung, kehre zurück von deinem Irrwege!
Haben wir gesündigt und so die Gemeinschaft mit dem Vater
verloren, so sagt uns 4. Zoh. 4, 9, was wir zu tun haben.
Haben wir gegen den Bruder gefehlt, ihn beleidigt oder
verleumdet oder ihm sonstwie unrecht getan, so lesen wir in
Matth. 5, 23 u. 24, wie wir uns zu verhalten haben. Haben
wir etwas veruntreut, so weist uns das Verfahren des i
Zachäus den rechten Weg. (Luk. 49, 8.) Und auf welche
Weise wir suchen müssen. Trug, Heuchelei, Neid und übles
Nachreden aus unserem Leben wegzuschaffen, tut uns
4. Petr. 2, 4 unzweideutig kund.
Ich wiederhole: Wer mit solchen Sünden auf dem Ge-
wissen zum Tisch des Herrn geht, um — vielleicht nach
flüchtigem Bekenntnis — von dem Brote zu essen und von
dem Kelche zu trinken, fügt dem Begangenen eine neue
schwere Sünde hinzu. Er verunreinigt durch sein Teilnehmen
aufs schrecklichste die heilige Stätte.
Gehen wir zu Punkt 2 über!
Wir sahen oben, wie völlig das eigene Ich in dem Le- -
ben des Christen zutage treten, und zu welch erschreckenden
Ergebnissen es führen kann. Daß es soweit nicht kommen
sollte, und daß es auch nicht so weit zu kommen braucht, j
haben wir uns ebenfalls gesagt. Aber eins bleibt Tatsache,
und dies eine sollten wir nie aus dem Auge verlieren: Wir
können noch so alte und geförderte Christen sein, wir können
noch so gut wissen und darüber reden, daß wir „gestor
— ros —
ben" sind — das Ich wird stets seine Ansprüche aufrecht zu
erhalten suchen, und bis an unser Lebensende gilt uns allen
die Mahnung des Apostels an die Ältesten von Ephesus:
,^Habet acht auf euch selbst!" Aus diesem Grunde richtet
sich das ernste: „Ein jeder prüfe sich selbst!" an einen jeden
von uns.
Habe ich in meinen Ausführungen zu Punkt r, sagen
wir, regelwidrige Zustände berührt im Leben solcher, die als
Gläubige gelten und mit anderen Gläubigen *) den Tod des
Herrn zu verkündigen pflegen, so komme ich mit Punkt 2
auf alle zu sprechen, die an dem Gedächtnismahl ihres
Hern» mit Ernst und Aufrichtigkeit teilzunehmen wünschen.
Brauche ich's auszusprechen, daß bei unserem Zusammenkommen
zum Gedächtnis unseres gestorbenen Herrn
unsere Gedanken in erster Linie Seiner Liebe gelten? Schon
die Erinnerung an den Zeitpunkt der Einsetzung dieses
Mahles muß ja unsere innersten Empfindungen berühren.
ES geschah „in der Nacht, in welcher Er überliefert wurde",
in der die „alle Erkenntnis übersteigende Liebe des
Christus" der dunkelsten Tat menschlicher Verworfenheit
gegenübertrat. Wir denken des ringenden Kampfes in
Gethsemane, Seines Stehens vor Pilatus und vor der ganzen
Schar Seiner gehässigen Ankläger — verlassen von allen,
die Ihn liebten. Wir sehen Ihn, das Lamm Gottes,,
angespieen, verhöhnt, mit Dornen gekrönt, ans Kreuz ge-
scklagen und von Gott verlassen — um unsertwillen, der
Sünder, für die Er starb, damit sie hienieden lebendige
Denkmäler Seiner Liebe sein möchten. Wir denken daran,
daß Er selbst in unserer Mitte weilt. Müßten nicht unsere
Herzen von Stein und unsere Gewissen ganz verhärtet sein,
wenn diese Erinnerungen nickt dankbare und feierliche Gefühle
in uns wecken würden? Und dennoch!
„Ein jeder aber prüfe sich selbst!"
Warum ist diese Selbstprüfung in jedem Fall nötig?
w) Die Frage, ob auch Ungläubige berechtigt sind, am Brot-
brechen teilzunehmen, lasse ich ganz unberührt, da wir uns hierüber
wohl nicht zu unterhalten brauchen.
— uo —
Weil es nicht genügt, daß unsere Gefühle für eine Stunde
in Wallung gebracht werden. Einen gefühlvollen Menschen
vermag bekanntlich schon ein Lied zu Tränen zu rühren.
Mit bloßen Gefühlen aber kann unserem Herrn, der nicht
nur Liebe, sondern auch Licht ist, nicht gedient sein. Wollen
wir das Brot in einer Weise brechen, die Seiner würdig ist,
die Sein Herz erfreut und Seinen Namen erhebt;
soll dieses heilige Tun seinen Zweck in Wahrheit erfüllen,
dann genügt es nicht, daß wir für eine Stunde würdige
Gefühle aufzubringen suchen. Nein, dann müssen alle
unsere Tage mit der Feierlichkeit und Erhabenheit dieser
Handlung anSeinemTagein Einklang stehen. Er,
der Sich für uns gab, begehrt uns ganz. Gehört Ihm unser
Herz ungeteilt? Oder gehört ein Teil davon uns selbst?
Oder sind wir gar Sonntagschristen, während der Alltag
dem alten Menschen zur Verfügung steht? Das sind Fragen,
die wahrlich der Prüfung wert sind.
Man wundert sich vielleicht darüber, daß der Apostel
seiner Mahnung: „Ein jeder prüfe sich selbst!" keine nähere
Erklärung darüber hinzufügt, worin diese Selbstprüfung
bestehen sollte. Aber wenn wir uns in die Lage hineinversetzen,
wie sie damals war, so scheint mir die Erklärung gegeben,
und man wird mir, hoffe ich, zustimmen, daß die
vorstehenden Ausführungen sich auf der richtigen Linie bewegen.
Zusammenfassend wiederhole ich:
Prüfen wir uns,
ob in unserem Leben, Sonntag wie Alltag, etwas ist,
was es auch sein mag, das die Stelle Dessen einnimmt, der
in dieser feierlichen Stunde unser ganzes Gedenken begehrt!
Sind unsere Herzen für Ihn geheiligt, und für Ihn
allein?
Findet sich nicht Nachlässiges, Gewohnheitsmäßiges,
Leichtfertiges bei uns?
Haben wir uns dieserhalb geprüft, so können wir, den-
Frieden Gottes im Herzen, im Genuß Seiner Gemein-i
schäft, als solche, die hassen, was den Geist Gottes betrüben
könnte, freimütig hinzunahen, und unser ganzes Sch
— ru —
— Geist, Seele und Leib — weilt in der Tadellosigkeit des
in Christus Angenommenen in Seiner Gegenwart, zum
Lobe Dessen, dem alles Lob gebührt.
Wann soll die Selbstprüfung stattfinden? Darauf
läßt sich, wie jedermann verständlich sein wird, keine bestimmte
Antwort geben. Wie ließe sich dieses Prüfen, das
doch die innerlichsten Gefühle unserer Herzen wachrufen
soll, so festlegen, daß es zu bestimmten Zeiten, gleichsam
„gesetzmäßig, einzutreten habe? Vielleicht aber darf ich in
diesem Zusammenhang ein mir immer wiederkehrendes
Erlebnis aus meiner Jugendzeit erzählen, das mich damals
stark beeindruckt hat. Es zeigt, neben anderem, wie eine
gewisse Regelmäßigkeit in der Erfüllung dieser Forderung
keineswegs zum „Gesetzmäßigen", Gewohnheitsmäßigen
zu führen braucht, wenn nur das Bewußtsein lebendiger
Verantwortung vorhanden ist.
Mein Vater pflegte mit seiner ganzen Familie täglich
eine kurze Morgenandacht zu halten, die an den Sonntagen
einen besonderen Charakter trug. Schon im frühen Alter
fiel mir auf, daß er sich dann jedesmal nach der Tischandacht
allein in sein Zimmer begab. Wenn ich aus irgend
einem Grunde dort eintrat, fand ich ihn beim Lesen des
Wortes oder im Gebet. Von meiner Mutter wußte ich ebenfalls,
daß auch sie sich trotz ihrer großen Familie in ihr
Schlafzimmer zurückzog, ehe sie zum Tisch des Herrn ging.
Beide Wahrnehmungen beeindruckten mich tief und weckten
Gefühle und Fragen in mir, über die ich mir damals keine
Rechenschaft zu geben vermochte. Wohl brachte ich das Tun
der Eltern mit der Feier des Abendmahls in Verbindung,
aber ich verstand es nicht, da ich die gemeinsame Morgenandacht
für völlig ausreichend hielt. Mit den Jahren wuchs
natürlich mein Verständnis hierüber. Heute ist mir diese
Erinnerung ein feierliches Vermächtnis meiner Eltern und
ein Ansporn, mir ihre Treue und Gottesfurcht als Vorbild
dienen zu lassen.
Zum Schluß noch ein kurzes Wort über den dritten
Punkt!
— U2 —
Wie wir alle wohl Ursache haben, der Ermahnung:
„Ein jeder prüfe sich selbst!" größere Beachtung zu schenken,
so gibt es auch solche, die vor allem auf die zweite
Hälfte von Vers 28 hinzuweisen wären, den Zusatz nämlich:
„und also esse er von dem Brote und trinke von
dem Kelche!" Ich denke hier an aufrichtige, aber ängstliche
Seelen, die in ihrer Person ein Hindernis sehen, das, Mahl
des Herrn würdig zu essen, insofern, als sie zu sehr mit sich
selbst beschäftigt sind. Die täglich zutage tretenden Mängel
in ihrem Christenleben nehmen ihnen die Freudigkeit, einfältig
dem Gebot ihres Herrn zu gehorchen. Sie vergessen,
daß in der Stelle, die uns beschäftigt, nicht die Rede davon
ist, ob wir würdig sind, sondern daß es sich um ein würdi-!
ges Essen und Trinken handelt. Was uns angeht, so
ist keiner in sich selbst würdig, dieses Vorrecht auszuüben.!
Aber der Herr hat uns dazu würdig gemacht durch Sein
stellvertretendes Opfer. Vergessen wir das, so tun wir Sei-
nem Werke Abbruch und stellen auch hier das eigene Ich an!
Seine Stelle. i
Deshalb, liebe, gläubige Seele, laß dich nicht irremachen!
Es ist des Herrn Wunsch, daß du teilnimmst an
Seinem Mahle. Blicke auf Ihn! Schalte d i ch aus, und gib'
Ihm die Ehre! So brauchst du nicht zu fürchten, unwür-
diglich zu essen und zu trinken.
Dir aber, Herr Jesus, sei ewig Dank für das hohe
Vorrecht, Dir also nahen zu dürfen in einer Welt, die Dich
verwirft! Du wirst es Deinen Geliebten erhalten, bis Du
kommst, und sie Dich dann schauen werden, wie Du bist,
in all Deiner Holdseligkeit und Schöne.
Dann wird Deiner Lseil'gen Menge
Lin sterz, eine Seele sein;
Preis und Dank und Lobgesänge
Merden sie Dir ewig weibn.

Abraham und Lot
In 1. Mose 13 lesen wir zum ersten Mal in der
Schrift von einer Trennung unter Gläubigen. Beim Überdenken
der Begebenheit kommen einem wohl die Worte des
Apostels an die Gläubigen in Korinth in den Sinn: „Es
müssen auch Parteiungen unter euch sein, auf daß die
Bewährten unter euch offenbar werden".
So war es bei Abraham und Lot. Der Streit zwischen
Abrahams und Lots Hirten war die Ursache ihrer Trennung.
Aber das Wichtige war, daß die Herzen dieser beiden
Männer dabei offenbar wurden. So ist's allezeit: Die Umstände
und Verhältnisse, in denen wir uns befinden, machen
offenbar, was in unserem Herzen ist. Sehr bedeutsam
heißt es 5. Mose 8, 2: „Du sollst gedenken des ganzen
Weges, den Jehova, dein Gott, dich hat wandern lassen
diese vierzig Jahre in der Wüste, um dich zu demütigen,
um dich zu versuchen, um zuerkennen, was in
deinemHerzen ist".
„Das Land ertrug es nicht, daß sie beisammen wohnten,
denn ihre Habe war groß." Das war also die Veranlassung
zu dem Streit zwischen den Hirten. Wie kam es
nun, daß Lot dadurch in die Welt getrieben wurde? Ich
denke, der Umstand, daß ihre Habe zu groß war für das
Land, war lediglich die äußere Veranlassung. Mit seinem
Herzen wird er sich schon länger dort befunden haben. Die
Füße brauchten nur dem Herzen zu folgen, und jetzt bot
sich dazu die passende Gelegenheit. Warum wählte Abraham
nicht Sodom? Warum trieb ihn der Streit nicht in
die Welt? Weil sein Herz anderswo weilte. Er betrachtete
alles von dem Standpunkt des Glaubens aus, und sein
— 120 —
Auge war auf den „Gott der Herrlichkeit" gerichtet, der
ihm „in Mesopotamien erschienen" war. (Apstgsch. 7, 2.)
„Abraham erwartete die Stadt, welche Grundlagen hat,
deren Baumeister und Schöpfer Gott ist." (Hebr. 1.7,10.)
Jemand mit solchen Erwartungen verzichtet gern auf die
ertragreichen Plätze dieser Welt. In derselben Gesinnung,
in der dieser wahrhafte Fremdling hier zu seinem Neffen
sagte: „Willst du zur Linken, so will ich mich zur Rechten
wenden, und willst du zur Rechten, so will ich mich zur
Linken wenden", sprach er später zu dem König von Sodom:
„Ich hebe meine Hand auf zu Jehova, zu Gott, dem
Höchsten, der Himmel und Erde besitzt: Wenn vom Faden
bis zum Schuhriemen, ja, wenn ich irgend etwas nehme
von dem, was dein ist ...!" (Kap. 14, 22. 23.)
„Und die Kanaaniter und die Perisiter wohnten damals
im Lande." Diese Feststellung ist wohl nicht von ungefähr
mitten in die Begebenheit eingestreut. Angesichts
dieser Götzendiener mußte die Streitsache, so urteilte Abraham,
so schnell wie möglich nach Gottes Gedanken geordnet
werden. Sie durfte nicht erst zur Kenntnis der Welt
kommen. Me war der Vater aller Gläubigen auch hierin
ein leuchtendes Vorbild! Die Gläubigen in Korinth waren
in dieser Beziehung völlig gefühllos geworden. Sie Übergaben
ihre Rechtssache den weltlichen Richtern, um sie von
diesen ordnen zu lassen, sodaß der Apostel sie tadeln mußte:
„Darf jemand unter euch, der eine Sache wider den anderen
hat, rechten vor den Ungerechten? ... Es rechtet Bruder
mit Bruder, und das vor Ungläubigen!" (Vergl.
1. Kor. 6, 1—6.)
Wunderschön ist das Verhalten Abrahams. Als es
sich um die Schlichtung des Streitfalls mit Lot handelte,
— 121 —
trat er in den Vordergrund mit den Worten: „Laß doch
kein Gezänk sein zwischen m i r und dir, zwischen meinen
Hirten und deinen Hirten; denn wir sind Brüder!" Er
machte den Anfang mit dem Schuldbekenntnis. Aber als
es sich darum handelte, zu wählen, trat Abraham in den
Hintergrund und sprach zu Lot: „Willst d u zur Linken, so
will ich usw.". So handelt die Liebe. „Sie sucht nicht das
Ihrige." (1. Kor. 13, S.)
Bei Lot war alles so ganz anders. Als er wählte, folgte
er nur seinen Augen: „Und Lot hob seine Augen auf und
sah die ganze Ebene des Jordan ... gleich dem Garten
Jehovas". So wählte er Sodom. Es war eine verhängnisvolle
Wahl. „Da ist ein Weg, der einem Menschen gerade
erscheint, aber sein Ende sind Wege des Todes", sagt der
Verfasser der Sprüche. (Kap. 1.4, 12.) So war es auch
bei Lot. Sein Urteil war nicht klar. Sein Blick war getrübt.
Er sah nicht das Ende des Weges, den er betrat. Daher
erwählte er jenen Ort, über dem schon das Schwert des
Gerichts hing. Ihm erschien die ganze Ebene wie der Garten
Jehovas, wie das „Land Ägypten", dessen Fruchtbarkeit
er kennen und schätzen gelernt hatte. Wäre sein Urteil klar
gewesen, so wären ihm die Gedanken Gottes über Sodom
wohl nicht unbekannt geblieben. Dann wäre er geleitet
worden, zu sehen, daß „die Leute von Sodom böse waren
und große Sünder vor Jehova". So aber blieb dem Lot
diese erschreckende Tatsache verborgen. Mit dem bösen
Charakter der Leute von Sodom hatte er nicht gerechnet.
Wir dürfen.annehmen, daß er diesen. Weg nicht gewählt
haben würde, wenn er alles gewußt hätte. Aber dahin
kommt es, wenn nur das Aussehen und nicht der innere
Wert einer Sache maßgebend ist für die Beurteilung.
r22
Die traurige Geschichte Lots ist bekannt. Nachdem er
sich von Abraham getrennt hatte, führte sein Weg von den
Städten der Ebene bis zu den Toren Sodoms und am Ende
bis zum Ehrenplatz der Stadt. Und dann? Nachdem er
hier „durch das, was er sah und hörte, Tag für Tag seine
gerechte Seele mit ihren gesetzlosen Werken gequält hatte"
(2. Petr. 2, 8), und er später bei der Zerstörung von Sodom
und Gomorra durch Gottes große Gnade („weil Er
sich seiner erbarmte" und Abrahams gedachte) wie ein
Brandscheit aus dem Feuer gerettet worden war, fiel seine
ganze Habe dem Feuer des Gerichts anheim. Nichts ist
ihm geblieben von all seinem Reichtum. Am Ende seines
Lebens finden wir ihn mit seinen beiden Töchtern in einer
Höhle im Gebirge wohnend.
Lot bietet für alle Zeiten das traurige Beispiel eines
Gläubigen, dessen Herz geteilt ist. Er hat, in der Sprache
des Neuen Testaments geredet, Gott und dem Mammon
gedient; und was hat er davon gehabt? Ein unglückliches
Herz. „Niemand", sagt der Herr Jesus, „kann zwei Herren
dienen.... Ihr könnt nicht Gott dienen und dem Mammon."
Abrahams Herz war ungeteilt für Gott. Deshalb
konnte er Ihm auch vertrauen und Gott für sich wählen
lassen. „Er erwählte für uns unser Erbteil", sagt der Psalmist.
(Ps. 47, 4.) Sein Pfad war „wie das glänzende
Morgenlicht, das stets Heller leuchtet bis zur 'Tageshöhe".
(Spr. 4, 78.) Lot hob seine Augen auf und wählte, was
den Augen begehrenswert erschien, und Abraham hob auf
das Geheiß Gottes seine Augen auf und empfing, was in
den Augen Gottes Wert hatte. Der Weg Abrahams ging
aufwärts, derjenige Lots abwärts.
— r23. —
Meine Seele ist still zu Gott
wie schwer ist's doch, ganz still zu sein,
wenn Gott wir nicht verstehen;
wie redet man so bald Ihm drein,
Als ob Lr was versehen!
wie stellt man Ihn zur Rede gar,
Wenn Leine Wege wunderbar
Und unbegreiflich werden!
Man fragt: Warum nun dies und das?
Man seufzt: Ach, wie will's werden!
Man klagt: wie geht's ohn' Unterlaß
So widrig mir auf Lrden!
Man murrt: Mein Unglück ist zu groß,
Ich hätte wohl ein bessres Los
verdient, als mir gefallen!
Das tun wir, und der Güt'ge schweigt,
Bis Lr durch Seiner Taten
Glorreichen Ausgang uns gezeigt,
Daß Ihm doch nichts mißraten.
Dann kommt auch endlich unsre Stund',
wo voll Beschämung wir den Mund
vor Ihm nicht auftun mögen.
Drum, meine Seele, sei du still
Zu Gott, wie sich's gebühret,
Wenn Lr dich so, wie Lr es will,
Und nicht, wie du willst, führet.
Rommt dann zum Ziel der dunkle Lauf,
Tust du den Mund mit Freuden auf,
Zu loben und zu danken.
Dann wird's dich nach der kurzen Frist
Recht inniglich erfreuen,
Daß du fein still gewesen bist
Und nichts hast zu bereuen;
Und endlich, nach der Schweigenszeit,
Rannst du in sel'ger Ewigkeit
Laut jubeln, Gott zur Ehre.
Spitta
124
da unterredeten sich mitemandre,
-^>m-..— «ieÄchova fürchter»!
Kann ein Gläubiger verloren gehen?
Mit tiefem Interesse las ich vor einiger Zeit im „Botschafter"
die Antworten auf die Frage, ob ein Gläubiger
verloren gehen könne. Da ich die hinter dieser Frage stehenden
Meinungen und Gefahren kenne und zum Teil selbst
erlebt habe, drängt es mich, zu den Antworten eine Ergänzung
zu geben, von der ich trotz ihrer Unvollkommenheit
hoffe und im Gebet erbitte, daß sie klärend und helfend wirken
und zur Festigung des praktischen Friedens unter Brüdern
beitragen möge.
Zwei Seiten wurden beleuchtet. Es gibt, denke ich, auch
noch eine dritte. Diese dritte Seite habe ich, wenn auch in
jungen Jahren, selbst erlebt. Sie hängt mit der Tatsache zusammen,
daß ich mich vor meiner wirklichen Bekehrung
„zweimal bekehrt habe".
Viele von uns sind Kinder, Enkel und Urenkel von
treuen Brüdern, die in der Wahrheit des Evangeliums wandelten.
Die Geschichte lehrt, und wir erfahren es selbst, daß
für solche Nachkommen die Gefahr besteht, das von den
Vätern Erlebte und Erkämpfte als einen selbstverständlichen
Besitz zu übernehmen. Dadurch geht die Tiefe und das
bewußte Selbsterfassen verloren. Und kommt man zur Besinnung,
dann findet man sich, wie manche sagen, als
„Nachbeter", als solche, die auf den Reichtümern und Lorbeeren
der Väter ausruhen. Dann werden oft große
„Wahrheiten" als etwas Natürliches und Unumstößliches
ausgesprochen, während man sie noch nicht selbst im Glauben
erfaßt hat. Solche Gläubige sind nur zu oft nicht einmal
in der Lage, die von ihnen bekannten „Wahrheiten" an
Hand der Heiligen Schrift zu belegen. Wie sollten sie aber
r25
dann darin leben und sich bewähren können? Sie haben
nicht wie Abraham ihre Fußsohle auf die Besitzstellen des
gelobten Landes Kanaan gesetzt. Sie haben die Herrlichkeiten
des Landes noch nicht selbst in Augenschein genommen
und wie Israel unter Josua erkämpft. Diese Besitztümer
fallen eben praktisch nur solchen zu, die im Glaub e n von
allen Besitz ergreifen. Das aber kann naturgemäß
nur der Einzelpersönlichkeit gelingen, niemals geschieht es
„korporativ". Es geht auch nicht automatisch von den Vätern
auf die Söhne über.
Lange Jahre haben treue Brüder zum Herrn um Neubelebung
gerufen, weil sie die allmähliche Verflachung und
den zunehmenden Rückgang im bewußten Glaubenserfassen
sahen. Ob der Herr jetzt nicht gnädig antworten will?
Manche von uns merken, daß sie Fotografien des Landes"
besitzen, ohne das Land selbst betreten und in Besitz genommen
zu haben. Nun machen sie sich auf, das Land zu durchwandern.
Hierbei stoßen sie auf manches, das ihnen beschrieben
wurde, und von dem sie Bilder besitzen. Hie und
da glauben sie auch zu entdecken, daß die Wirklichkeit nicht
mit der bisher bekannten Beschreibung übereinstimmt. Ist
es nötig, sich um solche Versuche ängstlich zu sorgen, deren
Anlaß der Wunsch ist, sich auf das zu besinnen, was man
so lange fälschlicherweise seinen „Besitz" nannte? Ein klarblickender,
sich seiner Verantwortung bewußter Gläubiger
— und wer wollte das nicht sein? — wird solche Versuche
zweifellos mit Freuden begrüßen, solange dabei
keine biblischen Grundwahrheiten verletzt
werden. Und die vielen Befürchtungen hinsichtlich der
Frage: Was wird daraus? wird er Gott überlassen, der
allein die Zukunft kennt und sie deshalb auch allein beurteilen
kann. Wenn durch selbständiges Forschen unter Berufung
auf Gottes Wort auch einmal weniger bekannte oder
gar andersgeartete Auslegungen zur Erörterung gestellt
werden, sollten wir hierfür nicht dankbar sein, weil dadurch
dem Glaubensleben vielfach ein neuer Antrieb gegeben
wird, eine Neubelebung, die wir doch wünschen? Wenn die
r26
Fotografien unseres Glaubenslandes gut sind, d. h. wenn
sie nicht mit der Linse des Nur-Verstandes, sondern durch
gläubiges, durch den Heiligen Geist erleuchtetes Forschen
auf die Platte gebannt wurden — und davon sind wir-doch
überzeugt —, dann wird sich die Echtheit des Bildes schon
erweisen. Zudem stehen alle Schönheiten des „Landes" in
gegenseitiger Beziehung, so daß einem das größere Verständnis
für die harmonische Herrlichkeit immer mehr aufgeht,
je weiter man kommt.
Wir wissen ja auch, daß kein Wort der Schrift von eigener
Auslegung ist, sondern daß es der Erleuchtung durch
andere Schriftworte bedarf, um ein rechtes Verständnis zu
finden. Man denkt so leicht, dasjenige, was man beim
ersten Anschauen erkennt, sei das letztgültig Richtige. Doch
— der Fuß schreitet weiter. Ganz von selbst kommt man
von einer Herrlichkeit zur anderen. Man nimmt wahr, daß
das vorher Geschaute unter neuer Belichtung aufstrahlt —
ein unfaßbarer und doch wirklicher Vorgang. Er bewahrt
uns vor einseitiger Beurteilung.
Bei allem ist zu beachten, daß unser Erkennen Stückwerk
bleibt. Das macht und erhält klein. Es ist auch notwendig,
wenn wir anders die richtige, gottgemäße
Erkenntnis erlangen wollen.
Jeder sollte das Land durchwandern. Dann erfährt er
ein stufenmäßiges Wachsen in der Erkenntnis. Wer heute
im Galaterbrief steht, kommt auch einmal in den Epheserbrief.
Wer heute das Land des Hebräerbriefes erkämpft,
wird sich auch im Glaubm die anderen Landesteile, soweit
der Herr das schenkt, zu eigen machen.
Man verzeihe, daß ich über diese Dinge gelegentlich
der genannten Frage schreibe. Doch glaube ich, daß es von
Nutzen sein könnte.
Und nun zu der Frage selbst:
Was heißt „gläubig" und „Gläubiger"? Ist ein sogenannter
„Gläubiger" in jedem Fall ein Wiedergeborener?
Und ist jemand, der einmal „geglaubt" hat, noch ein Gläubiger,
auch wenn er heute nicht mehr „glaubt"?
127
Das Gleichnis vom Säemann in Matth. 1Z mit dem
viererlei Boden scheint mir hier viel Licht zu geben.
Was von dem Samen auf den Weg fiel, fand keine
Gelegenheit und Zeit zum Ausgehen. Der festgetretene Boden
erlaubte kein Wurzelschlagen, und die Vögel pickten die
wertvollen Körner auf. Das Wort wird nicht verstanden,
und Satan sorgt dafür, daß eine etwa vorhandene Regung
schnellstens verschwindet.
Anders war es mit dem auf das Steinichte gefallenen
Samen. Er schlug Wurzel und ging auf. Das Wort
wurde mit Freuden ausgenommen. Aber das Pflänzlein
hielt nicht stand, weil ihm der genügende Boden fehlte und
die brennende Sonne es zum Erliegen brachte. „Wenn
Drangsal entsteht oder Verfolgung um des Wortes willen,
ärgert er sich alsbald." Und doch: Gibt es nicht Menschenkinder,
darunter Kinder gläubiger Eltern, die glauben,
schon nach solchem „Erleben", das nur ein augenblickliches
Erfassen war, sich als „bekehrt" betrachten zu dürfen? Sie
haben das Wort „alsbald mit Freuden ausgenommen".
Wirkliche Buße haben sie nie gekannt. Sie haben nicht über
sich selbst das Todesurteil ausgesprochen. Es war ein gefühlsmäßiges
Aufflammen, das mit dem tiefen, durch den
Heiligen Geist gewirkten Erleben nichts gemein hat.
Kommt dann die Probe, so zeigt es sich bald, daß das „Erlebte"
nichts war als ein rein menschliches Empfinden.
Ähnlich war es mit dem unter die Dornen gefallenen
Samen. Auch er ging auf. Aber das Pflänzlein wurde
erstickt. Es entfaltete sich nicht und bewies auf diese Weise,
daß sein Bestehen nicht echt und nicht von Damr war.
So gibt es Seelen, die einmal etwas „erlebt" haben,
die durch das Wort Gottes, das der Same der Wiedergeburt
ist, und durch den Heiligen Geist bewegt worden sind,
die im Augenblick das Wort ausgenommen haben, ohne diesem
Worte hinterher Gelegenheit zu geben, weiter tiefev-
greifend zu wirken, und die doch glauben, sich auf dieses
zeitlich beschränkte innere Bewegtsein als auf den Zeitpunkt
ihrer Bekehrung stützen zu können.
— r2s —
Hiermit soll niemand, besonders nicht jungen, schwachen
Seelen, die Bekehrung abgesprochen werden. Der Herr
erkennt auch das Kleinste an. Aber Er will Fragen, wie die
gegenwärtige, benutzen, um Sein begonnenes Werk in den
Herzen und Gewissen zu vertiefen. Er will aufrütteln, um
Schwaches zu stärken.
Nicht jeder, der einmal im gefühlsmäßigen Erfassen
„geglaubt" hat, ist ein „Gläubiger" Gläubig ist derjenige,
der im Glauben steht und darin verharrt. Wie wesentlich
ist im Blick hierauf doch die Verantwortung jedes gläubigen
Menschen!
Als viertes ist von dem Samen die Rede, der „auf
die gute Erde" fiel. Dieser Same allein bn'ngt
Frucht, und es ist keine Rede von irgend einem Verkümmern
der Pflanze. Und nur hier kann — und damit kommen
wir zu einem sehr wesentlichen Punkt — von einem
wirklichen Wiedergeborensein gesprochen werden, von Menschen,
von denen die Schrift sagt, daß sie „eine neue Schöpfung"
seien und „Glieder" an „Christi Leib".
Und da erhebt sich nun die ernste Frage: Ist jeder, der
sich als bekehrt ausgibt, wirklich wiedergeboren?
Die Sprache Kanaans und wissensmäßigeö Erkennen sind
keine bejahenden Zeichen. Beweise aber sind: Wenn jemand
die Brüder liebt; wenn jemandes Herz warm wird, so er
irgendwo den Namen Jesus hört; wenn jemand sucht, nicht
sich selbst zu gefallen; wenn jemand im Haß wider
die Sünde den guten Kampf zu kämpfen begehrt; wenn
jemand Leid fühlt im Blick darauf, daß er in der
Verwirklichung des Guten und in der Erfüllung des
Willens seines Herrn so schwach ist; wenn jemand innerlich
leidet über das Sündenleid der Mitmenschen;
wenn jemand innerlich getrieben wird, im Geiste Christi
zu lieben, zu vergeben, zu tragen, zu helfen, zu dienen
und gute Werke zu tun, nicht zur eigenen Ehre, sondern
zur Verherrlichung Gottes. Alles das mag schwach, ja,
reichlich schwach sein. Immerhin sollten wir uns alle daraufhin
prüfen, ob diese Dinge bei uns vorhanden sind. Wird
r29
die Folge einer solchen Selbstprüfung Ängstlichkeit sein hinsichtlich
des eigenen ewigen Heils? Ich glaube nicht. Denn
wird nicht Gott selbst jedem aufrichtig Fragenden die sicherste
Antwort dadurch geben, daß Sein Geist mit dem
eigenen Geiste zeugt, daß man ein Kind Gottes ist?'
Wenn wir in der Heiligen Schrift so manche Hinweise
finden, die den Gedanken wecken, ein „Gläubiger" könne
verloren gehen, so sind das wohl Prüfsteine, die auf unsere
große Verantwortung Hinweisen. Wenn jemand „einmal
geglaubt hat" und heute nicht mehr im Glauben wandelt,
so ist die Frage berechtigt, ob der Betreffende nicht damals,
als er „glaubte", in seinem „Glauben" jenen Juden glich,
die sich hinterher am Herrn ärgerten, Ihm den Rücken
wandten und Ihm dann feindlich gegenüberstanden. (Joh.
6 u. 7.) Vielleicht ist bei einem solchen das Samenkorn des
göttlichen Wortes damals auf das Steinichte gefallen oder
unter die Dornen. Wohl hat er es ausgenommen und „geglaubt",
aber das junge Glaubenöpflänzlein ging zurück
und schließlich zugrunde. Das ist dann aber keine Wiedergeburt
gewesen. Die Wiedergeburt findet sich, wie
bereits weiter oben gesagt, nur dort, wo der Same auf
gute Erde fiel. Es ist die Eigenart des aus Gott Geborenen
und der guten Erde, daß Früchte hervorkommen,
mögen sie auch oft kümmerlich genug sein.
Alle gottgemäßen Früchte entwickeln sich nur durch
die Wirksamkeit des Heiligen Geistes. Das heißt also, daß
nur ein solcher Mensch diese Früchte hervorzubringen vermag,
in welchem der Heilige Geist wohnt. In manchen
Menschen mag der Heilige Geist kürzere oder längere Zeit
gewirkt haben, und dieses Wirken mag dann von solchen
als „Bekehrung" oder „Wiedergeburt" aufgefaßt
worden sein. Sie waren durch dieses Wirken in gewissem
Sinne des Heiligen Geistes teilhaftig, sind aber nicht zum
vollen Bruch mit sich selbst gekommen und zur heiligen
Heilsgewißheit durchgedrungen. Sie waren nicht derart innerlich
zubereitet, daß der Heilige Geist Wohnung in
ihnen nehmen konnte. Daß die Jnnewohnung des Heiligen
130
Geistes keinen Grund zum eigenen Rühmen gibt, bedarf
wohl keiner besonderen Erwähnung. Es handelt sich hierbei
um das unfaßbare Gnadentun Gottes. (Vergl. Joh. 3, 8.)
Hat der Geist Gottes in einem Menschen Wohnung
genommen, und ist dieser Mensch dadurch ein Teil des Leibes
Christi geworden, so läßt der Herr dieses Glied nicht
mehr los. Denn ist die Vorstellung denkbar, daß von dem
Leibe Christi, dem als solchem Vollkommenheitscharakter
zukommt, ein Glied entfernt, losgelöst werden könnte?
Wohl wird das Haupt des Leibes die einzelnen Glieder als
verantwortliche Menschen züchtigen bezw. behandeln müssen.
Solche dürfen dann die Wahrheit des Wortes erfahren:
„Der Satan hat euer begehrt, euch zu sichten wie den
Weizen. Ich aber habe für dich gebetet, auf daß dein
Glaube nicht aufhöre." (Luk. 22.) Er bringt sie
wieder zurecht; wie, wo und wann, das muß man Ihm
überlassen.
Es ist uns nicht gegeben, über andere ein endgültiges
Urteil bezüglich ihrer Wiedergeburt zu fällen, wenn wir
schlechte Früchte an ihnen wahrnehmen. Aber wir müssen,
wie das Wort Gottes es tut, ihnen sagen: Dein augenblicklicher
Weg führt dich ins Verderben.
So sind die Mahnungen der Heiligen Schrift, wie:
„Bewirket eure eigene Seligkeit mit Furcht und Jittern",
und andere, dazu bestimmt, daß jeder sich prüft, und daß
jeder darauf sieht, in göttlichem Geiste Selbstzucht zu üben
und in den guten Werken zu wandeln, die Gott zuvor bereitet
hat. Es soll niemand sich über sich selbst täuschen. Deshalb
hat Gott Seine Mahnungen und Warnungen auch
als Erkennungszeichen gegeben. Wer sich in dieser Beziehung
nicht sicher weiß, hat jetzt die Möglichkeit, sich vor dem
Herrn zu beugen und noch das zu erlangen, was ihm bislang
vielleicht gefehlt hat: Aus dem eigenen Tode hervorgewachsenes
göttliches Auferstehungsleben, welches ist die
Wiedergeburt.
Über dieses Thema zu schreiben ist, wie ich wahrnehme,
sehr schwierig. Leicht können Seelen, die in jungen Iah-
131
ren bekehrt wurden, ich meine also, die wirklich eine Wie-
j dergeburt erlebten, in unrechter Weise beunruhigt werden.
Das soll nicht geschehen. Wir haben einen Herrn, der den
glimmenden Docht nicht auslöscht, und der auch das Geringste
anerkennt. Und doch können und sollen solche Seelen
lernen, sollen wachsen und ihre Wurzeln tiefer treiben.
Dazu möchte ihnen dieser Artikel dienen.
! Wer da sagt, daß es im Blick auf seine eigene Seligkeit
nicht notwendig sei, treu zu sein und praktisch das gött-
j liche Leben zu leben, da er ohnehin nicht verloren gehen
könne, von dem kann man wohl mit Recht sagen, daß
I seine Auffassung Zeugnis davon ablegt, daß er die Wiedergeburt
nicht erlebt hat.
Nach manchen Stellen der Heiligen Schrift ist es
möglich, daß Gläubige verloren gehen. Diesen stehen andere
entgegen, die das Gegenteil aussagen. Solche scheinbaren
Widersprüche sind durchaus nicht selten. Nun darf
man natürlich nicht eine klare Aussage der Schrift mit einer
anderen Bibelstelle unwirksam machen, sondern unsere
Aufgabe ist es, hier die göttliche Harmonie zu finden. Wenn
wir aber „finden" wollen, müssen wir vorher „suchen".
Dieses Suchen ist Schriftstudium, das unter Gebet vorgenommen
werden muß. Denn die Erkenntnis göttlicher Harmonie
vermag uns nur der Heilige Geist zu vermitteln.
Solche Erkenntnis fällt uns nicht ungesucht und ungewollt
als reife Frucht in den Schoß. Und sie will schließlich nicht
nur erforscht, sondern auch erlebt werden.
Bei solchen sich scheinbar widersprechenden Aussagen
der Schrift muß uns zunächst diejenige Seite richtunggebend
sein, die dem Gesamtbild christlicher Gotteserkenntnis
entspricht. Diese Seite ist für uns eine positive Stelle, die
uns als Betrachtungsplattform dienen kann. Und nun muß
— wenn man sich einmal menschlich pädagogisch ausdrük-
ken darf — geforscht werden, ob die anderslautenden Stellen
nicht in gleichem Sinne eingeordnet werden können.
Dann wird durch die letzteren Stellen, so Gott Gnade zu
diesem Forschen gibt, die andere Seite nicht aufgehoben,
132
sondern in einem neuen Lichte zum Erstrahlen gebracht.
Gelingt es uns jedoch nicht, die Harmonie, die göttliche Ergänzung,
zu finden — dieweil unser Erkennen stets Stückwerk
bleibt —, dann dürfen wir nicht eine Harmonie zu erzwingen
suchen, sondern müssen beide Aussagen nebeneinander
stehen lassen. Nie können wir sagen, daß zwei Stellen
in der Heiligen Schrift einander entgegenstehen; sie
stehen für unser menschliches Fassungsvermögen höchstens
nebeneinander. Der Glaube stößt sich nicht daran, wissen
wir doch, daß Gottes Gedanken höher sind als die unseren.
In der hier besprochenen Frage sehen wir vielleicht
„scheinbar entgegengesetzte" Schriftaussagen harmonisch
geklärt, wenn wir „gläubig" und „Gläubige" in dem vorstehend
erläuterten Sinn verstehen. —tt>—
Alles zu seiner Zeit
Es gibt viele Kinder Gottes, die klagen, daß ihre Gebete
nie erhört werden.
Woran liegt das? j
Weil sie nicht auf das gottgewollte Ziel eingestellt sind,!
sondern auf ihr eigenes. Solche Gotteökinder müssen dann!
solange in der Schule Gottes bleiben, bis sie Demut und!
Geduld im Aushalten, Durchhalten und Festhalten unter
allen Verhältnissen gelernt haben. Solange man murrt und
klagt und nicht einsieht, daß hinter allen Trübsalen,
Schwierigkeiten und Leiden Gottes Liebe steht, muß man
sagen, daß Gottes Zeit und Stunde, um Seine Gnade mitzuteilen,
noch nicht gekommen ist. Erst wenn man sich unter!
die gewaltige Hand Gottes demütigt, gibt Gott Gnade und
greift in Seiner wunderbaren Weise ein.
Schweizer Evangelist (Z)
Not bricht alle Gesetze und hat kein Gesetz; so ist die
Liebe schuldig zu helfen, wo sonst niemand ist, der Hilst
oder helfen sollte. Luther
An unsere Leser
Durch Gottes Güte geht nach längerer Pause die Juninummer
des „Botschafter" heraus. Auch in dieser Hinsicht
war eine Stille — vergl. den nachfolgenden Aufsatz — eingetreten.
Daß diese Stille für den Schriftleiter zugleich eine
Zeit ernster Fragen gewesen ist, bedarf kaum der Erwähnung.
Inzwischen ist eine gewisse Klärung erfolgt. Uns interessiert
hier vor allem die Frage: Was hat Gott durch
Sein Tun der Schriftleitung sagen wollen? Wie soll der
„Botschafter" in Zukunft gestaltet werden?
Einst war er Vermittler des unseren Vätern von Gott
gegebenen Auftrags, inmitten der Zerrissenheit Seines Volkes
Zeugen zu sein von Seinen Gedanken über Sein Haus,
„welches die Versammlung des lebendigen Gottes ist, der
Pfeiler und die Grundfeste der Wahrheit", (l. Tim. 3,1.5.)
Er durfte helfen, diese Botschaft hinauszusenden, und wenn
die Wahrheit von dem einen Leibe und von dem Wunsch
unseres teuren Herrn, daß Seine Geliebten „alle eins
seien", heutzutage in viele gläubige Kreise gedrungen ist, so
glaubt er, dazu auch in seinem bescheidenen Maße beigetragen
zu haben. Vielleicht ist er aber in den letzten Jahren in
dieser Hinsicht nicht genügend wegweisend gewesen, und die
Frage nach einer besseren Verwirklichung dieses Herzenswunsches
des Herrn Jesus mag praktisch nicht die Bearbeitung
gefunden haben, die sie ihrer hervorragenden Bedeutung
wegen verdient. Eine völlig befriedigende Beantwortung
ist ja überaus schwierig; hier gehen die Ansichten auseinander,
und das letzte Anliegen des fürbittenden Herrn,
„auf daß sie in eins vollendet seien, auf daß die Welt e r -
kenne, daß du mich gesandt und sie geliebt hast, gleichwie
du mich geliebt hast", wird wohl erst in einem zukünftigen
Zeitalter endgültige Erfüllung finden.
8S. JahrZ. 6
134
Auf die Frage: Wie soll der „Botschafter" zukünftig
gestaltet werden? sei als erstes gesagt: Die Wahrheit von
Christus und Seiner Gemeinde, von Ihm, der das Haupt
Seines Leibes ist, und dem dieses „Geheimnis" so wichtig
ist, daß der Apostel, geleitet durch den Heiligen Geist, von
demselben als „dem Christus" schreibt (1. Kor. 1.2,12),
soll auch fernerhin verkündet werden, ebenso wie die Wahrheit
von dem einen Geist und dereinen Hoffnung, von
dem einen Herrn, dem einen Glauben, der einen
Taufe, von dem „einen Gott und Vater aller, der da ist
über allen und durch alle und in uns allen". (Ephes. 4,
4—6.) Gott gebe Gnade und Kraft, diese Wahrheiten, besser
als bisher, in einer Weise zu bringen, die, einfach und
packend, zuallen Gläubigen redet und von allen verstanden
wird.
In Verbindung mit oben Angedeutetem die Bedeutung
des Herrn-Mahles herauszustellen, sowie der von Gott gewünschten
Anbetung in Geist und Wahrheit und schließlich
der herrlichen Person Christi selbst, will auch in Zukunft der
„Botschafter" nicht müde werden. Vom Gottesdienst will
er reden, vom Gottesdienst am Tage des Herrn, vom Gottesdienst
im tagtäglichen Leben. Denn der sonntägliche
Gottesdienst der Christen soll zur Folge haben, daß
ihr ganzes Leben ein Gottesdienst ist. Daß
hier ernste Mängel vorliegen, ist traurige Erfahrung. Aber
diese Erfahrung ist an sich kein Beweis gegen die am
Sonntag geübte Gewohnheit, sondern beweist lediglich die
Gefahr der For m. Form ist kraftlos und führt zur Erstarrung.
Daher der zermalmende Ernst der Apostelworte
betreffs jener Menschen, „die eine Form der Gottseligkeit
haben, deren Kraft aber verleugnen". (Vergl. 2. Tim. 3,
2—5.) Bor jeder äußeren Form von Frömmigkeit
mit all ihrer Selbsttäuschung und all ihren Gott ver-
unehrenden Folgen zu warnen und mit der Stimme jener
alten Propheten, die auf Gottes Gebot das in gesetzlichen
Formen erstarrte Israel zu neuem Leben zu wecken suchten,
eine herzbelebende und gewissenschärfende Arbeit zu tun,
— 135 —
soll und muß daher mehr denn je zukünftige Aufgabe des
„Botschafter" sein. Zu diesem Zweck war schon Anfang des
Jahres unter dem Untertitel: „Da unterredeten sich miteinander,
die Jehova fürchten" (Mal. Z, 1.6) eine besondere
Rubrik geschaffen worden zu dem Zweck, „das christliche
Leben, das des einzelnen sowohl wie das der Allgemeinheit,
in praktischer Weise zu behandeln". Es scheint uns heute,
daß die Behandlung des Themas „christliches Leben" nicht
auf diese Rubrik beschränkt bleiben sollte. Vielleicht lassen
wir sie daher besser fallen und suchen, möglichst viele Stimmen
zu diesem Thema zu hören. Der Herr gibt Seine Gaben,
wem Er will. An uns ist es, solche Gaben zu finden,
da wo sie sind, und sie uns dienstbar zu machen. Bedenken
wir: Einseitigkeit führt zur Gesetzlichkeit, Gesetzlichkeit
zur Unduldsamkeit; Unduldsamkeit aber ist ein Wegbereiter
zu jenem Mißtrauen, das alles zurückweist, was mit der
eigenen Meinung nicht übereinstimmt. Eö ist schließlich das
Ende der Liebe, ohne die der mit den Sprachen der Menschen
und der Engel Redende zu einem tönenden Erz und einer
klingenden Schelle wird, ohne die ein Glaube, der
Berge versetzt, nichts ist, und ohne welche die Hingabe von
Vermögen, ja, von Leib und Leben nichts nütze ist.
Schon seit Jahrzehnten hörte man öfters sagen: Der
„Botschafter" wird von vielen gehalten, aber nur von wenigen
gelesen. Für die bewährte Treue unserer Bezieher sind
wir herzlich dankbar. Aber schließlich erfüllt eine Zeitschrift
nur dann ihren Zweck, wenn sie gelesen wird, und zwar mit
Interesse gelesen. Eine Zeitschrift, die nur einem Teil ihrer
Leser etwas bringt, wird ihrer Aufgabe nicht gerecht. Die
langen, sich durch viele Nummern hinziehenden „Betrachtungen"
sollen daher grundsätzlich in Zukunft fortfällen,
was natürlich nicht ausschließt, daß gewisse Aufsätze in
Fortsetzungen erscheinen müssen. Das läßt sich bei manchen
Themen nicht vermeiden. Aber als Regel wollen wir bemüht
sein, uns nach dem guten Rezept zu richten: In der
Kürze liegt die Würze. So soll es auch bezüglich der erbaulichen
Aufsätze gehalten werden.
136
Der „Botschafter" will keine Familienzeitschrift im
gewöhnlichen Sinne sein. Das schließt aber nicht aus, daß
gute, selbstverständlich wahre Erzählungen, Berichte aus
der Mission, sowie Lebensführungen bewährter Gläubiger
Platz finden in seinen Spalten. Treffende Beispiele aus
dem Leben erläutern oft besser als ausführliche Abhandlungen.
Davon sind die Gleichnisse des Herrn der beste Beweis.
Jusammenfassend sei gesagt: Der „Botschafter" soll
in Zukunft vielseitiger gestaltet werden. Dazu gehört unseres
Erachtens auch, daß bei der Beantwortung von schwierigen
Fragen eine gesunde, verantwortungsbewußte Freiheit
herrscht. Über die Grundwahrheiten des Wortes Gottes
werden wir stets einer Auffassung sein. Ohne eine solche
einheitliche Stellung zu den wesentlichen Fragen des christlichen
Glaubens wäre ja keine wirkliche Gemeinschaft, wie
wir sie auch mit dem Leserkreis des „Botschafter" erstreben,
möglich. Wenn wir aber das feste Bewußtsein besitzen, miteinander
auf dem gleichen Boden zu stehen, darf es uns
nicht schwer werden, auch dann die Auslegung einer
Schriftstelle zu achten, wenn sie sich von der unsrigen unterscheidet.
Die Überzeugung von der Wahrheit des Schriftworts,
daß unser Erkennen Stückwerk ist, macht uns diese
Haltung ja wirklich leicht.
Ium Schluß sei gesagt, daß uns die Einrichtung einer
„Bücherschau" ein Gebot der Stunde zu sein scheint. Das
christliche Gedankengut ist viel reicher, als wir meinen. Eine
Hilfe durch verständnisvolle Besprechung guter christlicher
Bücher aus ernsten Verlagen sein zu können, wäre uns ein
besonders lieber Gedanke.
Und nun schenke Gott zu dem ernstlichen Wollen ein
gnädiges Gelingen! Er ist ein Erhörer aufrichtiger Gebete.
Helfen wir uns gegenseitig dadurch, daß wir in unseren Gebeten
einander fürbittend gedenken, auf daß „unsere Liebe
noch mehr und mehr überströme in Erkenntnis und aller
Einsicht, damit wir prüfen mögen, was das Vorzüglichere
sei, auf daß wir lauter und unanstößig seien auf den Tag
Christi"! (Phil. 1, d. 10.)
r37
Sie Stille
Unstet und flüchtig zu sein auf Erden, das war der
Fluch, der Kain, den Brudermörder, traf. Unstet und flüchtig
ist Ahasver, der ewige Jude, der nie rastet, immer weiter
wandern muß, der kein Ende findet, dem selbst die Ruhe
des Todes versagt ist. Aber ist dieses „unstet und flüchtig"
nicht auch gleichsam wie eine Überschrift über unser aller
Leben geschrieben? Der Mensch, vor allem der in der Großstadt,
rennt. Er rennt ins Geschäft, er rennt nach Hause,
er rennt auf geschäftlichen Gängen, er rennt ins Kino oder
Konzert. Jede Minute muß ausgenutzt werden. Und wenn
man dann mit einem möglichsten Minimum an Zeitaufwand
an Ort und Stelle angelangt ist, vertreibt man
sich die mühsam erkaufte Zeit. Man hört oder sieht, was
lediglich die Sinne gefangen nimmt — zur Beschäftigung
mit ernsthafter Kunst ist man gewöhnlich zu abgespannt —,
man führt nichtssagende Gespräche, man spielt, man lacht.
Hauptsache, wenn nur die Zeit herumgeht. Jemand sagte
mir, und ich glaube, er hatte recht, eigentlich müßte jeder
Mensch einmal im Leben für ein paar Monate eingesperrt
werden, um dort, wo er zum Nichtstun verurteilt ist, den
Sinn des Daseins zu erkennen.
Wir sind zum Arbeiten auf dieser Welt. Die Arbeit
adelt unser Leben und gibt ihm seinen Inhalt. Arbeit und
Hast aber ist zweierlei. Außerdem ist Arbeit nicht das ganze
Leben. Neben der Arbeit steht die Ruhe. Sie will nicht vernachlässigt
sein. Es ist aber keine Ruhe, wenn man abends
todmüde ins Bett sinkt, sich bis zum Einschlafen womöglich
noch stundenlang mit beruflichen Problemen herumquält
und dann frühmorgens wieder ohne Besinnen und
— rz8 —
Sammlung ins Geschäft stürzt. So etwas rächt sich auf
die Dauer. Manche Menschen: Geschäftsleute, vielbeschäftigte
Ärzte, leitende Angestellte, Rechtsanwälte usw. hielten
ein solches Leben jahrelang durch, aber plötzlich, mitten in
der Arbeit, wurden sie unstet und verloren alle Spannkraft.
„Völliger Nervenzusammenbruch", stellte der Arzt fest.
Und dabei hatten sie doch regelmäßig ihren Urlaub genommen,
hatten sich von der Sonne bräunen lassen, sodaß alle
Welt ihr gutes Aussehen rühmte. Sie selbst meinten sich
prachtvoll erholt zu haben, und nun so etwas!
Nicht allein der Körper will seine Ruhe haben, auch
Seele und Geist verlangen danach. Eine Sommerreise, in
der man von Vergnügen zu Vergnügen eilt, kann keine!
wahre Erholung bieten, erst recht nicht, wenn der ganze
Wust der geschäftlichen Sorgen mitgeht, wie es bei vielen
der Fall ist. Man sagt: „Das Besinnliche liegt mir nun einmal
nicht; ich muß Arbeit oder Unterhaltung haben, sonst
sterbe ich vor Langeweile. In früheren Zeiten, ja, da waren
die Menschen anders."
Es ist merkwürdig, daß die meisten Menschen nichts
so sehr fürchten wie das Alleinsein mit sich. Niemand sage:
Ich habe keine Zeit dazu. Das sind ganz wenige, die so von
ihrer Berufsarbeit in Anspruch genommen werden, daß sie
sich zur besinnlichen Pause gewaltsam herausreißen müssen.
Die meisten hätten schon die Zeit dazu. Aber man will nicht.
Man rennt und rennt und hat, jemehr das Tempo zunimmt,
umso weniger Zeit. Man redet gern von der guten,
alten Zeit, die so beschaulich, so besinnlich war. Man empfindet
mitunter auch ein gewisses Sehnen danach. Aber
wenn's darauf ankommt, läßt man sich lieber in den Strudel
des Geschehens hineinziehen, als diesem Sehnen statt
— rZ9 —
zugeben. Warum fürchten wir Menschen so sehr die Einsamkeit?
Warum ziehen wir ihr einen selbst schalen Zeitvertreib
vor? Ist es die Angst vor einer Enttäuschung?
Fürchten wir, ein Bild von uns selbst zu bekommen, das
wir lieber nicht sehen möchten?
Die stille Zwiesprache mit dem eigenen Ich ist der beste
Dienst, den sich ein Mensch tun kann. Wenn der Trubel
der „geschäftigen Welt" mehr und mehr verstummt,
kommt die Wahrheit zu ihrem Recht. Die Stille bringt
uns in das rechte Verhältnis zu allen Dingen und zu uns
selbst. Sich selbst erkennen, ist die erste Vorbedingung zum
Erkennen Gottes. Doch haben solche Ruhezeiten auch einen
durchaus irdischen Wert. Jedes Regelmäßige in Beruf und
Lebensgewohnheiten, ja, selbst die Wiederkehr christlicher
Gepflogenheiten, hat auf die Dauer etwas Ermüdendes.
Vielleicht besteht es nur darin, daß der Wert des regelmäßig
Geübten nicht mehr erkannt, oder besser, nicht mehr
gefühlt wird. Wie mancher Arbeitslose hat erst in der Bitternis
der aufgezwungenen Untätigkeit den Wert der Arbeit
richtig schätzen gelernt! Das was vorher manchmal als
drückende Bürde empfunden worden war, erschien nun auf
einmal in einem ganz anderen, überaus verlockenden Licht.
In selbständigen, vor allem geistigen Berufen gibt es diese
Form der Arbeitslosigkeit nicht. Der Unternehmer, der
Künstler, Wissenschaftler kann stets weiterschaffen, da er,
vor allem der letztere, seine Arbeit für gewöhnlich ohne besonderen
Auftrag tut. Er schafft um der Arbeit selbst willen.
Er weiß in den seltensten Fällen, ob er sie später einmal
wirtschaftlich auswerten kann, und macht sich während
des Schaffens darum kaum Gedanken. Aber auch solche
Menschen haben ihre Pausen. Goethe schreibt einmal da
— r4o —
von, wie er mit Schrecken bei sich bemerke, daß auf Zeiten
voll Schwung und Schaffenskraft solche völliger Leere kamen;
er beruhigte sich erst wieder, als er sah, daß es anderen
genau so erging. Derartige Pausen sind zur inneren
Sammlung und zum Wachstum unumgänglich nötig.
Diese Tage und Wochen erscheinen nur auf den ersten Blick
fruchtlos; in Wirklichkeit geht die Arbeit innerlich weiter.
Die Dinge reifen aus und drängen sich, wenn die Stunde
gekommen ist, mit neuer Kraft ans Licht.
Während ich dies schreibe, befinden sich viele Leser in
einer großen und unerwarteten Not. Eine Pause ist eingetreten,
an die keiner gedacht hätte. Das, was liebe Gewohnheit
war, die regelmäßigen Zusammenkünfte zur gegenseitigen
Erbauung usw., ist urplötzlich unterbunden worden.
Bielen ist das Tun Gottes unbegreiflich. Wir alle aber, ob
wir wollten oder nicht, sind zum Stillstehen gekommen.
Es lag nahe, zunächst einmal nach dem äußeren Warum
zu fragen: Was sind die Gründe des Verbots? Liegt nicht
vielleicht eine Verwechslung vor? Dabei wird aber der Suchende
auf die Dauer nicht stehen bleiben. Ein Unglück ist
geschehen; aber „geschieht ein Unglück in der Stadt, und
Jehova hätte es nicht bewirkt?" (Amos 3, 6.) Wir empfinde^
Gott redet ernst zu uns, zu mir, zu dir, zu uns als
Gesamtheit. Wie vieles war auf unseren Wegen, vielleicht
vor dem besten Freund, ja, vor den eigenen Blicken verborgen,
thomit Gott nicht einverstanden sein konnte!
Ach weiß nicht, ob der schwere Druck leichter geworden
sst, wenn diese Gedanken im „Botschafter" erscheinen.
Es geschieht, wenn das erreicht ist, was Gott erreichen
sollte. An uns liegt es, Seine Sprache zu verstehen, rück
— r-n —
sichtslos wegzutun, was vor Ihm nicht besteht, willigen
Herzens bereit zu sein, Seinen ganzen Willen zu tun, soweit
wir ihn erkennen, selbst wenn dabei manches Alte,
Liebgewordene in Stücke geht.
9b ein Baum festgewurzelt ist, zeigt sich im Sturm.
Welke Blätter und morsche Aste fegt der Herbstwind herab.
Die Wüstengeneration des Volkes Israel verstand Gottes
Sprache nicht. Als Er Trübsale kommen ließ, wandten sie
sich von Ihm ab. Sie hielten nicht fest, daß es die gütige
Vaterhand ist, die strafen muß. Sie hielten Gott für ihren
Feind und suchten nach einem Bergungsort vor Ihm, und
wenn es in dem Knechtshause Ägypten war. Als Moses,
der als ägyptischer Königssohn aufgewachsen war, sich zu
dem armseligen Lose eines Viehhirten bequemen mußte,
nahm er das ruhig und ergeben auf sich. Vierzig Jahre
lernte er in der Sülle. Er machte keine Versuche, sich aus
der unangenehmen Lage zu befreien. Da wuchs der Mann,
weit von allem Getriebe, von allem Handeln. Wir sehen
mit Staunen sein Bild, das uns das treue göttliche Wort
zeichnet. Wollen wir nicht auch die Ruhe und Stille benutzen
zum Lernen, zuzunehmen? Welch ein Segen, wenn
wir alle mehr und mehr die Sprache Gottes zu verstehen
wüßten. Dessen Stimme wir heute hören! Die Stimme war
auch vorher da, aber unsere Ohren waren so träge geworden.
Das Rad der Gewohnheit ließ dem Wirken des Geistes
oft sehr wenig Raum. Gott will Sich jedem einzelnen
ganz persönlich offenbaren. Das geht nur in der Stille.
Er hat dich hineingeführt. Nun laß Ihn auch reden!
____________ — rb —
,In Mllsein unö in Vertrauen wirü eure Ätärke
sein/ (Jes. zo/15.)
142

Ser Mensch und die Lide!
Mehr als irgend ein andereöBuchver-
schafft uns die Bibel einen Haufen von
Freunden.
Selbst wenn die Bibel keinen Anspruch darauf machte,
das Wort Gottes, sondern nur ein bestimmtes Literaturerzeugnis
zu sein, wäre sie doch wert, gelesen und überdacht
zu werden, allein um des Studiums der menschlichen
Natur willen. Nirgendwo sonst finden wir so vortreffliche
Bilder von Männern und Frauen gezeichnet. Die Bibel beschäftigt
sich mit allen Arten und Eigenschaften der Menschen.
Die Menschen der Bibel sind nicht einerseits nur Heilige,
nicht anderseits nur Taugenichtse. Einige werden in
ihrer Laufbahn bis zu den erhabensten Lebenshöhen beschrieben,
wie z. B. Abraham, Joseph, Hiob, Paulus, Johannes
der Täufer; andere werden uns bis zu ihrem moralischen
Zusammenbruch gezeigt, wie z. B. Saul, Ahab, Judas.
Alle Menschen der Bibel haben die nämlichen Eigenschaften
wie wir. Ja, wir entdecken vielleicht beim Studium
derselben in uns selbst neue, von uns selbst unbemerkte
Gewohnheiten. In manchem Menschen der Bibel sehen wir
unser eigenes Ich.
Die Menschen der Bibel zeigen uns,
daß dasBuch lebenswahr ist.
— rsr —
Die Schreiber der Bibel brauchen nicht wie die Klassiker
ihre Personen zum Teil aus der Phantasie zu schöpfen.
Bei ihnen handelt es sich um wirklich gelebtes Leben, denn
die Bibel beschreibt Männer und Frauen, wie sie wirklich
lebten. Und weil die Bibel die Menschen wahrheitsgemäß
schildert, nichts hinzufügend, nichts unterschlagend, ist sie
unbedingt ein wahres Buch des Lebens. Haben wir nicht
selbst oft empfunden, daß dem so ist? Nehmen wir nur
zwei Beispiele, eins aus dem Alten, das andere aus dem
Neuen Testament I
Bietet nicht Elias ein prächtiges Objekt zum Charakterstudium?
Der ganze Mensch, wie er leibt und lebt,
steht vor uns. Wir sehen ihn in Zeiten großer Geisteshöhe
und in Zeiten tiefer Mutlosigkeit. Wir beobachten seine Triumphe
und seine Niederlagen. Auf dem Berge Karmel
schauen wir ihn als Glaubenshelden und Verkörperung von
Kraft und Macht. Wir belauschen ihn wiederum unterm
Wacholderstrauch: niedergeschlagen, verzweifelt, voll von
Selbstanklage. Ist das nicht ein wirkliches Stück Menschenleben?
Geschieht es nicht noch heute, daß nach dem
Überschwang geistlicher Erfahrungen die Reaktion einsetzt?
Und dann aus dem Neuen Testament: Johannes der
Täufer! Johannes wird im Neuen Testament als der
zweite Elias geschildert. Er zeigt in der Tat viele ähnliche
Züge mit dem Elias des Alten Testaments. Beide hatten
eine Botschaft von Gott, die sie kühn und wagemutig ohne
jede Menschenfurcht verkündeten. Beide lernten Zweifel
und Verzweiflung in Zeiten der Not und Bedrängnis kennen.
Aus dem Gefängnis heraus fragt er im offenbaren
Wankelmut seines Glaubens: „Bist Du der Kommende,
oder sollen wir auf einen anderen warten?"
r52
Die Menschen der Bibel muß man in
ihrerBeziehung zu Gott nehmen!
Hier zeigt sich ein Unterschied zwischen der Bibel und
hochgeistiger Literatur. Der Schriftsteller und Dichter ist
befriedigt, wenn er ein möglichst überzeugendes Bild eines
Menschen hervorbringt; das ist seine Hauptaufgabe. Aber
die Bibel sieht Männer und Frauen — undGott dabei.
Sie beschreibt, wie Gott Seinen Kindern nachgeht, sie
sucht, und wie Seine Kinder Ihn finden. Die Bibel erzählt
uns, wie Gott selbst Sich den Menschen offenbart, und
wie diese sich zu solcher Offenbarung stellen; sie berichtet,
wie Gott zu sprechen pflegt, und wie der Mensch darauf
antwortet. Immer und überall sind wir beim Lesen der
Bibel in lebendiger Verbindung nicht nur mit den Menschen
— nein, mitGott undMenschen.
Wenn wir so die Bibel lesen, werden wir uns vor die
nackte Wirklichkeit gestellt sehen, was für eine Stellung
Gott zu den Menschenkindern einnimmt; wir werden ahnen
und erkennen, was Sein heiliger Wille Menschen gegenüber
ist. Wir spüren deutlich den Gott der Liebe, der jedem,
der von falschem Wege umkehrt und sich auf Seine
Wege begibt, offene Vaterarme entgegenhält und jedem
Vergebung und Frieden des Herzens schenkt, der von der
Gabe der Erlösung durch den Menschen- und Gottessohn
Gebrauch machen will. Und während wir aufmerksam lesen,
wie Gott zu den Leuten redet, die Tausende von Zähren
vor uns lebten, merken wir, daß Er auch zu uns spricht,
die wir in der Gegenwart leben. Ich entdecke bei aufrichtigem
Lesen, daß Gott persönlich zu mir allein spricht, und
daß es mir unmöglich ist, abzuschütteln, was Er mir sagt.
Das Buch wird für mich die lebendige Stimme Gottes.
153
DerMenschen sind viele in der Bibel.
Aber sie alle werden in den Schatten gestellt
von Einem — Jesus Christus.
Dem gläubigen Christen ist das Alte Testament ein
Vorläufer, ein wegweisender Lichtstrahl zum Neuen Testament.
Als unser Herr geboren wurde, war Er die Erfüllung
aller Verheißungen, Hoffnungen und Träume des
Alten Testaments. Man lese Hebr. 1,1:
„Nachdem Gott vielfältig und auf vielerlei Weise ehemals
zu den Vätern geredet hat durch die Propheten, hat
Er am Ende dieser Tage zu uns geredet im Sohne."
Mag es sein, daß wir nur eine dunkle Vorstellung
von den einzelnen Menschen der Bibel haben, wichtig ist
vor allem, daß wir uns so viel wie möglich damit bekannt
machen, was Jesus Christus den Menschen Seiner Zeit
war, und was Er uns Menschen der Gegenwart sein
möchte. Es ist gewiß von Bedeutung, daß wir unseren
Geist und unser Gemüt mit den hervorragenden Persönlichkeiten
der Bibel bereichern; aber die Bekanntschaft mit
Christus und Seiner Art muß uns dazu führen, Ihn, den
Herrn und Meister, zu lieben, Ihn so sehr zu lieben, daß
wir gar nicht anders können, als Ihm unsere ganze Person
zur Verfügung zu stellen, Ihm zu gehören, von Ihm abhängig
und Ihm zu Diensten zu sein. Nur das ist dauernd
geistiges seliges Leben.
Aus „Bibelarbeit".
Herr, Sela Wort, öle röte Gabe,
dieses Golö erhalte mlr /
denn ich zieh' es aller Habe
Unü öem größten Reichtum für.
— 154 —
Der wunderbare Besucher
Nach einem arbeitsreichen Tage genoß ich in vollen Zügen
die Ruhe des stillen Abends. Neins Kinder hatten, ehe sie von
ihrer Nutter zu Bett gebracht wurden, wie allabendlich ein Lied
mit ihr gesungen, das mir seit langem wohlbekannt war.' Sein
schöner Sinn aber war mir nie so wie diesmal zum Bewußtsein gekommen.
<Ls brachte in tiefempfundenen Worten den Wunsch einer
gläubigen Seele zum Ausdruck, daß der Herr doch allezeit bei ihr
weilen möge. Jeder Vers schloß mit der Bitte:
Herr, bleibe bei mir!
Als ich eine Zeitlang über die Worte nachgedacht hatte, stieg
die Frage in mir auf:
„Würde der Herr Jesus, wenn Lr jetzt so zu mir käme, wie
Lr einst in die Mitte der Jünger trat, alles so finden, daß Lr mit
Freuden bei mir weilen könnte? War in meinem Hause und.in
meinem Leben alles so, wie L r es wünschen mochte?" Diese Frage
veranlaßte mich, mein Leben gründlich von diesem Gesichtspunkt
ans zu überprüfen. Da ich müde war, schlief ich über dem Sinnen
ein und träumte. Die Tür öffnete sich, und herein brat Liner,
von Dem ich sofort wußte: Lr ist es. Aber Lr kam nicht als der
Herrliche und Gewaltige, so wie Johannes Ihn auf Hatmos gesehen
hatte. Lr kam schlicht und einfach, so als ob Lr sich auf die
Bitte unseres Liedes bei uns eingestellt hätte.
Ich sank vor Ihm auf die Knie. Lr aber legte Seine Hand
auf meine Schulter und sagte: „Steh auf. Ich bin gekommen, tun
bei dir zu bleiben."
Die nächsten Traumereignisse sind mir nicht deutlich in Erinnerung
geblieben. Ich weiß nur, daß, als der Morgen anbrach,
ich meine Kinder herbeirief, um ihnen zu erzählen, der Herr Jesus
sei bei uns eingekehrt, um bei uns zu bleiben. In diesem Augen«
blick trat der Herr wieder zu uns ins Zimmer, und wir setzten uns
alle um den gedeckten Frühstückstisch. Was nun folgte, was wir
alle empfanden in der Gegenwart unseres hohen und huldvollen
Gastes, welch eine Freude unsere Herzen durchströmte, während
Lr mit uns redete, vermag ich nicht in Worte zu kleiden. Nie hatten
wir Ähnliches erlebt.
— rss —
Als aber die Mahlzeit vorüber und die Familienandacht gehalten
war, kam ich in nicht geringe Verlegenheit. Was sollte ich
jetzt mit meinem hohen Besucher beginnen? Ihn allein zu Hause
lassen, während ich ins Geschäft ging, wäre unhöflich gewesen, und
mit Ihm zu Hause zu bleiben an einem Tage, an dem es so viel
Notwendiges für mich zu erledigen gab, konnte ich mir schlecht gestatten.
Und den Herrn mitnehmen ins Geschäft? Das ging doch
nicht. Wer hätte jemals gehört, daß man Jesus mitgenommen
hätte in einen Geschäftsbetrieb mit all seinem Drum und Dran?
Da kam mir der Heiland, ohne daß ich nötig hatte, Ihm meine Gedanken
zu verraten, mit den Worten zu Hilfe:
„Ich gehe mit dir ins Geschäft. Hattest du mich nicht gebeten,
bei dir zu bleiben? Du weißt doch: „Ich bin bei euch alle
Tage bis an der Welt Ende.""
Diese Worte berührten mich etwas eigenartig. Aber wie hätte
ich dem Herrn Einwendungen machen können? Ho machte ich mich
denn auf den Weg ins Geschäft, und Lr ging mit.
Als wir ins Kontor traten, wartete dort jemand auf mich,
mit dessen Hilfe ich schon manch gutes Börsengeschäft getätigt
hatte. Um die Wahrheit zu sagen, ich war nicht erfreut, den Mann
jetzt zu sehen, fürchtete ich doch, er könne Dinge vorbringen, über
die ich in Gegenwart des Herrn Jesus nicht gern redete. Und so
kam's auch. Der Mann hatte ein glänzendes Geschäft für mich in
Aussicht. Ls war nach den allgemein gültigen Bestimmungen über
den Aktienhandel durchaus ehrlich. Das Bedenkliche war nur:
Während ich dabei gut verdiente, konnte ein anderer in eine üble
Lage geraten. Der Mann legte mir den Fall lang und breit auseinander,
ohne vom Herrn die geringste Notiz zu nehmen. Ich weiß
nicht, ob er Ihn überhaupt sah. Ich saß wie auf glühenden Kohlen
und hätte in den Boden versinken mögen. Dabei redete der Mann
mit mir in einer Weise, als ob ich jeden Tag ähnliche Geschäfte zu
machen pflegte, und als ob er voll und ganz davon überzeugt sei,
daß ich ihm für seine Klugheit und Geschäftstüchtigkeit vollste Anerkennung
zollen und das Geschäft ohne Säumen abschließen werde,
was mußte der Herr von dem allen denken? Konnte Lr einen anderen
Lindruck von mir bekommen als: So führt der seine Geschäfte!?
Der Makler war baß erstaunt, als ich plötzlich auffuhr
— rss —
und erklärte, ich könne auf seine Vorschläge nicht eingehen, weil aus
diese Weise ein anderer geschädigt werde. Linen Augenblick sah
er mich entgeistert an, als zweifle er, ob ich noch bei verstand sei,
und verließ mich dann ohne ein weiteres Wort. Ich aber sank ties
gedemütigt zu den Füßen meines Heilands nieder und bat Ihn
um Vergebung für vergangene Verfehlungen ähnlicher Art und
uni Kraft für die Zukunft.
„Mein Kind", entgegnete Lr freundlich, „du sprichst, als ob
meine Gegenwart dir etwas Fremdes wäre. Aber ich bin immer
bei dir gewesen. Ich Habs alles gesehen, habe auch mit Kummer
deine Geschäftsmethoden beobachtet und mich manchmal über deinen
Unglauben gewundert. Auch das hat mich geschmerzt, daß du
mein versprechen, immer bei dir sein zu wollen, so wenig beachtet
hast. Habe ich nicht gesagt: „Bleibet in mir, und ich in euch"?"
In diesen: Augenblick trat ein anderer Mann ein. Ls war
ein guter Kunde von mir. Um mir diesen Mann geneigt zu erhalten,
war ich ihm stets mit einer gewissen Herzlichkeit begegnet, die
meinen Empfindungen durchaus nicht entsprach, denn er war ein
unfeiner Mensch von abstoßendem Wesen und nicht immer sauber
in seinen Reden. Kaum war er da, als er schon eine Bemerkung
machte, die mir die Schamröte ins Gesicht trieb. Ähnlich hatte ich
ihn schon früher sprechen hören, aber, obwohl innerlich darüber
empört, nie etwas dagegen gesagt, aus Furcht, ihn zu beleidigen.
Aber jetzt in Gegenwart des Herrn Jesus, des vollkommen Reinen
und Heiligen, der die zweideutigen Worte mitangehört hatte, empfand
ich etwas, das ich nicht beschreiben kann. Ich machte meinen
Gefühlen in einem Ausruf der Entrüstung Luft, worauf der Fremde
höhnisch versetzte: „Sie sind ja auf einmal recht prüde geworden",
und wütend fortging.
Wieder wandte ich mich mit der Bitte um Vergebung zum
Herrn, und wieder machte Lr mir klar, daß Lr, wenn auch ungesehen,
allen meinen früheren Unterhaltungen mit diesem Manne
beigewohnt habe.
Ich wurde jetzt in einen Nebenraum gerufen. Linern meiner
Leute war ein Fehler unterlaufen, der sich höchst unangenehm auswirken
und unter Umständen einen empfindlichen Geschäftsverlust
zur Folge haben konnte, von Natur aufbrausend, verlor ich jede
rZ7
Selbstbeherrschung und stellte den Schuldigen mit harten Worten
zur Rede. Als ich mich umwandte, stand der Herr Jesus, der mir
aus meinem Privatkontor gefolgt war, neben mir. <Lr hatte von
allem, was vorgegangen war, Kenntnis genommen, und wieder
war ich der Beschämte.
Ich begann jetzt, die eingegangene Post durchzusehen. Liu
Brief enthielt eine Nachricht, die mich aufs äußerste bestürzte. Ls
war eine Hiobspost schlimmster Art. Menn nicht schnelle Hilfe kam,
war das Fortbestehen meines Geschäfts in Frage gestellt. Jetzt
war ich froh, den Herrn bei mir zu haben, denn wer konnte helfen,
wenn nicht Lr? So nahm ich den Brief, der die erschreckende
Kunde enthielt, legte ihn dem Meister hin und sagte mit einen,
Seufzer der Erleichterung: „Herr, wenn Du nicht hier wärest, so
würde mich diese Nachricht zu Boden schmettern; aber nun kann ich
sie getrost in Deine guten Hände legen, denn ich weiß, daß Du immer
noch einen Ausweg hast."
Da erwiderte Lr, mich ernst ansehend:
„Du kleingläubiger Mann! Weil du mich gesehen hast, hast
du geglaubt. „Glückselig sind, dis nicht gesehen und
geglaubt haben!""
Doch wenn Lr mich auch wegen meines mangelnden Glaubens
tadelte, so zeigte Lr mir doch — wie hätte es anders sein
können? — einen Ausweg aus der Not und legte einen jubelnden
Dank auf meine Lippen.
So ging es weiter an diesem merkwürdigen Tage. Ach, die
wunderbare Gegenwart des Meisters, von der ich geglaubt hatte,
daß sie eitel Freude sein müsse, erwies sich mir als fortgesetzte Demütigung.
Sie ließ mich erkennen, was ich nie gedacht hatte, daß
mein tägliches Leben bis dahin in einer weise verlaufen war, als
habe Lr, mein Lrlöser und Herr, nur wenig damit zu tun gehabt.
Aber anderseits gab es während des Tages auch immer wieder
Augenblicke, die mein Herz mit tiefer Freude erfüllten, Augenblicke,
in Lenen ich Seine reiche Liebe erfuhr und gnädige und ermunternde
Worte von Seinen Lippen vernahm, Augenblicke auch,
die mir ganz neue Züge Seiner Schönheit und Seines Wesens offenbarten.
r58
Ich erwachte, und siehe, alles war ein Traum gewesen. Aber
der Traum war, das darf ich sagen, von nachhaltiger Wirkung.
Lr veranlaßte mich, mein tägliches Leben mit all seinen Einzelheiten
einmal gründlich unter die Lupe zu nehmen, zu prüfen, wie
weit es in Wahrheit unter dem Einfluß der beständigen Gegenwart
des Heilands stand, und wie weit inein tägliches Verhalten
mein Bekenntnis, daß Lhristus „in mir" sei, rechtfertigte. Die Prüfung
war ebenso beschämend für mich, wie in meinem Traum so
manches beschämend gewesen war. Theorie und Praxis — sie waren
in meinem Leben häufig genug nicht Hand in Hand gegangen.
Aber auch jenes Wort, das der Herr Jesus damals, als Lr
auf der Erde war, gesprochen, und an das Er mich in meinem
Traum erinnert hatte -„Glückselig sind, die nicht gesehen
und geglaubt h a b e n!" — es bekam eine neue,
tiefe Bedeutung für mich.
Kragen aus dem Leserkreise
Denkt Paulus in s. Kor. 8, 1,3 nur an Gpferfleischessen oder
an Fleischessen überhaupt? Meines Erachtens geht aus ver-! (5
nicht klar hervor, wie der Apostel es meint.
Dafür geht es aus Röm. I, H umso deutlicher hervor. Man erkennt
dort aus Vers 2, daß ängstliche Gemüter glaubten, auf
Fleischgenuß überhaupt verzichten und sich mit Gemüse begnügen
zu sollen. Sie mochten es zur Erreichung eines höheren Grades
von Heiligkeit für unerläßlich halten, wie das bei heidnischen Philosophen
und Asketen- die der Gottheit näher kommen wollten,
im Schwange war. Oder sie mochten an Vorbilder aus dem Alten
Testament denken, etwa an Daniel und seine drei Freunde; auch
daran, daß vor der Sintflut anscheinend von den Menschen kein
Fleisch gegessen worden ist, sonst hätte ja dje dem Noah gegebene
Erlaubnis keinen rechten Sinn. (Obwohl sie in ihrer Ansicht irrten,
wie Pers und mehr noch die Verse s. Tim. ch, f — 3. H. 5
zeigen, so sollten doch die, welche es besser verstanden, die Schwachheit
der Schwachen tragen und lieber das Fleischessen und Weintrinken
ganz bleiben lassen, als dem Schwachen ein Ärgernis in den
Weg legen, (vergl. Röm. (H, sg—2s—23.) So geht der Apostel
in f. Kor. 8 nach der Abhandlung über das Gpferfleischessen oder
-nichtessen der schwachen Brüder wegen auf das Essen überhaupt
über, und weil er nun einmal beim Fleischessen ist, benutzt er dieses
Beispiel, um den Korinthern dasselbe zu raten, was er auch den
Römern schreibt: verzichtet ganz und gar aufs Fleischessen,
wenn's andern zuliebe wünschenswert ist!
Welcher Unterschied besteht zwischen: „Der Garten Eden"
und „Garten in Eden"? (vergl. s. Mose 2, 8 (mit Fußnote) mit
Rap. 2, sO. 3, 23. 2H.)
Da die Verse Rap. 2, 8 und sO deutlich dartun, daß Lden
ein Bezirk war und der Garten innerhalb dieses Bezirks lag, also
ein Teil desselben war, und da zudem der Name
„Lden" die Bedeutung „Wonne, Lieblichkeit" hat, so ist dis einfache
Erklärung: Der Garten lag in einer lieblichen, wonnigen Gegend,
und er selbst war lieblich. Denn war der ganze Bezirk schon
Lieblichkeit, so war es gewißlich der Garten erst recht. Ls liegt
nichts Besonderes hinter der Doppelbenennung. Ls war ein lieblicher
Garten in lieblicher Gegend. Wahrlich, Gott hatte wunderbar
für die Menschenkinder vorgesorgt, die Lr nach Seinem Bild
und Gleichnis schuf! F. Upp.
Bücherschau *)
praktischer Handkommentar zum Lukas-Lvangelium. von Fritz
Rienecker (Brunnen-Verlag, Gießen.) Leinen AM. s8.—.
Lier findet der ernsthafte Bibelleser eine Arbeit vor, die in
ihrer gründlichen Ausführung — unter Verzicht auf die Anführung
des griechischen Urtextes — auch den heutigen wissenschaftlichen
Anforderungen an eins gute Textauslegung genügen dürfte nnd
dabei gleichzeitig den Mut zur praktischen Nutzanwendung findet.
Die Arbeit ist von einem Manne verfaßt worden, der mit beiden
Füßen fest auf dem Boden der Schrift als dem Träger göttlicher
Gffenbarung steht. Zweck und Ziel seiner Arbeit spricht er
im folgenden selbst aus:
„Weil es sich beim Bibelverständnis auch um das Wortver-
ständnis handelt, so gilt es den Wortlaut der Bibel nach allen Seiten
hin zu behandeln und mit allen Mitteln für die
Gegenwart und das persönliche Bewußtsein
lebendig zu machen. Dabei genügt Nicht die grammatischhistorische
Auslegung, mittels derer man wohl manches feststellen,
aber nicht Persönlichkeit und Gesinnung, Geist und Leben beeinflussen
kann. Solch eine Auslegung gleicht oft zu sehr der Anatomie,
die am toten Körper arbeitet. Wo der Heilige Geist aber
im Worte lebt, bedarf es tieferer Forschung. Die Lebenskunds vom
ewigen Leben ist mehr als Anatomie. Weil die Wortbilder der
Sprache Gffenbarungsträger des heiligen Gottes sind, darum ist
der gläubige Lhrist wohl einerseits immer bemüht, den Buchstaben
ganz genau zu beachten und ganz ernst zu nehmen, also das Wort
*)'Alle'an dieser Stelle besprochenen Bücher sind entweder vorrätig oder
werden schnellstens besorgt.
— rso —
Gottes so getreu wie nur irgend möglich zu erforschen. Lr ist sich
aber auf der anderen Seite seiner Schwachheit stets bewußt und
überzeugt, daß nur der Heilige Geist der wahre Erklärer des von
Ihm geschriebenen Wortes Gottes ist. Fleißiges Forschen schließt
daher die Bitte um den Heiligen Geist nicht aus, sondern ein ...
„Der Verfasser ist sich bei all seiner Arbeit der eigenen
Schwachheit voll bewußt. Lr kennt deshalb nur das Seufzen, daß
Gott dieses Buch segnen möchte zur Verherrlichung Seines Namens.
Sein Wunsch ist es, daß das Buch nicht nur bei den „Dienern
am Worte" freundliche Aufnahme, sondern vor allem bei der
bibelgläubige» Gemeinde ohne Rücksicht aus ein Sonderbekenntnis
und die jeweilige Organisation Eingang finden möchte. (Lph. 3,
20. 2s.)" plus dem Vorwort)
von dem gleichen Verfasser:
praktischer Handkommentar zum Lxheserbrief. Die Lehre von der
Gemeinde für die Gemeinde. (Vereinsbuchhandlung G. Ih-
loff äc Lo-, Neumünster). 5(2 Seiten. Ler 8°. Leinen
RM. (6.-.
» O »
China — wie ich es erlebte. Geschautes und Lrfragtes auf einer
Besuchsreise durch Chinas Missionsfclder von Rurt Zimmermann.
Mit (OH Abbildungen nach Griainal-Aufnahmen des
Verfassers. (Bundes-Verlag, Witten (Ruhr)). Preis in Ganzleinen
RM. 2.85.
von einer Besuchsreise also berichtet dieses Buch. Iedenfalls
sind diese Besuche keine bloßen Besichtigungen geblieben. Das
stellt man beim Lesen des schönen Bandes immer wieder fest. Hier
reiste das eigne Herz mit und ermöglichte manches Erlebnis, manches
Empfinden, das dem nüchtern betrachtenden verstand gewiß
verborgen geblieben wäre. Auch unser Herz reist und empfindet
mit. viel Not in den christlichen Gemeinden Chinas, und nicht nur
äußerer Art, aber auch viel Freude dürfen wir miterleben und ihre
Ursachen verstehen lernen. — Ja, christliche Gemeinde in China,
das ist etwas, was wir mit unserem europäisch-deutschen Verständnis
nur schwer begreifen können. Hier erfahren wir etwas davon!
Und wir lernen Land und Leute kennen. Mitten hinein in ein
riesiges, gärendes Land stellt uns der Verfasser. Wir hören vom
Kommunismus und voni langsamen Vormarsch des Nationalismus.
Eifrig wird am Aufbau des gewaltigen Reiches geplant und gearbeitet.
Selbst „Reichsautobahnen" entstehen dort.
Und alles, was wir so an Neuem erfahren, dürfen wir zu einem
guten Teil auch sehen. Denn dem Buche sind sehr viele
schöne Aufnahmen beigegeben. So vermittelt es durch Wort
undBild einen bleibenden Eindruck von China und dem Werke
Gottes in diesem Reiche der Mitte.
Br.
„Seine erste Liebe"
Als Stanley im Jahre 1.871. mit Livingstone, dem
Missionar und Afrikaforscher, zusammentraf, gab er sich
alle Mühe, den unermüdlichen Mann zur Rückkehr nach
England zu bewegen. Livingstone war aufs äußerste erschöpft.
Schon ein kurzer Marsch ermüdete ihn sehr, und
beständige Fieberanfälle verzehrten seine Kräfte. Stanley
erinnerte ihn daran, daß das Alter sich bei ihm geltend zu
machen beginne, und daß seine Kinder in der Heimat auf
ihn warteten. Zu der leiblichen Schwäche gesellten sich gerade
in jener Zeit äußere Schwierigkeiten. Livingstone fand
nicht genügend Leute, um seine Forschungen mit wirklicher
Aussicht auf Erfolg fortsetzen zu können. Trotzdem
wollte er von einer Heimreise nichts hören. Er nahm keine
Rücksicht auf sein Leben, als teuer für ihn selbst. „Nein,
nein", sagte er, „von der Königin, wie Sie sagen, geadelt
zu werden, von Tausenden von Bewunderern willkommen
geheißen und umjubelt zu werden — gewiß, aber
es ist unmöglich. Es kann nicht, es darf nicht, und es wird
nicht sein. Ich muß meine Aufgabe zu Ende führen."
Bekanntlich ist Livingstone im Herzen Afrikas gestorben.
Die Liebe, die ihn einst trieb, das Leben in der sicheren
Heimat mit einem Leben voll Mühen und Entbehrungen
in einem unerforschten, götzendienerischen Erdteil zu
vertauschen, die ließ ihn auch seiner Aufgabe treu sein bis
in den Tod.
85. Jahrg. 7/8
162
Auf der Reise nach Jerusalem, wohin ihn die Liebe zu
seinem Volk trieb, das für Paulus, den Apostel der Heidenvölker,
mit wenigen Ausnahmen nur Haß und Verfolgung
hatte, machte der Apostel halt in Milet, um sich hier von
den Ältesten von Ephesus zu verabschieden. Das 20. Kapitel
der Apostelgeschichte berichtet von diesem Abschied. Es
berichtet auch die Rede, die Paulus bei der Gelegenheit
hielt. Drei Jahre hatte er unter den Ephesern gelebt, und
in dieser ganzen Zeit hatte er nicht aufgehört, Nacht und
Tag einen jeden von ihnen mit Tränen zu ermahnen. Drei
Jahre hatte er in ihrer Mitte dem Herrn gedient mit aller
Demut und mit Tränen und hatte nicht nachgelassen, ihnen
zu verkündigen und sie zu lehren, was es an Nützlichem
zu lernen gab. Seine Liebe zu ihnen war allezeit die gleiche
geblieben. Er wußte, er würde sie nicht Wiedersehen. Er sah
auch in die Zukunft. Böse Lehrer würden von außen kommen,
die Herde zu zerstören, und sektiererische Menschen
würden aus ihrer eigenen Mitte aufstehen, denen nicht
das Wohl des Ganzen Lebensziel war, sondern die sich selbst
in den Mittelpunkt stellten — Menschen also, die nehmen,
aber nicht geben würden, deren Wirken nicht der
Liebe entsprang, sondern selbstischen Wünschen.
Das Sendschreiben an die Gemeinde in Ephesus
scheint mir allerhöchster Beachtung wert zu sein. Viel, sehr
viel hatte der beurteilende Herr bei diesen Gläubigen zu
loben; nur eins gab es zu tadeln, aber dieses eine war so
ernst, daß ihr Leuchter weggerückt werden sollte von seiner
Stelle, wenn sie nicht Buße taten. Was war das eine?
„Ich habe wider dich, daß du deine erste Liebe verlassen
hast!" Dieser Tadel wird unterstrichen durch die Hinzu
— 163 —
fügung: „Gedenke nun, wovon du gefallen bist", oder
auch: „von wo du herabgefallen bist"
Gefallen, herabgefallen? Und das wird Leuten gesagt,
deren Werke, Arbeit und Ausharren gerühmt werden, die
den Kampf gegen die Bösen mit Entschlossenheit durchgeführt
hatten, die selbst einsichtig genug gewesen waren, um
Menschen, die sich Apostel Jesu Christi nannten und sicher
schöne Worte zu reden verstanden, als Wölfe in Schafskleidern
zu entlarven, ja, die um des Namens Christi willen
Schweres ertragen hatten und nicht müde geworden
waren?
Liest man das Sendschreiben an Ephesus, so möchte
man wohl an 1. Kor. 1Z denken. Wir alle kennen 1.. Kor.
13. Manches Mal haben wir andächtig gelauscht, wenn
dieses Kapitel in seiner erhabenen Schönheit vorgelesen
wurde:
„Könnt' ich in Sprachen der Menschen und Engel reden,
„Aber mir fehlte die Liebe,
„So wäre ich ein tönend Erz oder eine klingende Schelle.
„Hätte ich Weissagung
„Und wüßte alle Geheimnisse und besäße alle Erkenntnis,
„Ja, wäre mein Glaube so stark,
„Daß ich Berge versetzen könnte,
„Aber mir fehlte die Liebe,
„So wäre ich nichts.
„Wenn ich alle meine Habe den Armen schenkte
„Und gäbe meinen Leib dem Feuertode preis,
„Aber mir fehlte dieLiebe:
„Es nützte mir nichts." *)
*) Nach der Übersetzung von Albrecht.
— 1.64 —
Und wenn es dann weiter hieß: „Die Liebe ist langmütig,
ist gütig.... Die Liebe sucht nicht das Ihrige, sie
läßt sich nicht erbittern, sie rechnet Böses nicht zu" ja,
dann sprachen wir wohl unser Amen zu diesen Worten des
Apostels: „Ist doch ein herrliches Kapitel!" Ja, das Ka­
pitel ist schön. Aber ist es nicht zugleich von erschütterndem
Ernst? Spricht es nicht das Todesurteil aus über so Vieles
in unserem Tun? Und hätte nicht gar manches Mal, wenn
wir ergriffen da saßen und die hehren Worte hörten und
das, was vielleicht darüber gesagt wurde, der, welcher Herzen
und Nieren prüft, Ursache gehabt, uns zuzurufen:
„Wenn ihr doch daran gedächtet, wovon ihr gefallen
seid!"?
Die Gläubigen in Ephesus hatten viel Gutes aufzuweisen,
wahrscheinlich viel mehr, als wir in unserem Leben
aufzuweisen haben. Sie mögen auch wohl gedacht haben,
daß alles bei ihnen in Ordnung war, so fleißig, standhaft
und geduldig waren sie gewesen. Und nun: „Ich habe wider
dich!" „Gedenke, wovon du gefallen bist!" und dann
weiter: „Wenn aber nicht, so komme ich dir und werde
deinen Leuchter wegrücken aus seiner Stelle, wenn du nicht
Buße tust!" Ach, ihr Leuchter ist weggerückt worden. Ihrer
Stellung, die sie als Lichtträger in der Welt vor Gott
hatten, ist ein Ende gemacht worden. Sie haben nicht Buße
getan.
Was war denn „ihre erste Liebe" gewesen, und wie
war es zur Abnahme derselben gekommen?
Ich denke, daß wir die Antwort auf die erste Frage
in dem Verhalten des Apostels Paulus selbst finden,
so wie er es in seiner Rede in Apstgsch. 20 schildert. Denn
aus welch anderem Grunde sollte er sonst immer wieder
— rss —
auf dieses sein Verhalten hingewiesen haben? Seine Grundstellung
war, wie ein bekannter Schriftausleger sich ausdrückt,
„warme, zarte Liebe und herzliches Wohlwollen,
das nicht Werke schafft, nicht Erfolge hervorbringt, nicht
Gesetze durchsetzt und Wahrheiten verteidigt, sondern den
Menschen gilt, auf ihr Wohl und Wehe achtet, alle inwendig
miteinander verbindet und zu gegenseitigem Dienst vereint".
So ähnlich, denke ich mir, wird es unter der Aufsicht
und angesichts des Beispiels des Apostels auch im Anfang
bei den Ephesern gewesen sein. Ganz allmählich,, ganz
unbemerkt aber war es anders geworden. Die Liebe, mit
der sie ihren Dienst begonnen hatten, war nicht geblieben.
Waren sie im Anfang frei gewesen von der Rücksicht auf
das eigene Wohl und nur darauf bedacht, den Willen ihres
Herm Jesus Christus ganz und ausschließlich zu erfüllen;
war es im Anfang ihr Begehren gewesen, einander zu helfen
und zu dienen, sowie alles, was sie hatten, zum Wohl
der Brüder zu verwenden, den Worten Jesu entsprechend:
„Geben ist seliger als Nehmen", so war es mit der Zeit
dahin gekommen, daß sie mehr an sich selbst dachten und
ihre ganze Kraft für ihre Erhaltung und Sicherheit verwandten.
Im Blick auf die Liebe, die Liebe Gottes, die
durch den Heiligen Geist auch in ihre Herzen ausgegossen
worden war, hatten sie bedenkliche Rückschritte gemacht,
und vielleicht war zu der Zeit, als Johannes die Offenbarung
schrieb, die Stunde nicht mehr fern, wo das Prophetenwort
des Apostels sich erfüllte: „Aus euch selbst werden
Männer aufstehen, die verkehrte Dinge reden, um die
Jünger abzuziehen hinter sich her". (Apstgsch. 20,
30.) Denn je mehr die Liebe schwindet, desto mehr öffnen
sich dem Feinde Tür und Tor. Statt der Ehre des Herm,
1.66 —
statt des Wohles Seiner Herde tritt das eigene Ich auf den
Plan, und der Weg für jede Sektiererei ist frei.
Kehren wir nochmals zu oben Gesagtem zurück! Warum
ist das Sendschreiben an Ephesus unserer höchsten Beachtung
wert? Weil es ein Warnungssignal ist
für alle Zeiten. In anderen Sendschreiben werden
böse Dinge genannt. Die eine Gemeinde hatte sich dieser
Sünde, die andere jener Unterlassung schuldig gemacht. Bei
Ephesus dagegen wird die Wurzel genannt, der letzten
Endes alles Böse entsprießt. Es war in jener Gemeinde
noch nicht eingerissen, aber es mußte kommen.
Das was Ephesus vorgehalten wird, und was dann
infolge Nichtbeachtung der Warnung eingetreten ist, hat sich
in der Kirchengeschichte immer wiederholt, bis in die neueste
Zeit hinein. Es ist eben nicht gut damit, daß dies getan und
jenes gelassen wird. Als einzelne und als Gesamtkörper-
schast mögen wir uns des einen und anderen rühmen können.
Aber was sind wir, was nützt es uns, wenn wir nicht
Liebe haben? „Das Gesetz hat nichts zur Vollendung gebracht."
(Hebr. 7,14.) Weil die Christen in Ephesus von
dem hohen Standpunkt ihrer ersten Liebe herabgefallen waren,
kam es dahin, daß Männer aus ihrer eigenen Mitte
aufstanden, die die Jünger abzogen hinter sich her. Damit
war das Sektierertum da. Weil in Korinth anstelle der
verbindenden Bruderliebe Neid und Streit herrschten, kam
es dahin, daß ein jeder von ihnen sagte: „Ich bin des Paulus,
ich aber des Apollos, ich aber des Kephaö, ich aber
Christi", sodaß der Apostel traurig fragen mußte: „Ist
der Christus zerteilt? Ist etwa Paulus für euch gekreuzigt
worden?" Verbindet die Liebe Christi nicht mehr die Her­
zen, tritt das Ich, die eigene Person an ihre Stelle, so
— rs7 —
müssen Unduldsamkeit, Herrschsucht, Überheblichkeit und
Hochmut die Folge sein. Steht einmal der Mensch auf dem
Plan, so hat der Teufel bald das Spiel gewonnen. Und
seine Absichten sind uns nicht unbekannt. Zu ihnen gehört
die Zerstörung der Gemeinde und damit die Verunehrung
Jesu Christi, des Hauptes Seines Leibes, des Herrn Seines
Hauses, welches ist „die Versammlung des lebendigen
Gottes". (1. Tim. 3, 75.)
Ich möchte hier nicht weiter eingehen auf all die
Spaltungen und Trennungen, die durch die fehlende Liebe
und damit die fehlende Duldsamkeit und Tragsamkeit der
Gläubigen entstanden sind und so die Lehre Christi fast zum
Gespött gemacht haben. Mir kommt es hier nur darauf an,
die Liebe hervorzuheben als Vorbedingung für die Erfüllung
des bekannten Anliegens des scheidenden Herrn:
„auf daß sie alle eins seien". Nur die Liebe verbindet. Ist
sie echt, so geht sie mit Treue und Gehorsam gegen die Gebote
des Herrn Hand in Hand. Sie ist unerläßlich, soll die
große Aufgabe erfüllt werden. Rechthaberei und sektiererisches
Wesen aber sind der Feind jeder Einheit.
Gott sei Dank, daß der Ruf nach der sichtbaren Darstellung
der Einheit der Kirche Christi heute durch viele
Kreise geht! Möge diesem Rufen eine gnädige Erhörung
beschieden sein! Daß es vorhanden ist, selbst da, wo man
es vielleicht zu allerletzt vermutete, davon ist auch der nachfolgende
Aufsatz ein Beweis, der mit freundlicher Erlaubnis
der Schriftleitung aus der in Stuttgart erscheinenden
christlichen Sonntagszeitung „Evangelischer Weg" abgedruckt
wird. Der Artikel ist für kirchliche Kreise geschrieben.
Er hat aber, scheint mir, allen Gläubigen etwas zu
sagen. — mb —
168
Um die Einheit der evangelischen Rieche
Oft schon ist es als Tatsache, wenn auch schmerzlich, festgestellt
worden, daß wir innerhalb unserer evangelischen Rirche alles andere
eher haben, denn wirkliche, brüderliche, biblische Einheit, viel
ist schon darüber gesprochen und geschrieben worden, von den meisten
heute noch zur Rirche sich Bekennenden wird auch die Notwendigkeit
wahrer Einheit betont, aber wo kann man es sehen,
daß die evangelische Rirche eins ist? Wo ist die Einheit, wie sie
die erste Lhristengemeinde hatte? Haben wir sie verloren, und was
war dann die Ursache dazu? Rann diese Einheit nur das glaubende
Auge erblicken? Christenheit, evangelische Rirche, Bischöfe, Pfarrer
und Gemeinde, was habt ihr aus dieser Einheit gemacht? Wie
konnte es soweit kommen, daß wir eine aufgespaltene, zertrennte
und nur äußerlich einigermaßen geeinte Rirche evangelischen Bekenntnisses
haben?
Wehe uns, wenn wir uns mit der Tatsache der unsichtbaren
Einheit abfinden! Wehe uns, wenn wir dieses Nicht-Linssein gar
biblisch begründen wollen! Wehe uns, wenn wir nicht mit dem
ganzen Ernst und ungeteilten Willen der Zertrennung auf den Leib
rücken! Wir haben dann kein Recht, uns noch Nachfolger Christi
zu nennen!
Steht nicht als höchster Wunsch und Befehl unerschütterlich
und für alle Menschen gültig das Herrenwort unseres Rönigs und
Herrn: „... ich habe ihnen gegeben die Herrlichkeit, die du mir gegeben
hast, daß sie eins seien (nicht erst werden), gleichwie wir
eins sind, ich in ihnen und du in mir, auf daß sie vollkommen seien
in eins und die Welt erkenne, daß du mich gesandt hast und liebest
sie, gleichwie du mich liebst ..."? (Joh. (7, 22. 23.)
Daß uns diese gottgewollte Einheit nicht von selbst in den
Schoß fällt, erhellt schon daraus, daß der Herr Christus für diese
Einheit betet. Wäre wahre und echte Einheit nicht ungeheuer von
innen und außen bedroht, Desus brauchte wahrlich nicht darum zu
beten. Allein der Herr betet nicht nur; Er zeigt zugleich auch die
Waffe, mit der die Einheit errungen und erhalten wird: „... daß
die Liebe, damit du mich liebst, sei in ihnen und ich in ihnen ..
(>h. s7, 26.)
— rbd —
Liier zeigt uns Jesus den gefährlichsten Feind aller echten Einheit.
Wir können mit wenigen Ausnahmen nicht wie der Apostel
sagen: „die Liebe Lhristi dringet uns also".
Vir stellen das gesprochene, gedruckte, erkenntnisbedingte
Wort über alles andere. Wir sprechen schnell und leichthin anderen
den Glauben und die rechte Erkenntnis des göttlichen Willens
ab. Uns genügt es weithin, wenn andere biblische Begriffe anders
deuten und fassen, sie also mit unserer Erkenntnis und Auffassung
nicht übereinstimmen, diese mit einer erschreckenden Schnelligkeit
als irrig und falsch zu bezeichnen.
Natürlich ist Gottes Wort höchster und letzter Maßstab. Wohl
hat sich alles, groß und klein, jung und alt, auch jedes Volk, an
diesem Wort zu entscheiden und zu scheiden; aber dieses göttliche
Wort ist ja niemand anders als ^Zesus, der Heiland und Erlöser.
Und das Wesen dieses Wortes ist zu allen Zeiten das gleiche, nämlich
die Liebe.
Wehe uns, wenn wir das uns aufgetragene Wort anders
verkünden, als es uns die Bibel offenbart! Gott nimmt die Sünde,
das Unrecht, die Übertretung so ernst, daß Lr nichts, gar nichts
übersieht und darausgehen läßt, aber Lr hat die Sünde der Welt
in Jesus Lhristus gerichtet und gestraft und eben darin Seine Gerechtigkeit,
als auch Seine abgrundtiefe Liebe geoffenbart.
Haben wir vergessen, daß Jesus gegen niemand härtere und
schärfere Worte gebraucht hat als gegen die Schriftgelehrten und
Pharisäer, also doch gegen die, die Gottes Wort kannten und
verkündeten? Allein sie behaupteten auch, sie nur hätten den
Schlüssel zur Auslegung, und sie waren so felsenfest von der Richtigkeit
ihrer Schau überzeugt, daß sie wähnten, im Auftrage Gottes
zu handeln und für die Ehre Gottes zu kämpfen, wenn sie jenen
Gotteslästerer Jesus aus Nazareth vernichteten und Seinen Mund
zum verstummen brachten ...
Ist es uns nicht mehr bewußt, daß Gottes Sohn deshalb
auf dieser Erde und unter der Menschheit Sein Zelt aufgeschlagen
hat, weil sie verirrt, verschmachtet, verblendet und führerlos war?
Wie könnten wir sonst der Liebe vergessen, die uns für unsere
Feinde beten heißt, weil sie nimmer den Untergang der Menschen,
vielmehr ihr Heil und ihre Rettung will?
— 170 —
Iir der Wahrheit ist Liebe und Liebe in der Wahrheit, darum
wird uns auch die Wahrheit, die Jesus Lhristus verkörpert, frei
machen! ' ! l , ,
Wo aber sind heute in unserer Kirche dis Menschen, Gemeindeglieder,
Pfarrer und Bischöfe, denen man die Wahrheit
auch über sie selbst sagen kann und darf? Weithin sind wir unserer
Sache so sicher, daß wir uns von niemand mehr etwas sagen lassen,
wie wir denn meinen, uns nichts mehr sagen lassen zu müssen.
Selten nur nehmen wir uns die Mühe, den anderen ernstlich anzuhören.
vielfach genügt uns schon die Andeutung, der gehört nicht
zu deiner kirchlichen Gruppe, um für uns restlos erledigt zu sein,
persönliche vor- und Anwürfe gehen uns so sehr auf die Nerven,
daß sie alles andere übertönen; und dis berechtigten Anliegen und
das Sprechen Gottes durch den Mund des anderen gehen ganz und
gar unter. Gar zu oft verteidigen wir unsere eigene Ehre und vermeinen,
die Ehre der Kirche oder gar Gottes zu verteidigen.
Auch die Pharisäer haben leidenschaftlich, selbst mit der Hingabe
ihres Lebens, die Ehre und das Heiligtum Gottes verteidigt,
aber sie waren dennoch Pharisäer, weil sie predigten und selbst
verwerflich waren. Solange wir, die wir uns zur evangelischen
Kirche bekennen, Lhristus in Seiner Ganzheit nicht ernst nehmen
und Ihn also den Herrn sein lassen und uns ausnahmslos vor
Ihm uns alle beugen, also Buße tun (Buße tun, nicht nur davon
reden und es von anderen verlangen), werden wir nimmer zur
wirklichen Einheit in unserer Kirche kommen, und dann mag über-
kurz oder lang die Stunde schlagen, in der Gott der Herr sagt:
„Jetzt ist's genug, nun werde ich meinen Geist von euch nehmen
und Ihn einem Volk geben, das mir recht und rückhaltlos gehorsam
ist".
Es ist nicht wahr, daß es keine sichtbare Einheit in der Kirche
gibt! Sonst wäre es auch nicht wahr, daß Jesus Lhristus stärker
denn alles andere und Sein Geist allmächtig ist!
Einheit heißt nicht Gleichheit im Sinne von Typisierung uns
Schablonisierung. Paulus, Petrus, Johannes und Jakobus, was
waren das doch für ungeheuer verschiedene Menschen, Temperamente
und Originale! Sie haben sich, wo es not tat, unmißverständlich
klar und deutlich, allein brüderlich und aus der Liebe her
— 1.71 —
aus, die Wahrheit gesagt. Gegenseitig bekämpft aber haben sie
sich nicht. Auch hat keiner dem anderen das Recht des Predigt-
und Apostelamtes abgesprochen, wiewohl Petrus zum Führer der
Gemeinde bestimmt ward, wenn Jesus tatsächlich der
Herr der Äirche ist, dann ist die Einheit trotz der
Mannigfaltigkeit und Verschiedenartigkeit, die ja
beide schöpfungsgemäß sind, d a, denn dann herrscht und beherrscht
Lr uns alle mit Seinem Geist, und dieser Geist ist ein Geist
der Einheit und des Friedens. Die Ausdrucksform
des Heiligen Gei st es ist immer Liebe.
Wo Christus der Herr ist, da sorgt Er auch für die Seinen,
und dann braucht weder der einzelne noch die Gemeinde irgendwie
Anleihen beim verstand noch beim Geldbeutel aufnehmen. Lr sorgt
für das äußere und innere Wohl und gibt, was nottut, bis hin
zur Steuer, die wir dem Staat schulden (siehe Zinsgroschen).
Wer mit Christus eins geworden ist, der wird auch mit
denen eins, die bereits Eigentum Jesu sind. Anders werden wir
in unserer Airche auch nicht zur Einheit kommen, es sei denn, wir
tun Buße, wir lassen LhristuS den Herrn sein und nehmen Sein
Gebot und Seinen willen heilig ernst: „Das gebiete ich euch:
... daß ihr euch untereinander liebet...."
L. Neth, Nürtingen.
Kostbarer Glaube
Woher diese nur ein einziges Mal sich findende Charakterisierung
des Glaubens durch Petrus im Eingang
seines zweiten Briefes? Sie stammt aus der Grundhaltung
seiner Seele Dem gegenüber, den er einst durch eine
Offenbarung als den „Christus, den Sohn des lebendigen
Gottes", hatte bekennen dürfen. Diese Grundhaltung erhielt
ihre volle Festigung durch den auf die versammeltm Jünger
am Pfingsttage herabkommenden Heiligen Geist, und was
die Grundhaltung war, geht klar aus den Worten hervor,
die der Apostel bei dieser Gelegenheit in die zusammenge
172
strömte Menge hineinrief: „Jesus, den Nazaräer ... hat
Gott sowohl zum Herrn als auch zum Christus gemacht".
Das heißt nicht mehr und nicht weniger als: Dieser Jesus,
den ihr gekannt und gekreuzigt habt, ist Der, den ihr aus
den Schriften als „Herr" und „Jehova" kennt. Dieser
Jesus ist jetzt als Mensch auf Gottes Thron im Himmel
erhoben. Er ist euer Messias, der alle den Vätern gegebenen
Verheißungen erfüllen wird. Er braucht nur wiederzukommen.
Dann wird das geschehen.
Hinsichtlich der Verheißungen war der Gesichtskreis
der Jünger genau so wie der des Volkes auf irdische Dinge
beschränkt gewesen. Er war es bei den Jüngern sogar noch
nach der Auferstehung des Herrn. Das beweist ihre Frage:
„Herr, stellst Du in dieser Zeit dem Israel das Reich wieder
her?" (Apstgsch. 1, 6.) Aber nachher weitete sich ihr
Blickfeld. Wie sehr es bei Petrus der Fall war, zeigen
seine Briefe. Weite des Blicks und umfassendes Verständnis
kennzeichnen sie. Freilich, nicht mit einem Schlage war
Petrus so weit gekommen. Das tun die Begebenheiten in
der Geschichte des Hauptmanns Cornelius kund. Eins aber
ist vom Tage der Pfingsten an bei ihm wahrzunehmen:
Eine völlige Umwälzung in bezug auf den Glaubensstandpunkt
seines Volkes hat stattgefunden. War es bis dahin
richtig gewesen, daß das Volk im Glauben nach dem kommenden
Messias aus schaute, so wurde fortan für alle, die
die Botschaft annahmen, daß Jesus auferweckt und der verheißene
Messias sei, der Glaube ein rückwärts- und
aufwärts schauender. Vom Irdischen weg wandte er
sich zum Throne Gottes hinauf und erwartete von dorther
den Messias.
* * *
— 173 —
Ist der Ausdruck schon aufgefallen, den Petrus in
Apstgsch. 3,16 in seiner auf die Heilung des Lahmen folgenden
Rede gebraucht: „der Glaube, der durch Ihn
ist"? Der Apostel meint damit natürlich keine besondere
Art Glauben, sondern eben den Glauben, der Jesus als
den zur Rechten Gottes erhöhten Messias zum Gegenstand
hat, im Gegensatz zu dem Glauben, der wohl einen
Messias erwartet, aber nicht annimmt, daß Jesus, der Nazaräer,
dieser Messias i st. Daher von da an die Zweiteilung
des Volkes in Bekenner und Nichtbekenner Jesu, und
in Verbindung damit die Gleichstellung der Bekenner Jesu
mit sich und den anderen Aposteln in dem Ausdruck: ,chie
einen gleich kostbaren Glauben mit uns empfangen haben"
Das mit „empfangen" übersetzte Wort hat eigentlich den
Unterton: zugeteilt bekommen, durchs Los erhalten; etwa
so, wie Israel seinerzeit .das Land Kanaan durchs Los zugeteilt
bekam. Diese Erwähnung ist nicht nebensächlich,
weil Petrus in den ersten Versen seines ersten Briefes, augenscheinlich
im Gegensatz zum irdischen Erbteil des Volkes,
das unverwesliche, unbefleckte und un-
verwelkliche Erbteil indenHimmeln hervorhebt.
Dieses Erbteil steht in Verbindung mit der Tatsache, daß
der Messias dort ist: „welchen der Himmel aufnehmen
muß bis ..." (Apstgsch. 3, 21.) So wird für Petrus alles
kostbar, was in diesen Zusammenhang gehört: der lebendige
Stein und das Blut Christi (1. Petr. 2, 4; 1, Id),
der Glaube, der durch Ihn ist, sowie die Verheißungen,
durch die oder in Verbindung mit denen wir Teilhaber göttlicher
Natur werden. (2. Petr. 1, 1; 1, 4.) Empfinden
wir nicht mit dem Apostel, daß diese Dinge wahrhaft kostbar
sind?
— r?4 —
Der kostbare Glaube ist nach den Worten des Apostels
zugeteilt worden durch die Gerechtigkeit „unseres Gottes
und Heilandes Jesus Christus". Übersehen wir nicht:
Er läßt „unseren Gott" und „unseren Heiland Jesus Christus"
in eins zusammenfließen, so wie er in seiner Predigt
am Pfingsttage den Christus zugleich als Den hinstellte,
der im Alten Testament „der Herr" heißt. Gott hatte verheißen,
daß das, was jetzt eingetreten war, geschehen
würde, nämlich daß der Messias kommen, leiden, sterben,
auferstehen und sich zur Rechten „des Herrn" setzen würde.
In Seiner Gerechtigkeit, in unwandelbarer Treue zum gegebenen
Wort, hatte Er die Verheißung erfüllt, so wie Er
je und je auch Seine Gerichtsandrohungen wahr gemacht
hatte. Freilich, „die Zeiten der Erquickung vom Angesicht
des Herrn" aus Apstgsch. 3, ry lagen noch in der Zukunft,
weil das Volk Den, den Gott ihm als Messias gesandt,
verworfen hatte. So war vorderhand an Stelle des
sichtbaren Messias der Glaube an Ihn getreten. Dieser
Glaube war zugeteilt worden. Steht die Person des Messias
hoch im Wert, dann auch der Glaube, der Ihn und die
Segnungen, die in Ihm beschlossen liegen, ersetzt. Er ist
ein kostbarer Glaube. Er steht im Einklang mit den Worten
des von den Jüngern scheidenden Herrn: „Ihr glaubet
an Gott, glaubet auch an mich", d. i. habt mich, den von
nun an Unsichtbaren, so, wie ihr den unsichtbaren Gott
habt.
Von diesem zugeteilten kostbaren Glauben *) redet der
Apostel noch weiter. Er wird persönlicher Besitz derer, die
ihn empfangen haben, und heißt so „e uer Glaube". Ein
*) In Phil, i, 29 spricht Paulus von einem „aus Gunst geschenkten"
Glauben.
r?5
Besitz kann gut oder schlecht verwaltet werden; er kann größere
oder kleinere Werte in sich bergen oder auch Energien,
die reichen oder auch mageren Ertrag bringen. So betrachtet
Petrus den zugeteilten Glauben.
Durch oder in Verbindung mit Gottes Herrlichkeit,
zu der Petrus sowohl sich selbst als auch die Empfänger
seiner Briefe berufen weiß (vergl. t. Petr. 5, ro), sowie
mit der Tugend, d. i. der wirkenden Energie des empfangenen
Glaubens, hat uns unser Gott und Heiland Jesus
Christus größte und kostbare Verheißungen geschenkt. Können
wir aus den Schriften wissen, was diese Verheißungen
sind? Ja, wir können es. Da ist das Kommen des Messias
und des Heiligen Geistes. Da ist das Leben und das Verhältnis
zu Gott als Kinder. Da ist die Gerechtigkeit und
das Heil, die Herrlichkeit und neue Himmel und eine neue
Erde. Durch den Glauben an den in den Himmel gegangenen
Christus haben diese Verheißungen einen höheren
und kostbareren Charakter angenommen, als wenn sie in
Verbindung mit einem auf der Erde weilenden Messias gegeben
wären. Diese Verheißungen sind auch zu einem erhabenen
Zweck gegeben, nämlich dem, die Glaubenden zu
Teilhabern göttlicher Natur zu machen. Das heißt mit
anderen Worten: das ganze Sein, Denken und Empfinden
soll ständig weiter und weiter umgebildet werden, der Übereinstimmung
mit Gottes Charakter immer näher kommend.
Der Anfang ist bereits gemacht: Ihr seid dem Verderben
entflohen, das in der Welt ist durch die Lust. Und nun
kommt es darauf an, daß dieser empfangene Glaube,,
„euer Glaube", eine Kraftstation werde: Eine Kraft soll
sich zur anderen fügen. Es gilt, Förderer der in dieser
Kraftstation schlummernden Kräfte zu werden.
176
So lautet seine Ermahnung: Wendet nun allen Eifer
an und bietet in eurem Glauben die Tugend dar, d. h. wendet
die Energie an, die euer Glaube nur aufzubringen vermag!
Schaltet die elektrische Kraft ein, daß der Motor anspringe,
und haltet ihn im Gang.
Doch dabei vergeßt nicht: Ein Nichtüberwachen der
Wirkungen der nun tätigen Energie könnte eine Katastrophe
herbeiführen. Übersicht über alles, Einblick in alles darf
nicht fehlen. Mit anderen Worten: Alles, was auf die Tatsache
Bezug hat, daß der Christus im Himmel ist und diejenigen,
die den Glauben an Ihn empfangen haben, auf
der Erde, lediglich im Besitz der Verheißungen, alles
das muß immer besser ins Auge gefaßt, immer klarer erkannt
werden, damit allen etwa eintretenden Zufälligkeiten
zweckentsprechend begegnet werden kann.
Um im Überwachen stets die nötige Spannkraft der
Nerven zu haben, ist Enthaltsamkeit von allen Reizmitteln
nötig. Das will sagen: Alles, was die fortschreitende Einsicht
in die erhabene, oben gekennzeichnete Stellung des
Glaubenden schmälern könnte, muß unnachsichtlich beiseite
gelassen werden.
In dieser Enthaltsamkeit darf es kein Nachlassen geben,
wenn in der Kraftstation einem Aussetzer: des Motors
oder der Stromlieferung dauernd vorgebeugt werden soll.
Die Erklärung ist einfach: Im Beiseitelassen von alledem,
was irgend die Erkenntnis, wie oben erläutert, hemmt oder
stört, darf keine Unterbrechung eintreten.
Befindet sich der Betreuer der Kraftstation in solcher
Verfassung, so soll und wird auch zutage treten, daß er,
wie man zu sagen pflegt, mit Leib und Seele bei der Sache
ist. Der Empfänger und Besitzer des kostbaren Glaubens
177
wird durch die vier vorangehenden Übungen ein Mensch, der
es sich angelegen sein läßt, Dem, der ihm den Glauben
zugeteilt hat, mit Leib, Seele und Geist wohlgefällig zu
sein. Das ist der Sinn des Wortes „gottselig".
Der seinem Dienst dergestalt hingegebene Betreuer der
Kraftstation läßt seine Sorge aber auch denen zukommen,
die, wie er selber) eine solche Station zu betreuen haben.
Ihr Wohlergehen ist ihm wichtig. So reicht denn, ihr Empfänger
des Glaubens, mahnt der Schreiber, auch die Liebe
zu den Brüdern dar! Gesellt zu dem Hingegebensein an
den Darreicher eures kostbaren Glaubens ein Hand-in-
Hand-Gehen mit euren Brüdern!
Als siebente und letzte Mahnung wird dem Stationsbetreuer
nahe gelegt, alles, was überhaupt in sein Fach
schlägt, mit liebevollem, sorgendem Blick zu umfassen.
So soll der, der den kostbaren Glauben besitzt, als Mittelpunkt,
um den alles übrige sich bewegt, „die Liebe" darreichen.
Weshalb die Liebe als Letztes und Größtes? Weil
die Liebe aus Gott ist, und weil Gott Liebe ist. (1. Joh.
4, 7. 8.) Wer der göttlichen Natur teilhaftig geworden ist
und wird, der soll das, was aus Gott und was Gott ist,
darbieten.
Ach! Das Auge sieht weiter, als die Füße schreiten,
womit wehmütig zum Ausdruck gebracht sein soll:
Schriftwahrheiten erläutern, ist nicht allzu schwer.
Aber wie ist's mit dem Umsetzen des Erkannten in die
Tat? Da gibt es soviel Zurückbleiben! Da gibt es soviel Iu-
kurzkommen!
Mit einem wird jeder Gläubige einverstanden sein:
Ein Glaube, der als äußerer Rahmen solche Charaktereigenschaften
wie die oben aufgezählten zu umschließen
778
vermag, verdient in Wahrheit ein „kostbarer" genannt zu
werden. Er wirkt sich aus in zunehmender Erkenntnis des
einen großen Gegenstandes, durch den er überhaupt ist,
nämlich unseres Herrn Jesus Christus I „Wenn diese
Dinge bei euch sind und reichlich vorhanden, so stellen sie
euch nicht träge noch fruchtleer hin bezüglich der Erkenntnis
unseres Herrn Jesus Christus." (2. Petr. 7, 8.)
Der Gegenbeweis fehlt auch nicht: Der, bei dem diese
Dinge nicht sind, beweist, daß er vergeblich empfangen
hat, was ihm einst zuteil wurde. (Vers 4.)
Das Darbieten der geforderten Dinge im Rahmen des
kostbaren Glaubens hat die Verheißung, daß bei der Wiederkehr
des in den Himmel gegangenen Christus den Darreichern
ebenfalls etwas dargereicht wird, nämlich ein reichlicher
Eingang in das ewige Reich unseres Herrn und Heilandes
Jesus Christus. Unwillkürlich eilt hierbei der Gedankenflug
zum Einzug des Königs der Herrlichkeit hin,
dem die Tore ihre Häupter, und dem die ewigen Pforte»
sich erheben, damit Er reichlich Raum zum prunkvollen
Einzug habe. (Ps. 24.)
Das Darbieten der geforderten Charakterstücke ist
gar oft mit Mühen, Beschwerden und Überwinden von
Schwierigkeiten verbunden. Aber wer wollte davor zurückschrecken,
wenn die Bewährung des empfangenen kostbaren
Glaubens erfunden wird zu Lob und Herrlichkeit und Ehre
in der Offenbarung Jesu Christi? (7. Petr. 4,7.) — Nein!
wir wollen uns befleißigen, ohne Flecken und tadellos von
Ihm erfunden zu werden in Frieden, und wollen die Langmut
unseres Herrn für Errettung achten. (2. Petr. 3,
74. 45.) F. Lxp.
— 179 —
„Also laßt uns nun dem nachstreben,
was des Friedens ist, und dem,
was zur gegenseitigen Erbauung dient."
(Röm. 1.4,1,4.)
Wie gut wäre es, wenn des Apostels Wort als Mahn-
und Leitwort in jeder menschlichen Gemeinschaft — sei es
nun in Familie, Beruf oder Gemeinde — Geltung hätte!
In allen diesen Lebenskreisen soll sich der Gemeinschaftssinn
erweisen und erproben. Leider sucht man ihn vielfach
vergebens. Denn wie sehr der Mensch auch davon überzeugt
sein mag, daß er für sich allein nicht bestehen kann,
— es finden sich bei ihm nur selten rechter Sinn und richtige
Einstellung den anderen gegenüber. Das Streben geht
aufs Ich, auf den eigenen Nutzen, aufs Rechthabenwollen.
Wie oft gehen Freundschaft und Gemeinschaft über solch
eigennützigem Streben in die Brüche! Des Christen Ziel
muß aber sein: Erhaltung des Friedens und der Eintracht
und Förderung und Erbauung der Gemeinschaft. „Laßt
uns nun dem nachstreben!" Friede und Besserung kommen
nicht von selbst. Wo man sich gehen läßt oder nur an sich
denkt, fehlen sie. Wie leicht aber können sie meist erhalten
und gefördert werden durch ein lindes Wort oder durch ein
Tröpflein Liebe! „Friede ernährt, Unfriede verzehrt." Streben
zum Frieden und zur Besserung fördert die Gemeinschaft.
Aus „Stuttgarter Abreißkalender".
— 1.80 —
Mein Lied
Der Himmel Himmel können Dich nicht fassen,
vergeblich suchet Dich mein Blick im All.
Nicht kann Dich preisen lauter Worte Schwall,
Der gnädig Sich zu mir herabgelassen.
Wohl möcht' ich Dir mit tausend Zungen singen,
mit meinen Liedern Deinem Throne nahn ...
Für alles das, was Du an mir getan,
kann ich doch stammelnd nur den Dank Dir bringen.
Aann „Abba, Vater l" sagen voll vertrauen
in Jesu Namen und durch Deinen Geist,
und glaubend fass' ich, was Dein Wort verheißt:
Du lässest Deine Herrlichkeit mich schauen!
Bald werd' ich, niederwsrfend meine Arons,
die, unverdient, die Gnade mir verliehn,
das neue Lied in sel'gen Harmonien
mitsingen an des Lammes heil'gem Throne. W. A.
Sie Herzensrtchtung
Es gibt vielerlei Sünden, große und kleine. Es gibt
Sünden, die wir kaum als solche ansehen, harmlose Ausreden
z. B., bei denen man sich nichts denkt, und die doch
oft an der direkten Lüge nur so eben vorbeigehen. Es gibt
Sünden, die wir als sehr schwer ansehen: Diebstahl, Betrug,
Hurerei usw. Alle haben wir sie in eine gewisse Stufenleiter
eingeordnet, und je nach dem Grad, den sie dort einnehmen,
werden sie von uns bewertet und beurteilt. So ist
es bei uns Menschen. Gott beurteilt die Dinge anders. Da
war ein Mann, der am Sabbathtage Holz auflas — doch
wahrlich kein schlimmes Vergehen, das gegen Moral und
gute Sitte verstieß. Der wurde getötet. Aber David, der sich
— 181. —
des Ehebruchs und Mordes gleichzeitig schuldig machte, erhielt
Vergebung seiner Sünde. Das bei der sündigen Tat
ertappte Weib in Zoh. 8 wurde vom Herrn nicht verurteilt,
während Ananiaö und Sapphira, die einen großen Teil
ihres Besitzes den Aposteln gebracht und nur so „getan
hatten", als sei es das Ganze, beide sterben mußten. Ich
wiederhole: Gott urteilt anders als wir Menschen. Eins
steht fest: Jede Sünde, ob groß oder klein, ist Sünde vor
Ihm und bringt Gericht, aber auch — jede Sünde, die
wir bekennen und im Lichte Gottes richten, wird vergeben.
Welch eine furchtbare Sünde muß es gewesen sein,
die den barmherzigen Gott, der stets zum Vergeben bereit
ist, so furchtbar erbitterte, daß Er „in Seinem Zorn" den
Schuldigen das Gericht zuschwurl (Psalm 95, 11.) Was
war denn so Schreckliches geschehen zu Massa und Meriba?
Das Volk zog tagelang durch die sengende Hitze der Wüste.
Ihre Kinder, ihr Vieh und sie selbst litten grimmigen
Durst, und kein Wasser war da. Darüber murrten sie. Hätten
wir es vielleicht besser gemacht? Und das war der
Grund, haß Gott so zürnte?
Ein großes Erschrecken durchfährt uns unwillkürlich,
wenn wir diesen Schwur Gottes im Neuen Testament
(Hebr. 3,11) wiederfinden und eindringlich ermahnt werden,
daß nicht in einem von uns „ein böses Herz
deöUnglaubensseiin dem Abfallen vom lebendigen
Gott", wie es demnach in jenen war, die Gottes Zorn über
sich brachten. Aber die Sünde jener Leute war doch so gut
zu verstehen, ihr Murren so verzeihlich! Nach unserem
menschlichen Maßstabe ist ihre Schuld gering, und doch
— Gott „schwur inSeinemIorn"! Was denn hatte
Seinen Zorn so sehr erregt? „Deshalb" — weil ihre
182
Herzen im Unglauben verhärtet waren — „zürnte ich diesem
Geschlecht und sprach: Allezeit gehen sie irre mit dem
Herzen", oder: „irren sie mit ihrem Herzen ab". Das
war die Sünde jener, die Gott nicht verzieh, nicht
verzeihen, konnte, das Jrregehen der Herzen, die bewußte
Abwendung von Ihm. *) Die innere Haltung, Glaube genannt,
wenn sie sich Gott zuwendet, Unglaube, wenn von
Ihm weggewandt, ist für Gott das Entscheidende. Nach
ihr beurteilt Er alle Handlungen, wie auch den ganzen
Menschen. Dieser Glaube allein stellt die Verbindung mit
Gott her. Deshalb ist der gesetzlich fromme Mensch bei all
seinen guten Werken unendlich weit von Gott entfernt,
Sein Herz ist nicht auf Gott gerichtet, sondern auf das
eigene Ich, das im frommen Tun seine Befriedigung und
Anerkennung findet. Weil die Herzensstellung Davids die
rechte war, fand er, nachdem er so schwer gesündigt hatte,
volle Vergebung seiner Schuld. Er war trotzdem der Mann
nach dem Herzen Gottes. Saul aber wurde ungeachtet
seiner vielen guten Eigenschaften verworfen, da ihm der
Glaube fehlte.
Weil ihm der Glaube fehlte. Ohne Glauben ist es bekanntlich
„unmöglich, Gott wohlzugefallen". (Hebr. 11,
6.) Aber nun kommt die Frage: Sind Ihm alle wohlgefällig,
die da glauben? Wäre es der Fall, so brauchten diese
Zeilen nicht geschrieben zu werden. Wir haben keinen
Grund, anzunehmen, daß Anamas und Sapphira ungläubige
Leute waren, und doch wurden sie so schwer gestraft.
Weshalb? Weil ihre Herzensrichtung verkehrt war. Sie
waren unaufrichtig vor Gott und Menschen. Sie hatten den
s) vergl. 2. Mose s 7, 3b und s6, 3, wo sich die Murrenven
ganz offen mit ihrem Herzen nach Ägypten zurückwenden.
183
Heiligen Geist belogen. Es kommt immer wieder auf dasselbe
heraus. Die Stellung des Herzens zu Gott — das ist
das Wichtige. Und hier haben wir alle Tag für Tag aufs
neue zu prüfen und zu lernen. Es bedarf eines festen inneren
Entschlusses, jeden Tag neu, Gott allein in die Mitte
des Denkens, Wollens und Hoffens zu stellen. Der natürliche
Mensch kann sich nicht freimachen von Selbsthilfe,
Rechnen mit Besitz und eigenem Können, kurz mit alledem,
was vor Augen ist, um feinen ausschließlichen
Halt in Gott zu finden. Dazu muß ein Anderer in sein
Leben eintreten. Aber auch welcher Gläubige wäre frei von
den Regungen seiner Natur? Stets will das „Ich" an die
Stelle des „Du" treten. Es erscheint demütigend, zu erkennen:
Ich bin nichts, ich kann nichts, ich habe nichts.
Und doch ist es die Wahrheit, die erkannt werden muß,
wenn ein wirkliches Ruhen in Gott die Folge sein soll. Gott
sendet mitunter Stürme, um die morschen Aste der Selbst-
sicherheit zu zerbrechen, auf denen wir uns so wohl fühlen.
Aber erst wenn alles andere zusammengebrochen ist, verstehen
wir, was es heißt, in „ewigen Armen" zu ruhen.
Solche Stürme waren es, die Gott über Israel kommen
ließ. Doch sie hatten keinen Glauben. Sie konnten nicht
zusehen, wie alles unter ihnen zerbrach, und anstatt sich
vertrauensvoll in Seine Arme fallen zu lassen, strebten sie
von Ihm weg. „Allezeit gehen sie irre mit dem Herzen!"
Da kam der furchtbare Schwur.
„Sehet nun zu, Brüder ...I" Gott hat uns Menschen
einen freien Willen gegeben. Wir können das Wort
Gottes aufnehmen oder unsere Herzen verhärten. Wir können
uns Gott im Glauben zuwenden oder auch von Ihm
abfallen. „Wir aber sind in bezug auf euch, Geliebte, von
484
besseren und mit der Seligkeit verbundenen Dingen überzeugt,
wenn wir auch also reden." Wer wollte das Los
jener Männer teilen oder ihren Herzenszustand zu dem sei-
nigen machen? Doch wie können wir uns davor schützen?
Unsere Herzen sind doch um nichts besser. Nun, David
hat es verstanden, und der Schreiber des Hebräerbriefeö
weist den Weg dazu. „Ermuntert euch selbst jede
n T a g", schreibt er, „so lange es heute heißt, auf daß
niemand von euch verhärtet werde." Habt kein böses Herz
des Unglaubens! Vielmehr öffnet eure Herzen weit Gott
und Seiner Stimme! David hat diese Mahnung befolgt,
ohne sie zu kennen. Wie herrlich hat er sich und andere ermuntert!
„Kommet", ruft er im YS. Psalm, „lasset uns
Jehova zujubeln, lasset uns zujauchzen dem Felsen unseres
Heils!" Unter was für Verhältnissen dieser Psalm gedichtet
wurde, wissen wir nicht. Vielleicht ist er unter großen
Schwierigkeiten entstanden, vielleicht auch waren die Zeiten
ruhig. Nichts aber, weder Gutes noch Böses, vermochte
den Dichter, diesen Mann Gottes, in seiner Herzensrichtung
zu erschüttern. Wohl hat er, wie wir wissen, Fehltritte
getan, aber nicht ging sein Herz auf die Dauer irre.
Bewußt richtete er es immer wieder auf den einen Punkt:
Er wollte Gott lieben, er wollte Ihm dienen, er
wollte Ihm zujauchzen. Und er wollte darin nicht alleinstehen.
Mit hinreißenden Worten bittet er seine Zeitgenossen,
mit ihnen auch die Gläubigen späterer Jahrhunderte,
dich und mich: Lasset uns „zujubeln", „zujauchzen", „anbeten",
„niederknien vor Jehova, der uns gemacht hat!
Denn Er ist unser Gott, und wir sind das Volk Seiner
Weide und die Herde Seiner Hand." Wo dieser Entschluß,
diese Herzensrichtung zu finden sind, da ist Aufrichtigkeit,
— r85 —
Aufrichtigkeit vor Gott und Menschen; da ist der Glaube
mit Gehorsam verbunden; da ist ein Wandel mit Gott
wahrzunehmen, anstatt daß von einem Versinken oder gar
Abfallen vom lebendigen Gott zu reden wäre. Da ist die
Verbindung mit Gott lebendig. Sie wird gefühlt, und
Friede und Freude erfüllen die Seele. So „kommt, laßt
uns dem Herrn zujubeln I" — rb —
Bekennermut
Das beklagenswerte Ereignis von Lakehurst, das ganz
Deutschland in tiefe Trauer versetzt hat, weckt Erinnerungen
an den Mann, der in ungebrochenem Mut und Gottvertrauen
der Luftschiffahrt die Bahn brach.
Neun Jahre hatte der alte Graf Zeppelin gedacht und
probiert, gearbeitet, gerungen und gekämpft, und nun lag
das erste Zeppelinluftschiff in der Halle. Harte, schwere
Arbeitsjahre lagen hinter dem Grafen, neun Jahre, in
denen man ihn verlacht, verspottet, verhöhnt und gelästert
hatte, neun Jahre, in denen die Hohen und Niedrigen, die
Klugen und die Dummen von ihm nm als von einem
närrischen Grafen gesprochen hatten.
Die Kommission der Gelehrten hatte erklärt, daß sein
Luftschiff niemals zu gebrauchen sein würde. Das Kriegsministerium
hatte es abgelehnt, ihn geldlich zu unterstützen.
Der preußische Generalstab hatte allen Offizieren verboten,
sich überhaupt mit dem Werk des Mannes zu beschäftigen,
damit sie sich nicht lächerlich machten und damit die Ehre
des deutschen Offiziers verletzten.
Fast sein ganzes Vermögen hatte der Graf in seine
Arbeit hineingesteckt, und nun war endlich der Bau des
186
Luftschiffes vollendet. Heute sollte es zum erstenmal aufsteigen.
Aus allen Teilen des Reiches waren Menschen herbeigeströmt,
um den Aufstieg zu beobachten. Vertreter der
Regierung waren erschienen, um mit dabei zu sein. Die
Monteure untersuchten noch einmal bis ins einzelne Mo-
tore und Laufgewichte, Propeller und Steuer.
Der Graf beobachtete alles genau. Die Meldungen
kamen: „Alles in Ordnung!" Jetzt erwartete man den Befehl
zum Herausschleppen des Luftschiffs. Da nahm der
Graf seine weiße Luftschiffermütze ab. Seine Hände falteten
sich, und vernehmlich tönte seine Stimme durch die
Halle über die Menschen hinweg: „Wir wollen beten!"
Arbeiter und Meister, die Vertreter der Wissenschaft
und die Vertreter der Regierung konnten nicht anders, sie
mußten ihre Kopfbedeckungen abnehmen. Und dann betete
Graf Zeppelin:
„Unser Werk ist Stückwerk, und wir sind irrende
Menschen, Herr; aber wir haben nicht freventlich gehandelt,
sondern nach bestem Können und Glauben geschaffen.
Sei Du mit uns, Herr! Zn Deine Hände befehlen wir das
Schiff. Du kannst es bewahren; segne Du es in Deiner
Gnade und Barmherzigkeit!"
Einen Augenblick schwieg der Graf. Dann fuhr er
fort: „Doch nicht mein, sondern Dein Wille geschehe, Herr,
in Ewigkeit. Amen."
Er setzte die Mütze wieder auf. Klar klang sein Befehl:
„Lassen Sie das Schiff aus der Halle fahren!"
Wenige Minuten später hob sich Deutschlands erstes
Jeppelinluftschiff empor. Die Massen jubelten. Am nächsten
Tage berichteten die Zeitungen vom ersten Flug. Er
war geglückt. Zwar war der Kampf für den Grafen noch
t87
lange nicht zu Ende, aber es gab jetzt keine Sekunde mehr,
in der er die Hand vom Pfluge ließ.
Er hat sein Werk getan in Verantwortung vor Gott,
und Gott hat es gesegnet.
Und wenn heute neue große Jeppelin-Luftschiffe in
aller Welt künden von deutscher Schaffenskraft und deut­
schem Fleiß, dann soll das eine nicht vergessen werden:
Der, der dieses Werk schuf, und der es ermöglichte,
der schämte sich nicht, betend an das Werk heranzugehen.
Er nahm den Erfolg seiner Arbeit aus Gottes Hand, weil
er sich bewußt war: An Gottes Segen ist alles gelegen.
„Wahrheitszeuge"
„Meine schwache Seite"
Spurgeon erzählt:
Ein schlechter Mensch war bekehrt worden. Seine früheren
Genossen verachteten und verspotteten ihn als einen,
der zum Heuchler geworden sei. Er antwortete: „Wenn ihr
wissen wollt, ob ich ein Heuchler oder wirklich ein anderer
Mensch geworden bin, so geht und fragt meine Frau. Ihr
wißt, daß ich ein elender Vagabund war, und daß ich das
Wenige, das ich verdiente, für geistige Getränke auszugeben
pflegte. Ihr wißt, daß mein armes Weib um Mitternacht
um die Kneipen Herumschlich, um mich nach Hause zu
bringen, aber ihr wißt nicht so gut wie sie, wie ich geflucht,
und wie ich oft genug das arme Menschenkind geschlagen
habe, daß sie wie halbtot dalag. Meine Kinder flohen vor
mir wie vor einem Tiger und versteckten sich, wenn ich nach
Hause kam. Jetzt habe ich ein so glückliches Heim, wie nur
jemand in der Stadt es haben kann, und meine Kinder
freuen sich, wenn ich nach Hause komme. Ich habe einen
188
guten Lohn und verschwende ihn nicht mehr im Wirtshaus.
Geht und fragt meine Frau, wenn ihr wissen wollt, was
Gottes Gnade aus mir gemacht hat."
Weshalb setze ich diesen Bericht hierher? Weil er beweist,
wie ein von seinen Leidenschaften beherrschter, mit
Ketten der Sünde gebundener Mensch sovölligvon alledem
befreit werden kann, was als Frucht des Fleisches angesprochen
werden muß, daß jedermann, vor allem die
eigenen Hausgenossen, die Änderung sieht und Gott dafür
die Ehre gibt.
Diese Zeilen werden in erster Linie von solchen gelesen,
die eine Wiedergeburt an sich erfahren haben und sich bewußt
sind, eine „neue Schöpfung" geworden zu sein, Menschen,
von denen Gottes Wort bezeugt: „Das Alte ist vergangen,
siehe, alles ist neu geworden". (2. Kor.
5,17.)
Das Alte ist vergangen. Alles ist neu geworden.
Ein alltägliches Vorkommnis.
Ich stehe morgens beim Anziehen vor dem Spiegel.
Der Kragen ist etwas steif gestärkt. Es hält ein wenig
schwer, die Krawatte zu binden. Sie will dem Zug der
Hand nicht folgen. Das Blut steigt mir zu Kopf. Ein hartes
Wort entfährt den Lippen. Der Fuß stampft den Boden.
Die Krawatte will sich immer noch nicht binden lassen.
Ich schimpfe auf alles, auf Krawatte, Kragen und die, die
ihn gestärkt hat. „Aber, Männchen!" sagt leise tadelnd
meine Gattin. Das Ende ist Beschämung. „Verzeih! Ich
hätte mich nicht so aufregen sollen. Ist nun einmal meine
schwache Seite!"
Das Alte ist vergangen. Alles ist neu geworden.
r8d
Ein anderes Vorkommnis.
Iwei Schwestern, nicht leibliche, Schwestern in Christus,
sitzen beieinander. Die Hände sind fleißig bei der Arbeit.
Der Mund ist nicht minder tätig. Die Unterhaltung
dreht sich, nun, nicht gerade um die Person des Herrn,
aber doch um eine liebe Schwester, die beide gut kennen.
Ein Wort gibt das andere. Was die erste nicht weiß, weiß
die zweite. Unbemerkt ist die Mutter von einem der Mädchen
ins Jimmer getreten und hat einen Teil der Unterhaltung
mitangehört. „Aber, Kind, was erzählst du denn
da?" Die Tochter fährt auf, wird rot. „Za, ja", sagt sie
entschuldigend zur Freundin, „ich bin ein wenig zu weit
gegangen. Ist nun einmal eine Schwäche von mir."
Ähnliche Beispiele ließen sich zu Dutzenden aufzählen.
Wer hätte nicht irgend eine „schwache Seite" oder
eine „Schwäche" oder eine „Schwachheit"? Du kannst
es nennen, wie du willst. Es kommt alles auf das gleiche
heraus. Der eine ist empfindlich und leicht verletzt, der andere
neigt zu unwahrem Wesen. Der dritte hängt sich gern
ein schönes Mäntelchen um. Der vierte übertreibt und
kommt infolgedessen zu verkehrten Darstellungen. Der
fünfte fährt bei jeder Gelegenheit aus der Haut usw. usw.
— alles Dinge, die das Gegenteil sind von dem, was der
Apostel in Phil. 4 im 8. Verse aufzählt: „Wahr — würdig
— gerecht — rein — lieblich — wohllautend —, wenn
es irgend eine Tugend, und wenn es irgend ein Lob gibt".
Es ist eine merkwürdige Sache mit uns Christen. Wir,
die wir doch das Wort der Wahrheit gut kennen, sind oft
merkwürdig schlecht imstande, die Dinge recht zu sehen und
beim rechten Namen zu nennen. Was ist denn unsere
„schwache Seite" oder unsere „Schwäche"? Die Schrift
iso —
redet sowohl von Schwachen, als auch von Schwachheiten,
aber ich wüßte keine Stelle, an der damit das gemeint ist,
was wir so gern also benennen, nämlich die Äußerungen
der alten Natur, die Ausflüsse des Fleisches. Wenn der
Herr Jesus von Schwachen redet, denkt Er stets an
leiblich Schwache, während Paulus mit Schwachen Gläubige
meint, die sich nicht zu der herrlichen Freiheit des
Glaubenölebens zu erheben vermögen, sondern sich an allem
Möglichen stoßen. Und wenn von Schwach heil
in den Briefen die Rede ist, so ist damit durchweg das
gänzliche Unvermögen, die gänzliche Kraftlosigkeit der
menschlichen Natur gemeint. Dieser seiner Schwachheiten
wollte sich der Apostel sogar rühmen. Warum? „Auf daß
die Kraft des Christus über mir wohne." (2. Kor. 1.2,9;
vergl. auch Kap. 11, 30 und 12, 5.) Handelt es sich um
„Schwachheiten" oder ,-Schwächen" im Sinne unserer
Ausführungen, so denken, glaube ich, die meisten von uns
gern an die bekannte Stelle aus dem Hebräerbrief, in der
es von unserem großen Hohenpriester heißt, daß Er „Mitleid
zu haben vermag mit unseren Schwachheiten". Und
dann beruhigen wir uns mit Erwägungen wie: Ich bin
nun einmal so schwach. Aber wie gut. Er hat Mitleid da-
mitl Liebe Freunde, täuschen wir uns nicht! Mit dem,
was wir unsere „Schwachheit" nennen, hat der Herr kein
Mitleid. Durch solche „Schwachheit" wird Sein Herz be­
trübt und Seine Heiligkeit verletzt. Die Schwachheiten, von
denen in Hebr. 4,15 die Rede ist, sind Dinge — welcher
Art, ist eine Frage, auf die wir hier nicht näher eingehen
wollen — Schwierigkeiten, die dem Gläubigen auf dein
Wege begegnen, auf dem er Fleißanwendenmuß,
„in jene Ruhe einzugehen". (V. 11.) Auf diesem ihm vor
— rsr —
gezeichneten Wege empfindet er die der menschlichen Natur
anhaftenden Schwachheiten als Behinderung; da begegnet
er so mancherlei Widerständen des Lehms, Dingen,
durch die sein Herr selbst versucht worden ist, als Er auf
Erden weilte. In diesen Schwachheiten nun darf er sich des
Mitleids seines großen Hohenpriesters erfreuen, der bereit
ist, ihm in allen Nöten und Schwierigkeiten Barmherzigkeit
zu erzeigen und zur rechten Zeit zu helfen.
Das, was wir mit „Schwäche" oder „Schwachheit"
bezeichnen, ist aber etwas ganz anderes, und wir wollen
es hier mit dem rechten Wort benennen: Es ist Sünde!
Sünde? Jawohl, nichts anderes. Oder sind Verletztsein,
Schwätzerei, Heuchelei, Unwahrhastigkeit, Jörn usw.
etwa Kennzeichen oder Ausflüsse des neuen Lebens, der
neuen Natur? Sind es nicht vielmehr Ausflüsse des Fleisches,
der bösen alten Natur? Seien wir doch ehrlich gegen
uns selbstl Diese Dinge kommen alle aus dem Fleische,
und „was aus dem Fleische geboren ist, ist Fleisch", (Joh. 3,
6.) Ausdrücklich werden in Gal. 5, ty. 20 unter denWer -
ken des Fleisches neben den schrecklichsten Sünden
auch „Unreinigkeit, Hader, Eifersucht, Zorn, Jank und
Zwietracht" genannt, während als Frucht des Geist
e s „Liebe, Freude, Friede, Langmut, Freundlichkeit, Gütigkeit,
Treue, Sanftmut und Enthaltsamkeit" aufgezählt
werden. Hier gibt es nur ein Entweder — Oder: Werke
des Fleisches oder Frucht des Geistes. Ein Mittelweg wird
unsnicht gezeigt. Wie ernst die Dinge liegen, beweisen die
bekannten Worte des Herrn: „Wenn dein rechtes Auge dich
ärgert, so reiß es aus und wirf es von dir!" und: „Wenn
deine rechte Hand dich ärgert, so hau sie ab und wirf sie
von dir!"--------
442
Herr, gib uns allen Augensalbe, damit wir uns selbst
erkennen in Deinem untrüglichen Lichte! Gib uns Einsicht,
zu wissen, was es heißt, von der Sünde freigesprochen und
mit Dir gestorben zu sein! Gib uns Gnade und Kraft, unsere
Glieder, die auf der Erde sind, nicht nur zu töten,
sondern uns selbst Gott darzustellen und unsere Glieder zu
Werkzeugen der Gerechtigkeit!
„Er selbst aber, der Gott des Friedens, heilige euch
völlig; und euer ganzer Geist und Seele und Leib werde
tadellos bewahrt bei der Ankunft unseres Herrn Jesus
Christus! Treu ist, der euch ruft; der wird es auch tun."
(4. Thess. 5, 23. 24.) — mb —
werden alle Gläubigen ausgenommen,
wenn der Herr kommt?
Eine Frage, die viele Herzen in unseren Tagen beschäftigt,
lautet: „Werden alle Gläubigen ausgenommen,
wenn der Herr kommt, auch die, welche untreu und weltförmig
sind? Oder gilt die Verheißung nur solchen, die
wirklich auf ihren Herrn warten und nach Seiner Ankunft
ausschauen?"
Unsere Antwort besteht in der Gegenfrage: Was sagt
Gottes Wort? Stellt es je eine solche Frage, und gibt es
die Antwort darauf? Nein. Was sagt es denn? Es belehrt
uns unzweideutig, daß alle, die des Herrn sind,
Ihm entgegengerückt werden sollen, ob sie nun bereits in
Christus entschlafen sind oder übrigbleiben bis zu Seiner
Ankunft. Die einen werden auferweckt, die anderen verwandelt
werden. (Vergl. 4. Thess. 4, 44—47; 4. Kor. 45,
23.54—55.) Ob die Betreffenden alt oder jung im Glau
— 193 —
ben, Väter oder Kindlein in Christus, gefördert oder weniggefördert
sind, ist in bezug auf das Ereignis selbst ohne
Bedeutung.
Aber nun kommt die wichtige Frage: Was versteht die
Schrift unter solchen, die des Herrn sind? Was ist
ein Christ?
Ein Christ ist ein Mensch, der nicht von der Welt ist,
gleichwie sein Herr nicht von der Welt ist, der deshalb auch
nicht mit aller Art von Weltförmigkeit in Verbindung stehen
kann, sondern sich fern hält von ihren Befleckungen.
Wenn jemand nach dem Fleische lebt und wandelt, so hat
er, mag sein Bekenntnis lauten, wie es will, nach Gottes
Wort gar keine Verheißung, gar keine Hoffnung. Sein
Ende ist Tod und Verderben. (Vergl. Röm. 8,13; 1. Kor.
9, 27; Gal. 6, 7. 8; Kol. 1, 23 u. a. St.) „Zeder, der
nicht Gerechtigkeit tut, ist nicht aus Gott, und wer nicht
seinen Bruder liebt." (1. Joh. 3,10.)
Der Christ wird in der Schrift stets betrachtet als
ein Mensch, der auf seinen Herrn wartet (1. Thess. 1,10;
2,19), der Seine Erscheinung lieb hat (2. Tim. 4, 8), der
nach der glückseligen Hoffnung und Erscheinung der Herrlichkeit
Zesu Christi ausschaut (Tit. 2, 13; Hebr. 9, 28),
und der das Wort Seines Ausharrens bewahrt. (Offbg. 3,
10.) Der Geist und die Braut sagen: Komm! (Offbg.
22,17.)
Die „Braut" schließt jeden wahren Christen ein, keiner
wird fehlen; und der Geist bewirkt in allen den Ruf:
Komm!
So redet die Schrift, und so sollten wir reden. Wir
wissen, daß an jenem Tage viele törichte Jungfrauen, bloße
Bekenner, sich finden werden, die kein Ol in ihren Gefäßen,
194
kein Leben aus Gott haben. Darum, jeder, der diese Hoffnung
zu Ihm hat, reinige sich selbst, gleichwie Er rein
ist! (Dergl. "l. Joh. 3, 3.) Und: „Wenn jemand sich zurückzieht,
so wird meine Seele kein Wohlgefallen an ihm
haben". (Hebr. 10, 38.)
Kragen aus dem Leserkreise
Hat Paulus, wie vielfach zu lesen ist, drei Jahre lang in Arabien
gelebt (vergl. Gal. s, s?. (8); und war dieser Aufenthalt
dort ein Weilen in der Stille zur Vorbereitung auf seinen Dienst
und zur Vertiefung seines Glaubenslebens, wie ebenfalls gefolgert
wird?
Der erste Teil der Frage ist meines Erachtens zu verneinen.
Unaufmerksamkeit beim Lesen hat Anlaß gegeben, es zu sagen:
andere haben es, ohne zu prüfen, nachgesagt, und so taucht die
Behauptung in neuesten, guten Schriften Weiterfort auf. Der zweite
Teil ist eine Folgerung, die dem Irrtum im ersten Teil der Frage
entspringt.
„Als es aber Gott, ... wohlgefiel, ... (auf dem Wege nach
Damaskus und in den ersten Tagen meines Aufenthalts dort) Seinen
Sohn in mir zu offenbaren, ... ging ich fort nach Arabien
und kehrte wiederum nach Damaskus zurück." (Gal. s, (5—(?.)
Reine Spur von einem dreijährigen Aufenthalt. Apstgsch. ff,
l9—26 und 2. Ror. s s, 32. 33 geben weiteren Aufschluß. Nach
dem dreitägigen Blindsein war Saulus von Tarsus noch einige
Tage bei den Jüngern; dann fing der Feuergeist alsbald an, in
den Synagogen Jesus als den Sohn Gottes zu verkündigen, viele
Tage lang, bis die Feindschaft der Juden das nicht mehr ertrug
und sie hier erstmalig einen Anschlag auf sein Leben machten.
Daß sie Wind von einer etwa beabsichtigten Flucht haben mußten,
erklärt, daß sie seinetwegen die Tore bewachten.
Aus 2. Ror. s j erfahren wir von ihm selbst, daß die Inden
hier zum ersten Mal andere einzuspannen wußten, um für sie die
Rastanien aus dem Feuer zu holen. In Antiochien in Pisidien
verstanden sie es später, vornehme Frauen und die Ersten der
Stadt gegen Paulus aufzuwiegeln; in Ikonium die Heiden; in
Lystra die Volksmenge; in Thessalonich den Gassenpöbel. In Ro-
rinth versuchten sie den Prokonsul Gallion vor ihren Wagen zu
spannen, erlebten aber eine Abfuhr. In Damaskus erreichten sie,
daß der Landpfleger oder Statthalter des Nabatäerkönigs Aretas,
der mit den Römern Damaskus' wegen in Fehde lag, seine Soldaten
anwies, mit den Juden aufzupassen, daß dieser Saulus ab
1SZ
gefangen werden könnte. Die Findigkeit der Jünger vereitelte das
Vorhaben. Wo ging er nun hin? „Fort nach Arabien", sagt er
einfach unter Auslassung der Episode, die die Apostelgeschichte
und 2. Korinther berichten. War das weit weg, wie mancher
denken könnte? Nein. Aus guten Nachschlagewerken ist zu ersehen,
daß in der damaligen Zeit „Arabien" der Sammelname für
die Länderteile war, die sich vom eigentlichen Arabien bis in die
syrische Wüste hinein erstrecken. Gal. H, 25 sagt Paulus selber,
daß der Berg Sinai in Arabien liege. Er ging also einfach von
Damaskus gen Süden, ohne daß er sagt, wohin. Nach Verlauf
einer gewissen Zeit, als er rechnen konnte, daß die Wellen des
Aufruhrs sich gelegt hatten, „kehrte er wiederum nach Dainaskus
zurück". Der Zorn der Juden hatte sich nur gegen ihn allein
gerichtet wegen seiner feurigen Verkündigung des verhaßten Nazaräers,
War diese Rückkehr eine Kühnheit? Wohl möglich. Er
hat auch später Ähnliches getan. Die Juden von Antiochien und
Ikonium verfolgten ihn bis nach Lystra und steinigten ihn daselbst.
Und trotzdem kehrte er bald darauf nach Lystra, Ikonium
und Antiochien zurück.
Über dem Aufenthalt in Damaskus während „vieler Tage"
(Apstgsch. 9, 28), dem Aufenthalt in Arabien, dem nochmaligen
Aufenthalt in Damaskus waren drei Jahre hingegangen. „Darauf
ging ich nach Jerusalem hinauf", berichtet er den Galatern
weiter, „um Kephas' kennenzulernen." Nur diesen und außerdem
Jakobus, den Bruder des Herrn, lernte er kennen, sonst
niemand. Lr blieb auch nur fünfzehn Tage. Daraus erhellt, daß
das in Apstgsch. 9, 26—30 Berichtete einem etwas späteren Zeitpunkt
angehören muß, denn da ging er aus und ein mit den
Jüngern, sprach freimütig im Namen des Herrn und redete und
stritt mit den Hellenisten. Wenn er in Apstgsch. 22, s? von einem
Zurückkehren nach Jerusalem redet, so scheint mir das die Rückkehr
nach Len drei Jahren zu sein und eine Erklärung des so
kurzen Aufenthalts von fünfzehn Tagen zu geben.
Zum zweiten Teil der Frage wäre zu sagen: Als die Jünger
am Pfingsttage mit Heiligem Geist erfüllt wurden, brauchten
sie nicht erst in die Stille zu gehen, um dort zu lernen, wie
sie Zeugen sein sollten. Ls geschah ihnen vielmehr nach der Verheißung
des Herrn (Joh. sH, 26): „Der Heilige Geist ... wird
euch alles lehren ..." Dieser Heilige Geist kam auch über Saulus,
denn der Jünger Ananias sagte in Damaskus zu ihm: „Bruder
Saul, der Herr hat mich gesandt, damit du ... mit Heiligem
Geiste erfüllt werdest". Wird dieses „auserwählte Gefäß"
nach dem besonderen Lrfülltwordensein mit Heiligem Geiste nicht auch
Lurch Ihn gelehrt worden sein, wie die Jünger am Pfingsttage? Sein
alsbaldiges Predigen über den Sohn Gottes, Sein Beweisen,
„daß dieser der Lhristus ist", gibt eine klare bejahende Ant-
— ryb —
wort. Und die Schriften kannte er. Was hätte er da drei lange
Jahre „in der Stille" lernen sollen? Man muß sich hüten, heutige
Menschen und heutige Verhältnisse samt heutiger Unkenntnis
der Heiligen Schrift zurückzuübertragen auf eine Zeit, wo der
Geist in Seiner ganzen Arafl uns noch unbetrübt wirken konnte
und wirkte, insbesondere in zuvorbestimmten außerordentlichen
Werkzeugen!
Die Frage oder Vermutung, was Paulus in Arabien gemacht
habe, ist müßig, wenn eine gegeben werden soll, dann
die: Er wartete, bis er zurückkehren konnte. F. App.
Hans Nielsen Hauges
i.
Im Dienste des Herrn.
Weihnachten s war gekommen.
Aus einer kleinen Hütte, die etwas abseits vom Wege drin
im Wald, auf der Grenze zwischen den Gemeinden Tuns und var-
tei, lag, ertönte Gesang, der eintönige inbrünstige Gesang vieler
Stimmen. Auf dem schmalen beschneiten weg, der von der Straße
nach der Hütte führte, wanderten winterlich eingehüllte Gestalten,
Männer und Frauen, die meisten schwarz gekleidet.
Die Türe der Hütte stand trotz der Winterkälte offen; am
Eingang war großes Gedränge, und viele blieben außen stehen.
Nun schwieg der Gesang, und sofort erhob sich drinnen eine
laute Männerstimme. Diese Stimme bebte wie in glückseligen: weinen,
und ab und zu wurde sie fast zu einem Geschrei. Dann sank sie
wieder herab zu einem Flüstern, so daß die Außenstehenden nichts
vernehmen konnten. Als sie endlich schwieg, durchtönte ein seufzendes
Gemurmel die eingetretene Stille.
Der Seebergianer war es, der neubekehrte Aristen Gleng, der
den Leuten aus den Gemeinden Tune und vartei eine Bußpredigt
hielt.
Alle, die keinen Platz mehr in der Stube fanden, blieben mit
*) Aus Jakob B. Bull, -Hans Nielsen -Hauge, der Erweckn
Norwegens, Verlag von I. F. Steinkopf in Stuttgart, in Leinen geb. RM S.-
Ml freundlicher Genehmigung des Verlages dürfen aus diesem ausgk-
zeichneten Buche, das zudem recht zeitgemäß erscheint, einige Abschnitte fortlaufend
im „Botschafter" abgedruckt werden.
ry?
gefalteten Händen außen stehen. Sie waren von weit hergekommen,
um den ersten lebendigen Zeugen Gottes in dieser geistlich
toten Zeit zu sehen und zu hören.
Jahr für Jahr hatten sie nach Gottes Wort, das ihre Seele
laben sollte, gehungert und gedürstet. Jahr für Jahr waren sie in
die Kirche gegangen und darbend daraus zurückgekehrt. Niemals
hatten sie etwas vernommen von Gottes^ des Allmächtigen, Zorn
oder von der Sonne und dem Regen der Gnade, die Lr über dis
Menschen ausgießt. Nichts hatten sie von alldem gekannt, was
zu Tränen oder zu Furcht veranlaßt; niemals hatten sie Ihn, den
Erlöser, geschaut oder die Kraft Seines Blutes empfunden. Ls
waren immer nur Ermahnungen und gute Ratschläge gewesen, dis
man vergessen hatte, sobald der Mund des Predigers verstummt
war.
Und überall wurde ein Leben in Laster und Leichtsinn geführt,
der Bibel und dem Pfarrer zum Trotz.
So waren denn heute alle die hergekommen, die Trost für
ihrs Seele suchten. Denn wie ein Lauffeuer hatte es sich durch dis
Dörfer verbreitet, daß Pfarrer Seeberg, der einzige, der es mit
Buße und Gnade ernst nahm, verurteilt und seines Amtes enthoben
und um seines Glaubens willen aus der Kirche ausgestoßen worden
sei wie ein Verbrecher. Und da war auch sofort das Wunder geschehen,
daß Sündenknechte, die bis jetzt nur ihren Lüsten gelebt
hatten, nun nichts mehr von weltlicher Wollust wissen wollten, sondern
begehrten, sich in des Lammes Blut zu waschen und dadurch
erlöste Gotteskinder zu werden.
So hatte auch Kristen Gleng, der Spielmann, der Trunkenbold,
der allen fleischlichen Lüsten Anheimgefallens, der Welt
entsagt und lebte nun glücklich in seinem Gott; da war auch der
Holzschuh-Ingebrigt, der Sonderling, dessen Gemüt Satan vormals
verwirrt hatte, der nun erlöst in Gottes Gnade lebte. Da war weiter
Klaus Tolvsen von Lundeplads und anders kluge Leute, die
Pfarrer Seeberg zur Seite standen, als er unschuldig litt wie Lhristus
und Seine Apostel, der aber vom Guten nicht lassen wollte,
trotz Leid und Verfolgung; denn in Lhristi Wunden allein war Erlösung
und Sein Blut ein Freudentrunk zum ewigen Leben. Alle,
alle waren gekommen und saßen nun lauschend in der Hütts oder
— rss —
standen mit gefalteten Händen draußen im Schnee und harrten der
Kraft aus der Höhe.
Lin Mann kam auf der Straße von vartei dahergefahren.
Lr hatte Glöckchen an seinem Gespann und saß selber auf dem
Bock. Der Schnee knirschte, das Pferd ging in kurzem Trab, und
der Mann schlug im Fahren hin und wieder mit der peitsche in
die Schneewehen am Wege. Auf der Straße war es ganz still und
einsam, niemand kam oder ging. Der Wald stand schneebeladen
zu beiden Seiten; die Felder lagen weiß und still. Der Mann im
Wagen saß in tiefen Gedanken, fast ohne zu wissen, daß er mit
seinen gleichmäßigen Peitschenhieben in den tiefen Schnee einen gewissen
Takt schlug, der seine kämpfende Seele beruhigte.
Aber die Gedanken kamen und gingen, lösten und schlossen sich
wieder zusammen — Gedanken über Gott und das ewige Leben.
Da mäßigte das Pferd, das die ganze Zeit Trab gelaufen war,
plötzlich seine Gangart, sah sich mit geblähten Nüstern um, spitzte
die Ghren und ging im Schritt weiter.
Sie waren bei dem Seitenweg angelangt, der nach der Hütte
im Walde führte.
Der Mann auf dem Bock wurde, als das Pferd seinen
Schritt verlangsamte, aufmerksam; nun sah er auf und hielt an.
Was wollten denn alle die Leute dort bei der kleinen Hütte?
Lr blieb lauschend sitzen — dann mit einem Male war ihm
alles klar. Die Gerüchte, die in den Dörfern über Seeberg und
seins Gläubigen umgingen, waren auch ihm nicht verborgen geblieben.
Lr hörte die laute, begeisterte Stimme im Innern der Hütte
beten, und als er an den Kreuzweg kam, hielt er sein Pferd an,
band es an den Zaun, gab ihm etwas Futter und breitste den leeren
Futtersack über das Tier. Dann schritt er zur Hütte hinauf und
blieb unter der Menge der außen harrenden Männer stehen.
Lin paar von ihnen erwiderten mit ernstem Nicken seinen
Gruß. Sie hatten ihn erkannt. Dann blieben sie wieder andächtig
mit gefalteten Händen stehen. „Denn gleich wie Lr verfolgt wurde,
wirst auch du verfolgt werden, wenn du teilhaftig werden sollst der
Gnade in Jesu Blut," tönte es von drinnen heraus.
— ^99 —
Hans Nielsen Hauge lauschte mit gefalteten Händen wie alle
andern. Ls war ihm, als seien die Worte, die er eben gehört
hatte, von Gott ganz besonders an ihn gerichtet. Und er beugte
sein Haupt.
Der Mann drinnen redete weiter: „So wollen wir denn,
meine lieben, lieben Freunde, unserem Hirten folgen, den die falschen
Lehrer und Propheten ausgestoßen haben; denn bei ihm finden
wir die Gnade und das Wort Gottes rein und lauter. Laßt uns
dem Auserwählten Gottes nachfolgen, wenn er auch nach dem Gesetz
keinen Pfarrhof und keine Kanzel mehr hat, wo er wohnen
und predigen darf. — Aber die Gnade in Lhristi Blut kann niemand
von ihm nehmen. Meine lieben, teuren Freunde I wir wollen
seine Brüder im Herrn bleiben, damit wir mit ihm das Blut des
Lammes zur Seligkeit trinken und Gott dem Herrn lobsingen
dürfen ewiglich!"
Hans Nielsen Hauge fühlte sich peinlich berührt. Der Hirte,
der Auserwählte Gottes, das war für ihn nur der Line, sein Lr-
löser. Auf einen sündigen Menschen, dazu noch auf einen Pfarrer
angewandt, der wegen Übertretungen seiner Amtspflichten abgesetzt
war, klangen ihm diese Worte wie Gotteslästerung. Aber er
schwieg und lauschte weiter der Stimme da drinnen — Kristen
Glengs heiserer Säuferstimme.
„Und wir wollen freudig und fröhlich mit ihm leiden, wie er
selber unschuldig leidet gleich Thristus und Seinen Aposteln, auf
Laß wir uns einst mit ihnen um des Lammes Thron versammeln
dürfen!"
Kristen Gleng schwieg — drinnen herrschte Stille, nur von
tiefen Seufzern unterbrochen.
„Meine Sünde, meine Sünde!" erklang eine zitternde Greisenstimme.
„Deine Sünde!" rief Kirsten Gleng. „Lin einziger Tropfen
von dem Blute des Lammes wäscht dich rein von aller Sünde! wer
kann durch seine eigenen Taten bestehen? Du Tor! Thristus selber
tut alles für uns — sonst müßten wir alle in den «Dualen der Hölls
vergehen!
„Ls gibt keinen größeren Sünder, als ich einer gewesen bin.
Und dis Sünde lebt noch immer in meinem Fleisch, das bekenne
200
ich aufrichtig vor Gott und vor euch allen. Aber was kann mir
die Sünde noch anhaben? Ich wasche mich rein in dem Blut des
Lammes, heute, morgen und alle Tage. Was kann mir also meine
Sünde anhabsn? Nur der große Sünder erfährt die große Barmherzigkeit.
Ihr Toren! Danket Gott, daß ihr sündige Menschen
seid, damit ihr teilhaftig werden könnet der Gnade Gottes! In
Lhristi Wunden kleide ich mich wie in ein hochzeitlich Gewand.
Trägst du kein solches, so bleibst du ausgestoßen von der Hochzeit
des Lammes und der Anal anheimgegeben ewiglich!"
Hans Nielsen Hauge sah die Umstehenden an, begegnete
aber keinem Blick. Da schüttelte er traurig den Aopf und ging still
und langsam den Weg zurück, den er gekommen war. Aber während
er den beschneiten Pfad zur Hauptstraße hinabschritt, vernahm
er noch immer dis eintönige singende Stimme aus der Hütte, die
sich ihnr schwer aufs Herz legte. Am liebsten hätte er geweint, solche
Betrübnis erfüllte sein Herz.
Lr band sein Pferd los, schwang sich auf den Bock und fuhr
rasch heimwärts.
In der folgenden Nacht kam kein Schlaf in Hans Nielsen
Hauges Augen.
Was er gehört und gesehen, hatte ihn in zu große Angst versetzt.
Den ganzen Herbst und Winter hindurch hatte er still und
fleißig an den Arbeiten des Hofes teilgenommen, war auch eifrig
in die Rirche gegangen und hatte viel in der Bibel und den alten
Postillen gelesen. Lr hatte auch ab und zu mit Leuten aus dem
Dorfe über geistliche Dinge gesprochen, aber nur Hohn und Spott
dafür geerntet und dabei einen tiefen Einblick in den Leichtsinn
und die Verderbtheit der Menschen gewonnen.
während der letzten in der Heimat verlebten Monate war
es ihm immer klarer geworden, wie notwendig es wäre, daß jemand
käme, der eine Änderung bewirkte. Sich selber als ein Rüstzeug
für die Sache Gottes anzusehen, war ihm noch keinen Augenblick
in den Sinn gekommen. Der innere Äampf um Erlösung
oder Verdammnis für ihn selbst nahm ihn vollständig in Anspruch,
und sein allabendliches Gebet war, Gott möge ihn doch Seiner
— 2or —
Lrbarmung für wert erachten. Zu desto größerem Kummer und
Schmerz gereichte es ihm daher, sehen zu müssen, wie leicht Kristen
Gleng und seins Anhänger eine Sache nahmen, über die er
sich in Angst verzehrte, und wie selbstverständlich sie sich und andere
als erlöst betrachteten, trotz aller Sünde und Schwachheit.
Und Hans Nielsen Hauge rang die gefalteten Hände in dieser
Nacht; der kalte Angstschweiß trat auf seine Stirn, und die Gedanken
jagten und drängten sich.
vielleicht waren eben doch die einen äuserwählt zur Seligkeit,
ob sie gleich in Sünde und Gebrechen versunken waren, während
andere, so redlich sie auch kämpften und von ganzem Herzen uni
Gnade flehten, ausgeschlossen blieben von dem Reichs Gottes.
Stand denn nicht in der Schrift: „viele-sind berufen, aber
wenige sind auserwählt?" i
.war nicht vielleicht er, Hans Nielsen, obwohl er das Gute
anstrebte und Gott vor Augen hatte Tag und Nacht, nicht auserwählt,
Gottes Angesicht zu schauen und die Seligkeit zu schmecken,
während Kristen Gleng und Holzschuh-Zngebrigt und so noch
manchs andere nach dem ewigen Ratschlüsse Gottes zu den Auserwählten
gehörten? Lin schweres Mühlrad schien sich in Hans
Nielsens Brust zu drehen, er schlug beide Hände vors Gesicht und
weinte bitterlich.
„Die Analen der Ewigkeit, die Analen der Ewigkeit!" flüsterte
es in seinem Innern, und kalter Schweiß bedeckte seinen Körper.
Doch endlich fand er Ruhe, was Gott beschlossen hatte, das
mußte er leiden, unter Seins gewaltige Hand wollte er sich beugen,
wollte dem Angesicht Gottes ferne bleiben und sprechen: „Sei gesegnet,
auch wenn Du mich verfluchst! Du bist mein Schöpfer, ich
Dein Geschöpf; für meine Sünden wlll ich die Strafen und Analen
erdulden! Dein Wille geschehe!"
Leise betete er, erst sein Vaterunser, und dann überkam ihn
ein wunderbarer Frieden, denn nun hatte er sich ganz in die Hand
des lebendigen Gottes gegeben; Lr sollte mit ihm tun nach seinem
Gutdünken.
So schlief Hans Nielsen gegen Morgengrauen doch ein, das
Gesicht von den gefalteten Händen bedeckt — das armseligste Geschöpf
Gottes, in seines Gottes und Schöpfers Gewalt. Aber als
202
er am Morgen aufstand und die Sonne scheinen sah, und die Erinnerung
an die Erlebnisse des vergangenen Tages klar und deutlich
in seiner Erinnerung erwachten, fühlte er einen großen Zorn
in sich aufsteigen.
vor allem gegen Pfarrer Seeberg, der mit seinen Reden diese
einfältigen Weltkinder so verwirrt hatte, daß sie Gottes Gesetz und
Wille gar nicht verstanden, und der sich selbst für einen unschuldig
Leidenden — wie Thristus und Seine Apostel — ausgab, obgleich
er gegen seine Obrigkeit mit großer Gewalttätigkeit und Unbotmäßigkeit
aufgetreten war.
Außerdem regte sich der Zorn auch gegen Kristen Gleng, der
sich bei all seiner Minderwertigkeit für einen von Gott berufenen
Lehrer hielt. Aber Hans Nielsen redete weder mit seinen Eltern
noch mit seinen Geschwistern von diesen Erlebnissen. Lr ging wie
zuvor seiner Avbeit auf dem Hofe nach und schwieg.
Acht Tage später fuhr er eine Ladung Holz aus dem Walde
heim. Da traf er auf dem Wegs drei betrunkene Männer, und unter
diesen war Kristen Gleng. Hans zuckte zusammen, als er ihrer
ansichtig wurde, und als sie an ihm vorbeitorkelten, hielt er sein
Pferd an.
„Gottes Frieden, Kristen Gleng," sagte er.
Kristen Gleng blieb stumpfsinnig stehen und stierte ihn an.
„Gottes Frieden in Lhristo, lieber Bruder," stammelte er
dann schluchzend. „Bekehre dich, Hans Hauge!" Lr trat schwankend
näher. „Bekehr dich, damit deine Sünde getilget werde-------",
er schluchzte wieder und blieb auf unsicheren Beinen stehen, indem
er in schleppenden Tönen ein Kirchenlied anstimmte.
Hans Nielsen schauderte es. Lr trieb sein Pferd an und fuhr
weiter. Hinter ihm faßten die beiden andern den betrunkenen Kristen
Gleng unter den Armen.
„Komm nun, Bruder!" hörte Hans sie sagen.
. Als Hans Nielsen Hauge nach Haufe kain, war sein Gesicht
sehr blaß.
„Frierst du?" fragte der Vater.
„Za," antwortete Haizs Nielsen. „Ich hab' etwas sehr Trauriges
gesehen."
Der Vater sah ihn fragend an.
203
„Ich habe Aristen Gleng mit zwei seiner Brüder in Lhristo
gesehen," fuhr Lians fort, „und alle drei waren schwer betrunken."
Niels Mikkelsens Miene verdüsterte sich.
„Also ist es doch so gekommen," murmelte er.
„Ja, so geht's, wenn einer sich mit so etwas befaßt," sagte
dis Mutter, die dabeistand und zugehört hatte. Dann stieß sie einen
leisen Seufzer aus.
Im Laufe des Frühlings wurde es immer schlimmer mit den
Seeberg-Brüdern. Der Pfarrer selber ging in den Dörfern herum
und hetzte dis Leute auf. Wohin er auch kam, überall gab er sich
für einen um Gottes willen Verfolgten aus.
Hans Nielsen sah diesem Treiben schweigend zu. Aber eines
Tages im März beschloß er doch, sich auszusprechen. Mit drei andern
rechtlich gesinnten Männern aus dem Dorfe suchte er den
Pfarrer in seiner Wohnung auf, um ihm die Meinung zu sagen.
Aber Pfarrer Seeberg, der die Absicht der vier Männer erriet, weigerte
sich, sie zu sehen.
So mußten sie unverrichteter Dinge wieder heimkehren. Aber
Hans Nielsen, der den festen Entschluß gefaßt hatte, dem Pfarrer
Seeberg auf alle Fälle seine Ansicht zu sagen, setzte sich zwei Tage
lang hin und schrieb einen Brief, den er am 2H. März s?s>6
Pfarrer Seeberg zusandts. In diesem Briefs schrieb Hauge unter
anderem:
„So bitte ich denn Euer Ehrwürden, um Gottes willen zu bedenken,
daß es einem Menschen, der wie Ihr mit Lieblosigkeit
gegen seinen Nächsten verfahren ist und Gottes und des Königs
Gebote mannigfach böswillig übertreten hat, nicht zusteht, sich
ohne Selbstüberhebung unschuldig leidend zu denken wie Lhristus
und Seine Apostel, wenn ihn die Strafe für seine Handlungsweise
trifft." '
Auf diesen Brief bekam Hauge niemals eine Antwort; das
hatte er indes auch nicht erwartet, nachdem Pfarrer Seeberg ihn
und die andern Männer nicht empfangen hatte. Ls war ihm auch
nur darum zu tun gewesen, auszusprechen, was er auf dem Herzen
hatte.
204
Bücherschau
Zwei Bücher möchten wir heute unseren Lesern vorlegen,
die wie nur wenige geeignet sind, Schriftkunds und -Erkenntnis
in übersichtlicher, klarer Form zu vermitteln:
Das Morgenrot der Welterlösung
Lin Gang durch die alttestamentliche «Vffenbarungsgeschichte.
von Lrich Sauer. In Leinen gebunden H.50.
Geist und Ziel der Bücher spricht der Verfasser selbst am
besten aus:
. So lösen wir die Frage der "Heilsgeschichte von dem
König der Heilsgeschichte aus. Die ganze «Offenbarung ist ein
Kreis, und Jesus Christus ist der Mittelpunkt dieses Kreises. L r
ist die Sonne, und von Ihm aus wird der ganze Kreis licht.
„Die Bibel aber ist, als die Urkunde dieser Heilsgeschichte,
ein einheitliches Ganzes, ein lebensvoller «Organismus, ein planmäßiges,
prophetisch-geschichtliches System. Sie ist „ein kunstreiches
Gebäude, zu welchem der Grundriß schon vorher entworfen
ward", ein auf Christus hinzielendes, harmonisch abgestuftes
Ganzes mit vollendetem Gleichmaß und Zusammenklang aller
Teile. Das Thema vom Reiche Gottes aber und dem Rhythmus
seiner stufenmäßig voranschreitenden Epochen und Perioden ist
die leitende Grundmelodie dieser gewaltigen, göttlichen Gesamt-
symphonis.
„Wir aber haben uns „schauend und lauschend niedsrzu-
beugen, um die Harmonie des «Gegebenen und Seienden zu erfassen".
Das ist hellsgeschichtliche Schriftauslegung. Erst sie wird
dem Wesen der Bibel gerecht. Sie liest die Heilige Schrift
„äonenmäßig", d. h. nach Zeitaltern, Haushaltungen, Abstufungen,
Gliederungen. In ihr steht der menschliche Geist auf allerhöchster,
prophetischer Warte. Hier weitet sich sein Blick zu welken-
und zeitalter-umspannendsr Schau. Hier sieht er hinaus
über den engen Kreis seiner Persönlichkeit, hinaus über die Grenzen
des Volkstums und der Kultur, ja, hinaus über alle Schranken
der Gegenwart und Zeit. Hier faßt er Vergangenheit, Gegenwart
und Zukunft zusammen, überblickt das Werdende und Seiende
zugleich, ja,, tut Lichtblicke hinein in das Herz des Allerhöchsten,
in die Tiefen der Gottheit selbst ...
„In diesem Sinns wollen wir nun an unsere Aufgabe herantreten:
den versuch einer umrißartigen Schilderung der durch die
Jahrtausende hindurch wandernden „Pilgerreise" der göttlichen
Hellsentfaltung von der Weltschöpfung an bis zu Christus, dem
Welterlöser."
*) Alle an dieser Stelle besprochenen Bücher sind entweder-vorretig oder
werden schnellstens besorgt.
„Offene Kenster"
(Daniel 6, 11.)
In Daniel, diesem gerechten (Hes. 1.4,14) und „vielgeliebten"
Mann, stellt uns die Schrift einen Beter vor.
Er war ein Beter in jungen und in alten Tagen.
Da lebt ein Jüngling an einem reichen Hof. Eine
glänzende Laufbahn liegt vor ihm. Er ist zehnmal weiser
als alle Weisen von Babel, und das schon zu der Zeit, als
diese wegen ihrer Unfähigkeit, den Traum des allgewaltigen
Herrschers anzusagen und zu deuten, umgebracht werden
sollen.
Wir kennen die Geschichte: Nachdem unter allen
Schriftgelehrten, Beschwörern und Zauberern im Reiche
des Babyloniers sich keiner gefunden hat, der imstande
wäre, Nebukadnezar den vergessenen Traum mitzuteilen,
werden auf Befehl des Königs einzelne Weise getötet. Aber
dann versucht Daniel — denn er ist der Jüngling — einen
Aufschub des Strafbefehls zu erlangen, der bewilligt wird.
Diese Frist benutzt er, um mit seinen drei Freunden zu
beten. Als Antwort auf das gemeinschaftliche Gebet wird
ihm das Geheimnis in einem Nachtgesicht kundgetan. Gott
hört auf das Gebet dieser vier jungen Leute. — Es waren
Menschen mit Rückgrat! Drei davon haben später dem
Feuerofen, einer der Löwengrube getrotzt. Und worin fanden
sie ihre Kraft? In gebeugten Knien und gefalteten
Händen. — Nachdem Daniel dann den Traum angesagt
und gedeutet hat, wird er Herrscher über die ganze Land-
85. Iahrg. -
206
schäft Babel, während seine Freunde wichtige Verwaltungsstellen
erhalten.
Jahrzehnte versinken im Schoße der Zeit. Jahrelang
ist Daniel der Günstling Nebukadnezars geblieben. Er hat
die Herrschaft Belsazars überdauert, und als Großvezier
des Meders erinnert er uns an Joseph, den Unterkönig von
Ägypten.
Die langen Jahre, die inzwischen dahingegangen sind,
das Glück und der Luxus haben Daniel das Gebet nicht
rauben können. Der Mann, auf dessen Schultern die Sorge
für ein mächtiges Reich drückend liegt, kann nicht leben,
ohne zu beten, und er findet jeden Tag Zeit dazu!
In Kapitel 6, 1k wird ausdrücklich mitgeteilt, daß
Daniel sich täglich dreimal auf die Knie niederwarf und
vor seinem Gott betete und lobpries, „wie er vordem getan
hatte". Als Besonderheit wird noch erwähnt, daß er
„in seinem Obergemach offene Fenster gegen Jerusalem
hin hatte".
Wir wollen uns hüten vor gewagten Schlüssen. Aber
es ist doch wohl nicht zu viel gesagt, wenn wir feststellen:
In dem Tun Daniels liegt Gebundenheit an die Schriften
und an das Vorbild der heiligen Väter. Dies scheint mir
bei dem Gebet von besonderer Wichtigkeit.
Die Zustände in Juda vor Beginn der Wegführung
müssen fürchterlich gewesen sein. Aus der Regierung des
frommen Josia wird berichtet, daß in seinen Tagen das Gesetzbuch
im Tempel wiedergefunden wurde. Es war also
verloren gegangen. Sicherlich war es unter solchen Umständen
im allgemeinen um die Kenntnis des göttlichen
Wortes schlecht bestellt. Mochte es aber damit sein, wie es
wollte, Daniels Leben stand augenscheinlich unter dem be
207
stimmenden Einfluß des Wortes Gottes. Das geht schon
aus dem ersten Kapitel seines Buches klar hervor. „Daniel
nahm sich in seinem Herzen vor", sich nicht mit Speise
und Trank von der Tafel des heidnischen Königs zu verunreinigen.
Die Unterwürfigkeit unter das Wort ließ ihn zu
jener Zeit genau so handeln, wie es hier im 6. Kapitel der
Fall ist. Daß er seine Knie dreimal des Tages vor Gott
beugte, geschah nicht willkürlich, und die gegen Jerusalem
hin geöffneten Fenster in seinem Obergemach waren ebensowenig
eine willkürliche Erfindung. Das eine sowohl wie
das andere geschah in Übereinstimmung mit dem Wort.
In der Geschichte der beiden Propheten Elia und
Elisa spielt das Obergemach eine Rolle. Tote waren da
zum Leben wiedererweckt worden. Das lag natürlich nicht
an dem Obergemach. Aber dort hatten Propheten betende
Hände zu Gott erhoben. Elia hatte in seinem Obergemach
im Hause der Witwe zu Jarpath den Herrn angerufen, als
das Kind seiner Gastgeberin gestorben war (1. Kön. 17),
und das Leben des Kindes war daraufhin wieder zurückgekehrt.
Elisa hatte auf die gleiche Weise gehandelt im
Hause der Sunamitin (2. Kön. 4), und auch da hatte
Gott ein Wunder getan. '
Das Obergemach war wohl der stille, heilige Platz
im Hause, wohin man sich vor Gott zurückzuziehen pflegte,
um zu beten. Es war es auch für Daniel.
Es ist gut, wenn in dem, was man gemeinhin als
„Gottesdienst" im besonderen Sinne bezeichnet, eine entschiedene
Regelmäßigkeit beobachtet wird. Ebenso wie bei den
frommen Israeliten im Alten Bunde, finden wir diese Einstellung
auch im Neuen Testament. Wir brauchen nur an
die Apostel Petrus und Johannes zu denken. „Um die
208
Stunde des Gebets, die neunte", gingen diese beiden Männer
hinauf in den Tempel. „Um die sechste Stunde" stieg
Petrus hinauf aufs Dach, um zu beten. Und es war „um
die dritte Stunde", daß die Gläubigen am Pfingsttage beisammen
waren. (Vergl. Apstgsch. Z, 1.; 10, 4; 2, 1.5.)
Sollte Daniel nicht auch vertraut gewesen sein mit den
Liedern seines Volkes? Sollte er den Psalm Davids nicht
gekannt haben, worin dieser dem Gebet einen so wichtigen
Platz einräumt? „Nimm zu Ohren, o Gott, mein Gebet,
und verbirg Dich nicht vor meinem Flehen!" In diesem
Psalm, dem 55., lautet ein Vers: „Abends und morgens
und mittags muß ich klagen .., und Er hört meine Stimme".
(Vers 17.) Es war auch Daniel Bedürfnis, dreimal
am Tage vor Gott niederzuknieen, um zu Ihm zu
beten und Ihn zu preisen.
In Daniel sehen wir einen Mann, der die heiligen
Gebräuche aus seines Vaters Hause in der Fremde in
Ehren hielt. Er betete nicht deshalb zu jenen bestimmten
Zeiten, weil das nun einmal Gewohnheit war. Er betete
aus dem Bedürfnis seines Herzens heraus. Aber es war
ihm wertvoll, eine bestimmte Regelmäßigkeit in seinen Gebeten
einzuhalten.
Knieend betete Daniel. Auch dies wird nicht ohne
Grund mitgeteilt. Wir können zuviel Wert auf Formen legen,
aber es besteht auch die Gefahr, die Form gänzlich
zü vernachlässigen.
Wenn wir behaupten wollten, daß das Beten allezeit
knieend geschehen müsse, so würden wir zu weit gehen. Von
Salomo, dem großen König und Weisen, lesen wir, daß
er knieend betete. Andere beteten stehend, indem sie die
Hände gen Himmel hoben.
20Y
Denken wir nur nicht, daß unsere Haltung beim Gebet
ohne Bedeutung seil Von unserem hochgepriesenen Heiland
selbst steht geschrieben, daß Er „niederkniete", um
zu beten. Das war in der bangen Stunde in Gethsemane.
Kommt in der knieenden Haltung nicht die tiese Abhängigkeit
von Gott zum Ausdruck, sowie die Anerkennung
Seiner Oberhoheit? Daß unzählige Menschen rein gewohnheitsmäßig
tagtäglich knieend ihre Gebete hersagen, ändert
nichts an dieser Tatsache. Auch die offenen Fenster nach
Jerusalem hin sind kein Zufall. Sie erinnern uns an den
Schluß des großen Gebets des Königs Salomo, (t. Kön.
8, 46—53.) Salomo denkt in diesem Gebet an die Möglichkeit,
daß sein Volk wegen seiner Sünde gefangen weggeführt
werden möchte in fremde Lande, dann aber zu Gott
umkehren würde. Dann sollten sie beten, indem sie den
Blick nach ihrem Lande richteten, nach der Stadt, die der
Herr erwählt, und nach dem Hause, das Salomo für den
Namen des Herrn erbaut hatte. Taten sie das, so würde
Gott sich dessen erinnern, was Er an ihnen getan hatte, als
Er sie durch Moses aus Ägypten herausführte, und Er
würde hören und vergeben.
In Übereinstimmung mit diesem Gebet handelt Daniel.
Mit dem Angesicht gegen das Heiligtum hin, das zur
Zeit zerstört war, betet dieser Vielgeliebte und legt ein Bekenntnis
ab, indem er sich eins macht mit der gemeinsamen
Schuld seines Volkes. Er kommt mit eigner Sünde —
das steht ausdrücklich in Dan. 9, 20 geschrieben — und
mit der Sünde seines Volkes. Er betet persönlich und priesterlich.
„Ohne Bekenntnis können wir niemals sein", hat
Augustinus gesagt. „Ein Gläubiger soll nie für sich allein
— 210 —
stehen, sondern für die ganze Gemeinde Gottes", hat da
Costa geschrieben, ein holländischer Dichter aus neuerer Zeit.
Daniel nahte Gott mit dem Bekenntnis eigener und fremder
Schuld.
Es ist der Mühe wert, das Gebet Daniels zu lesen,
das im 9. Kapitel seines Buches ausgezeichnet ist. Es zeigt,
was für ein Beten vor Gott wohlgefällig ist, denn unmittelbar
erfolgt die Antwort Gottes auf das Gebet. (Vers 20
und 2t.) Daniel erinnert Gott an Seine Barmherzigkeit
und Seine Bereitwilligkeit, zu vergeben (Vers 9); er anerkennt
die Gerechtigkeit Seines Tuns (Vers 14); er bringt
Sein verwüstetes Heiligtum in Sein Gedächtnis (V. 17);
er bittet Ihn, die Stadt anzuschauen, die nach Seinem
Namen genannt ist. (Vers 18.) Und indem er in rührender
Weise für sein Volk eintritt, schließt er mit dem flehentlichen
Rufen: „Herr, Hörei Herr, vergib! Herr, merke auf
und handle; zögere nicht, um Deiner selbst willen, mein
Gott! denn Deine Stadt und Dein Volk sind nach Deinem
Namen genannt." (Vers 19.)
„Unser Vater, der Du bist in den Himmeln, geheiligt
werde Dein Name", beginnt das Gebet, das der Herr
einst Seine Jünger lehrte. Dein Name!
Ein solches Gebet kann nicht unerhört bleiben. Während
Daniel noch betete, während er noch mit Gott redete
im Gebet, kam Gabriel und brachte die Antwort auf das
Flehen dieses Vielgeliebten. (Vers 20. 21.)
Ium Schluß sei noch hingewiesen auf die schwierige
Lage, in die Daniel sich durch sein furchtloses Beten brachte.
„Als Daniel erfuhr, daß die Schriftaufgezeichnet
w a r, ging er in sein Haus", um dort zu tun, „wie
er vordem getan hatte".
— 2ir —
Der Mann des Gebets wurde ein Glaubensheld. Wir
kennen die Absichten jener eifersüchtigen Fürsten und Statthalter.
Daniel sollte zu Fall gebracht werden! Ein Netz
war seinen Schritten bereitet worden; eine Grube war vor
ihm gegraben. Aber sein Herz war befestigt. (Vergl.
Ps. 57, 6. 7.) Die Löwengrube wurde für eine ganze lange
Nacht sein Aufenthaltsort. Er war in Wirklichkeit unter
Löwen, und sinngemäß lag er unter „Flammensprühenden,
unter Menschenkindern, deren Zähne Speere und Pfeile,
und deren Zunge ein scharfes Schwert" war. (Vergl.
Ps. 57, 4.)
Durch den Glauben verstopfte Daniel der Löwen Rachen.
(Hebr. 71, 33.) Er freilich sprach dem König gegenüber
nicht von seinem Glauben, wenn er sich auch ganz gewiß
seines Vertrauens auf Gott völlig bewußt war. Er redete
nicht darüber. Er gab Gott alle Ehre. „Mein Gott hat
Seinen Engel gesandt", war seine Antwort auf des Kö­
nigs Frage, ob er noch am Leben sei, „und hat den Nachen
der Löwen verschlossen."
Das 6. Kapitel ist das letzte der geschichtlichen Kapitel
dieses inhaltreichen und lehrreichen Buches — ein
schöner Abschluß! Ein Greis steht vor uns — Daniel muß
um diese Zeit an neunzig Jahre alt gewesen sein —, stark
in seinem Gott, treu seinem Gott, geehrt durch seinen Gott,
geehrt auch durch die Könige, denen er zu dienen hatte, und
denen gegenüber er ein treuer Zeuge war, von Anfang bis
Ende seines langen Lebens.
Gebet ist Macht! Es ist ein Unterschied zwischen
einem Mann, der betet, und einem Mann, der ohne Gott
fertig zu werden glaubt. (Frei nach den: Holländischen)
212
Eln Brief
über die augenblickliche Lage der Geschwister
in Christus, die sich bis April
ds. Jahr es als „Christliche Versammlung"
versammelt haben.
August 1937.
Ich schreibe meine Gedanken nieder, um sie selbst
später mit dem dann eingetretenen Zustand vergleichen
zu können; vielleicht kann ich aber hiermit auch einigen
Geschwistern dienen.
Mir ist es, wie wohl auch anderen nüchternen Brüdern
und Schwestern, bei dem Verbot so ergangen, daß
ich fragte:
Herr, was hast Du mir zu sagen?
Herr, was hast Du der „Versammlung" zu sagen?
Herr, was ist Dein Ziel und Zweck?
Auf die erste Frage fand ich bald im Licht von oben
die Antwort und habe mein Jukurzkommen in der Treue
dem Herrn und den Seinen gegenüber erkannt und bekannt.
Ich wünsche und hoffe, daß der Herr mir noch eine
Frist gibt zu einem treueren Dienst und dazu die Kraft.
Betreffs der zweiten Frage ist schon manches gesagt
und geschrieben worden, und ich möchte nur meine Gedanken
äußern, die bisher von anderer Seite nicht zum Ausdruck
gebracht wurden, und verbinde damit die dritte
Frage. Ich habe mich gefragt, ob der Herr das Zeugnis
von der Absonderung *), wie wir sie verstanden und
°) gemeint ist nicht die Absonderung von aller Ungerechtigkeit
— mit Recht erwartet der ^err von Seinen so teuer Erkauften,
daß sie „abstehen von der Ungerechtigkeit" —, sondern die
Absonderung von anderen Gruppen von Rindern Gottes.
213
darzustellen gesucht haben, aufhören lassen wollte, da dieses
Zeugnis einerseits durch unsere Gleichgültigkeit und
viele böse Dinge in unserer Mitte nicht nur geschwächt,
sondern ins Gegenteil verkehrt worden ist, und da es anderseits
von den Gläubigen anderer Kreise nicht mehr erkannt
wurde, ja, nicht mehr erkannt werden konnte und
somit für den Herrn nicht mehr brauchbar war.
Aber was will der Herr nun? Er zerstört doch nicht
ein Zeugnis, um Sich fortan weniger zu bezeugen. Das
wäre nicht nach Seinen gnadenvollen Absichten. Will Er
nicht vielleicht ein Zeugnis anderer Art in unserem irdischen
Vaterlande und später vielleicht auch anderswo auf-
richten?
Ich denke da erstens: Die einzelnen Gläubigen sollen
mehr am Evangelium teilnehmen, d. h. mehr persönlich
zeugen von der Gnade Gottes in Christus Jesus, ein
jeder in seinem Kreise, bei der Nachbarschaft, den Bekannten,
den Arbeitsgenossen usw. (Vergl. Apostgsch. 8, 4.)
War es nicht bei den meisten unter uns so, daß wir uns
begnügten mit dem Besuch der Zusammenkünfte, mit dem
Lesen des Wortes im Hause und mit den üblichen Gebeten?
Möchten wir doch aufgewacht sein und in Erbarmen
an die Mitmenschen gedenken, die den Herrn nicht kennen!
Wenn dies erreicht würde, so hat der Herr dadurch gewonnen,
und wir stehen nicht fruchtleer da.
Und zweitens denke ich: Will der Herr vielleicht ein
besonderes Zeugnis vor Seinem Kommen aufrichten,
nämlich das Zeugnis der Gemeinde „Philadelphi a"
(d. h. Bruderliebe)? Wir sehen heute, wie die Gläubigen
in vielen Kreisen aufgerüttelt sind, und wie die Erkenntnis
der Zusammengehörigkeit wächst. Würden wir es nicht
244
mit großer Freude begrüßen, wenn sich alle Kinder Gottes
einmal zusammenfänden? Ob es je dahin kommen wird,
ist natürlich die Frage. Jedenfalls aber sollten einige unterschiedliche
Gewohnheiten nicht hinderlich sein zu einem
gemeinsamen Zeugnis für das Evangelium und die Gemeinde
des Herrn. °
Es ist, und sicherlich mit Recht, die Geschichte des
Volkes Israel als Vorbild für die Geschichte des himmlischen
Volkes Gottes angesehen und in der Belehrung benutzt
worden; die Blütezeit des israelitischen Gottesdienstes
und die Darstellung eines einigen Gottesvolkes unter
Salomo hat in der ersten Gemeinde nach dem Pfingstfest
(Apostelgeschichte 2—4) ihr Gegenbild. Es ist auch
gesagt und geschrieben worden, daß die Rückkehr aus der
babylonischen Gefangenschaft und die Aufrichtung des
zweiten Tempels unter Esra, sowie das Bauen der Mauer
unter Nehemia ihr Gegenstück in der vor etwa hundert
Jahren erfolgten Absonderung eines Teiles der Kinder
Gottes gefunden hätten, verbunden mit der Verkündigung
der Einheit aller Gläubigen am Tische des Herrn.
Nun, der zweite Tempel hat nicht sehr lange bestanden
und wurde unter der Zulassung Gottes wieder weg-
getan, bevor der Verheißene kam. Dasselbe Schicksal hat
jetzt die „Versammlung", wenigstens in Deutschland, betroffen.
Es ist eben immer wieder dasselbe Bild in der
Geschichte der Menschen: Gott vertraut ihm etwas an, und
nicht lange dauert es, so hat es der Mensch durch seine
Untreue verdorben, und der Segensstrom vertrocknet, verläuft
sich im Sande der Wüste.
Wenn nun „Philadelphia" infolge der Beiseitestel-
lung des Zeugnisses der „Versammlung" als Leuchter in
215
Erscheinung träte, wäre das nicht ein viel kräftigeres
Zeugnis für den Herrn Jesus als die Absonderung eines
kleinen Teiles der Kinder Gottes?
Was mich betrifft, so mache ich mit tiefer Freude und
herzlichem Dank gegen Gott Gebrauch von der neugeschenkten
Möglichkeit des Zusammenkommens. Können wir dieses
köstliche Vorrecht hoch genug schätzen? Sollten wir es
versäumen? Es ist doch auch zu beachten, daß durch die
gemeinsamen Stunden „das Schwache und das Lahme"
gestärkt wird. Manches schwache Schäslein Jesu aber
würde am Wege liegen bleiben, wenn die Zusammenkünfte
nicht mehr wären.
Und noch eins: Es sind noch sehr viele Kinder aus
den Familien der Geschwister nicht errettet. Ich denke an
die schon erwachsenen und an die jungen Leute. Ich erwartete
schon länger etwas Besonderes, wodurch diesen
Seelen ein deutliches Halt zugerufen würde. Es ist gut
denkbar, daß durch ein einheitliches Zeugnis aller Gläubigen
diese Menschen, für die unzählige Gebete zu Gott
emporgestiegen sind, zum Stillestehen und zur Bekehrung
kommen. — Von meinen neun Kindern sind auch noch
drei zurück. Dft Gedanken Gottes sind ja meistens andere
als die mistigen. (Zes. 55.) Er kann andere Ereignisse
herbeiführen und andere Wege, als wir meinen, benutzen,
um teure Seelen Herumzureißen von ihrem Irrwege. Ich
halte daran fest, daß unsere Kinder vor dem Kommen des
Herrn errettet werden.
Der Herr wird es lenken nach Seiner Weisheit. Ihm
wollen wir vertrauen und in Demut uns beugen und trauern
über unsere Untreue. > —lsch—
216
Durch Nacht zum Licht
Menn dir in bittrer Leidenszeit
Das Aug' wird trüb' vom Weinen,
Und dann am Himmel weit und breit
Kein Stern dir will erscheinen,
Wenn dir, von wildem Weh entfacht.
Das Herz will schier verzagen:
Dann hab' Geduld! — Nach dunkler Nacht
Muß auch ein Morgen tagen.
Wenn in des Lebens Wechselgang
Sich dunkle Wolken zeigen,
Und aus dem Herzen angst und bang
Die Seufzer aufwärtssteigen,
Wenn in des Zweifels finstre Macht
Die Seele liegt geschlagen:
Dann zage nicht! — Nach dunkler Nacht
Muß auch der Morgen tagen.
Und wenn dereinst die Stunde schlägt,
Daß dich der Herr heißt gehen,
Und um dein Lager tiefbewegt
voll Schmerz die Deinen stehen,
Wenn dann vielleicht aufs neu' erwacht
Zm Herzen manches Fragen:
Dann sei getrost! — Nach dunkler Nacht
Wird dir ein Morgen tagen.
A. L.
voll?"
„War's voll?" Zn der Versammlung nämlich.
„War's gut besucht?" Das ist vielfach die Hauptfrage, oft
die einzige Frage, neben der die andere kaum mehr Raum
hat: obGottzu Seinem Recht kam? ob der Geist Gottes
wirken konnte? ob die Hörer erfaßt und getroffen wurden?
Denn wenn's recht voll und recht gut besucht war, ist die
217
Veranstaltung unzweifelhaft gelungen. Hingegen: Wenn's
nicht voll war, wenn die Reihen Lücken aufwiesen, dann
bedarf es keiner Frage: Es war unbefriedigend, dürftig;
man kam nicht auf seine Rechnung!
Nun ist ohne weiteres zuzugeben, daß eine gutbesuchte
Versammlung erhebender wirkt als eine Ausstellung
leerer Bänke, daß eine dichtgedrängte Hörerschar ein besserer
Resonanzboden ist als ein halb Dutzend anscheinend
fröstelnder Leute. Reden und Hören fällt leichter im großen
Kreis.
Und doch: Ist nicht diese unsere Einstellung recht
menschlich? Ist unser Urteil nicht menschlich, das gegründet
ist auf das Einmaleins, nach dem 2 mal 2 4 ist —
ohne Einrechnung Dessen, der da spricht: „Wo zwei
oder drei versammelt sind in meinem Namen, ..."?
„Wenn man die Ereignisse auf kirchlichem Gebiet . . .
beobachtet, könnte man meinen, Jesus habe gesagt: ,Wo
zwei oder drei Tausend versammelt sind in meinem Namen,
da bin ich mitten unter ihnen ..schreibt eine
Zeitschrift, die die christliche Statistikwut geißelt. Jesus aber
hat sich nicht dem Zeitgeist angepaßt. Er redet noch heute
von zwei oder drei einzelnen, die nach Ihm verlangen. In
manchen Seiner Versammlungen waren's nur zwölf Leute,
zuweilen auch nur dreil Doch war Er's zufrieden, und Er
schloß ihnen die tiefsten Geheimnisse des Reiches Gottes
aus.
Möchten wir doch von Ihm lernen, wir von dem
Massenfieber, der Massensucht unserer Tage angekränkelten
Christen!
218
Sie Einzigartigkeit des Opfers
von Morija'j
(1. Mose 22.)
Glaube ist Wachstum in Gott hinein. Darum bedarf
er einer fortschreitenden Erziehung. Immer mehr muß
er vom Irdischen gelöst und ans Himmlische gebunden
werden. In diesem Sinne finden sich in Abrahams Leben
vier, sich steigernde Proben. Die höchste war die von Morija.
Zuerst war es der Auszug aus Ur, die Trennung
von Vaterhaus und Verwandtschaft; das aber heißt, da
die Familie von Abram götzendienerisch war (Jos. 24, 2):
Trennung von der Welt. (1. Mose 12.)
Dann kam die Scheidung von Lot, diesem zwar „Gerechten"
(2. Petr. 2, 7. 8), aber doch weltlich Gesinnten.
(1. Mose 1Z, 10—13; IS, 1 ff.) Das bedeutet: Loslösung
von allem Halben und Lauen, also: Trennung von allem
Weltförmigen. (1. Mose 13.)
Das Dritte war die Fortsendung von Ismael, diesem
Sohn seiner menschlich-eigenen Kraft, also: Scheidung von
Seele und Geist (Hebr. 4, 12) und Trennung von
allen Gedanken und Plänen frommer Selbsthilfe.
(1. Mose 21.)
Das Letzte war die Opferung von Isaak, diesem ihm
von Gott selbst geschenkten Samen der Verheißung. Auch
die Segnungen, die der Höchste ihm gab, gibt der Glaube
Mit besonderer Erlaubnis des Verfassers abgedruckt aus
dem eben erschienenen Buch von Erich Sauer: Das Morgenrot
der W.e lterlösung. Ein Gang durch die alttestament-
liche Gffenbarungsgeschichte. 250 Seiten. Dn Leinen gebunden
H.50. (Siehe auch vierte Umschlagseite!)
24Y
dem Geber zurück, also: Trennung auch von den göttlichen
Gaben, (4. Mose 22.) Der Anbeter nimmt die Krone,
die er von dem König empfangen hat, und legt sie Ihm
wieder zurück vor Seinen Thron (Offenb. 4, 40. 44)
und spricht: „Dem Lamme die Segnungen" (Bergt.
Offenb. 7, 42.)
Damit aber wird klar, daß der soviel angefeindete
Bericht von der Opferung Isaaks nicht etwa nur „irgendein"
Kapitel im Alten Testament ist, auf das unter Um­
ständen verzichtet werden könnte — wie etliche meinen —,
sondern der Höhepunkt im Leben des Patriarchen selbst und
— da dieser die „Wurzel" der Erlösungsoffenbarung ist
— der prophetisch-symbolische Höhepunkt
in dem Verheißungöf undament des Evangeliums
überhaupt.
In der Tat, einzigartig ist der Opferbegriff, der gerade
hier gelehrt wird. Weit davon entfernt, auf der Stufe
der kananitisch-phönizischen, semitischen, indischen, aztekischen
oder sonstigen Menschenopfer zu stehen, unterscheidet
sich das Opfer von Morija von ihnen allen zum mindesten
durch einen dreifachen Gegensatz:
Erstens: Die Seele des Opfers. Nicht die Form,
sondern dasHerzist die Hauptsache. Abraham hatte Gott
Isaak „geopfert" (Hebr. 44, 47) und doch nicht „getötet".
Der äußere Vollzug war sogar geradezu von Gott
selbst verhindert worden! (4. Mose 22, 42. 43.) Damit
aber war der Grundsatz proklamiert: Nicht die äußere Ausführung
macht das Opfer zum Opfer, sondern die Gesinnung
des Herzens, nicht die Darbringung der „Gabe", sondern
die „Hingabe" der Seele. Das aber ist ein ganz
verinnerlichter und geistiger Opferbegriff, der
220
hier zum allerersten Male in der Heilsgeschichte hervortritt.
Gerade für diesen vergeistigten Opfergedanken haben
sich dann später die Propheten des Alten (!) Testaments,
im Kampf gegen jüdische Veräußerlichung, immer wieder
mit Geistesmacht eingesetzt. (Jes. 1, 10—15; 6b, 3; Jer.
6, 20; Hos. 6, 6; Amos 5, 21. 22; Micha 6, 6—8;
Ps. 40,7—y.)
Zweitens: Der Sieg des Opfers. Nicht der Tod,
sondern das Leben ist das Endziel des wahren Opfers.
Wohl mußte der Befehl, den einzigen Träger der Verheißung
zu opfern, dem Patriarchen zunächst widerspruchsvoll
erscheinen. Denn wie sollten nun die Verheißungen
Gottes erfüllt werden können, die doch an keinen anderen
als nur eben diesen Isaak geknüpft worden waren
*)? (1. Mose 17, 21; 21,12.) Hier schien eine Spannung
zwischen Befehl Gottes und Treue Gottes vorzuliegen,
die geradezu unerträglich war. Dennoch aber blieb
— da Gott nimmermehr lügen kann — dem sinnenden
Glauben auch hier eine Lösung: Entweder Gott wird Sich
an Stelle des zu opfernden Isaak ein Tieropfer ersehen
(1. Mose 22, 7. 8), oder aber Er wird, falls Er es wirklich
bis zur Tötung des Eingeborenen kommen lassen sollte,
ihn, den Träger der Verheißung, wieder zum Leben erwecken!
(Hebr. 11, Id!) Er fordert ein Brandopfer
(1. Mose 22, 2. 3. 6. 7. 8); Er verlangt unter-Umständen,
daß der mit dem Messer (Vers 10) geschlachtete Isaak
durch das Feuer (Vers 6. 7) zu Asche verbrannt wird!
Aber um Seiner Treue und Verheißungen willen muß
Er dann diesen selben, zu Asche verbrannten Isaak wieder
s) Der noch dazu zur Zeit seiner Gpferung noch ohne Nachkommen
war.
221.
aus dem Tode zum Leben erwecken! Und gerade bis zu
diesem letzten Höhepunkt schien es auf Morija kommen
zu sollen! (1. Mose 22, y. 1.0.)
Das ist die Glaubenskühnheit Abrahams. So bezeugt
es die Schrift. Er urteilte, gerade bei der Opferung seines
Sohnes, „daß Gott auch aus den Toten zu erwecken vermöge"!
(Hebr. 1.1, 19.) Darum sagte er auch beim Hin-
aufgang zu seinen Knechten: „Wenn wir angebetet haben,
so wollen wir (nicht ,ich') wieder zu euch kommen".
(1. Mose 22, 5.)
„Der Glaube versöhnt die Gegensätze" (Luther), und
Abrahams Glaube wurde durch diese Prüfung zum Vorbild
auf den neutestamentlichen Auferstehungsglauben geadelt.
Bei der Geburt Isaaks war es erst ein „Auferstehungsglaube"
im Sinne von Neubelebung kraftlos „erstorbener"
Naturkräfte gewesen (Röm. 4, 17—20); bei
der Opferung Isaaks aber war es ein Auferstehungö-
glaube im Sinne einer unter Umständen buchstäblichen
Auferweckung eines buchstäblich Toten. So gewann der
Patriarch „durch die vorauseilende Tätigkeit seines Glaubens
die Idee der Auferstehung und in dem wirklichen
Ausgang der Opfergeschichte — in der Opferung des Widders
an Isaaks Statt — die Idee des wahren Opfers".
Darin aber ist er von neuem ein Vorbild auf unseren
Glauben, denn im Opfer des Herrn gehört die Auferstehung
unzertrennbar zum Kreuz, und das Leben triumphiert
über den Tod. (Röm. 8, 34; 5, 10; 1. Kor. 15,
t7—19.)
Drittens: Das Ziel aber von Morija ist Golgatha.
Nicht die Gegenwart, sondern die Zukunft gab
diesem Opfer seinen allerhöchsten Wert. Deshalb fand es
222
auch gerade auf „Morija", dem Berge „Gottesschau", statt
(1. Mose 22,1.4), also genau ebenda, wo später der Tempel
stand (2. Chron. 3,1.), wo auf dem Brandopferaltar alle
auf Christus hinweisenden Opfer dargebracht wurden, und
wo in der Todesstunde von Golgatha der Vorhang zwischen
dem Heiligen und dem Allerheiligsten zerriß.
(Mark. 15, 38.) Damit aber wird Isaak zum Vorbild
auf Christus und Abraham zum Vorbild, auf Gott, den
Vater, und der Höhepunkt im Heilöfundament des Alten
Testaments wird zur symbolischen Prophetie aus den Mittelpunkt
aller Testamente und Bundesschließungen Gottes,
das Kreuz von Golgatha.
So kündet das Opfer von Morija drei große Heilswahrheiten
der biblischen Opferidee:
1. Die Geistigkeit des Opfers.
2. Die Auferstehung des Opfers.
3. Die personhafte Erfüllung des Opfers in Christus.
Die letzte aber ist die größte von ihnen allen.
das Bekenntnis eines modernen
Zweiflers
Der deutsche Dichter Max Dauthendey war während
des Weltkrieges auf Java. Kurz vor Kriegsende ist er dort
in der Ferne der Malaria erlegen. Im Leben hat Dauthendey
lange Zeit von Gott nichts wissen wollen. Am 30. Juni
1917 aber hat er auf das letzte Blatt seiner Bibel geschrieben:
„H eute morgen, als ich den 50. und 60. Psalm Davids
gelesen hatte, wurde mir eine Erkenntnis. Ich erkannte,
daß es einen persönlichen Gott gibt. Drei Wochen
vor meinem 50. Geburtstag wurde mir diese Wahrheit,
22Z
an der ich seit meinem 20. Lebensjahr, also dreißig Jahre
lang, gegrübelt und gezweifelt habe, offenbart. Welch herrliche
Zielsicherheit ist heute in mein Herz, in meinen Geist
eingezogen! Gott lebt und ist so persönlich, wie alles durch
Ihn lebt! Ich bin wie erlöst von einem großen Lebenskampf.
Dreißigjähriger Gotteskrieg schloß heute Frieden
mit meinem Verstand. Ich hielt mich für so aufgeklärt und
war doch noch ganz in Dämmerungszuständen, wie alle
gebildeten Denker in Zweifeln und Dämmerungen sich aufgeklärt
vorkommen. Nun glaube ich aber an einen persönlichen
Gott, den mir keiner mehr widerlegen kann."
Das Vermächtnis des Dichters lautet: „Ich kann
jedem Menschen nur raten, sich in allen Nöten an Gott
anzuklammern. Er ist ewige Kraft und stärkt jeden, der zu
Ihm betet, zu Ihm, dem einzigen Gott, dem alle Leben
angehören."
Fast gleichzeitig mit ihm kam auch seine Frau zum
Glauben. Im August tdl.7, ehe sie von seiner Umwandlung
Kunde hatte, schrieb sie ihm:
„Erinnerst Du Dich, daß ich immer dachte, die Mathematik
könnte mir den Schlussel zum Weltall geben?
Jetzt habe ich ihn gefunden. Er heißt Jesus. Jesus ist der
Schlüssel zu Gott, zur ganzen Welt, zu allen Menschen.
Er ist der Schlüssel zum Himmel und zu des Todes
Pforte."
Den Tod ihres Mannes hat sie mit folgenden Worten
bekanntgegeben:
„Max Dauthendey, mein herzlich Geliebter, verstarb
plötzlich und schmerzlos in Malung auf Java, umgeben von
Freunden. Befreit von der Qual des Leidens und der Sehnsucht,
ist er nun durch seinen Glauben an Jesus Christus
224
aus der Gewalt des Todes vor mir in die vollkommene
Glückseligkeit zu Gott eingegangen. Sein Name steht im
Buch des Lebens. Mögen alle, die ihn lieben, den gleichen
23eg finden!" Neukirchener Abreißkalender
Kragen aus dem Leserkreise
Fragen zu Epheser 3, sH — 2s.
u) Woran ist in Vers s5 bei dem Ausdruck „Familie" zu denken?
d) Warum sagt der Schreiber in Vers s 8 „völligzu erfassen"?
o) Was hat es zu bedeuten, wenn von „Breite und Länge und
Tiefe und Höhe" gesprochen wird?
ü) Was bedeutet: „zu erkennen die die Erkenntnis übersteigende
Liebe ..."?
e) Was ist imt dem „zu der ganzen Fülle Gottes erfüllt sein" in
Vers (9 gemeint?
u) Ls ist an einen Familienvater und an das Verhältnis zu
denken, in welchem alle die zu ihm stehen, die ihr Dasein von ihm
ableiten. Hier steht Gott als Familienvater vor uns in dem Sinne,
daß alle vernünftigen, geistgezeugten und geistbegabtsn Wesen in:
Himmel und auf Erden (Zhm ihr Dasein verdanken: die Engel-
wesen nach ihren Rangordnungen und die Menschen nach Len verschiedenen
Perioden, Haushalten oder Gliederungen, in denen sie
sich seit dem Fall befinden im Fortschreiten der Zeit. Es kommt
dabei sogar alles in Frage, was überhaupt Geschöpf ist. Aor. 8,
3. 6 heißt es: „Wenn es. anders solche gibt, die Götter genannt
werden, sei es im Himmel oder auf Erden (wie es ja viele Götter
und viele Herren gibt), so ist doch für uns ein Gott, der (Familien-)
Vater, von (eigentlich „aus") welchem alle Dinge
sind ..Die Ausdrucksweise im Griechischen zeigt klar, daß es
sich hier um die Gesamtheit alles Geschöpflichen handelt. Auch
ist im Urtext die in Frage stehende Schwierigkeit nicht vorhanden,
weil das Wort „Familie" von dem Wort „Vater" gebildet wird:
Vater — pater; Familie — patria. So heißt es z. B. Luk. 2,
„Joseph ... ging ... in Davids Stadt, ... weil er aus den:
Hause und der patria (Familie, Geschlecht, Nachkommenschaft)
Davids war". Gder Apstgsch. 3, 25: „Und in deinen: Samen
werden gesegnet werden alle patriai (väterschaften, Familien, Geschlechter,
Nachkommenschaften) der Erde".
Die Ausführungen des Apostels in den Versen 2—s s unseres
Kapitels über „das Geheimnis" und der Hinweis in Vers (0,
daß die Engel jetzt auf der Erde einen Vorgang und eine Sache in
Ausführung begriffen sehen, die sie in Staunen setzt, weil sie bis
jetzt keine Ahnung davon gehabt hatten, führen ihn dazu, von den:
— 225 —
„Geheimnis" wie von einer der Familien zu reden, die dem willen
und'den Gedanken Gottes ihr Sein zuzuschreiben haben. Demi
warum sonst die Verbindung von „die Verwaltung des Geheimnisses"
mit „dem Gott, der alle Dinge geschaffen hat"? (Vers 9.)
So war auch dieses Neue etwas, was zu dem hinzutrat, das die
Engel in der Geschichte der Menschheit bereits gesehen und zum
Teil selber ausgeführt hatten. So hatten sie gesehen, wie die Nachkommen
Abrahams von Ägvpten an, und am Sinai als Volk Israel,
zu einer der Familien wurden, die Paulus ins Auge faßt.
(Die Gesetzgebung geschah ja durch ihre Vermittlung. Siche
Apstgsch. 7, 53 und Hebr. 2, 2.) Selber hingerissen von anbetender
Bewunderung über das Neue, dieses ihm geoffenbarte Geheimnis,
das er in Vers 6 enthüllt, beugt der Apostel feine Anis
vor Dem, in Dessen Herz der Ursprung des Geheimnisses liegt,
vor dein „pater", von Dessen „patär" — Nams jede „patria"
s 0 heißt oder „b s n a m t", d. i. benannt wird, nämlich eben „patria"
(Familie). „Vater" wird also hier, ebenso wie auch in
s. Aor. 8, 6 nur dazu gebraucht, um den ins Dasein rufenden
Gott zu bezeichnen, den Worten Moses' entsprechend: „Jehova
..., ist Er nicht dein Vater, der dich erkauft hat? Er hat
dich gemacht und dich bereitet." (5. Mose 32, 6.)
b) Warum „völlig erfassen"? — Weil andernfalls, etwa
durch nur spielerisches Umgehen mit diesen hehren Wahrheiten, der
in Vers H9 genannte Zweck nicht erreicht wird, welcher ist: erfüllt
werden „zu der ganzen Fülle Gottes".
o) Ich denke, wenn der Apostel nichts darüber sagt, an
was er denkt, wenn er von Breite, Länge, Tiefe und Höhe spricht,
so seht er voraus, daß seine Leser es von selbst begreifen, vielleicht
meint er auch, daß sie sich darüber klar werden: Wir sollen erfassen,
daß es Begrenzungsmöglichkeiten in diesen Dingen überhaupt
nicht gibt. Denn Breite, Länge, Tiefe und Höhe können
sich auch grenzen los ausdehnen, und mein forschender Geist kann
dessen innewerden, so daß dis aus der Welt der Materie auf das
geistliche Gebiet herübergenommenen Begriffs nur die Unmeßbar-
keit zum Ausdruck bringen sollen. Steht nicht in Vers 8: „... den
u n ausforschlichen Reichtum des Lhristus zu verkündigen ...?"
lind der Vater, von Dem jede patria in den Himmeln und auf
Erden patria heißt (wir als die Lkklesia, als der Leib des
Lhristus, sind also auch eine patria), der möge uns nun geben,
betet der Apostel, daß der s o gekennzeichnete Lhristus in unseren
Herzen wohne. Hand in Hand damit geht: In
Liebe sind wir gewurzelt, wie der Baum im Erdreich, und gegründet
wie ein Gebäude auf sein Fundament. Wie Gott uns mit
Seiner vielen Liebe geliebt hat, als wir in den Vergehungen tot
waren (Aap. 2, H. 5), so findet sich die Liebe auch hier, die uns
alles verschafft, was die Wurzel dem Baum oder das Fundament
22b
dem Hause gewährt. Ivie wunderbar war doch jener „Vorsatz der
Zeitalter" (v. ss), den Gott in Lhristus Jesus, unserem Herrn, gefaßt
hat, und von Dessen Segnungen bereits in Rap. s,
ö— s s — s H die Rede war! verstehen wir es nun, was damit
gemeint ist, wenn Paulus von „Breite und Länge und Tiefe
und Höhe" spricht: Auserwählt in Lhristus zur Sohnschaft, und
damit wir heilig und tadellos vor dem Gott und Vater unseres
Herrn Jesus Lhristus seien! Mit Letzterem Erben geworden des gesamten
durch Ihn erworbenen Besitzes, des Alls! Der unausforsch-
liche Reichtum des Lhristus unser Teil! In Liebe eingesenkt und
gegründet! Lhristus selbst, der Mittelpunkt und das Ziel aller
Wege Gottes, durch den Glauben in unseren Herzen wohnend!?
Da sucht fürwahr unser Geist, Ausschau haltend, in anbetender Bewunderung
im Verein mit dem Apostel nach Ausdrücken, um dies
alles zu benennen. Läßt sich hier überhaupt eine Begrenzung feststellen?
Nein, die Seele findet keine Antwort!
cl) Das Bindewort „und" zeigt an, daß ein Unterschied zu
machen ist zwischen der Liebe des Lhristus und dem, was sich ans
Breite, Länge, Tiefe und Höhe bezieht. Mit dieser „Liebe Les
Lhristus" meint der Apostel wohl nichts anderes als das, was er
in Rap. 5 des näheren ausführt: die Selbsthingabe des Lhristus
für die Ekklesia, die Gemeinde. Ls ist ein Widerspruch in sich selbst,
etwas erkennen zu können und zu wollen, was die Erkenntnis übersteigt.
Der Apostel will also wohl nur auf die unvorstellbare Größe
dieser besonderen Liebe Hinweisen, nachdem er ins Vers s? die
Liebe (Gottes natürlich) allgemein genannt hat.
e) „Erfüllt sein zu der ganzen Fülle Gottes" scheint, wie die
eben behandelten Punkte der Fragen e) und ci), eine Ungereimtheit
zu sein, weil wir als endlich geschaffene Wesen die Fülle
Gottes überhaüpt nicht in uns haben können. Das ist aber auch
nicht gemeint. Das .Wörtchen „zu", das Richtung und Absicht
ausdrückt, gibt Aufschluß. Wenn ich einen Rorb ins Meer tauche,
so ist zwar nicht das'Meer im Rorb, aber Ziel und Absicht sind
erreicht, nämlich daß der Rorb mit dem, was das Meer, das
Meerwasser, ist, angefüllt werde: Jeder Bestandteil des Mserwas-
sers nach seiner chemischen Zusammensetzung ist ebensogut in den:
winzigen Inhalt des Rorbes enthalten wie in dem unmeßbar großen
Becken des.Gzeans. Indem wir die uns geoffenbarten Gedanken
und Ratschlüsse Gottes in uns aufnehmen, werden wir z n der
ganzen Fülle Gottes erfüllt, wie der Rorb zu (nicht „mit") der
ganzen Fülle des Gzeans erfüllt wird.
Das Lrfülltssin mit den also geoffenbarten Gedanken und
Ratschlüssen Gottes führt zwangsläufig zu der Doxologie (den:
Ehre- und Herrlichkeitgeben) der Verse 20 und 2s. F. Rxp.
227
Hans Nielsen Hauge
ii.
Nm die Ehre Gottes.
Ls war Hochsommer geworden im Jahre des Heils s 7H6.
In der großen Stube des Haugehofs saß Niels Mikkelsen^)
oben an dem breiten Tisch. Zu seiner Linken saß sein Sohn Mikkel,
der jetzt Amtsvorsteher in Tune war, und seinem Vater gerade
gegenüber Hans Nielsen. Ls war an einem vormittag;
dis Tür stand offen; die Sonne schien Hell auf den Tifch; die
Mutter ging beschäftigt ab und zu.
Vor Hans Nielsen lagen aufgeschlagene Bücher und neben
ihm ein Stoß beschriebener Blätter.
Hans Nielsen sprach, und die beiden andern lauschten voller
Lrnst.
Ls handelte sich um sein Buch: „von der Schlechtigkeit der
Welt", das er seinen Angehörigen vorlas.
Jetzt hielt er mit Lesen inne und sah fragend auf Vater und
Bruder. Lr war an einem schwierigen Punkt angekommen, der
wohl überlegt sein wollte.
Mikkel, der Bruder, sah vor sich hin, in seinen Augen lag
ein Ausdruck von Zweifel, sein liebes Gesicht drückte tiefen Lrnst
aus.
Der Vater schüttelte sachte den Kopf. „Das sind strenge
Worte," äußerte er.
Hans Nielsen nickte. „Aber es ist Gottes eigenes Urteil
über die falschen und pharisäischen Lehrer," erwiderte er.
Jetzt ergriff Bruder Mikkel das Wort.
„Dies ist recht und gut," sagte er, „und dies wird auch
von allen verstanden werden, nämlich daß du im Widerspruch
stehst sowohl zu Pfarrer Seeberg wie auch zu dem toten Christentum,
das in den Kirchen gepredigt wird. Aber glaube mir,
wenn du, ein ungelehrter Mann, die Gelehrten so heftig angreifst,
so erreichst du damit nur, daß sie dich verfolgen und dir nur jeden
möglichen Schaden zufügen werden. So ist es schon vielen
andern gegangen, und so wird es auch dir gehen."
") Hans Nielsens Vater
228
„Ja, so wird es kommen," stimmte der Vater bei.
Hans Nielsen Hauge sah Vater und Bruder an. Dann sagte
er mit fröhlichem Lächeln: „Wenn man Gott hier auf Erden
dienen will, muß man solches freudig ertragen. So ist es schon
vielen gegangen, und ich darf nicht erwarten, daß es mir anders
ergehen wird." Und er zeigte keinerlei Unruhe.
Eine Stille trat ein. Der Vater sah lange vor sich hin, dann
sprach er leise und mit einem tiefen Seufzer:
„Nein — es ist nichts anderes zu erwarten." Und Bruder
Mikkel setzte hinzu: „Du kommst ins Gefängnis, Hansl"
Hans sah den Bruder mit Hellen Augen an. „Das niag
wohl sein. Die Jünger Ehristi kamen auch ins Gefängnis. Sie
starben sogar für ihren Gott!"
Mikkel Nielsen Hauge nickte. „So ist's," sagte er. „Aber
wenn du im Gefängnis bist und mit niemand sprechen und an niemand
schreiben darfst, wie willst du dann dein Vorhaben äusfüh-
ren?" Mit klaren, klugen Augen sah er den Bruder an.
Hans Nielsen Hauge schwieg. Das war ein Einwurf, aus
den er nicht gefaßt gewesen war.
„Und dein Buch wird nicht schlechter werden, wenn du die
harten Worte gegen die Pfarrer ausläßt," fuhr Mikkel fort.
Hans Nielsen sah zweifelnd drein, „vielleicht," gab er endlich
zu und begann zu blättern. Dann schwieg er wieder, und
der Schweiß trat ihm auf die Stirn.
Sollte er um seiner selbst willen, und um sich die Arbeit zu
erleichtern, ausstreichen, was doch die volle Wahrheit war?
Gder war erselber vielleicht gar nicht dazu berufen, die
zu richten, welche die von Gott verordnete Vbrigkeit zu Lehrern
des Wortes Gottes eingesetzt hatte?
Lr wischte sich den Schweiß von der Stirne.
„vielleicht," wiederholte er, und nach einer kleinen Weile
fügte er bei: „Ich muß erst noch darüber nachdenken."
Und die drei Männer besprachen das Lhristentum weiter,
Stunde um Stunde den ganzen Tag hindurch.
Hans Nielsen brauchte vierzehn Tage, um über diesen Punkt
zu einem endgültigen Entschluß zu kommen. Als er nach viele»
22Y
durchwachten Nächten endlich mit sich im reinen war, hatte er
sich entschieden, die erste Fassung stehen zu lassen.
„Du hast nichts gestrichen?" fragte ihn der Bruder beinahe
verwundert.
„Nein// gab Hans Nielsen zur Antwort. „Vas ich geschrieben
habe, das habe ich aus tiefstem Herzen und innerster Überzeugung
geschrieben, und drum muß es auch stehen bleiben. Du
weißt, es tut nicht gut, gegen sein Gewissen zu handeln."
„Vie du willst," sagte der Bruder ernst. „Aber du mußt
dich dann auch auf alles gefaßt machen."
„Das hab' ich getan," entgegnete Hans Nielsen und reichte
dem Bruder die Hand. „Und ich glaube, du würdest an meiner
Stelle genau ebenso handeln."
Da mußte Mikkel Hauge lächeln. „Das ist wohl möglich,"
versetzte er. ------------
Hans Nielsen stand in Buchdrucker Bergs Werkstatt. Berg
war diesmal selbst zur Stelle"') und begrüßte Hauge sehr freundlich.
Hauge wiederholte nun seine Frage, ob er das Buch gedruckt
bekommen könne.
Der Meister sah nach dem Gesellen hinüber, der am vorhergehenden
Tag mit Hauge gesprochen hatte.
„Rann ich das Manuskript sehen?" fragte er.
Hauge gab es ihm.
Lange Zeit blätterte Berg; bald schien er eins Stelle zu
lesen, dann blätterte er wieder.
In der Druckerei herrschte tiefes Schweigen; man hörte
nur das Klappern der Buchstaben in den Winkelhaken. Hauge
fühlte sein Herz klopfen; nun sollte sich sein Schicksal entscheiden.
Endlich legte der Meister das Manuskript auf den Tisch,
trat auf den schon erwähnten Gesellen zu und sprach einige Minuten
leise mit ihm.
Hauges Hoffnung belebte sich.
Jetzt kam der Meister langsam auf Hauge zu.
„Ja," begann er, „das könnte man schon drucksn; aber —
es wird nicht billig sein."
*) Bei seinem ersten Besuch in der Druckerei war Hans Nielsen ab-
gcwiesen worden.
230
Hauge fühlte sein Herz vor Freude Hüpfen; zugleich aber
beschlich ihn eine heimliche Angst, vielleicht kostete es mehr, als
er aufzubringen imstande war.
„Wieviel?" fragte er leise.
Der Buchdrucker schaute zu dem Gesellen hinüber.
„Mindestens dreißig Neichstaler," antwortete er.
Hauge atmete erleichtert auf. Aber als Geschäftsmann, dec
wohl wußte, wie sehr die Bauern von den Ltadtleuten übervorteilt
werden, ließ er sich nichts davon merken.
„Das ist sehr teuer," äußerte er.
Zens Ärbeck Berg machte ein ernstes Gesicht. „Freilich ist
es teuer, Bücher zu drucken," sagte er und ging an sein Pult zurück,
auf dem das Manuskript lag. Lr schob es weg.
Hauge wartete ein Weilchen.
„Ließe es sich nicht für zwanzig Rcichstaler machen?"
fragte er.
Der Buchdrucker schüttelte den Äopfr „Nein," entgegnete
er und wechselte wieder einen Blick mit dem Gesellen. „Aber
wenn es dir an Geld fehlt, so wollen wir fünfundzwanzig sagen."
Hauge bekam Angst, das ganze Geschäft könnte sich zerschlagen,
wenn er noch weiter handelte, und so willigte er ein.
„Za, ja," sagte er, „dann hilft's wohl nichts, und ich muß
dis fünfundzwanzig Reichstaler bezahlen."
Der Buchdrucker nickte. „Hast du so viel Geld bei dir?"
„Nein," entgegnete Hauge. „Muß ich im voraus bezahlen?"
„Za," antwortete Berg, „jedenfalls die Hälfte. Das ist unbekannten
Personen gegenüber Geschäftsbrauch bei uns."
„Gut!" Hauge zog seine Brieftasche heraus und bezahlte dreizehn
Reichstaler. „Aber du mußt mir eine Quittung geben," bat er.
Zens Ärbeck Berg schrieb sie, nahm das Geld in Empfang
und gab Hauge dann die verlangte Quittung.
Da lächelte Hans Nielsen Hauge. „Mein vertrauen zu dir
ist größer als deines zu mir," sagte er. „Du hast nun alles, was ich
geschrieben habe, und alles Geld, das ich bei mir hatte, ich jedoch
habe nur dein Wort. Aber das ist nicht gefährlich; Gott kennt
uns beide, und schließlich haben wir es doch allein mit Zhm
zu tun."
231.
Buchdrucker Berg gab darauf keine Antwort, sondern sagte
nur: „Das Buch wird sofort in Arbeit genommen werden."
Lr verschloß Geld und Manuskript in seinem Pult, und
Hans Hauge entfernte sich, hochbefriedigt, sein Ziel erreicht zu
haben.
Wiederum wanderte Hauge zwischen Thristiania und dem
Kirchspiel Tuns auf der Straße dahin. Lr trägt ein Felleisen auf
dem Nucken, das aber nur noch Mundvorrat enthält. Das kostbare
Manuskript ist in der großen fremden Stadt zurückgeblieben,
und ebenso Hans Nielsen lsauges ganzes Geld. Und abermals
empfindet dieser die gleiche Unruhe und Unsicherheit in seiner
Seele, die ihn beim ersten Anblick der Häuser und Turme der
Stadt erfaßt hatten.
An den Stellen, wo er auf dem Herweg den harten Kampf
gegen Unglauben und Todesfurcht ausgekämpft hatte, kam die
Anfechtung wieder über ihn.
Wer war er denn, er, Hans Nielsen Hauge? Lin elender
Wurm in einer unendlich großen Welt; ein Wurm, der heute lebte
und morgen vergehen mußte.
Welche Bürgschaft hatte er für seine ewige Seligkeit?
Woher wußte er, daß Gottes Wort keine menschliche Erfindung
war? Erfunden vielleicht von Menschen, die ihre Mitmenschen
zu jedem Gpfer, zu Entsagung und Leiden veranlassen wollten,
um es selber gut zu haben und ungestört alle Genüsse der
Welt auskosten zu können?
Ls überlief ihn kalt, während er dahinschritt, vielleicht war
er ein Irrsinniger, der ganz verkehrte Wege ging und andere Menschen
verführte, ihm darauf zu folgen!
Lr betete laut zu Gott in seiner Not. Lr rief: „Weiche von
mir, Satan!" Aber die Versuchung wollte nicht weichen. In seiner
Verzweiflung bog er vom Wege ab dem Walde zu. vielleicht
sand er Frieden in der herrlichen Natur! vielleicht auch erbarmte
sich der Tod seiner! Ls war ein warmer, windstiller Tag. Der
Wald duftete nach Harz, Insekten tanzten und summten. Hans
folgte einem kleinen Pfad in dis Waldesdämmerung hinein.
Nun wurde das Gehölz dichter; hohe Föhren warfen kühle
232
Schatten; kleine Vögel flüchteten sich tiefer rvaldeinwärts, das
erfrischende Rauschen einer «Aiielle wurde vernehmlich.
Hans Nielsen Hauge wischte sich den Schweiß ab und ging
auf das kleine Rinnsal zu; er legte das Felleisen auf die Lrde und
trank. Und dann überfiel ihn eine süße Müdigkeit. Über ihm
rauschte es wie sanftes Flügelschlagen, wie ein grüner Vorhang
umschloß ihn der dichte Wald. Die Steine selbst waren grün überzogen,
und alles atmete Ruhe und Lrquickung.
Line Zeitlang saß er an dem Bächlein und starrte vor sich
hin; er wußte nicht mehr, ob er tot oder lebendig war; er fühlte
nur noch die große wohlige Müdigkeit. Lr zog sein Felleisen zn
sich her, legte sich auf den Boden nieder und schlief auf seinen,
Ranzen als Kopfkissen ein.
Und während er schlief, träumte er von Wolken, weißen gold-
umsäumten Wolken; ein sanfter Wind hob ihn empor, und von
ihm getragen schwebte er dahin — aufwärts — in weite Fernen.
Dann hörte sein Bewußtsein auf; nur ein tiefes unbestimmtes
Gefühl von Glück und Ruhe blieb zurück.
Die Sonne stand schon tief, als Hauge wieder erwachte. Lr
richtete sich jäh auf und schaute schlaftrunken um sich. Dann kam
ihm die Erinnerung an alles zurück.
Aber seine schweren, trüben Gedanken waren wie weggc-
blasen, und er fühlte sich ganz glücklich, im Bund mit allem Guten
in der Welt. Und den Wald ringsumher und den blauen Himmel,
das rieselnde Bächlein und den fröhlichen Vogelgesang, der nach
des Tages Hitze in der Abendkühle anhub — das alles empfand
er als eins große Gnade Gottes, als die Vffenbarung einer
ewigen Kraft.
Lr stimmte selber ein Lied an, als er, das Felleisen auf dem
Rücken und den Stab in der Hand, weiterschritt. Und er gelobte
sich, niemals wieder mit der Vernunft über geistliche Dinge und
die Ewigkeit zu grübeln. Wir können ja nicht das kleinste Samenkorn
in der Lrde begreifen; wie sollten wir da das Wesen Gottes
und die Geheimnisse der Schöpfung verstehen? Wir dürfen nur in
Demut alles Gute empfangen und genießen.
Geöffnete Himmel
(Lukas 1. und 2)
Liest man die beiden ersten Kapitel des Evangeliums
Lukas, so tut man Blicke von der Erde in weit geöffnete
Himmel. Das ist nicht für jedermann Freude. Ein Herz,
das anderswo sein Glück sucht, empfindet keine Seligkeit
bei dem Gedanken, daß der Himmel ihm nahegerückt wird.
Für ein solches Herz ist Gott ein ungebetener Gast. Nur
für den, der das geschriebene Wort als an sich persönlich
gerichtet betrachtet, ist ein geöffneter Himmel die Summe
aller Freuden. Einmal hatte sich dem Jakob der Himmel
herrlich aufgetan. Doch da war es nur ein Traum. Später
tut er sich dem Stephanus auf, und da sieht er die
Herrlichkeit Gottes und Jesus zu Seiner Rechten stehen.
Hier, im Beginn des Lukas-Evangeliums, öffnen sich die
Himmel, um mit der Erde in Verbindung zu treten. Da
bietet sich ein Anblick, auf den die Antwort unserer Herzen
lauten sollte:
Näher, mein Gott, zu Dir, näher zu Dir!
Seit der Zeit der Propheten hatte sich nichts Besonderes
ereignet. Jetzt plötzlich tritt Gott hervor. Der Himmel
öffnet sich zu einem gewaltigen Zeugnis. Das gleiche
wird wieder geschehen, wenn diese gegenwärtige Zeit vorüber
ist.
Unerwartet erhält Zacharias, der, ganz wie die anderen
Priester, den Dienst im Tempel versieht, den überraschenden
Besuch eines Engels. Er ist in keiner Weise
auf diesen Besuch vorbereitet, und seine Erschütterung ist
85. Iahrg. tO
234
derart, daß er durch ein ermunterndes Wort gestützt werden
muß. Dieses Wort lautet: „Fürchte dich nicht!" Zacharias
war ein gerechter und untadeliger Mann. Trotzdem
versetzte ihn die Erscheinung des Boten, der aus Gottes
heiliger Gegenwart kam, in Furcht und Bestürzung.
Es ist gut, wenn wir uns eine rechte Vorstellung
von Gottes Heiligkeit zu machen suchen, auch dann, wenn
wir Ihm nicht mehr in dem Zustand des gottfernen Sünders
gegenüberstehen. In Seiner Gegenwart ist allezeit
heilige Ehrfurcht am Platz. Ist sie vorhanden, so dürfen
wir das freundliche „Fürchte dich nicht!" aus Seinem
Mund vernehmen.
Der Engel brachte dem Zacharias eine ebenso unerwartete
wie erfreuliche Botschaft. Die Antwort des Mannes aber
beweist, daß er auf die empfangene Kunde ebensowenig
vorbereitet war, wie auf den Besuch selbst. Nun muß er
sich wegen seines Unglaubens tadeln lassen.
Halten wir hier einen Augenblick inne, um die Unterweisung,
die sich aus dem Vorgang für uns ergibt, zu
erfassen. Empfinden wir es nicht als Schimpf, wenn man
uns kein Vertrauen schenkt? So ist es auch Gott nicht
gleichgültig, wie wir in dieser Hinsicht, zu Ihm stehen.
Sind wir auch nichts vor Ihm, so geruht Er doch, von unseren
Beziehungen zu Ihm Kenntnis zu nehmen. Vorwurfsvoll
antwortet der Engel dem Zacharias: „Ich bin
Gabriel, der vor Gott steht". Ach, daß es in dieser
Hinsicht auch an unserem Glauben so sehr mangelt! Wir
sollten alle den Römerbrief aufmerksamer lesen. Da sehen
wir, was wahrer Glaube ist. Sollten wir's nicht zufrieden
sein, daß Gott uns zur Verantwortung zieht? Oder
wäre es uns lieber, wenn Er sich garnichts aus unserem
235
Glauben, unserem Vertrauen machte? Ich denke nicht;
denn das wäre kein Beweis von einem innigen Verhältnis.
Prüfen wir uns doch alle ernstlich, ein jeder für sich,
ob wir an das Studium der Schriften mit Herzen Herangehen,
die offen sind für die Innigkeit der Beziehungen,
die diese Schriften zeigen und vermitteln! Den Buchstaben
der Schrift zu kennen, ist nichts Großes. Wichtig ist,
durch die Schrift unterwiesen zu werden. Das bringt Gott
nahe.
Im sechsten Monat wird der Engel als Überbringer
einer Botschaft an Maria in ein fernes galiläisches Dorf
gesandt. So setzt Gott Seinen Verkehr mit der Erde fort.
Der Glaube der Maria ist einfältiger als der des Zacharias.
Darüber brauchen wir uns nicht zu wundern. Es
kommt öfter vor, daß anspruchslose Seelen, Menschen,
die wenig Unterweisung genossen haben, die Wahrheit Gottes
völliger besitzen als andere mit weitreichender Bibelkenntnis.
Auch dem Weibe sagt der Engel: „Fürchte dich
nicht!" Bemerkenswert ist in diesem Falle, daß Maria
weniger über die Erscheinung des Engels als über sein
Wort an sie bestürzt gewesen zu sein scheint. Sie versteht
nicht, weshalb gerade ihr eine so hohe Ehre zuteil wird.
So trägt bei ihr das ermunternde: „Fürchte dich nicht!"
einen anderen Charakter als bei Zacharias. Darauf redet
der Engel über das, was Gott sich zu tun vorgenommen
hat. Und Mariä nimmt die schier unfaßbare Kunde in einfältigem
Glauben an und antwortet nichts wie: „Siehe,
ich bin die Magd des Herrn; es geschehe mir nach deinem
Worte." Wie schön ist diese einfache Antwort! Es ist der
einzig richtige Widerhall des Menschenherzens auf das
göttliche Wort. Spricht die Gnade, so soll der Glaube
236
antworten. Ich erkenne eine angebotene Gunst dadurch
an, daß ich sie annehme. Die Gnade Gottes bringt das
Heil, und Pflicht des Sünders ist, eö anzunehmen. Weil
er das getan hatte, konnte der Kämmerer seine Straße
freudig ziehen. Freude ist das Element, das dem Evangelium
entspricht. Eine gute Botschaft, die nicht glücklich
macht, ist nicht verstanden worden. Habe ich dem
Evangelium mein Ohr als einer Freudenbotschaft geliehen,
so istFreude meine Antwort. Und das ist das Echo
bei jeder weiteren Bekundung des Heiligen Geistes. So
war es auch bei Maria.
Elisabeth und Maria miteinander bieten uns ein schönes
Beispiel — vielleicht das einzige in den Schriften —
von Gemeinschaft im Heiligen Geist. Zwischen dem Weib
des Priesters und der Verlobten des Zimmermanns bestand
ein Unterschied, was ihre soziale Stellung anging,
aber vom göttlichen Standpunkt aus betrachtet standen
sie einander innig nahe. Da gab's keine Eifersucht.
Elisabeth stellt sich unter Maria als die von ihnen
beiden, der das größere Maß von Ehre zuteil geworden
war. „Und woher mir dieses, daß die Mutter
meines Herrn zu mir kommt?" fragt sie. Irdische Beziehungen
spielen jetzt keine Rolle mehr. Die innige Gemeinschaft
der beiden Frauen entsteht aus den geistlichen Beziehungen.
Keine Spur von Neid bei Elisabeth; kein Stolz
im Herzen der Maria. Erstere ist nur Sanftmut, letztere
ganz Demut. Zahlreich sind heutzutage dieBeziehun -
g e n unter Kindern Gottes, aber eine Frage ist: wie steht's
um die Gemeinschaft untereinander? Die Gemeinschaft
wird fester oder loser entsprechend unserem Leben
mit Christus.
2Z7
Schön ist, zu sehen, unter welchen Umständen dem
Zacharias. die Sprache wiedergeschenkt wird. Der Unglaube
hatte ihm den Mund verschlossen; der Glaube öffnet
ihn wieder. Wohl betrübt Gott die Menschenkinder.
Aber Er tut es nicht gern, nicht von Herzen;
und immer zu einem bestimmten Zweck. Immer
hat Er Besonderes dabei im Auge. Es war gut für Zacharias,
zeitweilig zum Schweigen verurteilt zu sein. Sobald
es aber geschehen kann, wird seine Zunge gelöst, und
sein Mund öffnet sich zu Worten, an die er vorher nie gedacht
hätte.
Wir sprechen von geöffneten Himmeln. Der Schauplatz,
über dem sich die Himmel geöffnet haben, ist sehr
beschränkt. In wessen Hand sich der „ganze Erdkreis"
damals befand, zeigt Kapitel 2. Allherrscher war der Römische
Kaiser. Aber lassen wir die weite Welt und wenden
wir uns dafür zu den Fluren Bethlehems.
Das Gemälde, das sich hier unseren Augen bietet,
übertrifft noch an Schönheit das des ersten Kapitels. Die
geöffneten Himmel geben hier nicht nur einem Engel
den Weg frei, sondern der ganzen Menge der himmlischen
Heerscharen, und sie verkünden die Herrlichkeit Gottes.
Daß die einfachen Hirten auf dem Felde sich vor den
himmlischen Erscheinungen fürchten, ist ganz natürlich.
Ebenso natürlich erscheint es uns, daß auch ihnen aus
dem Gewölbe des Äthers die immer gleichlautende Ermunterung
entgegenschallt: „Fürchtet euch nicht!" Es-ist,
als ob der Himmel diese selben Worte immer und immer
wieder ertönen ließe, wenn arme, in ihren Sünden erzitternde
Wesen den Blick zu ihnen erheben. Möchten wir
geöffnete Ohren für sie haben! Es sind Worte von nicht
238
gewöhnlichem Klang. Sie sind für uns ebenso groß wie für
jene armen Hirten, die Sünder waren, wie wir es sind.
Und der Glaube gibt ihnen das Recht, sie für sich in Anspruch
zu nehmen. „Heute ist euch ein Erretter geboren",
verkündet der Himmelöbote. Nicht ein Richter, nicht
ein Gesetzgeber steigt auf die Erde herab. „Die Gnade
Gottes ist erschienen, heilbringend für alle Menschen",
schreibt der Apostel dem Titus, als er sich auf
Kreta befand, der Insel der „Lügner, der bösen, wilden
Tiere, der faulen Bäuche". Die Engelscharen unterhalten
sich über das Heil, das wie ein goldener Faden das Buch
Gottes durchzieht, anfangend mit dem Wort von „dem
Samen des Weibes", endend bei den Worten: „wer da
will, der nehme". Darum die Hinzufügung: „Und dies
sei euch das Zeichen: ihr werdet ein Kind finden, in
Windeln gewickelt und in einer Krippe liegend". Für uns
klingt das sehr einfach; aber den Christus hat es alles gekostet.
Er mußte die ewige Herrlichkeit verlassen, um
Fleisch zu werden. Er mußte kommen, um hienieden zu
leiden, und das schon als ein schwaches Kindlein — denn
Er lag in einer Krippe! Bei der ersten Berührung mit
der Natur, die Er anzunehmen kommt, offenbart sich
Seine Laufbahn als eine Laufbahn voller Entbehrung.
Muß nicht schon der bloße Gedanke an jemand, der
gut zu uns gewesen ist, unser Interesse für seine Person
wecken? Welcher Art sollte dann unser Interesse für
den Herrn Jesus sein, wenn wir an Ihn denken als Den,
der während jener drei finsteren Stunden am Kreuze
hing!? Ein einfacher Glaube tut uns not, der unsere Seele
in Verbindung bringt mit der Person Iesu.
Sobald die Frohe Botschaft mitgeteilt ist, stimmt
239
die himmlische Heerschar die Jubelhymne an ob der Erfüllung jener unfaßbaren Tatsache, die Paulus mit den Worten kündet: „Gott geoffenbart im Fleische — gesehen von den Engeln". Wir nehmen hier die lebhafte Anteilnahme der Engel wahr an dem, was sich auf Erden zuträgt.
Diese Anteilnahme sehen wir im Alten Testament
bildlich dargestellt in der Haltung der Cherubim-Figuren
über der Bundeslade: sie begehren in diese Dinge hineinzuschauen,
begehren die Dinge zu kennen, die Christus betreffen.
In dieser Gestalt sehen wir also neutestamentliche
Wahrheiten im Alten Testament angedeutet, und in
demselben Augenblick, wo die Himmel sich öffnen, sind
die Engel auf dem Posten, um den Weg des Sohnes des
Menschen zu betrachten. Ihre Anteilnahme ist augenscheinlich,
ohne daß sie alle die Gründe dazu haben, die unsere
Anteilnahme wecken.
Später treffen wir Simeon im Tempel. Gleich den
Engeln, gleich Elisabeth und Maria stimmt er einen Lobgesang
an. Belehrt durch den Heiligen Geist, erkennt er,
wer das Kindlein ist, und unverzüglich nimmt er es in
seine Arme als feinen Heiland. Das ist die Weise, sich das
Heil anzueignen, für dich und für mich. Was ist uns in
dieser Hinsicht Maria, was die Kirche, was irgend ein
Gemeinschaftskreis? Der Glaube verweigert dem Geschöpf
jeden Tribut. Ein Bruder kommt uns vielleicht zu Hilfe;
ein Freund kann unser Herz erfreuen. Aber sobald es sich
um die Seele, um die Ewigkeit handelt, kennen wir nichts
und niemand weiter als Jesus.
Simeon ist jetzt bereit, vom Schauplatz abzutreten.
Für ihn gilt das Wort: „Welche Er gerechtfertigt hat,
diese hat Er auch verherrlicht". In dem Augenblick, wo
240
die Seele in Berührung kommt mit dem Blute, ist sie für
die Herrlichkeit zubereitet. Es ist gewiß erstrebenswert und
auch eine innere Freude, in der Erkenntnis zu wachsen;
aber sobald ich durch den Glauben in das Reich des Sohnes
Gottes eingegangen bin, bin ich auch „passend gemacht.
zu dem Anteil am Erbe der Heiligen in dem Lichte".
Kann das wirklich sein? möchte man da fragen. Muß
ich nicht danach streben, mich zuerst zu vervollkommnen,
um einen Anspruch auf ein solches Erbe zu haben? Gewiß,
geistliche Entwicklung ist wünschenswert; aber was mir
vor Gott Anspruch gibt auf jenes Erbe, ist nicht mein
Mühen und Streben, sondern einzig und allein das am
Kreuz geflossene Blut. Wie ich mein Leben als Christ
führe, ist freilich von größter Bedeutung. Ich soll wachen;
und bin ich wachsam, so werde ich fleischlichen Gedanken
keinen Raum geben. Aber das ist für mich kein Verdienst.
Der Schächer am Kreuz trank aus der Quelle des Lebens
und ging hinüber ins Paradies. Ähnlich ist es mit Simeon:
Während er das Heil auf seinen Armen hielt, trug
er gleichsam schon die Krone auf dem Haupt. Die Himmel
waren ihm geöffnet.
Dann begegnen wir der Witwe Anna. Die Tage ihres
Trauerns sind zu Ende. Sie werden von einer großen
Freude abgelöst, und jeder vernimmt die Freudenbotschaft
aus ihrem Munde. Sie redet auch zu uns, und jemehr
unsere Herzen in den Geist dieser Kapitel eindringen,
desto himmlischer wird unser Leben sein. Ist es nicht,
als ob der Himmel sich uns in diesen Szenen entgegenneige?
Nicht der leiseste Schatten liegt über ihnen; das
Gemälde wird durch nichts befleckt. Anderswo sehen wir
Engel in furchterregenden Gestalten. Hier sehen wir sie
24r
nur in glänzenden Gewändern und in überströmendem
Glück. In Seiner Gegenwart ist alles Kraft und Freude.
Der Himmel ist geöffnet. Und wie er die Stätte vollkommener
Heiligkeit ist, so auch der Platz uneingeschränkter
Freude.
Wir kommen zum Ende des zweiten Kapitels. Lesen
wir da die Worte, die Maria an den „Knaben Jesus"
richtet, so beschleicht uns etwas wie leises Bedauern. Maria
allein ist's, die einen Schatten fallen läßt auf diese
Seiten. Zacharias tut es auch zu Beginn; aber sein wiederhergestellter
Glaube macht sein Säumen im Verstehen
wieder gut. Bei Maria aber finden wir Verständnislosigkeit
dem Geheimnis der Person Jesu gegenüber. Der Himmel
ist ihr hier, bildlich gesprochen, nicht mehr geöffnet.
Und diese Maria erheben die Menschen bis in den Himmel!
O über die Schlauheit der Listen Satans! Alles ist ihm
recht; jede Gelegenheit nimmt er wahr, um etwas zwischen
das Herz und Christus zu bringen. Und doch brauchen
wir nur Jesus, niemand anders als Jesus. Ihm und nur
Ihm allein vertrauen wir unsere Seelen an. Vielleicht
hat der Herr dem einen und anderen von uns eine Gabe
gegeben, die wir ausüben, indem wir sie der Beurteilung
der Zuhörer unterstellen. Geht es aber um die Seele eines
Menschen, so haben wir keinen anderen Auftrag, als einen
solchen „Gott und dem Wort Seiner Gnade" zu befehlen.
Seine Seele der Kirche befehlen, ist unbiblisch. Gott bewahre
uns davor, daß wir je einen Menschen dazu ausserdem!
Möge Er uns aber alle durchdrungen sein lassen
von der Wahrheit, daß Jesus genügt, um unserem
Gewissen Ruhe und unserem Herzen Frieden zu geben!
242
Erntedankfest
- „Sankst dem Herrn, denn Lr
ist freundlich, und Seine Güte
«ährst ewiglich." fpf. loS, t-I
Hebet, ihr Schnitter, die goldene Garde,
Schwingst sie auf den bekränzten Altar,
Saß nun im Lande kein Hungriger darbe.
Stellt sie zum Zeugnis im Heiligtum dar.
Mühlen, ste sausen,
Tennen, sie brausen.
Loben im Takt das gesegnete Jahr.
Weiht auch, ihr Armen, die nährenden Knollen,
Rötlich und bläulich in Körben gehäuft.
Unter des Ackers bedeckenden Schollen,
Nimmer vom schädlichen Regen ersäuft.
Sind uns die runden,
Meder gesunden
Apfel der Erde zur Kreude gereist.
Kommet auch ihr noch an Stäben, ihr Alten,
Singet noch einmal ein „Gott ist getreu" l
Was noch von Blumen die Gärten entfalten.
Traget zum Schmuck des Altares herbei.
Aster und Winden
Sollen verkünden:
Gottes Erbarmen blüht immer noch neu l —
Sankst dem Schöpfer und preist den Erhalter,
Dessen Barmherzigkeit immer noch neu.
Rühret die Harfe und spielet den Psalter,
Schmecket und sehet, wie freundlich Er sei.
Laßt es in Thören,
Donnernden, hören
Himmel und Erde: Ser Herr ist getreu l
Lari Gerok
243
Was kann die Kamille für die Seele
ihrer Linder tun?
Es sei vorausgeschickt, daß es sich bei dem in folgendem
Gesagten hauptsächlich um das Alter der zehn- bis
vierzehnjährigen Kinder handelt. Das ist der Lebensabschnitt,
in welchem sich der Kinderglaube zunächst am
stärksten entwickelt und zu eigenem inneren Leben führen
kann. In diesen Jahren pflegen sich auch die ersten Zweifel
bemerkbar zu machen. Tiefere Fragen tauchen auf, die
sich unter Gottes Beistand nach mancherlei Krisen meistens
zum starken, festen Erfahrungsglauben entwickeln.
Kaum einen Leser dieses Blattes wird es geben, der
nicht von der Macht der Fürbitte der Eltern für ihre Kinder
überzeugt wäre. Das Leben hat uns viele Beispiele gebracht,
die deutlich zeigen, wie stark der Einfluß gläubig
betender Eltern auf die Kinder gewesen ist. Das Elternhaus
ist ein mächtiger Grundpfeiler in der Arbeit an Kinderherzen.
Einen wichtigen Raum nimmt hier die Familienandacht
ein. Die Benutzung guter Kinderkalender (z. B. Neu-
kirchener Jugendkalender, Kasseler Illustrierter Abreißkalender)
kann dabei wertvolle Hilfe leisten. Auch einzelne
gute Bücher für kleinere Kinder, etwa „Zunn, Sonnenstrahlen
ins Kinderland" *), sind hier zu empfehlen.
Die Familienandacht darf den Kindern nie langweilig
werden. Vor allen Dingen hüte man sich vor langen Gebeten
und vielen Ermahnungen, mögen sie auch noch so
gut gemeint sein. Auch sollte die gemeinsame Andacht
s) 3 Bändchen je j,20.
244
nicht der Raum zur persönlichen Fürbitte der Eltern für
einzelne ihrer Kinder sein. Das gehört zum Gebet im
Kämmerlein. Gut ist es, wenn die Kinder regelmäßig zum
Lernen eines Spruchs angeleitet werden, wie er in den
Kalendern und in den meisten guten Kinderblättern für
jede Woche angegeben ist. Auf diese Weise gewinnen sie
ohne Mühe einen wertvollen Schatz guter Bibelsprüche.
Das „Anhalten zur Versammlung" gehört ebenfalls
in die Familie. Hüten muß man sich aber hier vor irgendeinem
Zwang. Kinder sollten nie gezwungen werden,
die Versammlungen zu besuchen. Sie sollen merken, daß
die Eltern es gern sehen, wenn sie dahin gehen. Vor allem
sollten die Eltern selbst so regelmäßige Besucher der Versammlungen
sein, daß für die Kinder die Teilnahme an
einer Sonntagsversammlung sozusagen zur Selbstverständlichkeit
wird.
Das Anhalten zum Besuch der Sonntagschule kann
nicht dringlich genug sein. Die Sonntagschule ist ja doch
eigentlich der Kinder „Element". Dort sind sie mit ihren
Alterskameraden zusammen, und die Verkündigung geschieht
so, jedenfalls sollteso geschehen, daß sie sie leicht
verstehen. Die Lieder, die sie in der Sonntagschule lernen,
gehen mit ihnen durch das ganze Leben, und manchem
ist später ein solches Lied zum Segen geworden. Die Eltern
sollten Takt genug besitzen, wenn die Kinder einmal
eine abfällige Bemerkung über ihren Sonntagschulhalter
machen, die Arbeit der Sonntagschule zu unterstützen, und
nie den Lehrer oder die Lehrerin in Anwesenheit der Kinder
mit irgendeiner Bemerkung herabsetzen. Wenn einem
etwas im Sonntagschulbetrieb nicht gefällt, so gibt es Gelegenheit,
mit dem betreffenden Mitarbeiter darüber zu
245
sprechen. Die Kinder sind durchaus nicht immer „Engel",
auch nicht in der Sonntagschule, und leider sind die Kim
der gläubiger Eltern in der Sonntagschule manchmal die
schlimmsten.
Sollte es irgendwo die Möglichkeit geben, daß die
Kinder an einer Bibelfreizeit *) teilnehmen, so ist es eigentlich
Pflicht der Eltern, daß sie ihren Kindern zur Teilnahme
verhelfen. Gezwungen sollte aber kein Kind
werden. Der Grundsatz der Freiwilligkeit muß auch hier
gewahrt werden. Wie es biblischer Grundsatz ist, die persönliche
Gewissensentscheidung des einzelnen nicht anzutasten,
so auch die des Kindes nicht.
Aber auch in der Familie selber gibt es noch viele
Möglichkeiten der Beeinflussung. Schön ist es, wenn die
Mutter zur gegebenen Zeit ihren kleineren Kindern die
biblischen Geschichten erzählt. Manche Stunde an Regentagen
oder in der Dämmerung findet da ihre wertvolle
Bestimmung. Oder der Vater erzählt den Kindern bei
Spaziergängen oder zu anderen Gelegenheiten von der
Wunderwelt der Schöpfung. Wir sollten den Rahmen des
religiösen Lebens weit spannen, sollten den Kindern zeigen,
wie Gott zu den Menschen redet, nicht nur durch
Sein Wort, sondern auch durch die Schöpfung und das
Geschehen um uns. Wir können sie aufmerksam machen
auf manche Hilfe, Wegweisung und Bewahrung im eigenen
Leben und in dem der Kinder selber. Wenn sie größer
sind, kann es nützlich sein, mit ihnen auch ein wenig Geschichte
zu treiben nach dem Thema : „Wie führt Gott die
y) Line solche besteht z. B. schon seit mehreren Jahren in der
Schweiz. Mir hoffen, unseren Lesern im kommenden Jahre auch
für unser Land Vorschläge in dieser Richtung machen zu können.
24b
Völker der Menschen?" (Anregung dazu bietet z.B.„v.d.
Ropp, Die Menschheit in der Entscheidung" *).) Gottes
Wege mit dem eigenen Volk interessieren die Kinder am
meisten. Als Deutsche können wir sie darauf Hinweisen, wie
wir, die Verlierer des Weltkrieges, heute im Begriff sind,
die wahren Sieger zu werden, weil der Weltkrieg aus
einem uneinigen Volk ein einiges, starkes Volk gestaltete.
Eine äußere Niederlage wurde ein innerer Gewinn für eine
ganze Nation. Wie leicht läßt sich von hier aus eine Lehre
finden für das persönliche Leben des Kindes!
*) Lin hochinteressantes Buch (kart. 3,90; Leinen K-L 4,80),
das in einem großen Aufriß die gesamte Weltgeschichte, und zwar
vom christlichen Standpunkt aus, darstellt. Das Buch arbeitet die
großen Linien des Weltgeschehens klar heraus, so daß es von
jedermann, auch ohne geschichtliche Vorkenntnisse, verstanden wird.
Immerhin setzt es eine gewisse Reife und ein gewisses Urteilsvermögen
voraus, das über den einen und anderen Punkt hinwegzusehen
vermag. Letzteres gilt auch von den später erwähnten
Büchern von Mnkel, „Die Arbeit am Lharakter" (kart. L« 4,—),
und zur Nieden, „Sprechstunden mit deinem Ich" (geb. LL 2,—).
Auch Kirchengeschichte sollten wir in den Familien
ein wenig pflegen. Sie ist so voller Gotteswunder und
Gottesführungen, aber auch so voller menschlicher Fehler
und Irrungen (vergl. Sohm, Kirchengeschichte), daß wir
auch damit nicht nur das Blickfeld und die Allgemeinbildung
der Kinder erweitern, sondern sie auch lehren können,
Gottes Wege zu sehen und zu gehen. Das gleiche
gilt von guten Biographien. Allerdings muß man hier
mit der Auswahl vorsichtig sein. Bringen Lebensbeschreibungen
nicht wirklich Lebendiges und Unterhaltendes, so
sind sie für Kinder langweilig. Sehr gerne lesen Zungen
von vierzehn Jahren ab „Krüger, Gottfried Kämpfer.
247
Eine Jungengeschichte aus der Herrnhuter Brüdergemeinde".
Ferner ist gut geeignet für das gleiche Alter
„Hoefs, C. H. Spurgeon", ein Buch, das sich auszeichnet
durch einen unterhaltsamen, plauderhaften Stil,
verbunden mit manchem belehrenden Wort, das nie langweilig
oder störend wirkt.
Ein wunderbares Gebiet, in das man die Kinder
schon recht frühzeitig einführen sollte, ist das der Heidenmission.
Sie steckt so voller Führungen und Gottesoffenbarungen,
zugleich aber — und das ist für Jungen
besonders reizvoll — so voller Abenteuer und seltsamer
Erlebnisse, daß Kinder gerne von den Heiden in den fernen
Ländern hören. Zugleich kann man sie hier am leichtesten
daran gewöhnen, für die Arbeit im Reiche Gottes
auch zu opfern. Diese Seite einer praktischen biblischen
Erziehung ist ungemein wichtig. Auch Kinderhand ist in
der Arbeit in Gottes Reich willkommen. Auch Kinder
brauchen nicht nur zu hören: sie können selber mithelfen.
Und wie gern sie das tun, dafür nur ein kurzes
Beispiel. Das Kinderblatt „Der Morgenstern" (im Verlag
I. G. Oncken erschienen) forderte einmal die Kinder
der Sonntagschulen auf, für die schwarzen Kinder in
Afrika Perlenketten anzufertigen und Verbandmaterial zu
sammeln. Sie taten das mit solchem Eifer, daß die Redaktion
kaum wußte, wo sie alle die kleinen und hübschen
Sachen lassen sollte. Gegen tausend Kettchen wurden
geschickt, außerdem viele andere Dinge, über die sich
die Missionare in Kamerun und noch mehr die schwarzen
Kinder gefreut haben. Hören unsere Brüder und Schwestern,
die in heidnischen Ländern für den Herrn arbeiten,
von solcher Hilfsbereitschaft unserer Kinder, so werden
248
sie gewiß gern Anregungen geben zu ähnlicher Arbeit. Es
gibt Sonntagschulen, die Geldbeträge für das Werk des
Herrn in der Ferne einschicken. Aber das Versenden von
Geld ins Ausland ist zur Zeit schwierig. Für das Schicken
von Gegenständen dagegen besteht diese Schwierigkeit nicht.
Und ist es nicht viel wertvoller, etwas für den Herrn zu
arbeiten, als fünf Pfennig in die Sonntagschulbüchse
zu stecken, die in den meisten Fällen der Vater oder die
Mutter für diesen Zweck gespendet haben?-
Eö ist fürwahr eine schöne Aufgabe, zu versuchen,
das Leben in seiner Gesamtheit, mit allen seinen Eindrücken,
dem Kind zu einem inneren Erlebnis zu gestalten.
Was nützt ein Sonntags- oder Konferenzchristentum?
Mehr noch als durch alles Reden werden Kinder beeinflußt
durch unser tägliches Vorleben. Arbeit an Kinderherzen
setzt die Arbeit an der eigenen Seele voraus. Nur
wo das eigene innere Leben gesund ist, stark und rein,
wird es zu einem Zeugnis für die eigenen Kinder. Bücher
wie „Künkel, Die Arbeit am Charakter" oder „zur
Rieden, Sprechstunden mit deinem Ich" sollten Eltern
lesen, die ihren.Kindern -dienen wollen. „Rienecker, Kinderseelenkunde"
bietet praktische, psychologische Winke dazu.
Aber alle Arbeit an Kinderherzen wurzelt in dem einfachen
Satz: Eltern, lebt euren Kindern Christus vorl
Das ist praktisches Christentum, wie unsere Zeit es
so dringend braucht, und wie es auch von der Welt wahrgenommen
werden kann. — ts —
„Sehet zu, daß ihr nicht eines dieser Kleinen
verachtet, denn ich sage euch, daß ihre
Engel in den Himmeln aKezeit das Angesicht
meines Vaters schauen." (Matth. 18,10.)
249
„Auf daß die ^>elt glaube"
Ich möchte einen Gedanken äußern, der mich letzthin
viel beschäftigt hat. Es mag anderen ähnlich ergangen sein.
Sollten diese Zeilen Anlaß geben zu einem Gedankenaustausch,
so würde ich das freudig begrüßen.
Meine Gedanken bewegen sich auf der Linie der Gedankengänge,
die wir im Evangelium Joh. 47 finden.
Auf sie ist in diesen und anderen Blättern gerade in jüngster
Zeit bereits hier und da hingewiesen worden.
In Seinem Gebet an den Vater spricht der Herr Jesus
dreimal die Bitte aus, daß die Seinigen eins sein
möchten. In Vers 74 betet Er: „auf daß sie eins seien,
gleichwie wir". In Vers 24 sagt Er: „auf daß sie alle eins
seien, ... auf daß auch sie in uns eins seien, auf daß
die Weltglaube, daß Du mich gesandt hast", und
in Vers 23: „auf daß sie in eins vollendet seien, auf
daß die Welt erkenne, daß Du mich gesandt und
sie geliebt hast usw.".
Mir fiel auf, daß der Herr in Verbindung mit der'
Bitte, „auf daß sie eins seien", zweimal von der Welt
spricht, und ich mußte mich fragen: Haben wir dieser Tatsache
genügend Rechnung getragen? In der Zeit, als der
Herr die Worte sprach, war das Gericht über die Welt bereits
gefällt. (Vergl. Joh. 42, 34.) Auch sagt Er in dem
gleichen Gebet: „Nicht für die Welt bitte ich". Trotzdem
ist es Sein Herzenswunsch, daß „die Welt" glaube und
erkenne; und der Weg, um zu diesem Glauben und Erkennen
zu kommen, soll eben das Einssein Seiner Geliebten
sein. Um aber diesen großen Zweck zu erfüllen, muß
das Einssein in Erscheinung treten.
250
Haben wir uns nicht vielfach damit begnügt, die Einheit
beim Essen des Herrnmahles an Seinem Tisch zur
Darstellung zu bringen? Daß das eineBrot, von dem
wir alle essen, den einen Leib darstellt, und daß die
große Wahrheit von der Einheit aller Gläubigen in der
symbolischen Handlung des gemeinsamen Essens zum Ausdruck
kommt, wird kaum jemand bezweifeln, der t. Kor.
to aufmerksam liest. „Gemeinschaft mit dem Herrn und
i n dem Herrn", sagt zu dem 77. Vers das alte, vor vielen
Jahrzehnten herauögegebene Dächselsche Bibelwerk,
„das ist im allgemeinen die Grundidee des heiligen Abendmahls:
Er in uns und wir in Ihm, und wir demnach untereinander
vereinigt, Glieder des einen Leibes, der die
Gesamtheit der in Gemeinschaft mit ihm Stehenden bildet."
Aber für die Welt ist diese Feier kein Beweis
von der Einheit, von der wir reden. Denn mag man sich
auch beim Essen von dem einen Brote im Geist mit allen
Gläubigen noch so verbunden fühlen, mag man sie alle in
Liebe zu umfassen suchen, je nach der Erkenntnis, die der
einzelne von der großen Wahrheit des einen Leibes, der
einen Gemeinde des lebendigen Gottes besitzt, so hat das
doch die vielen Spaltungen inmitten der Gläubigen nicht
zu beseitigen vermocht. Für die Welt war und ist es kein
Zeugnis. Mag die herrliche Wahrheit, daß alle zu dem
einen Leihe gehören, daß sie alle eins sind, auch in Gebeten
und Liedern zum Ausdruck kommen — die Welt
merkt nichts davon. Sie will sehen. Nur durch den augenfälligen
Beweis kann sie beeindruckt werden. Es stimmt
daher, wenn es in einer unserer Schriften klagend heißt
— ich führe die Stelle mit einigen Auslassungen an —:
„Ach, wenn die kostbare Einheit der Kinder Gottes doch
251
mehr verwirklicht würde! Welche Segnungen würde man
daraus erwarten dürfen — auch für die Welt! Wenn z. B.
alle Christen, die es an einem Orte gibt, sich versammeln
würden, um einmütig ihren Gott und Vater anzubeten,
ihren Herrn und Heiland zu preisen, sowie die verschiedenen
Gnadengaben, welche die einzelnen vom Herrn empfangen
haben, in Abhängigkeit von Ihm anzuwenden —
welch ein mächtiges Zeugnis würde es sein für die Welt,
für die, welche „draußen" sind! Sollte man nicht glauben
dürfen, daß sich wenigstens bis zu einem gewissen
Grade die Worte des Apostels in 1. Kor. 14, 24. 25
verwirklichen würden: „Wenn aber alle weissagen, und
irgend ein Ungläubiger oder Unkundiger kommt herein,
so wird er von allen überführt, von allen beurteilt; das
Verborgene seines Herzens wird offenbar, und also, auf
sein Angesicht fallend, wird er Gott anbeten und verkündigen,
daß Gott wirklich unter euch ist"?" *)
*) Aus: „Auf daß sie alle eins seien".
Also, die Einheit aller Gläubigen muß nach außen
zur Darstellung kommen, um ein Zeugnis zu sein für die
Welt.
„Auf daß die Welt glaube, daß Du mich gesandt
hast." Daß Du mich gesandt hast! Weshalb, in
Verbindung mit der Bitte um das Einssein der Seinigen
dieser Hinweis auf die eigene Sendung? — Weil Er,
der vom Vater Gesandte, ein Werk vollbracht hat, das
einzig dasteht in seinen Auswirkungen. Das Christentum
hat ein völlig Neues geschaffen. Eö will verbinden.
Diese Absicht ist zunächst in Erscheinung getreten in dem
Verhältnis Israels zum Heidentum, indem Christus „aus
beiden eins gemacht hat, ... in Seinem Fleische die
252
Feindschaft, das Gesetz der Gebote in Satzungen,
Hinwegtat", „auf daß Er die zwei, Frieden stiftend,
in Sich selbst zu einem neuen Menschen schüfe". (Ephes.
2, 14. 15.)
Sind größere Gegensätze denkbar als Israel und
das Heidentum? Unüberbrückbar war die Kluft zwischen
den beiderseitigen Anschauungen. Welch hochmütiges Verurteilen
auf der einen Seite, welche Verachtung auf der
anderen! Das Christentum hat da die Brücke geschlagen.
In den von Paulus gegründeten Gemeinden finden sich
durchweg Juden und Heiden brüderlich vereint, seinem
Wort an die Gemeinde in Korinth entsprechend: „In
einem Geiste sind wir alle zueinem Leibe getauft worden,
es seien Juden oder Griechen". Aber die Überbrückung
der Gegensätze findet sich auch noch in anderen Beziehungen.
Er fügt hinzu: „Es seien Sklaven oder Freie".
(1.
Kor.
12, 13.)
Und im Kolosserbrief lesen wir:
„Wo
nicht ist Grieche und Jude, Beschnittener und Unbeschnittener,
Barbar, Scythe, Sklave, Freier, sondern Christus
alles und in allen". Mit einem Wort: Statt größter Ge­
gensätze — unlösliche Verbundenheit. Und das alles in
Christus, dem vom Vater Gesandten.
Und durch wen soll der Welt die Kunde von dieser
gewaltigen Umgestaltung, dieser Neuordnung gebracht
werden? Durch die Gemeinde selbst. „Durch die Gemeinde",
schreibt ein bekannter Schriftausleger, „wird
auch sie (die Welt) von Seinem Licht erfaßt, weil durch
die Überwindung der Jertrennungen, die die menschliche
Lieblosigkeit schafft, die Gemeinde der Welt den Beweis
für Jesu Sendung leistet und ihr zur Gewißheit bringt,
daß Er uns von Gott gegeben ist."
253
Fürwahr, eine große Aufgabe ist der Gemeinde Christi
gestellt. Während durch sie einerseits den himmlischen
Mächten die gar mannigfaltige Weisheit Gottes kundgetan
werden soll (Ephes. 3, ro), soll sie der Welt
ein machtvolles Zeugnis sein. Dazu ist sie berufen. Geht
es uns nicht ans Herz? Fragen wir uns nicht: Ist denn
keine Möglichkeit, daß die dringende Bitte unseres Herrn
Erhörung finde?
Gott sei Dankl Die Zeit wird kommen, wo die Welt
„erkennen" wird, „daß Du mich gesandt und sie geliebt
hast, gleichwie Du mich geliebt hast". (V. 23.) Das
wird dann sein, wenn wir „in eins vollendet" sind, d. h.
dann, wie ich nicht zweifle, wenn die Einheit in ihrer
vollen Entfaltung gesehen werden wird beim Erscheinen
Christi mit den Seinigen vom Himmel auf dieser Erde.
Dieser Hinweis ist tröstlich, und wiederum auch beschämend,
erinnert er uns doch an das eigene Versäumnis.
Wir sind zu Zeugen berufen. Der Herr will durch
uns, durch Seine Gemeinde, zur Welt reden. Heute!
Ihr Schicksal liegt Ihm am Herzen. So sollte es auch uns
am Herzen liegen. Möchten sich doch alle wahren Gläubigen
die Hände reichen, damit dieWelt sehe, was Christus
aus uns gemacht hat, anstatt durch die Zersplitterung
der Gläubigen abgestoßen zu werden! Es ist eine Bitte
unseres Herrn.
„Nicht für diese allein (die Jünger) bitte ich, sondern
auch für die, welche durch ihr Wort an mich glauben, auf
daß sie alle eins seien, gleichwie Du, Vater, in mir und
ich in Dir, auf daß auch siein uns eins seien, auf daß die
Welt glaube, daß D u mich gesandt hast." — mb —
254
Hans Nielsen Hauge
m.
Im Gefängnis und unterwegs.
Im Arrest wurde gesungen. Rauhe Stimmen sangen ein
rohes Lied. Und zwischen jedem Vers brachen alle in lautes Gelächter
aus. '
Ls waren außer den beiden Soldaten und Sauge noch andere
in denselben Arrest gebracht worden, und sie waren jetzt
zu sechs.
Hauge saß während des Gesanges still da und ließ seine Augen
auf seinen gefalteten Händen ruhen.
Der so gesungen hatte, schloß mit einem Fluch und sagte
dann, in ganz Norwegen gäbe es keine lustigeren Lieder, und die
andern stimmten mit ein.
Der Schlußvers wurde wiederholt, und dann ertönte schallendes
Gelächter.
Jetzt sah Hauge auf, und sein Blick richtete sich auf den, der
gesungen hatte. Sein Gesicht war düster, aber unaussprechlich
mild, und seine Augen hatten einen wunderbaren Glanz.
„Was glotzst du denn so?" fragte der Soldat roh. „Hast du
noch nie Menschen gesehen?"
Hauge richtete sich auf, aber sein Blick ließ den andern nicht
los.
„Du hast ja ein schönes Lied gesungen," sagte er.
Der Soldat lachte und rief: „Ja, das meinst du wohl, du!"
und er stierte Hauge dabei frech an. Lr saß mit den Händen im
Schoß und grinste mit dem ganzen Gesicht.
„Ja, ja, es war wirklich ein schönes Lied," sagte Hauge wie
vorher. „Du wirst es von deiner Mutter gehört haben."
Hauges blaue Augen bekamen dabei einen tieferen Scbein:
sie waren jetzt fast dunkel, aber noch immer ganz sanft.
Der Soldat zuckte zusammen. „Halt' dein Maul und red' nicht
von ihr!" rief er, und das Blut stieg ihm ins Gesicht.
Die andern verstummten und sahen einander an.
Aber Hauge schwieg wieder wie vorher. Ls war, als seien
die eben gefallenen scharfen Worte gar nicht gesagt worden.
255
„Sie ist vielleicht tot?" fragte er nach einem Augenblick ganz
leise.
Der Soldat erwiderte zuerst nichts. Ein merkwürdiger Ausdruck
trat in sein Gesicht.
„Das geht dich nichts an," sagte er dann, aber seine Stimme
wurde leiser.
„Nein, nein," versetzte Hauge ebenso. „Ich habe nur denken
müssen, daß sie, wenn sie noch lebte, jetzt — jetzt vielleicht nicht
sehr froh wäre."
Nun war es ganz still ringsum, und der, der so gesungen
hatte, schaute zu Boden.
„Ls kann dir doch einerlei sein, was sie ist," sagte er nach
einem Weilchen.
Hauge sah still vor sich hin.
„Was du für eine Stimme hast," begann er dann wieder.
„Möchtest du uns doch etwas Schöneres hören lassen!"
„Du müßtest Kantor werden, du Nr. sH," fiel ein anderer
ein.
Schallendes Gelächter!
Hauge schaute auf. „Das nicht gerade," sagte er.
„Pfarrer!" rief ein anderer.
Hauge lächelte fein unwiderstehliches, gewinnendes Lächeln.
„Ja — so ungefähr," sagte er.
Da brachen sie alle in spöttisches Lachen aus; nur der, so
gesungen hatte, blieb stumm.
„Du tust ja verflixt vornehm!" sagte einer. „Mir sind ja nur
ganz gewöhnliche Leute."
„Das bin ich auch," versetzte Hauge; „aber trotzdem bin
ich mir zu gut dazu, solche Lieder zu singen."
Die andern sahen einander an.
„Warum sitzst du denn dann hier im Loch?" fragte einer.
„Hast du gestohlen?"
„Du siehst eigentlich ganz darnach aus," meinte ein anderer.
Hauge gab nicht gleich eine Antwort.
„Ich hab' auch gesungen wie du — und dann bin ich hierhergekommen,"
sagte er schließlich.
„Gho!" riefen die. andern und lachten.
256
„Ich las Gottes Wort und sang — und dann kam ich hierher."
Lr schaute sorglos vor sich hin.
Die andern starrten ihn an.
„Ach — du bist vielleicht so ein Leser, ein Pietist!" rief einer.
„Gho!" sagte ein anderer. '
Hauge erwiderte nichts, er sah nur vor sich hin, dann aber
sagte er, ohne einen von den ihn-Umgebenden anzusehen: „Das
Lesen ist nicht das schlimmste, wenn man nur das liest, was
gut ist."
„Was zum Kuckuck tust du dann hier?" rief der, so am nächsten
bei Hauge saß.
Hauge richtete seinen Blick aus ihn und sagte:
„Wenn einer die Leute von dem, was böse ist, losmachen und
sie so weit bringen möchte, daß ihre Mutter daheim nicht über sie
zu weinen braucht —dann schickt man ihn hierher. Ja — wahrscheinlich
sitzet ihr auch deshalb hier?"
Lr sah sie fragend an. Ls war jetzt totenstill ringsum.
Aber der, der so gesungen hatte, wandte sich ab und vergrub
das Gesicht in den Händen; so blieb er unbeweglich sitzen.
von den andern stand einer nach dem andern auf, wanderte
wie in großer Aufregung im Arrest hin und her und setzte sich
wieder.
Dann kam der Arrestverwalter und holte die sechs Gefangenen
zum Lssen.
Aber als Hauge aufstand, trat er zu dem, der gesungen hatte,
legte ihm sanft Len Arm um die Schulter und sagte zu ihm, während
sie miteinander hinausgingen:
„Sei mir nicht böse, daß ich von diesem mit dir geredet hab';
aber ich hatte die sichere Überzeugung, daß du ein Kind Gottes
werden könntest."
Der Soldat sah Hauge an. Lin tief schmerzlicher Ausdruck
trat in das rohe junge Gesicht, etwas Warmes, Weiches zeigte
sich in seinen Augen.
„Nein, das kann ich nicht glauben," erwiderte er. Dann
wandte er sich ab und brach in Tränen aus.
Haugs blieb wartend stehen. Seine Augen wurden hell,
und um feinen Mund legte sich ein gütiger Zug.
257
„Doch," sagte er ganz leise, „jetzt bin ich dessen ganz sicher."
Der andere unterdrückte das Weinen, sah Hauge an und
erwiderte:
„Meine Mutter ist im Frühjahr gestorben."
Hauge nickte. „Aber Gott ist nicht tot," sagte er. „Halte dich
an ihn, dann könnt ihr vielleicht wieder zusammenkommen."
Der andere sah Hauge unverwandt ganz hilflos an.
„Du mußt mir dabei helfen," flüsterte er.
„Ja, das will ich," entgegnete Hauge, indem er des andern
Hand ergriff.
Jetzt stand der Arrestverwalter wieder unter der Tür.
„Was ist das hier?" fragte er streng.
Hauge wendete sich ihm zu. „Nur Gutes," antwortete er,
und er sah den barschen Mann mit seinem entwaffnenden Lächeln
an.
Dann folgten die beiden Arrestanten dem Arrestverwalter
zum Lssen.
Auf einer Wanderung war Hauge eines Abends in einem
ihm bisher unbekannten Hof eingekehrt, wo ihm für Geld und
gute Worte ein Nachtlager versprochen wurde.
Hm Lauf des Abends stellte sich der Schullehrer des (vrtes
cm, der von Hauges Anwesenheit gehört hatte, und der überfiel
Hauge sofort mit bösen Worten, indem er ihn einen unwissenden
Hrrlehrer schalt, ihn auf jede nur erdenkliche Weise verspottete
und schließlich richtige Schimpfworts und Flüche hervor-
stieß.
Hauge antwortete wenig oder gar nichts, schließlich aber ergriff
er doch das Wort und erklärte ruhig und in beherrschtem
Tone, daß das Wort Gottes, das der Schullehrer wohl besser
kenne als er, uns lehre, nicht in dieser Weise vorzugehen.
Da sprang der Schullehrer von der Bank auf und fuhr geradewegs
auf Hauge los. .
„Hch werde dich lehren, wie man vorgehen soll!" schrie er,
und damit versetzte er Hauge eine schallende Dhrfeige.
Hauge stieg das Blut in den Ropf. Er richtete sich auf, und
der starke Bauernbursche stand da, breitschulterig und mit einem
2S8
seltsamen Feuer in den blaugrausn Augen. Doch sofort war er
wieder Herr seiner selbst.
„Mit dergleichen solltest du dich nicht befassen," sagte er.
Lr sah dis Frau des Hauses an, die erschrocken und bestürzt
an der Wand lehnte.
Der Schullehrer stand mit geballter Faust vor Hauge. Nun
ging er an die Tür und riß sie auf.
„Hinaus mit dir!" schrie er. „Hier hast du nichts zu schaffen!"
Hauge sah die Hausfrau an.
„Bist du der Herr hier?" fragte er den Schulmeister.
„Ja, soweit bin ich Herr hier, daß du hinaus sollst, und
zwar auf der Stelle, sonst gibt es noch mehr Schläge!" erwiderte
dieser, und er ballte aufs neue dis Faust.
„Ich hab' auch Fäuste," sagte Hauge ruhig,' „aber ich gebrauche
sie nicht dazu, meine Brüder zu schlagen."
„Hinaus!" schrie der Schulmeister und deutete auf dis Tür,
durch die jetzt der kalte Nachtwmd hereinströmte.
Hauge wendete sich ihm ruhig zu und sagte :
„Ja, ich werde gehen — warte nur, bis ich für mich bezahlt
habe." Lr zog seinen Beutel heraus und reichte der Frau den
Betrag, der für das Nachtlager ausgemacht worden war.
Sie nahm das Geld nur zögernd.
Aber Hauge knöpfte in aller Ruhe seinen Überrock zu, wendete
sich dann wieder an den Schullehrer und sagte mit seiner
herzlichen, guten Stimme: „Ls ist gut, wenn man bei kalten!
Wetter warm angezogen ist, und ebensogut ist es, mit der Liebe
Lhristi ausgerüstet zu sein, so daß ich für die beten kann, die mich
überfallen und verfolgen. Gottes Frieden über euch und gute
Nacht!"
Dann drehte er sich stille der Tür zu und ging.
Da geschah etwas Merkwürdiges: der Schullehrer, der, von
so viel Güte überwunden, den ruhigen, friedliebenden Mann starr
angesehen hatte, brach nun plötzlich in Tränen aus und schluchzte
zum Hsrzbrechsn.
„Ach, Gott helfe mir!" stieß er hervor.
Dann lief er hinter Hauge her an die Tür und rief: „Hauge,
Hauge!"
2SS
„Ja!" antwortete Hauge aus der Dunkelheit heraus.
„Ach, kannst du mir verzeihen?" rief er, von Schluchzen unterbrochen.
„Ja! Gott vergibt uns allen!" klang die Antwort von
draußen.
Und Hauge ging weiter.
„Nein, geh nicht!" rief der Lehrer ihm nach.
„Doch, es muß sein," erklang es schon aus der Lerne.
Der Schullehrer stand draußen auf der Türschwelle mit zusammengepreßten
Händen und starrte in der Richtung der Stimme
hinaus. '
„Wohin gehst du?" rief er.
„Wohin Gott mich führt," lautete die Antwort.
„Lebwohl und Glück auf den Weg!"
„Auch dir sei Gutes beschieden!" Das war die letzte Erwiderung,
die der Schullehrer hörte, und der Gast verschwand in
der Dunkelheit.
Ja, so war Hans Nielsen Hauge.
Bücherschau *j
*) Alle an dieser Stelle besprochenen Bücher sind entweder vorrätig oder
werden schnellstens besorgt.
llarl Hartenstein: Der Prophet Daniel
kart. K-K s.75; geb. Kr 2.H0 (Lvang. Missionsverlag,
Stuttgart.)
Das Leben und Erleben eines vorbildlichen Gläubigen des
Men Bundes, der, fern der Heimat, seinen besonderen Auftrag
am babylonischen Hofe in aller Treue ausübt, wird hier in neuer,
und wie uns scheint, lebendiger und klarer Weise geschildert. Insbesondere
für manchen jüngeren Menschen, dem der „Prophet Daniel"
bis dahin eine gewisse Schwierigkeit bereitete, die er gerne
etwas auf die Seite schob, wenn sie ihm in den Weg trat, wird
das Buch manches wertvolle Wort gerade „in dis Lage der Gegenwart
hineinreden" und ihm damit einen ernsten Wink zum
Nachdenken geben. Und er wird vielleicht erkennen lernen, daß
auch für ihn wirklich und in allem Lrnst der Prophet Daniel
zum Worte Gottes gehört, das nun auch in diesem seinem Teile
lebendiger als bisher zu ihm zu reden anfängt. — Was dem
Verfasser als Ziel dieses Buches vorschwebts, hat er den Schriften
260
eines nun schon lange zur ewigen Ruhe eingegangenen gesegneten
Schriftauslegers entnommen:
„Es wird jetzt fast allen Christen so schwer, dem Herrn
stille zu halten. Aber es gilt, anzuerkennen: Mr stehen in einer
Zeit hereinbrechender Gerichte, und unser Geschlecht bedarf Zeugen,
die in Geist und Kraft der Propheten zu reden wissen... Mr
müssen unsere Häupter aufheben können in seliger Hoffnung und
Freude, weil wir wissen, daß sich unsere Erlösung naht. Dazu
mache der barmherzige Gott uns tüchtig in lauterem Verständnis
und treuer Übung des apokalyptischen Grundworts: Hier ist Geduld
und Glaube der Heiligen." (L. A. Auberlen.)
Der Inhalt: Der Prophet / Das Bild der vier Weltreiche
/ Das Bild der vier Tiere / Die leidende Kirche / Der
Wächter der Politik / Christus der Herr kommt / vom Geheimnis
der Lngelwslt / vom Kommen des Gottesreiches / Die
Frage des Verfassers des Danielbuches. —
Skizzen über die Offenbarung
von G. R. Brinke, (((0 prophetische evangelistische und erbauliche
Abhandlungen.) Leinen L« 3.SO.
Die vorliegende Arbeit gibt eine klare und leicht faßliche
Übersicht über das Buch der Vffenbarung. Diese zeichnet sich aus
durch eine besonders straff durchgeführte Einteilung der die (Offenbarung
beherrschenden Hauptgedanken in verschiedene Unterabteilungen.
Zur Kennzeichnung einige Proben aus dem Inhalt:
Der erste Lobgesang der Offenbarung (Jesu große Liebe,
sein großes Gpfer, seine uns geschenkte Würde, seine uns gegebenen
Vorrechte, sein Lobgesang). Das größte Ereignis der Offenbarung
(die Bestimmtheit des Kommens des Herrn Jesu, dis
Majestät seines Kommens, die Zeiten seines Kommens, die Folgen
seines Kommens, die göttliche Bestätigung). Lin Blick auf den
verherrlichten Lhristus (der Menschensohn, sem Haupt, seine Augen,
seine Füße, seins Stimme, seine Hand, sein Mund, sein Angesicht).
Die Gemeinde (ihr Baumeister, ihr Haupt und Zentrum,
ihre Beziehungen, ihre Gaben, ihre Aufgabe und Mission,
ihre Bestimmung). Die große Trübsal (Berichte über die große
Trübsal, dis Trübsal selbst, die Zeit der großen Trübsal, die
Dauer der großen Trübsal, die Werkzeuge der großen Trübsal,
der Schrecken der großen Trübsal). Das Tier (der Anfang seiner
Laufbahn, sein Reich, seine Regierungsdauer, seine Regierungsform,
seine Eigenschaften, seine Politik, seine endgültige Niederlage).
Kwel letzte wünsche
„Ich habe von dem Herrn empfangen, was ich
auch euch überliefert habe, daß der Herr Jesus in der
Nacht, in welcher Lr überliefert wurde, Brot nahm, und
als Lr gedankt hatte, es brach und sprach: Dies ist mein
Leib, der für euch ist; dies tut-zu meinem Gedächtnis."
(s. Aor. U. 23.2h.)
Es war in der Nacht, da der Herr überliefert wurde.
... Jedesmal, wenn diese Worte in unseren Ohren klingen,
überkommt uns aufs neue ein Ahnen furchtbaren Geschehens.
Ein Leben so voll Güte, wie es nur je auf Erden
gelebt wurde, ein Leben, wie die leuchtende Sonne so rein
und klar und warm, geht unter in einem Meer feindseligen
Hasses, in Mordluft und Blutgier. Die Nacht, da
„der Herr überliefert wurde"!... Ahnungsvolles banges
Schweigen liegt über der Tiefe dieser Worte. Wie einst das
Volk von ferne stand, als „die Lade des Bundes des Herrn
der ganzen Erde" durch den Jordan zog, so stehen auch
wir von weitem, und mit ahnendem Erschrecken sehen
wir eintreten Den, der „das Leben" ist, „das Heilige", in
den Machtbereich des Teufels, der die Macht über den
Tod hat. (Hebr. 2,1.4.) Der da die dunkle Schwelle durchschreiten
will, hinter der das Land der Schatten sich dehnt,
ist Gottes Sohn und doch Mensch unter Menschen. Wie
keiner der von einem Weibe Geborenen sonst weiß Er um
das Grauen des Todes als Lohn der Sünde. Mehr noch
als zwischen Himmel und Hölle, Licht und Finsternis ist
der Gegensatz zwischen Christus und Satansreich, denn
85. Iahrg. sh
262
hier greift der Tod nach dem Leben, wird „das Heilige"
zur Sünde gemacht. (2. Kor. 5, 21..) Mit der vollen
Kenntnis dieses furchtbaren Geschehens, dem ganzen Wissen
um die Unentrinnbarkeit des Todesgeschickes, geht hier
Jesus von Nazareth den Weg zum Fluchort Gottes.
Es ist herzergreifend. Ihn zu sehen in dieser letzten
Nacht Seines Lebens. Er weiß, daß Er allein sein wird,
wenn das bittere Ende kommt. (Joh..46, 32.) Es wird
einsam um Ihn sein, einsamer noch als einst, als von fünftausend
Menschen, die Frauen und Kinder nicht einmal
mitgerechnet, nur zwölf blieben. (Joh. 6, 67.) Einer von
denen, die damals blieben und doch ein Teufel war, wird
Ihn überliefern (Joh. 6,7k), einer mit einem Eide die Bekanntschaft
mit Ihm leugnen (Matth. 26, 72. 74) und
alle Ihn verlassen. (Matth. 26, 56.) Trotzdem Er dies
alles weiß, die Armut ihres Beharrens und die Kleinheit
ihres Verstehens kennt, nimmt Er sie mit sich auf den
Obersaal. Sehnsüchtig sehnt sich Seine Seele in dieser
schweren letzten Nacht nach mitleidsvollen, mitfühlenden
Herzen, nach Menschen, die Ihn verstehen, deren Herzen
sich Ihm öffnen sollen wie Blumenkelche, um durch den
Wohlgeruch ihres Mitempfindens Ihn zu stärken auf dem
Leidensgang nach Golgatha. Er weiß, daß Er das Mitleid
nicht findet, auf das Er wartet, nicht die Tröster,
auf die Er hofft (Ps. 6d, 20); aber selbst nach dem geringen
Trost, der in ihrer Gegenwart und ihrem geringen
Verstehen liegt, sehnt Er sich mit Sehnsucht. Und es ist,
als könne Er sich nicht trennen von dieser Gegenwart, als
suche Er die Jünger zu halten bis zum letzten Augenblick,
der überschattet ist von der Verzweiflung ihrer Flucht;
denn Er nimmt sie mit sich, als Er den Weg geht in die
263
Einsamkeit des nachtdunklen Gartens. Tödliche Betrübnis,
Bestürzung und Angst umklammern Seine Seele; herzlich
bittend sucht Er ihre wache, mitbetende Liebe. Und zögernd
nur löst Er sich von ihnen. Er nimmt die drei Vertrautesten
mit sich noch tiefer in den Garten hinein. Es ist,
als könne Er sich nicht losreißen von der Gegenwart Seiner
Jünger. Und wenn das flehende Rufen für eine Zeit
verstummt, das starke Schreien und das Weinen schweigt,
das Ringen und Beten ruht, dann kommt Er wieder und
wieder und sucht ihre mitfühlende, mitleidende Gegenwart.
So klein und arm ihr Mitempfinden auch war, so
gering ihr Verstehen und schwach ihr Geben, für Ihn war
es so groß, so kostbar, daß Er es suchte, mit sehnsüchtigem
Verlangen ersehnte, darum bat, selbst dann, als Ihm Engelsdienst
und -gegenwart zur Seite stand. Welch ein gütig
suchender, das Geringe dankbar annehmender Herr!
Selbst die armselige Kleinheit des Mitgefühls Seiner
schwachen Jünger ist kostbar für Ihn.
Und wie einst die Empfindungen Seiner Jünger eine
mit herzlichem Verlangen ersehnte Kostbarkeit für Ihn
waren, so jetzt die Erinnerungen und das Gedenken derer,
die Ihn lieben, obgleich sie Ihn nicht gesehen haben. „Tut
dies zu meinem Gedächtnis", so klingt auch heute Seine
bittende Stimme an unsere Ohren. Wenn auch nicht, wie
bei den Elfen, der Ton Seiner Worte in uns nachklingen
kann, so ist's uns doch, als rede Er selbst: „Tut dies zu
meinem Gedächtnis!" Erinnert euch meiner, eures leidenden,
sterbenden Herrn! Gedenket meines tränenreichen
Kampfes und meines bitteren Todes, der euch sichtbar
wird in diesen Zeichen! Das ist's, was diese Worte zu
uns sagen. Und die gleiche herablassende Güte, die gleiche
264
Sehnsucht aber auch, das gleiche Warten auf Mitgefühl
spricht aus ihnen. Es ist nicht zu verstehen: Der Herr der
Herrlichkeit, Jesus Christus bittet um unser armseliges,
kümmerliches Gedenken, bittet so sehr, daß Er uns die
Bitte noch besonders durch Seinen Knecht Paulus wiederholen
läßt, damit wir doch nicht meinen, nicht auch wir
könnten Ihm diese Erinnerung weihen.
Wie lange man das Abendmahl als das Mahl des
Gedenkens an das Leiden und Sterben des Herrn gefeiert
hat, wissen wir nicht. Sehr lange kann es nicht gewesen
sein, denn schon die „Lehre der zwölf Apostel" (geschrieben
um 1.50) kennt das Abendmahl nicht mehr als Gedächtnismahl.
Erst die „Brüder" haben wieder daran erinnert,
daß es in erster Linie ein Gedächtnis an den leidenden und
sterbenden Herrn ist. Aus dieser Erkenntnis haben sie die
Tat gemacht, so sehr, daß die Feier des Abendmahles als
Gedächtnismahl der Mittelpunkt ihres ganzen Gottesdienstes
und das Kernstück ihrer Zusammenkünfte wurde. Dieser
letzte Wunsch ihres Herrn galt ihnen besonders viel.
Wenn man schon den letzten Willen eines lieben Angehörigen
hochachtet, sollten da nicht die Jünger des Herrn
aller Herren mit willigem Herzen eifrig und freudig sein
in der Erfüllung Seines letzten Wunsches? Das Zeugnis
der „Brüder" war nicht vergeblich. Biele andere Christen
wurden durch sie ausgerufen zu gleichem Tun, und in weiteren
Kreisen wurde, aus ihren Anruf hin, der Bitte des
Herrn entsprochen: Dies tut zu meinem Gedächtnis. Welch
eine Freude ist es hoch für Ihn, jetzt vom Himmel herab
auf Menschen zu sehen, deren Herzensempfindungen um
Ihn sich bewegen, deren Gedanken, Gefühle und Zuneigungen
zu Ihm hingehen, die zurückdenken an Sein bitteres
265
Leiden und Sterben, einzugehen suchen in Seine Gefühle
und leidvollen Empfindungen. Wie einst der Duft der kostbaren
Narde das Haus erfüllte (Zoh. 12, 3), sonst dies
Gedenken an Ihn ein duftender Wohlgeruch für Ihn, den
erhobenen Herrn. Es ist eine besondere Quelle des Segens
gewesen für die „Brüder", dieses Gedächtnismahl, ein
Wall gegen das Eindringen des Bösen und darum der
Grund ihres guten Zeugnisses.
„Aber nicht für diese allein bitte ich, sondern auch
für dis, welche durch ihr Wort an mich glauben; auf
daß sie alle eins seien, gleichwie du, Vater, in mir und
ich in dir, auf daß auch sie in uns eins seien, auf Laß die
Welt glaube, daß du mich gesandt hast."
(Joh. t?, 20-23.)
Aber es gab noch einen zweiten Wunsch des Herrn.
An ihm lag Ihm noch mehr als an dem ersten, denn seine
Erfüllung erbat Er nicht von Seinen Jüngern, sondern
legte sie in die Hände Seines Vaters. Das zeigt, wie sehr
der Sohn, der nun bereit stand, diese Erde und die Seinen
zu verlassen, besorgt war um die Verwirklichung dieses
Wunsches. Auch von ihm wußten die „Brüder", und das
Zeugnis von diesem Wunsche nach Einheit war das Kernstück
ihrer Verkündigung. Davon haben sie in Wort und
Schrift immer wieder laut und vernehmlich geredet. Wie
eine machtvolle Stimme klang ihr Zeugnis über die Länder,
und viele in Stadt und Land, hoch und niedrig, alt
und jung wurden davon angezogen und mächtig in ihrem
Innern erregt. Da fanden sich zusammen Angehörige des
Hochadels und des Arbeiterstandes, Millionäre und Tagelöhner,
Hochschulprofessoren und Analphabeten, Geistliche
und Laien, Katholiken, Protestanten und Freikirchliche und
266
feierten gemeinsam das Mahl des Herrn. I. N. Darby
sagte damals auf die Frage, ob er auch einen an Jesus
Christus gläubigen Katholiken zum Brotbrechen aufnehmen
würde: „Wo es sich um die große Wahrheit der Erlösung
handelt — mit einem Wort, wo Christus eine
Person ausgenommen hat, solche nehmen wir auf. ...
Weil unser Tisch des Herrn ist und nicht unser, so empfangen
wir alle, die der Herr ausgenommen hat, alle, die
als arme Sünder Zuflucht zu der vorgestellten Hoffnung
genommen haben und nicht mehr in sich, sondern, in
Christo, ihrer Hoffnung, ruhen. ... Ich wiederhole, daß
wir alle empfangen, die auf dieser Grundlage sind und
verweigern und tun hinweg allen Irrtum durch das Wort
Gottes und mit der Hilfe Seines stets gesegneten, allzeit
lebendigen Geistes." Man sagte nicht: Wie denkst du über
die Auslegung dieser oder jener Schriftstelle, über Gemeindeämter,
das Recht der Ordination von Predigern, die
Kindertaufe, die Ohrenbeichte oder sonstige Fragen? Von
der Antwort darüber mache ich die Ausübung der Gemeinschaft
mit dir abhängig. Man fragte nur: Hast du eine Begegnung
mit Jesus- gehabt; hast du den Geist Gottes
empfangen? und bist du frei von Lehren, die gegen die
Grundlagen des christlichen Glaubens gehen, sowie rein
in deinem Wandel? Jeder, der diese Fragen mit ehrlichem
„Ja" beantworten konnte, den nahm man auf. Und vor
der Welt erhob sich der Anfang einer geschlossenen Einheit
vieler Kinder Gottes. Es war nur ein kleiner Anfang
und ist nur ein Anfang geblieben. Aber schon dieser kleine
Anfang war so überzeugend, ein so kraftvoller Aufruf, daß
die Öffentlichkeit weithin davon Notiz nahm. Nicht nur
die Kirchenbeamten beschäftigte diese Bewegung, auch die
267
Behörden und die Zeitungen. Aber das war nicht das
Wichtige. Wichtiger war, daß sich hier das Wort deö
Herrn erfüllte: „Auf daß die Welt glaube, daß du mich
gesandt hast!" Ungezählte Tausende kamen zum Glauben
an-den Sohn Gottes. Eine Welle der Erweckung lief durch
die Welt, und ihre Kreise bewegten die Wasserfläche des
Völkermeeres noch bis zum Ausgang des Jahrhunderts.
Aber es waren nur noch die letzten, schwachen Wellenbewegungen,
die ans Ufer schlugen, nur noch die Wirkungen
der mündlichen und schriftlichen Verkündigung. Die Verwirklichung
war nicht mehr da, denn das sichtbare
Zeugnis vor der Welt, das die gesammelte
Einheit, einfach kraft ihrer eigenen Existenz,
bildensollte,war in sGe genteilverkehrt:
Statt Einheit — Zertrennung, statt Einmütigkeit
— Zwiespalt.
Hier liegt ein weites, fruchtbares Arbeitsfeld. Durch
die ganze Welt geht heute ein Zug nach Einheit unter den
Kindern Gottes. Gott selbst treibt sie teilweise zusammen.
Ein neues Zeitalter der Kirchengeschichte beginnt. Vor vierhundert
Jahren ging von Deutschland die Botschaft aus
von der alleinigen Voraussetzung, die nötig ist, um der
Gemeinde Jesu Christi zugezählt zu werden. Luther rief
sie hinaus in die Welt, die Wahrheit von der Rechtfertigung
allein aus dem Glauben. Jetzt geht es um die Wahrheit
von der Gesamtheit der durch den Glauben an Jesus
Christus Gerechtfertigten, die Wahrheit von der
Gemeinde. DaS ist unsere Aufgabe in erster Linie,
denn es ist das. Erbe unserer Väter, das wir damit antreten.
ES war ein Gnadengeschenk von Gott, daß Er
ihnen diese Wahrheit offenbarte, und wir sollten es als
268
solches heute wieder aus Gottes Hand annehmen. Sie
waren Streiter für Gott und Seinen Christus, als sie
einst auszogen in die zerrissene, uneinige Gotteswelt, um
sie zu gewinnen für die gottgewollte Einheit. Auch wir
sollten heute wieder die ersten sein, die auf den Schanzen
stehen, hineinrufen in die weite Christenwelt: „Da ist
ein Leib und ein Geist, ... eine Hoffnung, ... ein
Herr, ein Glaube, eine Taufe, ein Gott und Vater
aller", (Eph. 4, 4. 5) und: Christus ist gestorben, „auf
daß Er die zerstreuten Kinder Gottes in eins versammelte".
(Joh. rr, 52.)
—sb—
können wir für die Seele
unserer Linder tun?
Menschen, die sich Jesus als ihrem Herrn übergeben
haben, dürfen nicht für sich selber leben. Sie sind dem
Werk ihres Herrn verpflichtet. Dafür schaffen zu dürfen,
ist ihr hohes Vorrecht. Mit einem Wort: sie sollen Mission
treiben.
Worte wie: „Gehet hin in die ganze Welt!" „Geht
hinaus auf die Wege und an die Zäune und nötigt sie, hereinzukommen!",
das ganze arbeits- und entbehrungsreiche
Leben des Paulus, vor allen Dingen aber die Wander-
und Lehrjahre unseres Herrn selbst, geben uns das klare
Beispiel. Und immer ist es so, daß wirhingehen müssen,
daß wir nicht zu stolz und selbstsüchtig sein dürfen,
andere einzuladen, daß wir uns auf die gleiche Stufe stellen
müssen mit allen anderen.
Wir müssen uns auch zu den Kindern neigen. Und
ist es nicht merkwürdig, daß wir, die wie uns soviel klü
26Y
ger dünken als sie, von ihnen lernen sollen? Wie sagt doch
der Herr Jesus? „Wer irgend das Reich Gottes nicht aufnehmen
wird wie ein Kindlern, wird nicht in dasselbe eingehen."
So stellt uns der Herr ein Kind zum Vorbild
hin. Weshalb? Weil es einfältiger und deshalb unbedingter
glaubt als wir. Der Glaube des Kindes kennt
keine Zweifel. Ein Kind glaubt rückhaltlos. Für das Kind
ist kein Wort nötig wie das des Jakobus: „Der Zweifelnde
ist gleich einer Meereöwoge, ... unstet in allen seinen
Wegen". Die Beschäftigung mit Kindern ist deswegen
für uns selber von Nutzen. Ob wir nicht schon aus diesem
Grund die Kinder mehr in den Mittelpunkt unserer Arbeit
stellen solltest?
Daß wir dazu verpflichtet sind, ihnen von dem großen
Kinderfreund zu sagen, zeigt das Beispiel des Herrn,
der sie herzte und segnete, zeigen auch Beispiele der Apostelgeschichte,
in denen Männer „mit ihrem ganzen Hause"
der Predigt lauschten. Der Herr verachtete das Töchterlein
des Jairus nicht, sondern ging selber hin und erweckte
es zu neuem Leben. Und als Er in Jerusalem einzog, waren
eö die Kinder, die Ihm am freudigsten zujauchzten —
die Erwachsenen aber kreuzigten Ihn. Es wäre ein interessantes
Bibelstudium, festzustellen, wo und was die
Bibel von den Kindern sagt, und von welchen Kindern
sie berichtet. Aus der Schrift können wir entnehmen, daß
Kinder auch in die Versammlungen hineingehören, die
gottesdienstlichen Charakter tragen. Der Knabe Samuel
diente im Tempel. Der zwölfjährige Jesus fragte Seine
Eltern: „Wisset ihr nicht, daß ich in dem sein muß, was
meines Vaters ist?" Israel wurde betreffs der Gebote Jehovas
gesagt: „Du sollst sie deinen Kindern einschärfen
270
und davon reden, wenn du in deinem Hause sitzest, und
wenn du auf dem Wege gehst, und wenn du dich niederlegst,
und wenn du aufstehst" (5. Mose 6, 7; vergl. auch
V. 8 u. y.) Als Esra unter Weinen die Sünde seines Volkes
bekannte, da waren neben Männern und Weibern auch
die Kinder dabei. Und als unter Nehemia die wiederhergestellte
Mauer Jerusalems eingeweiht wurde, da freuten
sich auch die Kinder mit. (Vergl. Esra 10, 1; Reh. 1.2,
43.) Überall sehen wir Kinder eine Rolle spielen.
Was können wir nun für unsere Kinder tun? Da sei
zunächst wieder die Sonntagschularbeit genannt. Es sollte
diesem Arbeitsgebiet von uns und von den Gemeinden
selbst größte Aufmerksamkeit gewidmet werden. Wie in
anderem gibt es auch in diesem Punkt manches neu zu
lernen. Die frühere Art des Unterrichts — ich möchte sie
den Onkel- und Tantenstil nennen — ist heute weithin hei
den Zehn- bis Vierzehnjährigen nicht mehr angebracht.
Wir dürfen nicht übersehen, daß schon der zwölfjährige
Junge heute oft bereits eine Befehlögewalt über eine
Gruppe Gleichaltriger hat. Er ist kein Kind mehr im üblichen
Sinn, er ist ein „Pimpf". Sein Eigenleben ist ausgeprägter,
seine Selbständigkeit ist größer, sein Verantwortungsbewußtsein
tritt deutlicher hervor, als es früher
in diesem Alter üblich war. Pimpfe sind keine „Kinderchen"
mehr; sie sollen kühne, strebende Jungen sein oder
werden! So tut man gut, heute die Zehn- dis Vierzehnjährigen
als eine gesonderte Einheit zu betrachten. Man
sollte versuchen, aus ihnen besondere Stoß- und Kerntruppen
heranzubilden für den Einladungs- und Werbedienst
der Sonntagschule. Auch zur Werbearbeit für Evangeliumsversammlungen
können sie durchaus herangezogcn
271
werden. Die Wortverkündigung muß bei ihnen mehr zur
Seelsorge ausgebildet werden, und der Lehrer muß gerüstet
sein, auf ihre vielett Fragen einzugehen. Das ist
heute keine leichte Aufgabe.
Die Sonntagschulstunde selber sollte einen herberen
Ton bekommen. Süßliche Phrasen, wie sie oft noch gebraucht
werden, passen nicht in unsere Zeit, die eine straffe,
gesammelte Sprache fordert. Das Heldenhafte an der Person
Christi sollte mehr in den Vordergrund treten. Früher
wurde den Kindern gern ein Bild gegeben, das den Herrn
darstellt, wie Er ein Lämmchen trägt, und die Belehrung
war dementsprechend. Solcherlei Darstellung wird heute
kaum verstanden. Die Frage: „Möchtest du auch ein
Schäflein Jesu Christi sein?" macht heute bei der Jugend
noch weniger Eindruck als früher.
Heute hat jeder Junge und jedes Mädchen Sinn
für das Beispiel des Opferns, des Gehorchens, der Selbstzucht,
der Einsatzbereitschaft, des klaren, mutigen Wortes,
der Furchtlosigkeit. Alle diese Eigenschaften können wir
im Leben des Herrn finden! Seine mächtige Bergpredigt,
Seine Einsatzbereitschaft für die Jünger im Garten Gethsemane,
Seine Würde, Sein jeder Lage angemessenes Verhalten,
die Furchtlosigkeit, mit der Er durch die aufgeregte
Menge der Pharisäer ging, Sein klagloses Leiden! Sind
das nicht Stoffe, die geradezu begeistern? Auch aus dem
Alten Testament lassen sich Gestalten des Glaubens, der
Treue und des Mutes zeichnen. Wir sollten ganz natürlich
erzählen, als berichteten wir von den Kämpfen eines
Volkes für seine Freiheit, oder als erzählten wir einen besonderen
Vorgang auf der Straße. Wir sollten es uns abgewöhnen,
in Gebet und Ansprache in einem anderen.
272
gesalbteren Tonfall zu sprechen als sonst. Die Dinge des
Evangeliums gehören in unser tägliches Leben hinein und
brauchen keine besondere Feiertagssprache! Das Kind hat
ein seines Gemerke dafür, was echt und wahr ist in unserem
Wesen. Eine frömmlerische Ausdrucksweise und
ebensolche Wesensart reizen die Kinder nur zu spöttischer
Nachahmung.
So sei unser Sonntagschulunterricht wahrhaftig, kernig,
klar und gesund, der Zeit und ihrer Art angepaßt.
Daß der Sonntagschulhalter ein wahrer Christ sein muß,
dessen Herz für seinen Herrn und also auch für seine Mitmenschen
schlägt, bedarf kaum der Erwähnung. Er muß
aber auch Verständnis haben für die Forderungen der
Zeit. Erfüllt er diese beiden Bedingungen, so wird er ganz
von selbst die rechte Form und Sprache finden und so unter
Gottes Beistand erfolgreich arbeiten können.
Auf einen Dienst in Verbindung mit der Sonntagschularbeit
sei als besonders wichtig hingewiesen. Es sind
die Hausbesuche durch die Sonntagschulhelfer. Diese
Hausbesuche sollten nicht nur den Kindern selbst gelten,
sondern auch deren Eltern. Es ist in vielen Fällen nicht
möglich, die Kinder in der Sonntagschule genügend kennen
zu lernen oder auch ihr Vertrauen zu gewinnen. Wir müssen
ihnen nachgehen. Und da die verständnisvolle Mitarbeit
der Eltern überaus wichtig ist, sollte auch mit diesen,
wo es irgend angängig ist, Rücksprache genommen werden.
Es ist auch nicht einerlei, ob die Eltern den Sonntagschulhalter
kennen oder nicht. ^Können da Fäden von Herz
zu Herz gesponnen werden, so bedeutet dies eine starke Unterstützung
der eigentlichen Sonntagschularbeit. Wie wichtig
die persönliche Fühlungnahme ist, beweist am besten
27Z
die Tatsache, daß mancher, dem die Arbeit an den Kindern
Herzenssache war oder ist, seine große Sonntagschule nur
dadurch zusammenbekam und zusammenhielt, daß er Kindern
und Eltern nachging.
Man verzeihe mir, daß ich in Verbindung mit der
Sonntagschularbeit noch einmal auf die Heidenmission Hinweise?)
Ich will damit nicht behaupten, die Heidenmission
sei die wichtigste aller Missionsarbeit. Aber erfahrungsgemäß
haben die Kinder dafür das meiste Interesse.
Es ist auch eigentümlich, daß nach meinen Beobachtungen
die Sonntagschulen, die den Gedanken der Heidenmission
den Kindern lebendig erhalten, eine Stärkung erfahren.
Für die Arbeit in den Heidenländern sammeln,
Geschichten aus dem Missionsleben hören und dann schließlich
auch selber etwas dafür tun, macht eben Kindern immer
Freude! Heidenmission in der Sonntagschule ist ganz
praktischer Unterricht, der immer wieder das Bibelwort
unterstreicht und vertieft.
Neben die Sonntagschule muß ein besonderer Bibel-
Unterricht treten. Er ist heute nötiger denn je, denn schon
seit Jahrzehnten hat hier die Schule weithin versagt. Es
ist natürlich eine Überspitzung, den biblischen Unterricht
schon mit dem zehnten Lebensjahr zu beginnen. Aber vom
zwölften Jahre ab sollte ihn jede Gemeinde für ihre Kinder
einführen, auch dann, wenn nur wenige Kinder daran
teilnehmen können. Während die Sonntagschule mehr in
Form von Geschichten lehrt, geht der Bibel-Unterricht in
systematischer Weise auf die Grundfragen der christlichen
") vergl. hierzu meine Ausführungen in „Was kann die
Familie für die Seele ihrer Mnder tun?" fVktober-Botschafter.)
274
Lehre em. Mer die Art, wie dieser Unterricht erteilt werden
sollte, verweise ich auf das über Sonntagschul-Unterricht
Gesagte. Gute Anleitung für den Unterricht gibt der
bekannte, schon oft empfohlene, aber leider immer noch wenig
benutzte „Lehrplan für den Biblischen Unterricht". *)
Als neueste und sehr gute Form der Kinderarbeit hat
sich in manchen Kreisen die Jungen- oder Mädelstunde
der Sonntagschule erwiesen, die am besten an einem Wochentage
stattfindet. Während sich die Sonntagschule mehr
auf die Seele des Kindes einstellt, der Biblische Unterricht
auf den Geist, versucht die „Jungenstunde" oder „Jungschar"
auch das rein Körperliche zu erfassen, das Sichtbare,
das Alltagsleben. Es gilt ja, das ganze Wesen des
Kindes unter den Einfluß der Herrschaft Jesu zu bringen.
So müssen auch wir Geist, Seele und Leib in gleicher
Weise zu beeinflussen suchen.
Alle Formen der Kinderarbeit überschneiden sich natürlich.
Wenn sie aber alle vom gleichen Geist geleitet sind,
führen sie auch zum gleichen Ziel. Wir alle aber, ob einzelne
oder Gemeinde, haben das Recht, die Pflicht und
auch die Möglichkeit, einen ausgeprägten „Dienst am kleinen
Bruder" zu erfüllen. Deshalb bringe ich diese Ausführungen
auch im „Botschafter", statt in irgendeinem
Sonntagschulblatt.
Möchten wir uns alle klar werden über die ungeheure
Bedeutung guter christlicher Jugendarbeit, und der
Herr gebe Verantwortungsbewußtsein, Fähigkeit und
Gnade, um sie in rechter Weise zu tun!
> - § -
In hübschem Einband, gut kartoniert, A.K s.—.
275
Kragen aus dem Leserkreise
Ist etwas dagegen einzuwenden, daß das Brot gebrochen
werde in der Privatwohnung eines Bruders oder einer Schwester,
die durch jahrelange Krankheit verhindert sind, an: Tische des
Herrn tsilzunehmen? Wo finden wir Hinweise, daß das Mahl des
Herrn am ersten Wochentag gegessen werden soll?
Wir wollen der Sache von Grund aus nachgehen. Als der
Herr im Anschluß an das Essen des Passahs Sein Gedächtnismahl
einsehte, da war Er der Gastgeber, das Familienhaupt, der die
Familie um sich versammelt hatte. „Dies tut zu meinem Gedächtnis!"
ist das einfache Abschiedswort des Scheidenden. Nicht, an
was für einem Tag sie es tun sollten, gibt Er an, nicht, zu welcher
Tages- oder Nachtzeit, auch nicht, wie oft innerhalb einer abgs-
grenzten Zeitspanne. Nichts Derartiges. Was Wunder, wenn die
Gläubigen es in den Tagen der ersten Frische unter dem mächtigen
Einfluß des Heiligen Geistes so hielten, wie der Herr den Jüngern
gesagt hatte und sie es unter Seinen Augen hatte tun lassen!
Wir schälten hier ein, daß in den Wegen Gottes die Dinge allermeist
sich organisch entwickeln. So muß auch in dieser Sache eine
Entwicklung stattgefunden haben, entsprechend weiteren Mitteilungen
des nun nicht mehr auf Erden im Kreise jüdischer Jünger
weilenden Jesus, sondern von feiten eines zur Rechten Gottes erhöhten
Herrn. Diese Entwicklung ist uns nicht unbekannt. Sie
schließt in sich dis Offenbarung des Einsssins der Gläubigen untereinander
und mit Ihm als ihren: Haupte. Das Symbol dieses
Einsseins ist das eine Brot, das sie beim Abendmahl brechen,
wie uns der belehrt, dem diese Offenbarung zuteil wurde. Don
der bei dem Zusammenkommen geübten Weise oder von Zeitpunkten
und Tagesangaben ist auch hier keine Rede, es sei den»
so beiläufig irr Apstgsch. 20, 7, daß es in Troas am ersten Tage
der Woche gewesen sei. Wohl aber lesen wir vom „versammclt-
sein, um Brot zu brechen", sowie von einem „als Versammlung
Zusammenkommen" oder vom „Zusammenkommen an einem
Orts, um des Herrn Mahl zu essen". (Apstgsch. 20, 7; s. Kor.
ff, (8. 20.) Wie dis Gemeinden in Judäa, die so ziemlich mit
dem Tempeldienst in Verbindung blieben, und auf die Paulus keinen
Einfluß hatte, es hielten, entzieht sich unserer Kenntnis. Aber
angenommen, sie hätten es anders gehalten, so könnte uns das
nicht beeinflussen, weil sie es nur der Langmut Gottes zu danken
hatten, daß das jüdische System bis zum Jahrs 70 andausrn
konnte.
Wenn wir unsers Gefühle ausschalten und einfach auf deutlich
gegebene Belehrungen der Schrift achten wollen, so werden
wir sagen: Das einzig Richtige für Brotbrechen oder
des Herrn Mahl Essen ist das „Zusammenkommen
als Gemeinde".
276
Nun kommt es vor, daß an benachbarten Grten eines gewissen
Umkreises Geschwister einsam wohnen. Für sie ist das Gegebene,
daß sie sich an einem Vrte aus dem Umkreis her alle zwei
oder alle vier Wochen einmal als Gemeinde zusammenfinden.
Indem sie so der Forderung der Schrift genügen, sind sie glücklich
darüber, daß ihnen dieser Ausweg offensteht. Dieser Grundsatz
ließe sich vielleicht anwenden in dem Falle, der -der ersten Frage
zu Grunde liegt. So gut Geschwister von verschiedenen Grten her
an gewissen Sonntagen in einer Privatwohnung Zusammenkommen,
weil sie keinen besonderen Versammlungsraum haben oder
benötigen, so könnten auch mehrere Geschwister aus einem oder
aus mehr als einem Grte in der Wohnung des betreffenden
Rranken „als Versammlung" zusammenkommen, um gemeinsam
mit dem Uranien das Brot zu brechen. Sollte dem Aranken das
Teil und das Glück verweigert werden, das anders sich zu verschaffen
wissen trotz der Tatsache, Laß sie einsam in ihrer Ortschaft
wohnen, wie der Aranke in seinem Zimmer? Trotzdem
scheint mir die Aranke recht zu haben, von der ich zum Schluß
einen Ausspruch bringe.
Diese Schwester war jahrelang krank und an ihr Zimmer gefesselt.
Als man ihr einmal anbot, Las Mahl des Herrn in ihrem
Zimmer zu essen, lehnte sie ab mit der Begründung: „Des Herrn
Mahl ist für dis versammelte Gemeinde, und wer daran teilnehmen
kann» sollte es nie versäumen. Wer aber, wie ich, durch
Arankheit nach Gottes Willen daran verhindert ist, dem bereite!
der Herr Stärkung und Labsal auf andere Weise."
Wer die Aranke zu beobachten Gelegenheit hatte, konnte
wahrnehmen, daß das so war. Sie gebrauchte ihren Geist in der
Betrachtung erhabener Dings ganz ungehindert. Dis schwere Erkrankung
schien sie dabei garnicht zu behindern. Es war, wie
wenn ein Tau ihren Aörper erfrischte. _ ;k__
Arms Nielsen Hauge
IV.
Versuchung.
Hauges Freunde in Bergen taten alles Mögliche, um ihn zu
bestimmen, sich in dieser Stadt nieherzulassen, wo er im Frieden
leben und wirken könnte. Die alte Jungfer Boes ließ ihn deshalb
eines Tages zu sich kommen; sie sagte, sie habe etwas Besonderes
mit ihni zu besprechen.
Als Hauge kam, saß sie sonntäglich gekleidet in ihrem Lehnstuhl.
„Du mußt dich setzen, Hauge," sagte sie. „Ich habe viel mit
dir zu reden."
277
Hauge nahm Platz; Jungfer Boes räusperte sich, nahm ihren
Stock zwischen ihre beiden Hände und begann:
„Ja, siehst du, Hauge. Ich meine, du inußt gar so viel leiden
um des Herrn willen, und ich habe mir alle deine Verfolgungen
und Strapazen recht sehr zu Herzen genommen."
Sie wiegte den Oberkörper hin und her.
„Nun ist es so, daß ich ganz »ermöglich bin; ich habe einen
Hof und Grundstücke, und da hab' ich gedacht, wenn ich nun
doch bald heimgehen werde, dann sollst du das haben, was ich
hinterlasse — wenn du dich hier in Bergen niedsrlasssn wolltest."
Sie sah ihn mit einem guten Blick an.
„Nun, was sagst du dazu?"
Hauges Gesicht war blaß geworden. Seine Augen bekamen
einen verschleierten Glanz, es war fast, als wollten Tränen hervorbrechen.
Dann sagte er ganz ruhig:
„Ich danke Luch für alle Lure Liebe und Güte, die Ihr
mir um der Gottessache willen erzeiget; aber das, was Ihr mir
bietet, kann ich nicht annehmen, nein, nein, und wenn es auch die
ganze Stadt Bergen wäre."
Jungfer Boes lehnte sich in ihrem Stuhl zurück.
„Was sagst du da?" rief sie.
„Nein, nein, und wenn es auch die ganze Stadt Bergen
wäre!" wiederholte Hans Nielsen Hauge laut.
„Ich verstehe nicht."
Jungfer Boes' große graue Augen starrten ihn durch die Brillengläser
an.
„Gerade der Sache Gottes wegen," erwiderte Hauge -bestimmt.
„Für mich wäre es ja eine große Freude, hier in Bergen
unter guten Freunden zu wohnen und es gut zu haben; aber für
alle ini ganzen Lande, die auf das lebendige Mort Gottes warten
— für sie würde ich mich einer Todsünde schuldig machen,
wenn ich mich hier zur Ruhe setzte. Ich würde wie in einem
Feuer und in den höllischen Flammen sitzen."
Jungfer Boes schwieg einen Augenblick. Dann stand sie auf
und trat zu Hauge.
„Ja, nun muß ich dir die Hand drücken," sagte sie. Und sie
nahm Hauges Hand zwischen ihre beiden.
278
„Du bist em Prachtskerl!" rief sie; „Gott segne dich! Und
zieh nur dahin, wohin du willst und mußt! sZch will dich nicht
in Versuchung führen, so gern ich es auch täte."
Mitte Juni reiste Hauge von Bergen ab. Lr zog durch den
Südfjord und Nordfjord und Südmöre' und von da nach Norb-
möre in das Surcntal, wo er in Rindal bei der Rirche Erbau-
ungsstunden hielt, aber von Pastor Finksnhagen fortgewiesen
wurde.
vom Surental zog Hauge zu Lande nach Trondhjem; und
Anfang August straf er dort ein.
Während seiner Abwesenheit von Hause hatte im Dstlande
die eigentliche Verfolgung gegen seine Anhänger eingesetzt.
Schon im vergangenen Mai war peder Hansen Aoer, der
in Lker Lrbauungsstunden gehalten hatte, von Schultheiß Gram,
festgenommen und verurteilt worden, so lange im Gefängnis zu
sitzen, bis er versprochen hätte, seine Tätigkeit als Laienprediger
aufzugcben. Drei Tage später wurden noch vier andere von
Hauges Anhängern, Berger vetle, peder Mathiesen, peder Nordlid
und Thorkel Gabestad festgenommcn, weil sie in dem Filial
des Dorfes Hsmnss zu Höland Lrbauungsstunden gehalten hatten.
Später im Herbst wurden Hauges Bruder Mikkel und sein
Vetter Paul Gundersen ebenfalls festgenommen und beide, unter
denselben Bedingungen wie die obengenannten zu Gefängnis verurteilt.
Die Nachricht von diesen Gefangennahmen erhielt Hauge
während seines Trondhjemer Aufenthalts, wo ihn selbst auch ein
ähnliches Schicksal srwarlete.
Glaube und Unglaube
Der Unglaub' spricht: Soll's denn ganz nachten?
Der Glaube: Sonne, stehe still!
Der Unglaub': Sollen wir verschmachten?
Der Glaube: Starrer Felsen, quill!
Der Unglaub' hat noch nicht gedroschen,
So ißt der Glaube schon sein Brot;
Der Unglaub' zählet seine Groschen,
Der Glaube kennet keine Not.
279
Lieht Unglaub' nichts als dunkle Nächte,
Sieht Glaube schon den Sonnenstrahl;
Sieht Unglaub' nur des Schicksals Mächte,
Erblickt der Glaube Gottes Wahl.
Wenn jenen alle Hoffnung fliehet,
Erhebst dieser kühn sein Haupt;
Der Unglaub' glaubst, was er siehet,
Der Glaube siehet, was er glaubt.
Der Unglaub' will den Höchsten meistern,
Der Glaub' erträgt gar Menschen Spott;
Der Unglaub' haust mit trüben Geistern,
Und sieh, der Glaube ruht in Gott!
Verfasser unbekannt.
„Meßre uns den Glauben!"
Du zerquälft dich, weil du Ausgang und Ende der
Sache nicht mit Händen greifen kannst. Ja, wenn du's begreifen
könntest, so wollte ich mit der ganzen Sache nichts
zu tun haben. Gott hat sie an einen Ort gestellt, den du
trotz all deinem Können und Wissen nicht kennst: er heißt
Glauben. Da haben alle Dinge, die man nicht sieht,
ihren Stand. Wenn einer versucht, diese unsichtbaren
Dinge sichtbar und greifbar zu machen, wie du tust, der
empfängt Sorgen und Tränen als der Mühe Lohn, wie
es dir ergeht. Denn all unser Zureden hilft ja nichts bei
dir ... Gott mehre dir und uns allen den Glau«
den!... Luther.
Bücherschau
Biblisches Gebetsbüchlein von Fr. Hauß. (26 s Seiten.) Leinen
2.80. Der Thor der biblischen Beter, die Gebetsweisungen
und die Gebete der Bibel.
Lin seltsamer Titel auf den ersten Blick. Aber der Untertitel
zeigt uns schon besser, was gemeint ist, und aus dem Inhaltsverzeichnis,
von dem wir weiter unten einen Teil wiedcr-
gsben, wird der Sinn dieses „Gebetbüchleins" ganz klar.
Wohl wird beim Lesen der eine und andere Ausdruck zunächst
fremd anmuten. Aber etwas Fremdes braucht noch lange
nichts Falsches zu sein. Und gerade im vorliegenden Falle scheint
mir, daß wir manche gute Anregung aus dem einen und anderen
„fremdartigen" Ausdruck nehmen können. So z. B. wenn der
Verfasser davon spricht, daß die im Buche angeführten bib
280
lischen Beter uns „vorbeten", damit wir ihnen „nachbeten" lernen.
Daß hier kein „nachplappern" gemeint ist, geht aus dem Inhalt
des Buches ohne weiteres hervor. Wer aber etwas davon
erkannt hat, wie arm unsere Gebete oft sind, wie kraft- und
seelenlos, sei es im eigenen „Kämmerchen", oder in der gemeinsamen
„Gebetsstunde", der wird aus diesem Buche und seinen
guten Worten wohl einiges mitnehmen können, auch über das
rechte „nachbeten". Wer seine eigene Ohnmacht, gerade auch im
Gebetsleben, kennengelernt hat, der erst lernt die herrlichen Gebete
der Bibel recht lesen und verstehen, zu dem erst reden sie,
still oder auch sehr laut, und öffnen die oft so verrosteten Her-
zensriegel zum eigenen, nun lebendigen „nachbeten".
Aus dem Inhalt: Die Beter der Urzeit (Kain und Abel;
Henoch; Noah) — Die Beter der Richterzeit (Gideon; Simson;
Hanna; Samuel) — Königliche Beter (David; Salomo; Asa; Io-
sgphat; Usia; Hiskia; Rkanasse) — Nachexilische Beter (Ssrub-
babel; Esra; Nehemia) — Beter im tiefsten Leiden (Hiob;Asaph)
— Die Beter der Urgemeinde (Stephanus; Philippus; Cornelius;
Lydia; Petrus; Paulus — der Beter im persönlichen Leiden —
der einsame Beter — betend hat Paulus sein Apostelamt geführt
und die Gemeinden geleitet — Dank und Anbetung bei Paulus —
seine Fürbitte für die Gemeinde — die Fürbitte für sein Volk —
Paulus bedarf selbst der Fürbitte).
von Friedrich Hauß, dem Herausgeber des oben besprochenen
„Gebetsbüchleins", sind ferner im Furche-Verlag erschienen:
Biblische Taschenkonkoröanz
Darstellung und Erläuterung der wichtigsten biblischen Begriffe.
(2(2 Seiten.) Leinen 2.86.
Biblische Gestalten
Die Menschen der Bibel als Zeugen Gottes. 2(6 Seiten.
L« 2,80.
Die zwei biblischen Konkordanzen von Friedrich Haus; stellen
in ihrem gegenseitigen Sichergänzen etwas Neues und Einzigartiges
auf dem Gebiet der Bibelkonkordänzen dar. Es ist eine
unleugbare Tatsache, daß die Kenntnis und das Verständnis der
grundlegenden Worte der Bibel in weitesten Kreisen auch der
Bibelleser noch recht unvollkommen ist. Auch wird die Bibel als
Ganzes nicht mehr so gekannt, wie es zu wünschen wäre, von
den Gestalten der Bibel sind viele für uns oft nur noch Name».
Hier kann Friedrich Hauß zum Helfer und Wegweiser in die Bibel
werden. Wo du dis Bibel aufschlägst: die Hauß'schen Konkordanzen
ermöglichen dir ohne langes Suchen und Studieren ein
lebendiges Verständnis des Gelesenen. Dabei weisen sie dich von
einem biblischen Buch zum anderen, von einer biblischen Gestalt
zur anderen und helfen dir so, in der Bibel wieder Heimat zu
erobern.
Ium Jahresschluß
Unmerklich unö mit flücht'gen schritten
ins weite Meer Ler Ewigkeit -
ein Jahr/ es ist öahingeglitten?
ein Jahr von meines Lebens Jett.
Ist es verloren mir gegangen?
Kehrt nimmermehr/ was mir gehört'?
War unnütz all mein Hoffe«/ Dangen/
was mich erfreut'/ was mich beschwert'?
Wer will hier Wert/ wer Unwert künöen?
Nur Liner kann einst Richter sein.
An seinem Throne werb' ich finben
üen sinn von meines Lebens sein.
Ist zu erkennen mir gelungen
sein Mesen hier in all Sem schein/
hat seine Liebe mich öurchürungen/
- war's nicht umsonst/ ein Mensch zu sein.
- rb -
SS. Iahrg.
282
„Bund" oder „Versammlung"?
Mele Freunde, mit denen wir jahrzehntelang in enger
Verbindung gestanden haben, sind durch die Wahl,
entweder dem „Bund freikirchlicher Christen" beizutreten
oder verboten zu bleiben, in ernste Gewissenskämpfe geraten.
Auch Außenstehende haben darauf hingewiesen, daß
der Beitritt zum „Bunde" ein Aufgeben dessen heiße,
was bisher in unserem Kreise gelehrt worden ist. „Ihr
gebt die Wahrheit von dem einen Leibe preis!" „Ihr
ersetzt die göttliche Ordnung durch menschliche Organisation!"
„Was haben Menschen in Dinge der Gemeinde
Christi hineinzureden, die allein der Beurteilung von
„Geistlichen" unterliegen?" So klingt es durcheinander.
Man redet sich die Köpfe heiß, wird je länger je unklarer,
und das Schlimmste, die Herzen entzweien sich. Das gegenseitige
Vertrauen ist nicht mehr da, eine Scheidewand,
und sei sie auch nur einer dünnen Glaswand ähnlich,
wächst empor und wird immer dicker und undurchsichtiger.
Das ist umso schmerzlicher, weil es vielfach solche trifft,
für die sonst keinerlei Trennungsgründe vorliegen, die
garnicht einmal für das Neue groß umlernen müssen, weil-
ihre Haltung sowohl der Regierung als auch dem Gesamt-
kreiö der Geschwister gegenüber von jeher die schriftgemäße
war.
Die Ursache dieser Schwierigkeit, so scheint mir, bildet
bei vielen ein grundlegender Irrtum, nämlich der, daß
sie den „Bund" für eine, wenn auch nicht äußerliche
Fortführung der „Versammlung", so doch ihres Gedankens
ansehen. Daß er das nicht sein kann noch will, besagt
schon der Name „Bund freikirchlicher Christen". Was
war der bisherige Gedanke? Wir wollten die Trennungen
innerhalb der Christenheit nicht mitmachen. Wir wollten
keiner Partei angehören, aber auch keine neue Partei gründen.
Wir wollten nur in unseren Zusammenkünften die
Wahrheit von dem einen Leibe darstellen. So ist damals
vor hundert Jahren angefangen worden. Ich möchte nichts
283
über die Entwicklung sagen — es ist zur Genüge geschehen
—, ich möchte keine offenen Wunden berühren oder
solche, die eben zu heilen beginnen, neu aufreißen. Nur
das Eine — Gott hat zugelassen, daß die Sache, an der
unsere Herzen hingen, zerschlaget wurde. Warum? Was
will Er, was wir lernen sollen? Waren die erkannten
Wahrheiten keine solchen? Gerade die eine, besonders im
Mittelpunkt stehende von dem einen Leibe ist so klar im
Worte zu finden, daß daran wahrlich nichts zu ändern,
noch nicht einmal über eine Änderung zu reden ist. Die
Wahrheit bleibt die gleiche und wird nach wie vor festgehalten.
Dann kann es also doch wohl nicht anders sein,
als daß, wer dem „Bunde", dieser menschlichen Organisation,
beitritt, dies, dem Zwang der Verhältnisse folgend,
wider besseres Wissen und Gewissen tut I? — Das
erste stimmt, das zweite nicht. Wir würden allerdings
ohne ein Verbot wohl kaum auf den Gedanken gekommen
sein, einen besonderen Bund zu gründen, es lag ja gar
keine Veranlassung vor. Aber nun hatte es sich ergeben,
daß unser bisheriges, für die Regierung undurchsichtiges
System nicht mehr in die neuen Verhältnisse paßte. Klarheit
und Ordnung sollten überall herrschen. Dieser Anforderung
entsprach die „Versammlung", so wie sie war,
nicht. Um ihr gerecht zu werden, gestattete man die Gründung
des Bundes. Diese Ordnungsforderung ist an sich
noch keine schriftgemäße Rechtfertigung. Man hat zwar
angeführt, Gott sei nicht ein Gott der Unordnung, sondern
des Friedens. Da sich diese Stelle jedoch lediglich auf
die Ordnung innerhalb der Gemeinde bezieht, möchte ich
sie nicht heranziehen. Aber es wird uns gesagt: „Unterwerfet
euch aller menschlichen Einrichtung um des Herrn
willen", (l. Petr. 2,1.3.) Angesichts dieser Stelle haben
wir nur zu prüfen: Widerspricht diese Einrichtung, der wir
uns unterwerfen sollen, dem Wort oder nicht? Wenn nicht,
so sind wir gehalten, der Regierung zu gehorchen.
Das einzige, was man an scheinbar Biblischem gegen
den „Bund" anführen könnte und auch angeführt hat, ist,
284
er sei eine Sekte. Gegen Sektiererei redet das Wort allerdings
ganz klar. Es ist jetzt nur zu untersuchen, ob die
recht haben, die so etwas von dem „Bunde" behaupten.
Über die Bedeutung des Wortes Sekte oder ihre
Kennzeichen sind die Ansichten sehr verschieden. Die Allgemeinheit
bezeichnet kleinere religiöse Gemeinschaften, die
von den großen anerkannten Landeskirchen getrennt sind,
ohne weiteres als solche. Mit dieser leichtfertigen Anwendung
des Wortes wird sich keiner begnügen, der dem Wesen
der Dinge auf den Grund gehen möchte. Für solche
ist allein maßgebend, was das Wort Gottes über die
Sache sagt.
Trifft nach der Schrift die Bezeichnung Sekte auf
einen Personenkreis allein schon deshalb zu, weil er sich
nach Denkungs- und Anschauungsweise von anderen Menschen
äußerlich unterscheidet und zu einer Gruppe zusammenschließt?
Wenn das so wäre, hätten die Christen von
vornherein aus zwei großen Sekten bestanden. Die Juden-
und Heidenchristen gingen in ihren religiösen Anschauungen,
wie auch in ihrer ganzen Lebenshaltung, so
weit auseinander, daß sie nicht einmal Tischgemeinschaft
miteinander machen wollten. (Vergl. Gal. 2, l.2.) Nirgendwo
wird den einen oder den anderen wegen dieser
Haltung Sektiererei vorgeworsen. Nur wenn einzelne ihre
Grenzen überschritten, die „aus der Beschneidung" etwa
den anderen das jüdische Gesetz aufdrängen wollten, werden
sie, wohlverstanden nur wegen dieses Aufdrängens,
zurückgewiesen. Beide Seiten werden ermahnt,
den anderen in seiner Überzeugung zu achten und
zu ertragen. Denn jeder war ja in seinem Sinne völlig
überzeugt.
Bon Sekten oder Sektiererei redet das Wort an ganz
anderen Stellen und in anderer Verbindung. Sie werden
in Gal. 5, 20 zwischen Zorn, Jank, Zwietracht, Neid usw.
als Werke des Fleisches genannt. Die Philipper werden
ermahnt, nichts aus Parteisucht (Sektengeist) oder eitlem
Ruhm zu tun. Wegen ihrer „Spaltungen", verbunden
285
mit „Streitigkeiten", redet Paulus den Korinthern scharf
ins Gewissen. Nicht daß verschiedene Ansichten bestanden,
wird gerügt, sondern daß diese zu Streitereien
führten. (1. Kor. t, IK ff.) Man stritt sich um die aufgezählten
Personen, vielleicht auch ihre vermeintlichen Lehrunterschiede.
Man zankte sich mit dem anderen und trennte
sich von ihm, weil er nicht so dachte wie man selbst, so daß
Paulus ganz entsetzt fragt: „Ist der Christus zerteilt?"
Das beschämende Bild dieser Zerteilung hat die Christenheit
bis auf den heutigen Tag geboten. Aus den angeführten
Stellen scheint mir hervorzugehen, daß. eben dieser
rechthaberische Personen- und Lehrstreit das eigentliche Wesen
der Sektiererei ist. Zu solchem Streit können gute und
böse Lehren dienen, Falsches und Richtiges, Irrlehren und
selbst die Person des Herrn, oder auch, was das gleiche
ist, — „die Wahrheit". Wer einmal in einen solchen Sektengeist
geraten und völlig aus eine Idee eingeschworen
ist, für den ist es sehr schwer, zumal wenn die Idee an
sich gut und richtig ist, davon frei zu werden und sachlich
zu urteilen.
Der „Bund freikirchlicher Christen" ist eine Angelegenheit
der äußeren Ordnung. Er will keineswegs
in der Gesamtheit bestimmte Ideen streithaft vertreten;
nicht einmal wird von seinen Mitgliedern eine Uniformierung
in Denken und Leben verlangt, wie es z. B.
innerhalb der beiden großen Gruppen im Anfang der
Christenheit war. Er hat demnach mit Sektiererei nicht das
mindeste zu tun.
Wie bereits gesagt, denke man vor allem nicht, daß
er die Versammlung oder d i e Gemeinde sein oder auch
nur in besonderer Weise darstellen wolle. Einzelne Gemeinden
in ihm können, wenn sie nicht wachsam sind, zu
Sekten herabsinken, niemals aber der Bund selbst. Er ist
ja nichts als ein der Regierung gegenüber ordnungsmäßig
zusammengefaßter Personenkreis. *) Eine „Bundes"lehre
°") Man könnte von ihm als von einer rein deutschen Angelegenheit
reden, die als solche für Ausländer ohne Bedeutung ist.
286
etwa, die für alle Mitglieder verbindlich wäre und ein sektiererisches
Verhalten gegen andere Gläubige im Gefolge
hätte, kann weder Raum finden noch geduldet werden.
Es liegt in der Natur der Sache, daß die Menschen,
die in dem „Bunde" für andere sichtbar zusammengefaßt
sind, sich auch innerlich zu Gemeinden zusammenschließen.
Nicht aber darf dieser Rahmen, den der „Bund" darstellt,
für die Sache selbst, für di e Gemeinde angesehen werden,
überall, wo Gläubige im Namen Jesu sich versammeln
(Matth. r8, 20), ganz gleichgültig, ob in diesem Bunde
oder sonstwo, ist eine Gemeinde Christi, und seien es nur
zwei oder drei, gemäß Seiner Verheißung: „da bin ich
in ihrer Mitte". Mit all diesen Gemeinden fühlen sich die
innerhalb des Bundes herzlich und brüderlich verbunden
und werden dieser Verbundenheit, soweit es in ihren Kräften
steht, praktisch Ausdruck verleihen. Wird das verwirklicht
und nicht wieder aus dem Auge verloren, so bleibt
kein Raum für Sektiererei.
Ich fasse noch einmal kurz zusammen:
D i e Versammlung, d i e Gemeinde, d i e Kirche, d e r
eine Leib Christi (lauter Bezeichnungen für die gleiche
Sache) einerseits und der „Bund" anderseits sind zwei
verschiedene Dinge. Der eine Leib ist vorhanden, so
lange es Gott gefällt, uns hier zu lassen. An ihm kann
der Mensch weder dazu- noch davontun. Seine Glieder sind
überall da, wo Menschen an den gleichen Herrn glauben,
ganz gleich, in welcher Benennung sie stehen. Der „Bund"
ist nichts weiter als ein äußerer Zusammenschluß einiger
ähnlich gerichteter Glieder an diesem Leibe, für die, ohne
daß sie in allen Punkten genau das gleiche zu denken verpflichtet
sind, nichts anders verbindlich ist als das ungeteilte
Wort Gottes allein, so wie es zu einem jeden einzelnen
redet. Bindungen daneben kann und darf es nicht
geben. Sie würden zu dem führen, was wir eben nicht
wollen, zur Sektiererei.
- rb -
287
„Ich bin allen alles geworden"
(Lin Nachwort zum Artikel: „Was können wir für die Seele
unserer Ainder tun?")
Das Herz des Apostels Paulus füllte eine Person
aus/ es hatte einen Gegenstand. Diese Person, dieser
Gegenstand war Christus. Zn der Kraft des Heiligen Geistes
konnte er schreiben: „Das Leben ist für mich Christus".
(Phil, t, 2t.)
Das Leben des Apostels hatte infolgedessen auch nur
e i n Ziel, und dieses Ziel war wiederum Christus. Er, der
um Christi willen alles eingebüßt hatte und es für Dreck
achtete, achtete auch in seinem weiteren Leben alles für
Verlust, „auf daß er Christum gewinne und in Ihm erfunden
werde". (Phil. 3, 8. y.)
Diesem Christus zu dienen an den Deinigen, und indem
er, gedrängt durch die Liebe des Christus, die Menschen
überredete, bei Ihm Zuflucht zu suchen vor dem
„Schrecken des Herrn" (2. Kor. S, t4. tt), war der einzige
Zweck seines Lebens.
Um diesen Zweck zu erreichen, tat und opferte er
alles. Dazu machte er sich „allen zum Sklaven", d. h.
er erniedrigte sich, verleugnete sich, um allen zu dienen.
Dazu machte er sogar den Juden, die ihn tödlich haßten,
oder den „Brüdern" aus den Juden, die ihn nicht verstanden,
Zugeständnisse, die ihm von anderer Seite sehr übel genommen
werden konnten — er, der Apostel der Heiden, beschnitt
um der Juden willen den Timotheus (Apstgsch. tS,
Z), er, der Künder der Wahrheit, daß Christus „in Seinem
Fleische die Feindschaft, das Gesetz der Gebote in
Satzungen, hinweggetan hatte", unterwarf sich um der
Juden willen einem rein jüdischen Brauch (Apstgsch. 20,
20—27) —; dazu trat er den Heiden, die ohne Gesetz
lebten, gegenüber wie einer, der das Gesetz nicht kennt;
dazu wurde er „den Schwachen wie ein Schwacher", d. h.
er, der Starke, der von Gottes Geist Erfüllte, der mit
288
Gottes Geheimnissen Vertraute, handelte mit ihnen, als
ob er gerade so schwach, gerade so kurzsichtig wäre wie sie
selber. Dazu wurde er „allen alles, auf daß er auf
alle Weise etliche errette", (t. Kor. 9, 19—22.) Allen
alles werden, das will wahrlich viel heißen. Es ist das
Gegenteil von Einseitigkeit. Dazu ist ein weites Herz und
eine Vielseitigkeit erforderlich, die allein gebildet werden
kann in dem Mannigfachen der vielen verschiedenen Wege
der Gnade und Weisheit Gottes. Es bedeutet ein völliges
Sichanpassen der religiösen Fassungskraft und Denkweise
des anderen, ein Sichstellen auf die Stufe des anderen.
Es bedeutet Sanftmut, Demut und viel, viel Liebe. Die
eigene Person, die eigene Ehre schalten da aus; es muß
unter Umständen mit den einfachsten und auch mit ungewöhnlichen
Mitteln gearbeitet werden, um an den anderen
heranzukommen. Das kann zur Folge haben, daß mein
Vorgehen von vielen nicht verstanden wird, daß ich durch
Unehrc und böses Gerücht hindurchgehen muß, vielleicht
sogar in Gefahr komme, als Verführer gebrandmarkt zu
werden, wie es bei dem Apostel bekanntlich in reichem
Maße der Fall war. (2. Kor. 6, 8.)
Unser Artikel: „Was können wir für die Seele unserer
Kinder tun?" hat leider, wie aus mündlichen und
schriftlichen Äußerungen hervorgeht, viel Beunruhigung,
ja, teilweise stärkste Ablehnung gefunden. Zugegeben sei,
daß einige Ausdrücke vielleicht anders, verständlicher hätten
gefaßt werden können. Der Wind, der durch die Blätter
weht, mag auch zu scharf gewesen sein für manche unserer
langjährigen Leser, die an eine andere Sprache gewöhnt
sind. Der Artikelschreiber gehört nicht zu unserem engeren
Kreise. Er ist ein erfahrener Arbeiter auf dem Gebiet der
Jugendarbeit, der er sein Leben — nicht nur einige
Stunden am Sonntag — geopfert hat, und die er zu seinem
Leidwesen hat aufgeben müssen. (Jur Zeit dient er
dem Herrn in Afrika.) Bei dieser Arbeit ist es ihm klar
geworden, daß bei den Zwölf- bis Vierzehnjährigen Erfolge
28S
NM dadurch zu erzielen sind — und es handelt sich doch
hier um die so ernste, so einschneidende Frage: Wie können
wir diese Jugend für den hohen, uns vorschwebenden
Zweck interessieren, wie können wir sie für Christus gewinnen?
— daß man ihnen auf dem Boden begegnet, aus
dem sie weitgehend stehen. Die Jugend ist heute für alles
Heldische begeistert. Sich mit den Helden der Geschichte,
den Helden des Volkes zu befassen, ist ihr Genuß. Sie
sucht sie überall, nur nicht — im Christentum, denn das
Christentum, sagt man, bringt keine Helden hervor; es
macht schwach. Hier muß der Hebel ansetzen. Macht ernstes
Christentum wirklich schwach? Im Gegenteil. Das beweist
die Kirchengeschichte. Das beweisen die Märtyrer der ersten
Jahrhunderte sowohl als die der Reformation. Das beweist
vor allem das Leben unseres Herrn und Heilandes Jesus
Christus selbst. Von dieser Tatsache ausgehend, hat der
Verfasser die Worte gesunden: „Das Heldenhafte an der
Person Christi sollte mehr in den Vordergrund treten".
Diese Worte haben mit einem Werturteil über das
Bild vom guten Hirten, auf das angespielt wird, nicht
das Geringste zu tun. Den Juden war dieses Bild vertraut.
Deshalb wird es in der Schrift Neuen und Alten
Testaments an manchen Stellen gebraucht, und der Herr
benutzt es selber. Es gibt heidnische Völker, bei denen der
Missionar mit dem uns so vertraut und lieb gewordenen
Begriff vom guten Hirten und seinem Schaf überhaupt
nichts anfangen kann, weil die betreffenden Menschen ihn
einfach nicht verstehen. Das Bild des seine Herde weidenden
Schäfers ist ihnen unbekannt. Der Missionar muß es
deshalb umformen, um das Interesse der Leute zu wecken.
Ec muß ihnen auf ihrem Boden begegnen, muß sich
ihrer Denkungsart, ihrem Begriffsvermögen anpassen.
So rät der Verfasser: Faßt die Jugend da, wo sie zu
fassen ist! Will er etwa die Schönheit des Bildes vom guten
Hirten oder gar die Person des Herrn herabwürdigen? Das
Gegenteil ist der Fall. Diese erhabene Person soll für die
Jugend so herrlich, so groß werden, daß alles andere ihr
290
gegenüber klein erscheint. Deshalb auch der Ausdruck „begeistern".
Daß nur der Weg über Golgatha, nur das
Kreuz Christi, des Lammes Gottes ohne Fehl und Flecken,
zum Heil führt, ist so selbstverständlich, daß darüber in
diesen Blättern nicht geredet zu werden braucht. Um diese
Frage handelt es sich in dem Artikel überhaupt nicht. Uber
diese Wahrheit braucht unseren Sonntagschulhaltern, gegen
deren persönliche Treue der Verfasser, der selbst Sonntagschullehrer
war, auch nicht ein Wort hat sagen wollen, doch
wahrlich kein Vortrag gehalten zu werden. Wie heran-
kommen an die dem Herrn Jesus noch fern
stehende Jugend,wie siefesseln, mitdem
Endzweck, ihnen Wegweiser zum Heiland zu
sein?darumhandeltessich. Und um diesen Zweck
zu erreichen, müssen wir auch im Blick auf unsere Jugend
„allen alles werden".
Es ist auch gesagt worden, Aufsätze über Jugendarbeit
usw. gehörten nicht in den „Botschafter". Ich glaube,
wenr die ungeheure Bedeutung der Jugendarbeit klar geworden
ist, denkt anders.
Es geht uns allen doch um die überaus ernste Frage,
daß die Jugend, unsere Jugend, nicht vor Schwierigkeiten
zurückscheut, die in Wahrheit garnicht bestehen. Alle jene
Vorwürfe, die darin gipfeln, das Christentum mache
schwächlich und untüchtig zum harten Lebenskampf, sind
ja nicht wahr. Der beste Gegenbeweis ist die Person und
das Leben des Herrn Jesus. Denn das versteht auch ein
Kind, daß eine ungeheure Selbstüberwindung, ein wahrhaftes
Heldentum dazu gehört, bei ungerechten Beschuldigungen
zu schweigen, bei gemeinen Beschimpfungen, Spott
und Hohn Ml zu bleiben und selbst die noch zu lieben, die
so böse handeln. Ein alter Spruch lautet:
Den höchsten Sieg erringt,
Wer sich selbst bezwingt.
Das Leben des Herrn Jesus zeigt in Vollkommenheit,
was dieses Wort unvollkommen genug ausdrücken
will.
291
Diese und ähnliche Fragen ganz ernst zu nehmen, um
der von Gott auf uns gelegten Verantwortung unseren
Kindern gegenüber gerecht zu werden, ist Pflicht jedes
wahren Christen. Und um dazu einige Anregungen zum
Nachdenken zu geben, sind die vorstehenden Aufsätze entstanden.
Lassen wir sie auf uns wirken, indem wir urrs
unter das große Apostelwort stellen: „Die Liebe erträgt
alles, glaubt alles, hofft alles"! Wer so ans Lesen herangeht,
wird trotz ungewohnter Ausdrücke die Richtigkeit
des Gemeinten unschwer herausfinden.
Ich schließe mit einer Anführung aus dem in der
„Bücherschau" empfohlenen Heft von Erich Walenski. Sie
lautet: „Das alles könnte uns pessimistisch machen. Nein,
es soll uns frei machen von allem Vertrauen auf uns, auf
Zeltverhältnisse. Es soll in uns den Blick schärfen und
Glauben wecken für die Wahrheit. Gott ist derselbe, und
von Gott aus wollen wir die Arbeit immer wieder neu beginnen,
denn unser Glaube ist der Sieg, der die Welt
überwunden hat." — mb —
Gethsemane
nach der Darstellung des Lukas
Im Geiste durch die nahe bevorstehenden Ereignisse
gedrängt, ermahnt der Herr Seine Jünger, zu beten, daß
sie nicht „in Versuchung kommen" möchten; das will sagen:
wenn die Zeit käme, daß sie, wandelnd mit Gott, auf
die Probe gestellt werden würden, sollten sie zusehen, daß
es nicht ein Anlaß für sie werde, sich von Gott zu entfernen,
anstatt Ihm zu gehorchen. Denn es gibt in der Tat
solche Zeiten (wenn Gott es erlaubt), in denen durch die
Macht des Feindes alles auf die Probe gestellt wird.
Dann tritt in der schlagendsten Weise die Abhängigkeit
Jesu als Mensch in den Vordergrund. Die ganze
Szene in Gethsemane wie auch das Kreuz in Lukas zeigen
uns den vollkommen abhängigen Menschen. Er betet. Er
unterwirft sich dem Willen Seines Vaters. Ein Engel
stärkt Ihn: das war ihr Dienst dem Sohne des Menschen
292
gegenüber. Nachher ist Er in ringendem Kampfe und betet
heftiger: als abhängiger Mensch ist Er vollkommen in
Seiner Abhängigkeit. Die Tiefe Seiner Leiden vertieft Seinen
Verkehr mit dem Vater. Die Jünger werden schon
durch den bloßen Schatten dessen überwältigt, was Jesus
zum Gebet veranlaßte. Sie nehmen ihre Zuflucht zu der
Vergessenheit, die der Schlaf gewährt; aber mit der Geduld
der Gnade wiederholt der Herr Seine Warnung.
Beim Vergleichen dieser Stelle mit der Schilderung
derselben Ereignisse in den anderen Evangelien finden wir
Elemente von dem tiefsten Interesse, die den Charakter dieses
Evangeliums in deutlichster Weise hervortreten lassen.
Der Kampf des Herrn in Gethsemane ist in Lukas viel
ausführlicher beschrieben als irgendwo anders; aber an
dem Kreuze sehen wir Seine Erhabenheit über die Leiden,
in denen Er war: da ist kein Ausdruck der Leiden — Er
steht über ihnen. Indes ist es nicht, wie in Johannes, die
göttliche Seite des Gemäldes. Dort wird von keinem
Kampf in Gethsemane gesprochen, sondern sobald der Herr
sich zu erkennen gibt, weichen Seine Häscher zurück und
fallen zu Boden. Auf dem Kreuze hören wir kein: „Mein
Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?" sondern
Er übergibt Gott Seinen Geist. Anders ist es in Lukas.
In Gethsemane haben wir den Mann der Schmerzen vor
uns, einen Menschen, der das, was Ihm bevorstand, m
seiner ganzen Tiefe fühlte, und der zu Seinem Vater emporblickte.
„Als Er in ringendem Kampfe war, betete Er
heftiger." Auf dem Kreuze finden wir Den, der sich als
Mensch dem Willen Seines Vaters unterworfen hat, und
der, wie groß auch der Schmerz und das Leiden sein mag,
in vollkommener Ruhe über allem steht. Er fordert die
weinenden Frauen auf, über sich selbst zu weinen, nicht
aber über Ihn, das grüne Holz; denn das Gericht wat im
Anzuge. Er bittet für die, welche Ihn kreuzigten. Er verkündigt
dem armen Räuber, der bekehrt wurde, Frieden
und himmlische Freude. Er ging in das Paradies ein, ehe
das Reich kam. Dieselbe Sache tritt in besonderer Weise
2Y3
in dem Augenblick Seines Todes hervor. Es heißt nicht,
wie in Johannes: „Er übergab den Geist", sondern: „Vater,
in deine Hände übergebe ich meinen Geist". Er vertraut
Seinen Geist im Tode (als ein Mensch, der Gott
als seinen Vater kennt und an Ihn glaubt) Ihm an, den
Er also kannte. In Matthäus haben wir Sein Verlassensein
von Gott und Sein Gefühl davon. Dieser Charakter
des Evangeliums Lukas, indem es Christus in bestimmter
Weise als den vollkommenen Menschen darstellt, und der
vollkommene Mensch selbst sind voll des tiefsten Interesses.
Er ging durch Seine Trübsale mit Gott und stand
dann in vollkommenem Frieden über ihnen allen; Er vertraute
vollkommen auf Seinen Vater, selbst im Tode —
auf einem Pfade, der bis dahin von keinem Menschen betreten
worden war, und der nie von den Heiligen betreten
werden wird. Als „der Jordan voll war über alle seine
Ufer" zur Zeit der Ernte, machte die Bundeslade in der
Mitte des Flusses ihn zu einem Wege, auf welchem das
Volk Gottes trockenen Fußes in sein Erbteil einziehen
konnte.
Aus „Betrachtungen über das Mort Gottes" von I. N. D.
„Auf daß die Welt glaube"
Den Aussatz „Auf daß die Welt glaube" im Oktober-
Botschafter S. 24d—253 habe ich mit freudigem Interesse
gelesen, finde ich doch darin Gedankengänge, die
mich schon längere Zeit beschäftigt haben und auch in manchem
Herzen der Leser ein Echo Hervorrufen werden.
Für mich ist es schon länger eine feste Überzeugung,
daß der Geist Gottes in unseren Tagen unter den Kindern
Gottes aller Richtungen am Werke ist, um die durch das
Werk Christi geschaffene Einheit der Gläubigen (t. Kor.
t2, 43; Ephes. 1, 23 u. a. St.) der Welt gegenüber in
Erscheinung treten zu lassen. Schon länger
schien mir die Ansicht, daß die Einheit allein am Tische
des Herrn durch das Essen von dem einen Brote und
das Trinken von dem einen Kelche dargestellt werde,
2S4
der in Joh. 17 ausgesprochenen Bitte des Herrn nicht
gerecht zu werden.
Wir haben in Zoh. 1.7 drei Kreise, erstens: den anfänglich
kleinen Kreis der Jünger des Herrn (Vers d),
zweitens: den größeren derer, die durch das Wort der Jünger
zum Glauben an den Herrn geführt werden (Vers 20),
und drittens: die Welt (Vers 21. und 23). Das Wort
„Welt" kommt in Zoh. 17, wenn ich nicht irre, achtzehnmal
vor. Natürlich redet der Herr davon in verschiedenartiger
Beziehung. Doch eins dürste eine unbestreitbare
Wahrheit sein: der Herr wünscht vor der Welt ein
Zeugnis vonder Einheit Seiner Kinder, und zwar
nicht nur durch Wort oder Lehre, sondern durch die
T a t. Nur durch letztere kann die Welt überführt werden,
auf daß sie glaube und erkenne. Das ist kein unbiblisches
Allerweltchristentum, wie mancher denken könnte,
sondern eine Forderung des Herrn, die in Seinem
Gebet zum klaren Ausdruck kommt. Auf dieser Linie bewegte
sich zweifellos dec schon längst Heimgegangene General
von Viebahn, der einmal den Ausspruch getan haben
soll: „Wenn ich am Sonntag die Einheit mit allen Kindern
Gottes am Tische des Herrn bekenne, dann will ich
es auch in der Woche beweisen". Hat es nicht vielfach an
dieser Gesinnung gefehlt in den vergangenen Zeiten? Bei
der Verwirklichung der Einheit aller Kinder Gottes handelt
es sich, wie schon gesagt, nicht nur um ein Lehrbekenntnis,
sondern um ein Tat bekenntnis.
Eine andere wichtige Seite ist die, daß der Herr die
in der Praxis geübte Einheit aller Kinder Gottes durch
reichliche Segnungen (z. B. bei gemeinsamen Evangelisationen
von Gläubigen) gewissermaßen legitimiert hat. Eine
Erfüllung von Psalm 133! Hier bekommt die Welt den
Segen der Einheit der Kinder Gottes zu spüren: viele
lernten Buße tun und durch Glauben an den Sohn Gottes
Heil und Frieden finden. Damit ist nicht gesagt, daß
die Welt im Großen sich bekehren werde, da im gegenwärtigen
Zeitalter nur eine Auswahl aus den Völkern der
245
Erde zur Brautgemeinde oder zum Leibe Christi hinzugetan
wird. (Röm. 41, 25 u. a. St.)
Es kann der Gedanke aufkommen, daß das Miteinandergehen
mit anderen Gläubigen an einem Orte die
Gefahr bringe, den Boden der Absonderung zu verlassen
oder doch nicht als so wesentlich zu betrachten. Dem ist
nicht so. Keinem Bruder, dem die Wahrheiten des Wortes
Gottes köstlich geworden sind, kann es in den Sinn
kommen, sie aufzugeben oder zu verleugnen; aber wenn
die Liebe in seinem Herzen wirksam ist, wird er jede Gelegenheit
suchen, eine Brücke zu schlagen zum Herzen eines
anderen Bruders, der über diese und jene Schriftwahrheiten
— offenbare Irrlehren ausgeschlossen — eine andere
Erkenntnis hat. Über allem Erkennen biblischer Wahrheiten
steht doch das Ausleben der Wahrheit, wie sie in
dem Jesus ist. (Ephes. 4, 22.) Es sind so viele Berührungspunkte
mit Kindern Gottes in anderen Kreisen vorhanden,
daß man Grund genug hat, ihnen Familiengemeinschaft
zu zeigen. Alle diejenigen, die nach 4. Petr, 4
wiedergeboren sind zu einer lebendigen Hoffnung, bilden
doch in den Augen Gottes eine große göttliche Familie,
und auch wir sollten stets diesen göttlichen Blick haben.
(Ephes. 3, 45.) Und dann bleibt alles hier unten zurück:
Prophezeiungen, Sprachen und Erkenntnis. Nur die Liebe
bleibt; sie geht mit hinüber in die Ewigkeit. (4. Kor.
43, 8. 43.)
In 4. Mose 37 haben wir, wie mir scheint, in Joseph
ein Beispiel, wie der einzelne Gläubige und damit
die Gemeinde des Herrn ihren Weg gehen soll trotz der
verschiedenen Einstellung unter den Kindern Gottes. In
dem Kapitel sind mir vier Hauptstücke wichtig geworden:
Absonderung, Gehorsam, Liebe und Leiden. Hier haben
wir vier Stufen für den Weg der Gemeinde Gottes auf
Erden, aus deren Bedeutung im einzelnen ich hier nicht
weiter eingehen möchte. Nur möge darauf hingewiesen
werden, daß die Absonderung, die in manchen Zügen zum
Ausdruck kam, den „Abgesonderten unter seinen Brüdern"
246
(1. Mose 44, 26) nicht hinderte, seine Brüder zu
suchen (Bers 16) — ein wunderbares Borbild auf unseren
geliebten Herrn, aber auch ein Borbild für unseren
Weg innerhalb der betrübenden Zerrissenheit unter den
Kindern Gottes.
Das über uns hereingebrochene Gericht sollte auch
nach der Seite hin uns zum Besten dienen, daß wir das
Licht von Joh. 17 auf uns wirken lassen und uns auch besonders
darunter beugen, daß es an der Verwirklichung
der Einheit der Kinder Gottes in den vergangenen
Tagen so oft gemangelt hat. Es sei gerne hervorgehoben,
daß die Enge in der Absonderung vielfach in
voller Überzeugung oder aus guten Beweggründen beobachtet
wurde, und doch führte sie zu einer sicher nicht gewollten
Überheblichkeit und damit auf ein totes Geleise.
Die Liebe zu allen Kindern Gottes war nicht mehr das
vorherrschende Element. Es hat jemand mit Recht gesagt:
Mit der Liebe hat man noch nie etwas verdorben. Ist sie
die Triebkraft auf unserem Wege durch die Zerrissenheit
des Volkes Gottes, dann laufen wir nicht Gefahr, das
geistliche Erbe der Väter zu verwirtschaften, sondern erwerben
es, um es zu besitzen. Die Liebe ist das „Band der
Vollkommenheit". (Kol. 3, 14.)
Mancher Bruder mag beim Lesen denken: Ein neuer
Ton erklingt in unserem Schrifttum. Ja, es ist so! Aber
er ist nötig in unserer Zeit eines geistigen und geistlichen
Umbruchs, und — er läßt sich biblisch durchaus begründen,
ohne daß damit erkannte Wahrheiten preisgegeben
werden. Es dürfte auch ein Fehler sein, alles in die jenseitige
Welt zu verlegen, was die Verwirklichung der Einheit
der Kinder Gottes betrifft. Sicherlich werden wir auch
diese Einheit erst dann in Vollkommenheit schauen, wenn
einmal „das Vollkommene gekommen sein wird". Aber
die Bitte des Herrn: „auf daß sie alle eins seien", hat
nicht nur das Zukünftige im Auge. Diese Forderung bleibt
auch für die Jetztzeit in ihrer ganzen Kraft bestehen, und
sie meint, wie gesagt, nicht Lehre, sondern die Tat. Es
297
gilt daher, die Gegenwart auszunutzen zum Segen für
uns und alle Kinder Gottes und zum Jeugnisfürdie
Welt. ! ! ! !
B wie lieb' ich, Herr, Sie Deinen,
Die Dich suchen, .die Dich meinen,
G wie köstlich sind sie mir!
Du weißt, wie mich'- oft erquicket,
Wenn ich Seelen hab' erblicket,
Die sich ganz ergeben Dir. _ _
Der Ratschluß des Herrn in bezug auf die
Vereinigung der Heiligen auf der Erde
Das ist das Verlangen unserer Herzen und das, was
wir als den Willen Gottes in diesem Haushalt erkennen,
daß alle Kinder Gottes als solche vereinigt sein sollen. Der
Herr hat Sich nicht allein für Sein Volk hingegeben, sondern
auch, auf daß Er die zerstreuten Kinder-
Gottes zusammenbrächte. Diese Vereinigung war
der unmittelbare Gegenstand des Todes Christi, wie die
Erlösung der Auserwählten ebenso gewiß die göttliche Absicht
vor Seinem Kommen war wie nach ihm. Der jüdische
Haushalt, der Seinem Kommen in die Welt voranging,
hatte nicht zum Zweck, die Kirche auf der Erde zu sammeln,
sondern die Regierung Gottes inmitten eines zu diesem
Zweck erwählten Volkes zu offenbaren. Heute ist
der Zweck des Herrn ebensowohl zu sammeln als zu
erretten, eine Einheit zu verwirklichen, nicht etwa im
Himmel, wo die Vorsätze Gottes sicherlich ihre Erfüllung finden
werden, sondern hier auf Erden, durch einen Geist, der
vom Himmel gesandt ist. „Durch einen Geist sind wir
alle zu einem Leibe getauft." Dies ist unleugbar
die Wahrheit in betreff der Kirche oder der Gemeinschaft
der Gläubigen, wie sie uns im Worte Gottes dargestellt
wird. Die Vereinigung aller Kinder Gottes zu einem
einzigen Leibe stimmt vollständig mit den Gedanken
Gottes in Seinem Wort überein.
Aus „Der Botschafter in der Heimat s 853"
2S8
„Ich habe gegen Jehova gesündigt"
Lesen wir den 5i. Psalm, so werden wir in das wohl
traurigste Kapitel der Geschichte Davids versetzt. David,
der Mann nach dem Herzen Gottes, war in schwere Sünde
gefallen. Wir wollen hier nicht in Einzelheiten eingehen, die
uns in 2. Sam. 1K ausführlich berichtet werden. Der Bericht
schließt mit den Worten: „Aber die Sache, die David
getan hatte, war übel in den Augen Jehovas". Sie war in
der Tat übel. Doppelte Sünde, die des Ehebruchs und des
Mordes, hatte David auf sein Gewissen geladen. Dafür gebührte
ihm nach dem Gesetz Moses' der Tod. Gott führte
alles so, daß David sich selbst das Todesurteil sprechen
mußte. „So wahr Jehova lebt, der Mann, der dies getan
hat, ist ein Kind des Todes", urteilte er in aufwallendem
Zorn, nachdem Nathan sein Gleichnis erzählt hatte. Aber
es bedurfte diesem durch die Sünde verhärteten Herzen gegenüber
eines zweiten Prophetenwortes:
„Du bist der Mann!"
Die Worte saßen. Ein Keulenschlag hätte den Frevler
nicht vernichtender treffen können, als dieser kurze Satz es
getan hat. Man meint den also gerichteten König vor sich
zu sehen, bleich und stumm. Endlich war das Gewissen erreicht,
die Binde ihm von den Augen gefallen, und angesichts
des Heiligen Israels stand der König nackt und bloß.
Die Antwort, die er dem Prophet Nathan gab, war
fast so kurz wie die Anklage.
„Ich habe gegen Jehova gesündigt!"
Mancher mag beim Lesen des kurzen Satzes gedacht
haben: Bei solchem Vergehen hätte David mehr Worte
finden müssen! Ist das so? Was hätte er mehr sagen sollen?
Sind seine Worte nicht eine unumwundene Anerkennung
seiner Schuld, seiner Sünde gegen Gott? Die
Menschen konnten David nichts anhaben, denn der Mann,
der wider ihn hätte aussagen können, war tot. Die Folge
n der Sünde also brauchte er nicht zu fürchten. Aber er
299
hatte gegen Gott gesündigt. Und daß ihm dies mit einemmal
furchtbar klar wurde, beweist sein Bekenntnis.
Wir machen oft viele Worte und Ausflüchte. Als
Adam gesündigt hatte, schob er die Schuld auf das Weib.
So hätte auch David Gründe finden können zu seiner Entschuldigung.
Aber er fand keine, weil er keine suchte. Er erkannte
sich in Gottes Licht, das ihm Herz und Gewissen
erleuchtet hatte, und da gab es nur rückhaltlose Anerkennung
der Schuld und dann — Schweigen.
In Psalm Zr öffnet David sein Herz, und was wir
da finden an Bekenntnis und demütigem Rufen um Gnade,
ist erschütternd. Des Königs Buße ist tief, sein Schreien
der Ausdruck der Not eines zerschlagenen Herzens. Aber
der Psalm.zeigt uns noch mehr.
Vergebung war dem König schon zugesichert durch das
Wort des Propheten. „Jehova hat deine Sünde hinweggetan",
hatte Nathan auf das Schuldbekenntnis geantwortet.
Freilich, ohne Strafe ging es nicht ab. Das Kind
Bathsebas starb, und Unglück stand dem König und seinem
Hause bevor. Wie David alles aus der Hand Gottes entgegengenommen
hat, beweist seine fernere Geschichte; wie
er gelernt und innerlich zugenommen hat, der 5t. Psalm.
Kostbare Früchte sprießen auf aus seinem durch Buße und
Vergebung gereinigten und wiederhergestellten Herzen, und
die Erkenntnis der eigenen Schuld und Fehle und des eigenen
hoffnungslos verderbten Wesens führt zur inneren Erneuerung,
zu einem Verständnis des Wesens und der Gedanken
Gottes, wie er es vorher wohl nicht gehabt hatte.
Errettet von Blutschuld durch Gottes großes Erbarmen,
wird der König „jubelnd preisen Seine Gerechtigkeit".
Großes ist geschehen! Eine Seele, ist vom Tode zu neuem
Leben gebracht — wunderbarer Triumph der Gnade!
Die Bibel ist wie ein sehr großer Wald, darinnen viel und
allerlei Bäume stehen, davon man kann mancherlei Gbst und
Früchte brechen. Aber es ist kein Baum in diesem Wald,
daran ich nicht geklopft und ein paar Apfel oder Birnen
davon gebrochen und abgeschüttelt habe. Luther.
300