Botschafter des Heils in Christo Inhaltsverzeichnis: 1874

02/08/2024
von Christ-und-Buch Günter Arhelger
Botschafter des Heils 1874 
Christus der Diener3
Das Kommen des himmlischen Bräutigams  1.Thes 4,13-1812
Wie kennen wir Christum?                             2.Kor 5,1616
Praktische Betrachtungen über die Psalmen  Ps 1; Ps 2; Ps 320
Betrachtungen über                             4. Mose 1423
Gott ist es, der rechtfertigt31
Kein Brot im Schiff .  Mk 8,10-2836
Der Herr Jesus in Johannes 11 und 1240
„Er starb für mich"42
„Gott ist für uns"   1.Kor 1544
„Verschlungen ist der Tod in Sieg" .61
Die Grundwahrheiten der Versammlung: 
1. Ein Leib  Eph 465
2. Ein Geist                    1.Kor 12,1-1372
3. Die Versammlung und der Dienst .       1.Kor 1480
4. Der Gottesdienst, das Brotbrechen und das Gebet   Joh 4,10-2491
5. Gaben und Ämter   Eph 4,7-11103
6. Die Hilfsquellen des Glaubens; Verfall der Christenheit 2. Tim 2,11-12119
Wir sind dem Gesetz gestorben . Gal 2,19136
Unsere wahre Stellung138
Unter Gnade               Rö 3,14141
Die Verantwortlichkeit146
Die Fußwaschung .            Joh 13,1-17155
Vergeben und vergessen         Heb 10,17160
Das Abendmahl des Herrn  1.Kor 11,23-26; 1.Kor 10,16-17161
Gefahr und Rettung .         Heb 9,27172
Die Gefühllosigkeit der Sünde .175
Die Ruhe178
Der König David und sein neuer Wagen .1.Chr 13; 1; Chr 14; 1. Chr 15; 1. Chr 16181
Das fälschlich beruhigte Gewissen .206
Der unausforschliche Reichtum Christi226
Eins aber ist not!       Lk 10,42238
Bist du wiedergeboren? Joh 3,6241

Petrus Briefe Christus der Diener

Die Erscheinung des Sohnes Gottes — des „ewigen Le­bens, welches bei dem Vater war" — in der Welt hatte den Zweck, den Vater zu offenbaren und uns mit dem Sohne in eine und dieselbe Gemeinschaft des Vaters einzuführen. Er, Der „bei Gott", und Der „Gott" war, erniedrigte Sich Selbst, indem Er Knechtsgestalt annahm und bis zu uns hernieder kam, um uns Seiner Natur teilhaftig zu machen. Sein Kom­men geschah in einer unerwarteten Weise. Wohl hatte Jo­hannes der Täufer Zeugnis von Seiner Hoheit gegeben; aber daß Er, „der Abglanz der Herrlichkeit des Vaters, der Ab­druck seines Wesens", in einer so demütigen Gestalt erschei­nen würde, hatte niemand erwartet.

Die Beweggründe der Fleischwerdung Jesu waren außer dem Hauptzweck, den Vater zu verherrlichen und Sein Blut für unsere Sünden zu vergießen, verschiedener Natur. Zu­nächst kam Er als ein großer Prophet, um mit uns in einer uns vertrauten Sache von den großen Dingen zu reden, die im Herzen des Vaters verborgen lagen. Gott erweckte einen Propheten, Der uns gleich war, um uns Seine Geheimnisse durch die Lippen eines Menschen zu offenbaren. Ferner kam Er, um, indem Er zur Offenbarung Gottes unter den Kindern der Menschen umherwandelte, die Werke des Vaters zu tun.

 Er war das lebendige Brot, das vom Himmel hernieder kam und „Fleisch ward", um nicht nur Sein Blut zur Vergebung der Sünden zu vergießen, sondern auch Sein eigenes Leben mitzuteilen. „Ich bin das lebendige Brot, das aus dem Him­mel hernieder gekommen ist; wenn jemand von diesem Brot isset, so wird er leben in Ewigkeit. Das Brot aber, das ich geben werde, ist mein Fleisch, das ich geben werde für das Leben der Welt . . . Wer mein Fleisch isset und mein Blut trinket, hat das ewige Leben . . . Wer mein Fleisch ißt und mein Blut trinkt, bleibt in mir und ich in ihm" (Joh 6, 51. 54. 56).

Diese außergewöhnliche Person, die als Sohn Gottes, kom­mend vom Himmel aus dem Schöße des Vaters, unserem Glauben geoffenbart ist, zeugte stets von Sich Selbst, in kei­ner anderen Beziehung zur Erde zu stehen, als daß Er ge­kommen sei, um einer rebellischen Welt Segen und Frieden zu bringen. Oft versicherte Er, daß Er kein anderes Ziel ver­folge, als den Vater zu verherrlichen, das „Opfer für die Sünde zu vollbringen", die Seinigen zu retten und als der „Gesandte" die bis jetzt verborgenen Dinge zu offenbaren, während Er zu 'gleicher Zeit die Fähigkeit mitteilte, den Vater zu erkennen und zu verstehen. Er kam vom Himmel um vom Himmel zu reden; denn „der von der Erde ist, ist von der Erde und redet von der Erde" (Joh 3. 31). Wir hö­ren das geheimnisvolle Wort: „Ihr seid von dem, was unten ist, ich bin von dem, was oben ist" (Joh 8, 23). 

Er war und blieb stets „der Sohn des Menschen, der im Himmel ist" (Joh 3, 13); und als solcher offenbarte Er den Vater, Der im Himmel ist. Er redete nur von Sich Selbst, als dem „Ge­sandten" Gottes, dem Diener des Vaters. Er stellte die Bot­schaft, nie den Boten in den Vordergrund; alle Seine Gedan­ken waren auf Den gerichtet. Den zu offenbaren Er gekom­men war. „Ich suche nicht meine Ehre; es ist einer, der sie sucht und der richtet" (Joh 8, 50). Nie sucht Er Sich Selbst. Er war eins mit dem Vater, ehe die Welt war; Er war die Wonne des Vaters von Ewigkeit her; und Er kam in die Welt, um von dem, was von Anfang war, zu reden und die Geheimnisse des Vaters, die außer Ihm niemand kannte, zu offenbaren; aber nichtsdestoweniger war in Ihm nicht so sehr der Bote, sondern die Botschaft der Gnade zu erkennen.

Wie hätte der natürliche Mensch Ihn, den auf der Erde wandelnden geheimnisvollen Fremdling erkennen können! Die Ihn Umgebenden fragten: „Ist dieser nicht der Sohn des Zimmermanns"? Andere sagten: „Wir wissen nicht, woher er ist". Etliche aber waren durch den Geist Gottes befähigt worden, in Ihm den Gesandten Gottes — „den eingeborenen Sohn vom Vater, voller Gnade und Wahrheit" — zu erken­nen; und „denen gab er das Recht, Kinder Gottes zu werden, denen, die an seinen Namen glauben, die nicht aus Geblüt,

noch aus dem Willen des Fleisches, noch aus dem Willen des Mannes, sondern aus Gott geboren sind" (Joh 1. 12. 13). Das Auge, das Ihn zu erkennen vermochte, schaute die Herrlich­keit; das Ohr, das auf Ihn lauschte, hörte Worte vom Him­mel; die Hände, die Ihn betasteten, berührten das ewige Leben. Der Sohn war erschienen, um das, was Er offenbarte, auch mitzuteilen. Man konnte Ihn sehen, hören und betasten. Das ewige Leben war für die vorhanden, die dieses Wort des Lebens sahen, -hörten und betasteten. Wenn das durch den Glauben geöffnete Auge des armen Sünders sich auf Ihn heftete, so empfing er das Licht vom Himmel — das Leben Dessen, Den er geschaut hatte; das hörende Ohr teilte dem Herzen das mit, was es gehört hatte; und wenn die Hand Ihn betastete, so ging Kraft von Ihm aus.

Jedoch dürfen wir nicht vergessen, daß uns, als den Sün­dern, die Dinge aus Gnaden geoffenbart worden sind, und daß das ewige Leben nicht eher mitgeteilt werden konnte, als bis die Schuld beseitigt war und wir eine vollkommene Ge­rechtigkeit besaßen. Bevor das Blut vergossen war, konnten die Jünger wenig von der Tragweite der Worte verstehen:

Glückselig aber eure Augen, daß sie sehen usw.". Und was 'sahen sie „Die Herrlichkeit eines Eingeborenen vom Vater, voller Gnade und Wahrheit". — Und was sie sahen und hörten und mit ihren Händen betasteten, wurde ihnen gegeben — nämlich: das ewige Leben, das im Schoß des Vaters war.

Und Jesus, kommend vom Vater, hatte nichts zu. tun mit der Welt, noch mit dem, was in der Welt war. Er war in der Welt, aber nicht von der Welt. Hienieden für eine kur­ze Zeit und beauftragt mit einer Botschaft der Liebe, lebte Er getrennt von der Welt, von all ihren Grundsätzen und all ihren Gewohnheiten. Er mischt Sich nicht in ihre ge­täuschvollen Szenen, sondern Seine Gedanken waren stets bei dem Vater. Er war von oben; Sein Platz war in der Ge­genwart des Vaters. Wie beachtenswert sind daher die auf die Seinigen sich beziehenden Worte: „Sie sind nicht von der Welt, gleichwie ich nicht von der Welt bin" (Joh 17)! Er gibt ihnen nicht ein Gebot, daß sie sich anstrengen soll-

ten, um wie Menschen vom Himmel zu sein, sondern Er sagt: „Sie sind nicht von der Welt"; sie sind von oben ge­boren; sie sind in der Tat himmlisch. „Was aus dem Fleische geboren ist, ist Fleisch; und was aus dem Geiste geboren ist, ist Geist" (Joh 3, 6). Der Mensch, dem der Odem des Himmels eingehaucht ist, ist ein himmlisches Wesen gewor­den. Der Herr Jesus sagte zu wiederholten Malen zu den Juden: „Ich bin von dem, was oben ist; ich bin nicht von der Welt; ihr wisset nicht, woher ich bin". 'Er wußte, woher Er kam und wohin Er ging, die anderen wußten es nicht. Ebenso ist es mit den Gläubigen. „Sehet, welch eine Liebe uns der Vater gegeben hat, daß wir Gottes Kinder heißen sollen! Deswegen erkennt uns die Welt nicht, weil ihn nicht erkannt hat. Geliebte, jetzt sind wir Gottes Kinder, und es ist noch nicht geoffenbart worden, was wir sein werden; wir wissen, daß, wenn es geoffenbart worden ist, wir ihm gleich sein werden, denn wir werden ihn sehen, wie er ist" (1. Joh 3, 1. 2). 

Wir besitzen wirklich das Leben 'aus Gott; wir sind von oben geboren, und dorthin geht unser Weg, obgleich andere es nicht wissen. Ist das nicht die Bedeutung der Stel­le: „Der Wind weht, wo er will, und du hörst sein Sausen, aber du weißt nicht, woher er kommt und wohin er geht; also ist jeder, der aus dem Geiste geboren ist" (Joh 3, 8). Wir sind von oben; wir sind sowenig von der Welt, wie Christus von der Welt war. Würde man einen Gläubigen fragen, woher er sei, so müßte seine Antwort in der Sprache Christi sein: „Ich bin von dem, was oben ist". Das, was von Christo wahr ist, ist ebenso wahr von denen, die Ihm ange­hören, obwohl andere nicht zu beurteilen wissen, woher sie kommen, noch wohin sie 'gehen. Das ist nicht eine bloße Redensart, das ist Wahrheit — nicht ein Schatten, sondern Wirklichkeit. Wir sind nicht bloß veränderte oder verbesserte Wesen mit besseren Gedanken, besseren Gefühlen; nein, weit mehr 'als dieses. Wir sind aus Gott geboren. Söhne und Töchter des Herrn, des Allmächtigen (2. Kor 6, 18). Wir be­sitzen in Wahrheit das Leben, das im Anfang im Schöße des Vaters war. Wir haben einen himmlischen Ursprung und müssen uns daran erinnern, so oft wir mit dieser Welt zu tun haben, in deren Mitte wir uns befanden.

Was sagt Jesus in Joh 17? „Gleichwie du midi in die Welt gesandt hast, habe auch ich sie in die Welt gesandt" (V. 18). Von wo kam Jesus in die Welt? Kam Er von Nazareth? Nein; Er kam von oben — vom Himmel — aus dem Schöße des Vaters. Von dort, woher Er Selbst kam, sind auch wir gesandt; wir 'sind nicht von der Welt, gleichwie Er nicht von der Welt war. Wir sind aus Gott geboren; und der Dienst, für den wir gesandt sind, ist der Dienst Christi. Geliebte! Wir haben hienieden nur eine kurze Zeit in Liebe und Selbstverleugnung zu dienen, und zwar in der Erwartung, daß der Herr komme, um uns zu Sich zu nehmen, damit wir für immer bei Ihm sind.

Im Hebräerbrief wird Melchisedek wie jemand bezeichnet, der unerwartet erschien, ohne daß man wußte, woher er kam, und der sich wieder so plötzlich zurückzog, ohne daß man wußte, wohin er 'ging. Diese geheimnisvolle Person kam zu Abraham, der erschöpft aus dem Kampf zurückkehrte mit Brot und Wein, und verschwand den Blicken wieder, nach­dem er Abraham gesegnet hatte. Ebenso kam Christus, „weder Anfang der Tage, noch Ende des Lebens habend" (Hebr 7, 3). „Er ward Fleisch"; aber Er blieb immer das ewige Wort, der eingeborene Sohn Gottes. Niemand kannte Ihn, mit Ausnah­me der Gläubigen, deren Vorbild Abraham ist, der, indem er den Zehnten gab, dem Priestertum und dem Königtum huldigte.

Wir haben als einen Gegenstand für unser Herz jemanden nötig, der vollkommen den Vater kennt, der alle Seine Ge­danken und Gefühle versteht, und der zu gleicher Zeit fähig ist, mit uns zu sympathisieren. Denkt euch einen Menschen, von Gott kommend, aus dem Heiligtum, Seiner verborgenen Wohnung — eins mit Gott, und der zugleich wie Aaron aus der Mitte des Elends Seines Volkes hervortritt — eins mit dem Menschen; und ihr habt das Priestertum des Herrn Je­su, „Priester geworden ewiglich nach der Ordnung Melchi-sedeks". — Welch ein Vorrecht, eins zu sein mit dieser gött­lichen Person, mit diesem menschlichen Wesen, mit dem hochgepriesenen Sohne Gottes! Wer sind wir? — Solche, wie Er Selbst war — „nicht von dieser Welt".

Es ist sicher wahr, daß wir mit den Gedanken und Über­legungen des Herzens geendigt haben müssen, bevor wir diese Herrlichkeit gründlich erkennen können; aber wie tief wir auch unser Elend fühlen mögen, so wird doch die Kraft der Wahrheit, daß wir aus Gott geboren und eins mit Chri­sto sind, unsere Seelen erfüllen und die Frage in uns her­vorrufen: „Was haben wir zu tun und was ist das Ziel unserer Wirksamkeit hienieden"? Der sittliche Mensch ver­folgt seinen Weg in ehrbarer Weise; aber hat denn der Christ, als ein himmlischer Mensch, nichts weiter zu tun, als sittlicher zu sein, als er es früher war? 

Hat er in seinem Betragen nichts weiter zu zeigen, als ein höheres Maß von Sittsamkeit, wie ehedem? In der Tat, von dem Augenblick an, wo wir wissen, daß wir oben — aus Gott — geboren sind, muß auch das Bewußtsein bei uns erwachen, daß wir von Natur, von Geburt, selbst höher als die Engel gestellt sind; denn obwohl sie als Diener vor dem Herrn stehen, sind sie doch nicht gleich uns Kinder, Söhne und Töchter des Allmächtigen. Wir müssen also wissen, wie wir als Kinder Gottes in einer dieser Stellung angemessenen Weise wandeln können und uns die Frage vorlegen: „Warum sind wir, ob­wohl wir nicht von der Welt sind, dennoch in der Welt zurückgelassen"? "Gleichwie Du mich in die Welt gesandt hast, habe auch ich sie in die Welt gesandt". — Welches sind die Gefühle, die Gedanken, die Beweggründe, die Be­dürfnisse, welches ist die Tätigkeit eines Menschen, der aus Gott geboren ist? 0 Geliebte, möchten sich doch die Worte:

„Gesandt in die Welt" — tief in unsere Herzen einprägen! sie drücken klar aus, daß wir vorher von der Welt ausge­gangen sind. Wir sind Menschen, die, obwohl sie hienieden gelassen sind, dennoch ihren Platz im Himmel haben, und zwar nicht nur in bezug auf unsere Neigungen, sondern auch bezüglich unserer Natur, die von oben ist. Wir sind aus Gott geboren und besitzen das Leben Dessen, Der im Schoß des Vaters ist, geoffenbart auf der Erde als der „Sohn des Menschen", Der, obwohl Er Fleisch und Blut angenommen hatte, „im Himmel ist".

Sicher werden wir in dem Grade, wie sich dieses Leben in uns verwirklicht, auch dieselben Gedanken, Gefühle und Beweggründe haben, die wir in Christo erblicken. Seine Wünsche, Seine Genüsse, Seine Neigungen werden die Be­dürfnisse der neuen Natur sein. Dieses Leben kann sich in uns nur dem Muster gemäß offenbaren, das Jesus, Der alles für uns ist, zurückgelassen hat. Wir sehen Ihn, wie Er Sach umgürtet, um den Jüngern die Füße zu waschen, und wie Er, indem Er den in seiner Unwissenheit sich weigernden Petrus belehrt. Seine Liebesarbeit bis ans Ende fortsetzt. — Nun sind wir berufen. Seinen Platz einzunehmen. Wir sind Schuldner Christi; wir schulden Ihm unseren Dienst. Nur Seine Gnade kann uns zu diesem Dienst befähigen; Seine Liebe kann sich so reichlich in unsere Herzen ergießen, daß der Geist uns treiben wird, diejenigen, die uns umgeben, zu bedienen und ihnen 'die Füße zu waschen. Es ist möglich, daß man zu uns sagt: „Du sollst nicht meine Füße waschen".

 Aber ließ Sich der Herr Jesus dadurch zurückhalten? Wenn Christus als Diener, unser Diener, in uns ist, dann ist es unser Bedürfnis zu dienen. Wie könnten wir auf den Herrn, Der in unendlicher Gnade Sich umgürtet, um uns die Füße zu waschen, unser Auge richten, ohne angetrieben zu wer­den, uns gleichfalls zu umgürten und zu tun, wie Er getan hat? Wie könnten wir uns in der Gegenwart des Sohnes Gottes befinden. Der Sich erniedrigt und Sich vor unseren Augen bückt, ohne daß wir uns ebenfalls tief erniedrigen? Wie könnten wir Ihn anschauen und dabei müßig und gleichgültig bleiben! Ja, in der Tat, wir sind für dieses alles Seine Schuldner. Lasset uns Ihn lieben. Seine Wünsche er­füllen und uns beeifern das zu tun, was Er getan hat! Von Seiner Berührung, wenn Er unsere Füße wäscht, geht eine Kraft aus; und unsere Herzen werden in der Ausübung die­ser Gnade und Liebe Seinem Bilde gleichförmig gemacht. Seine Gnade wirkt in uns das, was in Ihm ist; sie macht uns zu Dienern und erfüllt uns mit dem, wovon das Herz Christi erfüllt ist.

Das Leben Gottes in der Seele ist Liebe. Wenn die Liebe Gottes in das Herz ausgegossen ist, zerstört sie die scheuß­liche Selbstsucht und die hassenswürdigen Leidenschaften, die sich darin befinden, und dringt es, sich zu beschäftigen mit denen, die der Vater Jesum gegeben hat — mit Seinen Schafen und Seinen Lämmern. Wir sind der göttlichen Na­tur teilhaftig geworden, um nicht nur wegen des daran ge­knüpften Segens glücklich, sondern auch fähig au sein, andere glücklich gemacht zu sehen. Denn die Liebe — diese gött­liche Liebe — liebte, als es noch nichts liebenswürdiges in dem Gegenstand ihrer Zuneigung gab. 0 möchten wir doch die Diener anderer sein, wenn sie unseren Dienst wollen; und möchte unsere Liebe sie auch dann, wenn sie unseren Dienst nicht wünschen, noch verfolgen! Die Kirche auf der Erde ist mit Finsternis vermischt; und inmitten des Verderbnisses leuchten die Heiligen wie Silberfünkchen im Staube. Es steht geschrieben: „Liebet nicht die Welt, noch was in der Welt ist. Wenn jemand die Welt liebt, so ist die Liebe des Vaters nicht in ihm" (1. Joh 2, 15). 

Was haben wir nun zu tun? Die Heiligen aus der Welt zu sammeln. Der Herr Jesus zeigt uns Selbst in Luk 15, wie Er dem verlorenen Schafe nachgeht; und ebenso in Matth 18, 12. 13, wie Er das Verlorene sucht und sammelt. Unser Dienst kann ver­schiedener Art sein; .aber die Tätigkeit der Liebe erschlafft nie. Wo es irgendein verirrtes Kind Gottes gibt, da wird sich die Energie des „ewigen Lebens" — die Liebe — mit ihm beschäftigen, um ihm die Füße zu waschen. Und selbst wenn man unseren Dienst abweist, werden wir nicht entmu­tigt werden. Gibt es Heilige, die sich in einem schlechten Zustand befinden, so laßt uns mit Ausharren und unter Gebet über sie wachen. Sicher gibt es eine Verschiedenheit des Charakters zwischen dem Dienste des Herrn Jesu und dem Unsrigen; dennoch muß Sein Wunsch der unsrige sein, „die zerstreuten Kinder Gottes in eins zu. sammeln". Wo sich auch irgendein Kind Gottes befinden mag, und wie groß auch die Vorteile sein mögen, die es verblenden — die Energie des ewigen Lebens sollte es erreichen. Das Herz Christi — Seine Liebe — umfaßt alle Heiligen. Er trägt sie alle vor Seinem Vater auf Seinem Herzen, wo sie wie Edel­steine als solche glänzen, die zuvor zu Erben der Herrlich­keit bestimmt sind.

Wir haben nichts mit den Umständen zu tun. Christus ist stärker als der, der in der Welt ist; und das ewige Leben kann durchs nachts gehemmt werden. Laßt uns nicht in einem Sektengeiste, sondern als Diener aller Heiligen unseren Weg fortsetzen. Die Liebe umfaßt alle, die Christo angehö­ren, mögen sie fern oder nah sein — sie 'sind alle Schafe, die der Weide bedürfen. Dieser Liebesdienst wird aber nicht nur von solchen erwartet, die eine besondere Gabe empfan­gen haben. Wenn wir etwas von der Liebe.. die Christum zu uns herabsandte, verstanden haben, so wird alles, was von dieser Liebe in unseren Herzen ist, diesen Dienst ausüben. Unsere Selbstsucht und unsere Gleichgültigkeit werden durch den Gedanken an die Liebe Christi überwunden. 

Es wird uns vielleicht Geringschätzung oder gar ein harter Empfang zu­teil; aber wenn auch! — die Liebe Christi wandte sich an völlig Undankbare und Unwürdige. Auf welche Weise han­delt diese unter den Menschen geoffenbarte „Liebe des Christus? Wie wird die Macht angewandt? Welches ist ihr Weg? Ist ihr Weg ein leichter, und schreckt sie zurück vor Geringschätzigkeit und Kälte? 0 nein; die Liebe Christi sucht die undankbaren Kinder Gottes, um sie zu bewahren und ihnen die Füße zu waschen. Laßt uns nicht Ruhe suchen, noch der Ruhe pflegen. Erinnern wir uns daran, daß Christus umgürtet ist, und daß Er zu einem jeglichen von uns sagt:

„Wenn nun ich, der Herr und der Lehrer, eure Füße gewa­schen habe, so seid auch ihr schuldig, einander die Füße zu waschen" (Joh 13, 14).

Ich rede nicht davon, wie weit wir es bringen können. Aber, erwarten wir nicht den Herrn? Wünschen wir nicht in Ihm erfunden zu werden, umgürtet an den Lenden, um Sei­nen Jüngern die Füße zu waschen? Die Liebe ist gleich einem ins Wasser geworfenen Stein, der immer größer und größer werdende Wellenkreise bildet. — Derselbe Grundsatz, der zwei Herzen eng zusammen verbindet, muß alle umfassen. 0 möchte doch der Herr uns verstehen lassen, welches unser Platz ist, damit wir mit dem Apostel sagen können: „Der Tod ist wirksam in uns, das Leben aber in euch" (2. Kor 4, 12)! Möchte es doch in Wirklichkeit unser Wunsch sein, daß die Liebe Christi an dem Maße unser Herz erfülle, daß nicht ein einziger selbstsüchtiger Gedanke darin zurückblei­be! Ja, möge der Herr uns die Gnade verleihen, uns ganz und gar selbst zu vergessen!

Das Kommen des himmlischen Bräutigams

l. Thessalonicher 4, 13-18.

Welch eine herrliche Offenbarung bezüglich der Wieder­kunft Jesu liefert uns der oben bezeichnete Abschnitt des Thessalonicher-Briefes! Die Traurigkeit der Thessalonicher über ihre entschlafenen Brüder war die Veranlassung für die Mitteilung dieser Offenbarung. Weder sie noch die Korinther hatten bis zu dieser Zeit die Offenbarung bezüglich der Aufnahme der Versammlung empfangen. In 1. Kor 15 sagt Paulus: „Siehe, ich sage euch ein Geheimnis". Bis zu diesem Augenblick war die Aufnahme der Versammlung für sie ein Geheimnis geblieben. Hier zu den Thessalonichern sagt der Apostel: „Dieses sagen wir euch im Worte des Herrn". Zwar glaubte man in beiden Versammlungen an die Ankunft Chri­sti, und die Thessalonicher sehnten sich mit großem Ver­langen nach ihr; aber weder die näheren Umstände dieser Ankunft, noch der Unterschied zwischen dem Kommen Jesu in die Luft für die Versammlung, und Seinem Kommen auf die Erde zur Aufrichtung Seines Königreichs waren ihnen geoffenbart. Diese Offenbarungen empfingen sie erst jetzt.

Wie gesagt, die Gläubigen zu Thessalonich waren über die Brüder betrübt, die entschlafen waren, weil man meinte, daß sie bei der so sehr ersehnten Ankunft des Herrn nicht ge­genwärtig sein würden. Sie hingen an den Entschlafenen mit solcher Liebe und schätzten die Ankunft des Herrn so hoch, daß der Gedanke, jene bei der Erscheinung Jesu nicht in ihrer Mitte zu sehen, ihnen fast unerträglich war. Dieses liefert den klarsten Beweis, daß sie noch nichts von der Aufnahme der Versammlung wußten; denn hätten sie sie gekannt, so würden sie nicht traurig gewesen sein. Wir können unmög­lich um dieser Ursache willen über die Entschlafenen traurig sein, da wir wissen, daß sie, ebenso wie wir, dem Herrn entgegengerückt werden in die Luft.Der Apostel ist nun bemüht, die trauernden Thessaloni­cher zu trösten. 

Zunächst sagt er ihnen, daß es mit den Ent­schlafenen ebenso gehen werde, wie es mit dem Herrn Jesu selbst gegangen sei. „Wenn wir glauben, daß Jesus gestor­ben und auferstanden ist, .also wird Gott auch die, die ent­schlafen sind, mit ihm bringen". Der Herr Jesu ist gestor­ben und auferstanden, und Er kommt wieder. Denselben Verlauf wird es mit den Entschlafenen nehmen; sie sind gestorben, und sie werden auferstehen und mit Jesu wieder­kommen. Welch ein Trost war dies für die Thessalonicher! Die Entschlafenen Brüder sollten, ebenso wie sie, der herr­lichen Erscheinung Jesu in der Luft beiwohnen.

 „Seid nicht betrübt", sagt der Apostel, „die Brüder sind zwar gestorben; aber sie werden auferstehen. Denkt nur an den Herrn Jesus Selbst, Der auch gestorben und auferstanden ist, und seid versichert, daß, wenn er wiederkommt, Gott auch die Ent­schlafenen mit Ihm zurückkehren lassen wird". — Wie er­freut werden diese Gläubigen gewesen sein, als sie diese Zeilen lasen! 'Ihre teilnehmende Liebe war betrübt gewesen, weil nach ihrer Meinung die Entschlafenen einer großen Freude beraubt waren; aber jetzt wurde ihr Herz wieder er­quickt und erfreut.

Jedoch geht der Apostel noch einen Schritt weiter. Er sagt nicht nur, daß die Entschlafenen bei der Ankunft des Herrn auf Erden erscheinen werden, sondern er teilt ihnen auch mit, daß sie mit den übriggebliebenen Lebenden zugleich dem Herrn in die Luft entgegengerückt werden sollen. Dies mußte vor allem zuerst geschehen. Denn um mit dem Herrn bei Seiner Ankunft auf Erden erscheinen zu können, müssen wir vorher bei dem Herrn sein. Und wie kommen wir zum Herrn? Dieses beantwortet der Apostel dadurch, daß er ih­nen eine direkte Offenbarung mitteilt, indem er sagt: „Denn dieses sagen wir euch im Worte des Herrn, daß wir, die Lebenden, die übrig bleiben bis zur Ankunft des Herrn, den Entschlafenen keineswegs zuvorkommen werden" (V. 15). Es gibt also Gläubige, die auf der Erde leben bleiben bis der Herr kommt. 

Ja, der Apostel sagt sogar in 1. Kor 15 aus­drücklich: „Wir werden nicht alle entschlafen". Keineswegs werden daher alle Gläubige sterben; o nein, es werden Gläubige übrig bleiben bis zur Ankunft des Herrn. Diese werden nicht sterben, sondern in einem Augenblick, in einem Nu verwandelt werden. Die Gläubigen nun, die bis zur Ankunft des Herrn übrig bleiben, werden nicht für sich allein und auch nicht früher, als die in Jesu Entschlafenen, dem Herrn entgegengehen. Sie werden denen nicht zuvor kom­men, die entschlafen sind. Sie werden zusammen und in demselben Augenblick den Herrn seihen und Ihm begegnen.

Und wie wird dieses geschehen? Der Apostel offenbart uns dieses Geheimnis. Der Herr wird vom Himmel hernie­derkommen. Der geliebte Bräutigam kommt Selbst, um Sei­ne Braut abzuholen und in das Haus des Vaters zu rühren. Er sendet keine Engel, um uns abzuholen, und auch keinen feurigen Wagen mit feurigen Pferden, wie dieses bei Elia der Fall war, o nein — Er kommt Selbst. Sobald der vom Vater bestimmte Augenblick da ist, sobald Er der Versamm­lung das letzte Glied beigefügt hat, verläßt Er Selbst den Thron des Vaters, um Seine Braut zu Sich zu nehmen. Wie unaussprechlich groß ist Seine Liebe gegen uns! Und wo er­scheint Er? Nicht auf der Erde, sondern in der Luft. Erst dann, wenn Er erscheint, um Sem Reich aufzurichten, wird Er auf die Erde kommen. Aber wenn Er kommt, um Seine Braut abzuholen, dann steigt Er hernieder vom Himmel und bleibt in der Luft, wo wir Ihm entgegengerückt werden. 

Und in welcher Weise kommt Er? Er kommt „mit gebietendem Zuruf, mit der Stimme des Erzengels und mit der Posaune Gottes". Die in Christo entschlafen sind, werden auferweckt werden. Die Stimme des Sohnes des Menschen wird sie aus ihren Gräbern hervorrufen. Es ist der vollkommene Triumpf über den Tod. Dann ist der Tod verschlungen in den Sieg. Die Posaune Gottes wird das Signal sein. In einem Augen­blick, in einem Nu werden die Tausend« und .aber Tausende der Gläubigen in neuen, verherrlichten Leibern ihre Gräber verlassen; und in demselben Augenblick werden auch die noch übrig gebliebenen Lebenden verwandelt werden (1. Kor 15). Ihre sterblichen und verderblichen Leiber werden plötz­lich in unsterbliche und unverderbliche Leiber umgewandelt sein. Dann ist die ganze Versammlung zusammen; dann ist die Braut nicht nur gerettet, sondern auch, selbst in betreff des Leibes, Jesu gleichförmig. Denn Er wird „unseren Leib der Niedrigkeit umgestalten zur Gleichförmigkeit mit Seinem Leibe der Herrlichkeit" (Phil 3, 21). 

Und dann weiden die auferweckten Entschlafenen zugleich mit den verwandelten Lebenden „in Wolken dem Herrn entgegengerückt werden in die Luft, und also werden sie allezeit bei dem Herrn sein".

Wie herrlich wird dieses sein! Welch eine Freude, Jesum zu sehen von Angesicht zu Angesicht und Ihm gleich zu sein! Welch eine Freude, dort mit allen Erlosten bei Ihm zu sein! Keiner von ihnen wird fehlen. Die Entschlafenen sind auferweckt, die übrig gebliebenen Lebenden verwandelt; alle sind beieinander und Jesu gleich. Und in Wolken ge­hüllt, damit die Welt nicht ihre Aufnahme sehe, verlassen sie diese Erde und eilen mit der Stimme des Jubels dem Herrn entgegen, um bis in alle Ewigkeit in Seiner Gemein­schaft, in Seiner unmittelbaren Nähe zu bleiben und Ihn zu umringen. Wie wird das Herz der Thessalonicher voll seliger Freude geklopft haben, als sie diese Worte lasen, wie wird ihr Antlitz in himmlischem Entzücken gestrahlt haben! Fort­an hatten sie nicht mehr nötig, über die entschlafenen Brü­der zu trauern; ihr Herz war völlig zur Ruhe gebracht. „So ermuntert nun einander mit diesen Worten" (V. 18).

Sind jene Worte nicht auch eine Ermunterung für uns? Ja, wirklich, die Predigt von der Wiederkunft Jesu ist ein wahrer Trost für das müde Herz eines Pilgers. „Siehe, ich komme bald"! ruft der Bräutigam uns zu. „Amen, ja komm, Herr Jesu"! antwortet die Braut. Ein Glück ist es, wenn wir in diesen Ruf miteinstimmen. Lange genug hat die Kirche diese glückselige Hoffnung und Erwartung aus dem Auge verloren. Haben wir sie kennengelernt, nun dann laßt uns auch mit Freude rufen: „Komm"! 

0 möchten auch wir uns diese Worte zum Trost dienen lassen! Möchten auch wir uns einander zurufen: „Der Herr kommt bald"! Was kann ein Herz mehr erfrischen und beleben, als der Glaube an diese selige Ankunft? Was ist mehr geeignet, uns von der Welt loszumachen? Was vermag uns bei allen Leiden und Mühsalen dieser Ende mehr zu trösten? Ja, mit diesen Wor­ten verscheucht man die Sorgen und die Traurigkeit, man lindert die Schmerzen und die Leiden, man belebt den Mut und das Vertrauen. Rufen wir uns daher beständig die Worte zu: „Der Herr Jesus kommt; ja. Er kommt bald"! Und der Herr wolle geben, daß unser Herz jedesmal, bei jeder Erinnerung daran mit brünstigem Verlangen sagen möchte: „Amen, komm, Herr Jesu"! —

Wie kennen wir Christum?

In 2. Kor 5, 16 haben wir eine klare Bezeichnung der Art und Weise, in der wir jetzt Christum kennen; denn wir le­sen: „So denn kennen wir von nun an niemanden nach dem Fleische; wenn wir aber auch Christum nach dem Fleische gekannt haben, so kennen wir ihn doch jetzt nicht mehr also". Seit Christus gen Himmel gefahren ist, kann Er nicht mehr als ein Mensch im Fleische, als ein lebender Messias gekannt haben, so kennen wir ihn doch jetzt nicht mehr in einer weit wundervolleren Weise, als früher. Sein Tod war der Schluß der Geschichte des Menschen in Verantwort­lichkeit; aber auferstanden aus den Toten ist Er sowohl das Haupt der neuen Schöpfung, als auch das Haupt Seines Leibes, der Kirche.

In diesem Verhältnis kennen wir Ihn jetzt. Christus, das Haupt, ist in der Herrlichkeit, nicht gesehen und nicht ge­kannt von dem Menschen im Fleische. Wir, die Glieder Sei­nes Leibes, sind auf der Erde, und der vom Himmel ge­sandte Heilige Geist vereinigt uns mit dem Haupte in der Herrlichkeit, indem Er uns diese unsere Verwandtschaft zum Bewußtsein bringt. Wie wunderbar ist unser Platz; aber wie schwach erkennen wir ihn!

Christum nach dem Fleische zu kennen, bezeichnet eine jüdische Stellung. Thomas liefert uns dafür eine Erklärung:

„Jesus spricht zu ihm: Weil du mich gesehen hast, hast du geglaubt. Glückselig, die nicht gesehen und geglaubt haben" (Joh 20, 29). Die glückseligere Art, Christum zu kennen, finden wir in den Worten ausgedrückt: „Welchen ihr, ob­gleich ihr ihn nicht gesehen, liebet, an den glaubend, obgleich ihr ihn jetzt nicht sehet, ihr mit unaussprechlicher und ver­herrlichter Freude frohlocket" (1. Petr 1. 8). — Es ist höchst interessant zu beobachten, wie der Herr Seine Jünger auf diesen Wechsel vorbereitet. In Joh 14 teilt Er ihnen mit, daß Er im Begriff stehe, sie zu verlassen. 

Sie kannten in Ihm nur den Messias auf der Erde; und alle ihre Hoffnungen überschritten diese Grenze nicht. Sein Tod durchkreuzte diese Hoffnungen ganz und gar; und ein Verlust der Hoffnungen hätte den Gedanken in ihnen wachrufen können, daß alles Irrtum und Täuschung gewesen sei. Doch der Herr Jesus sagt: „Euer Herz werde nicht bestürzt. Ihr glaubet an Gott, glaubet auch an mich". Dann teilt Er ihnen mit, daß als die Folge Seines Hingangs der Sachwalter kommen werde. Daß Seine Jünger wenig von diesem verstanden, ist augen­scheinlich; nicht destoweniger stellte Er sie moralisch in die Stellung, die sie nachher einnehmen würden. Während in der Welt sich ihre Hoffnungen an einen abwesenden Christus knüpften, sollte der herniedergesandte Sachwalter in ihnen wohnen und für immer bei ihnen bleiben. Im Blick hierauf sagt Er, nachdem Er auferstanden war, zu Maria:

„Rühre mich nicht an"! Welch eine unbegreifliche Verände­rung — könnte man sagen — bei Ihm, Der sonst nie ein treues Herz von Sich abwies! Allein wir sehen Ihn hier be­müht, die Seele des weinenden Weibes von der Wahrheit zu überzeugen, daß sie Ihn nicht mehr, wie sie es früher getan hatte, nach dem Fleisch kennen sollte.

Es ist sehr rührend zu sehen, daß, selbst nachdem Er von den Toten auferstanden war. Seine Jünger sich stets an Ihn, als einen irdischen Befreier klammerten und ihre Gedanken die Grenzen dieser irdischen Stellung nicht zu überschreiten vermochten. So hören wir die nach Emmaus wandelnden beiden Jünger über ihre getäuschten Hoffnungen reden, in­dem sie sagen: „Wir aber hofften, daß er der sei, der Israel erlösen sollte" (Luk 24, 21). Und beim letzten Zusammen­treffen sagen die Jünger zum Herrn: „Herr, stellst du in die­ser Zeit das Reich dem Israel wieder her"? —

Aber es gab etwas weit Höheres und Vortrefflicheres, als dieses; sie sollten die Zeugen eines abwesenden Chri­stus sein, den die Welt verworfen hatte. Sie betraten den Weg zum Himmel und sollten Ihn nicht mehr nach dem Fleische kennen. Der Heilige Geist war auf die Erde gesandt, um in ihnen zu wohnen, um ihnen die Kraft zum Zeugnis mitzuteilen und, wie wir es anderswo finden, sie mit dem Herrn in Herrlichkeit zu vereinigen und Ihn zu offenbaren.

Dies konnte nie der Fall sein, solange Er auf der Erde war. Sowohl in Seinem Leben als auch in Seinem Tode war Er durchaus allein; aber nachdem Er auferstanden und zur Höhe gefahren ist, sind wir durch die Kraft des vom Himmel ge­sandten Heiligen Geistes mit Ihm vereinigt. Darum sagt Jesus: „Es ist euch nützlich, daß ich weggehe; denn wenn ich nicht weggehe, wird der Sachwalter nicht zu euch kommen" (Joh 16, 7). Ja, es war ihnen nützlich, weil sie, einsgemacht mit Ihm Selbst, Ihn in einer weit innigeren Beziehung kennen sollten.

Verweilen wir einen Augenblick bei der praktischen Wir­kung dieser Sache. In Petrus finden wir eine Erläuterung. Das Auge auf Jesum geheftet, vermochte er die wilden, to­benden Wellen des Sees zu überschreiten. Auch Stephanus „blickt unverwandt gen Himmel", sieht dort Jesum und ge­denkt, sein eigenes Leid vergessend, seiner Feinde mit den Worten: Herr, rechne ihnen diese Sünde nicht zu"! Welch eine herrliche Offenbarung des Geistes Christi! Die Art und Weise dieser Gleichförmigkeit findet einen Ausdruck in den Worten: „Wir alle aber, mit aufgedecktem Angesicht die Herrlichkeit des Herrn anschauend, werden verwandelt nach demselben Bilde von Herrlichkeit zu Herrlichkeit, als durch den Herrn, den Geist" (2. Kor 3, 18). Wir sehen also in der Erkenntnis Christi in Herrlichkeit eine umwandelnde Kraft, die uns nicht beim Anschauen Seines niedrigen Pfades auf Erden, sondern beim Anschauen dessen, was Er jetzt ist, zuteil wird.

Es ist unser gesegnetes Vorrecht, Ihn zu kennen, wie Er ist. Unsere Bekanntschaft knüpft sich nicht an Seine frühere Stellung, wir kennen Ihn als unseren verherrlichten Herrn im Himmel, so wie man einen Freund nicht in seiner frühe­ren, sondern in seiner jetzigen Stellung kennt. Welch eine bewundernswürdige Sache ist diese vertrauliche Bekannt­schaft mit dem Herrn! Wie gering unsere Kenntnis in dieser Beziehung auch sein mag, so ist sie doch das Geheimnis al­ler Kraft. Wie klar schauen wir diese Wirkung in dem Apo­stel Paulus, wenn er sagt: „Ja, wahrlich, ich achte auch alles für Verlust wegen der Vortrefflichkeit der Erkenntnis Chri­sti Jesu, meines Herrn"; und als ob er erst jetzt recht beginnen wollte, die Tiefen in Ihm zu erforschen, fährt er fort:

„Um ihn zu kennen . . ." (Phil 3, 8. 10).

Ach! wenn wir Ihn nur ein wenig mehr kannten, wie wür­de -dann die Welt ihre Reize für uns verlieren, wie bereit­willig würden wir dann das Ich und das Fleisch verleugnen, und mit welcher Kraft würden wir dann Trübsale und Schwierigkeiten verleugnen! Mit einem Wort, je tiefer unse­re Erkenntnis in Christo ist, desto mehr Kraft zur Anbe­tung, zum Dienst und zum Wandel würde sein. Haben wir nicht über Mängel und Gebrechen und über Geistesdürre zu klagen? Was ist die Ursache? Wir sind nicht genug mit Christum in der Höhe beschäftigt. Klagen wir nicht oft da­rüber, daß unser Herz so wenig zu Lob und Anbetung ge­stimmt ist? Die Ursache ist, weil Christus unsere Herzen so wenig anzieht; denn gerade in dem Maße, wie wir Ihn kennen, wird das Herz an Ihn mit Freude denken, als wäre Er persönlich in unserer Mitte. Unsere Erinnerung an Ihn in den Tagen Seines Leidens und Sterbens wird, wenn wir in Seinem Namen versammelt sind und die Zeichen Seines gebrochenen Leibes und Seines vergossenen Blutes vor uns sehen, umso wahrer und wirklicher sein, je tiefer unsere praktische Erkenntnis Seiner Selbst in Herrlichkeit ist.

Eine andere praktische Wirkung unserer Erkenntnis wird die sein, daß wir diese Welt als „ein dürres und trockenes Land, wo kein Wasser ist", betrachten, weil Er, Der allein unsere Neigungen befriedigen kann, anwesend, verleugnet und verworfen ist. Dann wird die glückselige Hoffnung Sei­ner Wiederkunft klar und hell in uns sein. Dann begehren wir Ihn zu sehen. Diese beiden Dinge sind miteinander ver­bunden. Wir gedenken Seiner, bis Er kommt; aber der Grad dieser Zuneigung hängt ab von unserer Er­kenntnis Seiner Selbst in der Stellung, die Er jetzt ein­rammt.

Richten wir uns selbst in bezug auf diese Dinge! Ich glau­be, daß es keine Zeit gab, wo eine zunehmende Erkenntnis Christi so notwendig war, als in der Gegenwart. Der Strom der Kälte und Gleichgültigkeit wälzt sich mit Macht über die Christen; und ein bloßes Verständnis davon wird uns keine Kraft geben, um Widerstand leisten zu können. Nur

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Christus, ak der gekannte und geliebte Gegenstand unserer Herzen, vermag uns zu bewahren. In Matth 2, 3-6 finden wir das Beispiel eines Verständnisses ohne Glauben. Die Hohenpriester und Schriftgelehrten hatten eine völlig ridi-tige Erkenntnis der Prophezeiung bezüglich der Geburt Jesu; aber, wie wir wissen, entfernte diese Erkenntnis sie nicht von dem Hofe des Herodes. Den Magiern aus dem Morgen­lande wurde es überlassen, das Kindlein zu erforschen.

0 möchte doch der Herr den ersten Platz in unseren Her­zen haben; denn das allein gibt uns Kraft, treu vor Ihm zu wandeln.

Dich zu kennen, das ist Leben,

Dich zu loben — sel'ge Lust.

Praktische Betrachtungen über die Psalmen

Der Zweck der folgenden Betrachtungen ist nicht, die Psalmen zu erklären, sondern aus ihnen einige, geistliche Belehrungen und einige Erbauung für unsere Seelen zu zie­hen. Die Erklärung der Psalmen ist in anderen Schriften versucht worden zu geben. Die Psalmen werfen ein ganz besonderes Licht auf die Regierung Gottes und auf das Mit­gefühl des Geistes Christi mit Seinem Volk. Zunächst sind die Juden der Gegenstand und der Mittelpunkt der Entfal­tung derselben. Doch, obwohl ein großer Unterschied besteht zwischen dem Zustand der Juden und dem Unsrigen, so wie zwischen den Beziehungen eines Volkes zu Jehova und de­nen eines Kindes zum Vater, so sind doch die Wege Gottes als Regierung auch auf uns Christen anwendbar. Wenn es auch nicht der höchste Standpunkt ist, auf dem der Christ gesehen wird, so ist es doch ein höchst wichtiger und interes­santer, der die ganze Entfaltung der göttlichen Sorgfalt Des­sen ans Licht stellt. Der die Haare unseres Hauptes gezählt hat. 

Ebenso treten der Ernst und die Wachsamkeit hervor, die erforderlich sind zu einem Wandel vor Gott, Der niemals abweicht von Seinen heiligen Wegen; Der Sich nicht spotten läßt, noch Seine Augen abwendet von dem Gerechten, obschon Seine Gnade in allem wirksam ist, um uns vollkom­men zu machen vor Ihm, gemäß diesen Wegen. Die Regie­rung Gottes, angewandt auf den Wegen des Christen, ist besonders vorgestellt in den Episteln Petri. Siehe z. B. 1. Ptr 1. 17; 3, 10-15, sowie den Geist und Ton der ganzen Epistel. Diese Regierung ist in der zweiten Epistel fortgeführt bis auf die Vollendung aller Dinge. Die erste Epistel stellt mehr die Regierung der Gerechten vor, die zweite das Gericht der Gottlosen, obschon dieses Gericht auch in der ersten ange­deutet wird, als die Beendigung der Macht des Bösen und die Befreiung des Gerechten. Petrus war der Apostel der Beschneidung; deshalb steht ihm bei seinen Belehrungen besonders die Regierung Gottes vor Augen.

Psalm 1. Diese Regierung auf der Erde, sowie der Cha­rakter derer, die durch diese Regierung gesegnet sind, ist klar ausgedrückt in dem ersten Psalm. Es ist darin die Rede von dem, der nicht steht auf dem Wege der Sünder, sondern im Gesetz Jehovas seine Wonne hat und darüber sinnt Tag und Nacht. Unterwerfung unter den Christus, als den Ver­walter dieser Regierung in Gottes Ratschlüssen am Ende die­ser Prüfungszeit, ist der Gegenstand des zweiten Psalms. Ich will hier nur einige Worte sagen über den ersten dieser beiden Psalmen, die die Grundlage von allen den übrigen bilden.

Der Rat der Gesetzlosen, der Weg der Sünder, und der Sitz der Spötter sind gemieden. Obschon hier in Verbin­dung mit der menschlichen Verantwortlichkeit im Wandel, ist man doch bewahrt vor dem Bösen. Ohne die Kraft dieser Worte näher auslegen zu wollen, mögen doch einige Bemer­kungen darüber hier ihre Stelle finden. Die Gesetzlosen haben Pläne und Ratschläge nach ihrem eigenen Willen, sie haben ihre eigene Anschauung der Dinge und ihre eigenen Wege zur Erreichung ihrer Zwecke; da wird der Gerechte nicht gefunden. Der Sünder hat einen Weg, auf dem er nach seinem eigenen Wohlgefallen wandelt; der Gerechte wandelt nicht mit ihm. Die Spötter gefallen sich darin, Gott zu ver­achten; da wird der Gerechte nicht sitzen. Aber das Gericht wird kommen, und dann werden auch die Sünder nicht Ein­laß finden in die Versammlung der Gerechten, die dann zur Ruhe gebracht sind durch die Herrlichkeit Gottes.

Psalm 2. Dieser Psalm kündigt die Aufrichtung des irdi­schen Triumphes Christi und Seines Königtums in Zion an, wenn die Nationen Ihm zum Erbteil gegeben sein werden Dies ist noch nicht erfüllt. Die Regierung Gottes stellt die Gläubigen nicht sicher vor dem Leiden, was dann doch der Fall sein wird; sie laßt aber das Leiden zu geistlicher Seg­nung ausschlagen und bewahrt den Überrest vor dem Zorn, indem sie für unsere kleine Trübsal eine herrliche Belohnung gibt. Für uns aber offenbart Sich Gott als Vater in den Trübsalen. Wir rufen Den als Vater an. Der ohne Ansehen der Person richtet nach eines jeglichen Werk, und wandeln die Zeit unserer Fremdlingschaft in Furcht, wissend, daß wir erlöst sind.

In diesem Psalm sind die Könige aufgefordert, sich zu unterwerfen, bevor das Gericht über die Erde kommt. Aber dieses Gericht ist noch nicht ausgeführt, und wir haben un­sere eigene Aufgabe in Geduld zu lernen. Dieses wollen die Psalmen uns lehren.

Psalm 3. Laßt uns jetzt die Belehrungen der ersten fol­genden Psalmen untersuchen. Der Bedränger sind viele, aber der erste Gedanke des Glauben ist: „Herr". Da fühlt sich die Seele in Sicherheit und betrachtet von hier aus die Be­dränger. Jehova wird so der Gegenstand des Vertrauens Wenn „der Herr" in das Herz kommt vor denen, die mich bedrängen, so steht alles gut. Unser Geist sieht Ihn beteiligt bei den Ereignissen und ist in Frieden. „Er ist ein Schild um mich her, meine Herrlichkeit, und der mein Haupt em­porhebt". Von der anderen Seite ist es nicht ein lässiges, sorgloses Hinblicken auf das Böse und Gute, noch ein un­gültiges Vertrauen. Verlangen und Abhängigkeit sind wirk­sam — die Bande zwischen der Seele und Jehova. Ich schrie, und Er hörte. Das ist gewiß. „Dies äst die Zuver­sicht, die wir zu ihm haben, daß, wenn wir etwas nach seinem Willen bitten, er uns hört", und wenn Er hört, so haben wir die Bitte. Wenn wir aufrichtig sind, so begehren wir nicht etwas zu haben, was nicht mit Seinem Willen übereinstimmt, aber es ist unendlich tröstlich, inmitten der Prüfungen und Schwierigkeiten der Erhörung und des Armes Gottes sicher zu sein in allem, was nach Seinem Willen ist. 

Daraus entspringt Ruhe und Frieden. „Ich legte mich nieder und schlief; ich erwachte, denn Jehova stützte mich". Wie bestimmt und wie einfach! Ist es so bei dir, mein Leser? Findet jede Not dein Herz ruhend in Gott als deinem Vater, so daß sie, wenn sie noch größer wird, deinen Geist ruhig, deinen Schlaf süß sein läßt, indem du dich niederlegst, schläfst und aufstehst, als ob alles Frieden um dich her wäre, weil du weißt, daß Gott ist und daß Er über alles gebietet? Ist Er so zwischen dir und deiner Not und deinen Bedrängern? 

Und wenn Er es ist, was kann dir dann begegnen. Die „Tau­sende von Feinden" machen keinen Unterschied, wenn Gott da ist. Der Assyrer ist 'geflohen, bevor er aufstehen kann, um zu bedrängen oder die Drohungen auszuführen, die eigentlich nur verraten, daß er sich fürchtet. Wir sind tö­richt, wenn wir die Schwierigkeiten und Prüfungen nach unserer Kraft abmessen, anstatt nach der Kraft Gottes, die für uns ist, wenn wir Sein sind. Was machte es aus, daß die Städte Kanaans himmelhohe Mauern hatten, wenn sie fielen beim Schall einer Posaune? Hätte Petrus besser auf einem ruhigen See wandeln können als auf einem stürmischen? Unsere Weisheit ist, zu wissen, daß wir nachts tun können ohne Jesum, mit Ihm aber alles, was nach Seinem Willen ist. Das Geheimnis des Friedens ist, mit Ihm 'beschäftigt zu sein um Seiner Selbst willen, und wir werden Frieden finden in Ihm und durch Ihn, und weiden mehr als Überwinder sein, wenn Trübsal kommt. Nicht daß wir unempfindlich gegen die Prüfung sind, aber wir werden Ihn und Seine zärtliche Sorgfalt für uns finden, wenn die Trübsal kommt.

Betrachtungen über 4. Mose 14

Wir finden in dem vorgenannten Kapitel das Volk Israel an den Grenzen Kanaans. Man hatte die versuchungsreiche Wüste durchschritten und man hatte die herrlichsten Erfah­rungen von der Macht und Treue Jehovas gemacht. Wenn die Pilger auf diese Macht und Treue ihren Blick geworfen hät­ten, so würden sie mit Zuversicht und voll freudigen Mutes ihre Füße auf den Boden des ihnen verheißenen Landes gestellt haben. Jedoch anstatt auf die unzweideutigen Beweise der Macht und Treue Gottes zurückzuschauen, hefteten sich ihre Blicke vielmehr auf die Riesen des Landes, und wie immer, wenn der Unglaube das Herz beherrscht und das Auge die Schwierigkeiten betrachtet, stellen auch sie die Rie­sen Kanaans über den allmächtigen und ewigen Gott, der sie bis dahin mit so mächtiger Hand geleitet hat. 

Wenn wir uns ihres Schreiens in 2. Mose 14, 10 erinnern, und der wunderbaren Hilfe, die ihnen dort zuteil wurde, so ist es uns klar, daß nur, wenn sie Gott völlig beiseite setzten, eine so trostlose Verwirrung entstehen konnte, daß alle in lautes Weinen ausbrachen und ausriefen: „O wären wir doch im Lande Ägypten gestorben"! oder „Wären wir doch in dieser Wüste gestorben"! — Aber das ist der Mensch in seinem Unglauben; er sieht nichts von Gott. Wie könnte dies auch möglich sein? Er sieht die Schwierigkeiten, die sich zwischen ihm und Gott befinden, während der Glaube Gott schaut und Ihn immer zwischen sich und die Schwierigkeiten bringt.

Die Kinder Israel sollten den Platz, den Jehova für sie bereitet hatte, in Besitz nehmen; aber sie konnten wegen ihres Unglaubens nicht eingehen. Auch wir sind berufen, unsere himmlische Stellung einzunehmen; aber wir vermögen dies nur durch den Glauben. Wenn wir damit beschäftigt sind, unsere Kraft mit der Kraft des Feindes zu messen, gegen den wir im Kampf stehen, ist das nichts anderes als Unglauben, der ohne Zweifel zur Folge hat, daß wir unter­liegen; wenn wir aber Gott einführen, auf Sein Wort unser Vertrauen setzen, uns Seine Kraft, Seine Treue, Seine Ehre vergegenwärtigen, so werden wir dieselbe Erfahrung machen, die auch Israel am Roten Meer machen durfte. (2. Mose 14, 14). „Jehova wird für euch streiten, und ihr weidet stille sein". Jeder, der auf den Herrn allein sein Vertrauen setzt, wird in einem solch seligen Stillosem seine Pfade gehen, zur Verherrlichung des Namens Jesu und zu seinem eigenen Glück.

Der Weg nach Kanaan ist leicht und ist schwer. Leicht weil man nichts zu tun hat, weil ein anderer für uns strei­tet, weil der Herr alle Sorgen übernimmt; schwer — ja unmöglich, wenn wir selbst auf dem Plane sind, wenn wir die Treue und Macht Gottes außer acht lassen, wenn das Auge nur auf die Riesen sieht und das elende Ich in den Kampf gehen soll. Und dennoch, wie oft ist es der Fall, daß wir uns in diesem zuletzt genannten Zustand befinden! Wie leicht vergessen wir es, daß der Gerechte nur durch Glauben lebt, wie schnell öffnen sich unsere Augen, um auf die Umstände zu sehen; wie bereit sind unsere Herzen, sich mit den Schwierigkeiten einzulassen, trotzdem wir die Vor­bilder Israels kennen und die Treue Gottes in unserem eige­nen Leben so oft erfahren haben!

Der Herr erwartet von uns, daß wir stets den Platz des Glaubens einnehmen; denn je völliger und entschiedener wir uns auf diesem gesegneten Boden bewegen, umso mehr kann Er S^ch an uns verherrlichen. Wenn wir durch Glauben wan­deln, so ist es immer der Herr, zu Dem wir emporschauen und von Dem wir alles erwarten, während sich der Unglau­be stets nach etwas Sichtbarem umschaut. Am Fuße des Horeb machten sich die Kinder Israel ein Kalb, und hier im vierten Vers unseres Kapitels wollen sie sich ein Haupt wählen, um nach Ägypten zurückzukehren. Wenn sie glaub­ten, daß ein Kalb sie nach Ägypten geführt habe, so war es auch nicht schwer zu glauben, daß ein Haupt sie wieder dorthin zurückbringen könne. Welch ein schmerzlicher Ge­danke, solch ein Volk wieder auf dem Rückweg nach Ägyp­ten zu sehen! Ach! es ist stets der Charakter des Unglaubens, zurückzukehren. 

Er läßt uns nicht auf dem Platz, den wir eingenommen haben; er führt nur zurück. Welch eine ernste Wahrheit für uns, und besonders für eine Seele, deren sich der Unglaube bemächtigt hat, für eine Seele, die im Zurück­weichen begriffen ist! Ägypten — die Welt — ist der Platz, wohin sie zurückkehrt. Sie schaut sich nach einem Haupte um, um sich dorthin leiten zu lassen. Es ist nicht die Hand Jesu, woran sich eine solche Seele festklammert; denn Er geleitet niemanden zurück nach Ägypten. Dieses Haupt, dieser Führer ist ein anderer, — Satan selbst. 0 möchte die­ses jedem Weichenden ins Bewußtsein gebracht werden, um vor sich selbst zurückzuschrecken und die Hand Jesu wieder zu ergreifen, damit es nicht mit ihm rückwärts gehe nach Ägypten.

Welch ein liebliches Bild stellen dagegen Josua und Kaleb

diesem Volk gegenüber dar! In ihren Herzen zeigt sich keine Furcht; im Gegenteil, sie besitzen Kraft genug, um einer solchen Menge gegenüber ein Zeugnis für Gott zu sein.

Wenn man sich vor dem Feind fürchtet, so verkleinert man Gott, indem man Ihn nicht für stark genug hält, den Feind zu überwinden. So schließt also der Unglaube die Geringschätzung Gottes in sich, was wir mit allem Ernst erwägen sollten. Nicht nur, daß Glaube und Unglaube nicht zusammen gehen können, sondern sie sind einander völlig entgegengesetzt. Als in Josua und Kaleb sich der Glaube in seinem Zeugnis offenbarte, wollte das Volk sie steinigen; und doch hatten diese beiden Zeugen nur die Wahrheit ge­sprochen. Ach, wie groß ist die Macht des Unglaubens über das menschliche Herz! Die Wahrheit findet darin keine Stät­te. So war es damals, und so ist es jetzt. Dagegen sind Lüge und Irrtum 'stets willkommen. Josua und Kaleb mußten den Widerspruch des ganzen Volkes erfahren; an 600 000 Stim­men erhoben sich gegen die Stimme zweier Männer, die die Wahrheit sagten und Gott glaubten. So war es, so ist es, und so wird es stets sein bis zu dem Augenblick, der uns in Jes. 11, 9 geschildert wird.

“Der Glaube, der das Herz über die Wolken trägt”

Wie wichtig war es, in einem solchen Augenblick die Wahrheit aufrechtzuerhalten und dem Drängen so vieler Menschen Trotz zu bieten! Doch Josua und Kaleb hatten die Zuversicht, daß das Land ihnen gehöre und daß es in ihren Besitz gelangen werde; ja sie wußten, daß, wenn auch 600 000 Menschen den Tod fanden, sie dennoch am Leben bleiben würden, um den Lohn ihres Glaubens zu finden. Glückselige Männer! Welch ein Kontrast zwischen ihnen und der ungläubigen Menge! Wieviele Kinder Gottes gibt es, die sich nicht bis zu der Höhe der göttlichen Offenbarung erheben können, um ihren Platz als Heilige und Geliebte Gottes einzunehmen! Stets umgeben von der dunklen Wolke der Zweifel, haben sie, da sie sich selbst und die Schwierig­keiten betrachten, nie jenen Mut und jene Zuversicht, wo­durch Gott verherrlicht wird. Der Christ sollte immer glück­lich und immer fähig sein, Gott zu loben; seine Freuden sollten ihre Quellen nicht auf der Erde haben, sondern sie sollten im Himmel entspringen, den das Auge des Glaubens stets offen findet. Leider fehlen wir darin oft; und das ist der Unglaube, der Gott verunehrt und das eigene Herz zu Boden drückt. Der Glaube erhebt das Herz über die dumpfe, kalte Luft dieser Welt in die strahlende und erwärmende Sonne der Gnade; und dort kann das Herz nicht mehr ge­fesselt werden von dem Nebel des Unglaubens.

In diesem kritischen Augenblick erschien (V. 10) die Herr­lichkeit Jehovas, mit der Absicht, das Gericht zu üben und Moses zu einem großen Volke zu machen. Welch herrliche Aussichten eröffneten sich jetzt diesem Mann Gottes! Jeho­va Selbst machte ihm das Anerbieten, daß er das Haupt einer großen und' mächtigen Nation werden solle. Doch von der Annahme dieses Anerbietens hing die Vernichtung des Volkes ab. Was tat Moses in diesem Augenblick? Dachte er an sich? Wünschte er etwas für sich? Überlegte er etwa lange, was da zu tun sein? Nichts von allem. Da er durch­drungen war von dem Geiste Christi und geleitet war von der Liebe zu andern, läßt er, indem er sein eigenes Inter­esse gänzlich beiseitesetzt, nicht lange auf seine Antwort warten (V. 13-19). 

Er erinnert Gott daran, daß es die Ägyp­ter hören, und daß sie urteilen würden, Jehova habe Sein Volk nicht in das Land zu bringen vermocht. Es handelte sich augenscheinlich in seinem Herzen um den Ruhm und die Verherrlichung Gottes, sowie um die Erhaltung des Volkes. Dieses erfüllte so sehr sein Herz, daß er nicht einen Augen­blick daran dachte, was Jehova ihm zu seinen Gunsten er­öffnet hatte. Er tritt angesichts der unbeschnittenen Völker für die Ehre Jehovas, und für Dessen Volk in den Riß. Er offenbart in dieser Sache die Gesinnung Christi Jesu, Der allezeit dieselben beiden Ziele vor Seiner Seele hatte, näm­lich die Verherrlichung des Vaters und die Errettung der Sünder.

Moses hatte dieselbe Gesinnung geoffenbart, als Israel das goldene Kalb gemacht hatte; und er sprach jetzt ebenso entschieden für die Ehre Gottes. Der Glanz des Ruhmes Gottes mußte um jeden Preis aufrechterhalten bleiben. 0 möchte dies doch auch unter allen Umständen der Grundsatz unsere Herzen sein! Aber nicht mir verherrlichte Sich Jehova dadurch, daß Er das Volk nach Kanaan brachte, sondern auch dadurch, daß Er dem Volk vergab. 

Durch Seine Gnade, durch Seine Geduld, durch Seine Langmut wurde Sein Ruhm er­höht. Ja, unser Gott ist bewunderns- und anbetungswürdig in allen Seinen Wegen. Wie wird Er Sich an Israel und in reichem Maße an den Nationen verherrlichen, wenn Er ver­geben und die Erde voll werden wird der Herrlichkeit Je­hovas (V. 21)!

Indes darf man nicht aus dem Auge verlieren, daß es außer der Gnade auch eine Regierung Gottes gibt. Beide gehen zusammen, wie wir dies in den Versen 20-25 sehen. Die Vergebung ist in Vers 20 ausgesprochen, und dann folgt die Regierung. Jehova gibt Seine Rechte in bezug auf Sein Volk nicht auf; und Seine Wege sind ernst. Welche Trag­weite hat oft eine einzige unserer Handlungen! Und obwohl der Herr völlig bereit ist zu vergeben, so tragen wir doch in manchen Fällen die Früchte unserer Torheit. Die Aussprü­che Jehovas in 'den Versen 26-35 liefern den Beweis dafür.

Wie treffend ist das Beispiel dieses Volkes für uns, und auf welche herrliche, liebliche und zugleich ernste Weise offenbart Sich Gott unter ihnen! Wir sehen sowohl Seine Macht als auch Seine Gnade, sowohl Seine Langmut als auch Seine Zucht, sowohl Seine Barmherzigkeit als auch Seinen Ernst, Seine Heiligkeit und Gerechtigkeit hervor­strahlen; und es ist anbetungswürdig. Seine Geduld zu se­hen, die nicht aufhörte, so daß Er trotz allen Ihm so schmerz­lichen Vorkommnissen dennoch nicht von Seinem Volke ab­ließ. Welch eine tröstliche, aber auch welch eine ernste Lehre liefert uns die Geschichte Israels. Sind unsere Herzen anders, als die der Israeliten? Sind wir weniger in Gefahr, dem Unglauben Raum zu geben, wie sie es waren? Haben wir es nicht mit demselben Gott zu tun, mit dem Israel zu tun hatte? Und ist die Sünde bei uns, bei einem so geliebten himmlischen Volk, nicht weit schwärzer und verwerflicher, als sie es bei dem irdischen Volk war?

Israel war berufen, das ihm verheißene Land in Besitz zu nehmen, und ebenso sollen auch wir durch den Glauben von den unserer neuen Stellung angemessenen himmlischen Gütern Besitz nehmen; wir müssen den Jordan überschrei­ten. Das Blut des Lammes hat uns in Ägypten vom Gericht, und das Rote Meer von der Macht des Feindes befreit; aber beim Eintritt in Kanaan müssen wir um jeden Fußbreit Land kämpfen. Unser Kampf ist mit Satan, der seinen Platz in den himmlischen Örtern hat. Wir — gestorben der Welt und Besitz nehmend von unseren himmlischen Gutem — erfahren, daß Satan uns alles streitig machen möchte. Hier ist von keinem Kampf mit der Sünde die Rede, obschon es sich von selbst versteht, daß man über das Fleisch wachen muß. Es handelt sich hier um die Behauptung unserer himm­lischen Stellung. 

Daß die Sünde nicht in der Mitte Israels sein durfte, ist eine andere Sache, als der Einzug dieses Vol­kes in Kanaan. Wir sind berufen, in Neuheit des Lebens zu wandeln, und wir sind berufen, im Glauben unsere ge­segneten himmlischen Güter in Besitz zu nehmen. Wie es in der Wüste nur Manna gab, aber das Volk in Kanaan von den Früchten des Landes aß, so gibt es für uns in dieser Welt nur Speise von oben; aber durch den Glauben genießen wir auch schon die Früchte des himmlischen Kanaan, und diese 'bieten eine Fülle, eine reiche Fülle aller Art von Ge­nuß für die Seele. Während unsere Füße diese Wüste durch­schreiten, erheben sich unsere Blicke nach oben, und wir sehen, was wir in Jesu sind, welchen Platz wir in dem Her­zen des Vaters haben, welche Liebe gegen uns ausströmt, welches Erbe unser Teil ist und welche Güter im Himmel unsere Schätze sind.

 Ach, wieviele Herzen unserer Brüder sind beschäftigt mit dem, was auf Erden ist! Ihre Blicke er­heben sich nicht, um ihre himmlischen Güter zu beschauen und sich daran zu erquicken; sie fühlen sich nicht in jener seligen Nähe Gottes, die allein das Herz wahrhaft befriedigt, und sie haben darum auch kein Verlangen, im Glauben dro­ben ihren Platz einzunehmen und von da auf eine böse, dem Urteil verfallene Welt hinabzublicken. Sie sind nicht in Wirk­lichkeit von der Welt und ihrem Wesen getrennt und ge­nießen daher auch nicht die Nähe und Gemeinschaft Gottes in dem Maße, wie sie es tun würden, wenn sie an dem Vaterherzen Gottes ruhten.

In den Versen 36-38 sehen wir, daß Jehova die Kund­schafter, die das Volk zum Murren gebracht haben, durch den Tod wegnimmt. Sie tragen alsbald die Früchte ihres Unglaubens, während Josua und Kaleb, die Männer des Glaubens, am Leben bleiben. Das Volk hatte in der Wüste zu sterben verlangt; und Jehova tat ihnen (V. 29) nach ihren Worten. Die Folgen eines Wortes des Unglaubens be­standen darin, daß 600 000 Männer in der Wüste ihr Grab fanden, indem der Herr mit den zehn Kundschaftern, die das Volk murren gemacht hatten, den Anfang machte. Wäh­rend die Kinder Israel noch an dem einen Tage die köstliche Verheißung hörten, daß die mächtige Hand Jehovas sie in das Land bringen werde, blieb ihnen an dem anderen Tag nur die trostlose Aussicht, daß 600 000 Grabeshügel s.ch in der Wüste erheben würden. Jede Hoffnung, die ver­heißenen Segnungen zu empfangen, war abgeschnitten; sie hatten den Tod in der dürren Wüste gegen die van Milch und Honig fließenden Fluren Kanaans eingetauscht. Wie ernst reden diese Tausende von Gräbern der Wüste! Sind sie nicht ein Zeugnis des Mißfallens Gottes an dem Unglau­ben? Sagen sie uns nicht, wie sehr wir Ihn betrüben, wenn kein Vertrauen ziu Ihm in unseren Herzen ist? Verkündigen sie uns nicht, welches die traurigen Folgen unseres Murrens sein können, und wie Er niederzuschlagen vermag, was sich wider Ihn erhebt? Ja ihre Sprache ist ernst. Am Schluß un­seres Kapitels sehen wir, wie die Kinder Israel sich bereit zeigen, in das Land zu ziehen und den Kampf aufzunehmen Aber sie kommen nach ihrem eigenen Willen; Jehova hat sie nicht gerufen. Und nach ihrem eigenen Willen ziehen sie, trotz der Mahnung Moses, in den Streit. Doch der Ausgang konnte nicht zweifelhaft sein; ein solcher Weg mußte not­wendig mit der Niederlage des Volkes endigen.

In dieser Geschichte ist ein wichtiger Grundsatz Gottes enthalten, nämlich, daß, wenn wir uns nicht im Glauben auf Ihn stützen wollen. Er auch nicht mit uns auszieht in unserem Unglauben. Und ach! wie oft geschieht es, daß wenn der Herr ruft, wir nicht folgen wollen, und daß wir, wenn wir unsere Torheit erkannt haben, dann gehen wollen, wenn Er es nicht geheißen hat. Der Herr kann keinen Eigenwillen erlauben. Wir müssen still sein und vorwärts gehen, wenn der Herr voran geht; und haben wir, ohne zu folgen, den rechten Augenblick vorüberziehen lassen, so bleibt uns nichts übrig, als auf die femeren Wege und Winke des Herrn w warten, und wir dürfen uns nicht nach eigenem Willen und Gutdünken vorwärts bewegen. Gott allein kennt den richti­gen Augenblick für uns; und gesegnet ist es. Ihm stets zu folgen und uns nicht mit den Folgen zu beschäftigen. Er, Der uns auffordert. Ihm zu folgen, wird uns auch sicher lei­ten, so daß wir nichts zu fürchten haben; denn alles, was uns begegnen könnte, begegnet zuerst Dem, Der voran geht, Ihm, dem treuen und mächtigen Gott. 

Auch haben wir nicht zu untersuchen, ob wir das kennen, was uns zustoßen könn­te; denn Der uns vorangeht, kennt schon alles, was kommen wird, im voraus; und nicht wir stehen auf dem Plane, sondern der Herr, Der alles nach Seiner Weisheit ordnen wird. Wä­ren die Kinder Israel der voranziehenden Wolke gefolgt, so würden gerade diese Riesen eine umso herrlichere Gelegen­heit gewesen sein, die Macht Gottes zu sehen; denn )e größer und mächtiger sich diese Feinde erwiesen hätten, um­so größer wäre der Triumph gewesen, sie zu überwinden und zu vernichten. Die Schwierigkeiten auf unserem Weg dienen eigentlich nur zur Verherrlichung Gottes, wenn wir Ihm im Glauben folgen, während sie zu Seiner Verunehrung dienen, wenn wir dem Unglauben Raum geben.

Der Herr verleihe uns die Gnade, durch Glauben unseren Pfad fortzusetzen und stets zu bedenken, daß wir uns durch Unglauben von unserem Gott trennen, und Er nicht mituns-gehen kann! Mögen wir allezeit auf Seinen Ruf warten und nicht nach eigenem Willen unsere Kämpfe beginnen!

Gott ist es der rechtfertigt

„Sie scheinen in ihrem Leiden recht glücklich zu sein", sagte jemand zu einer sterbenden Frau, „worauf setzen Sie denn eigentlich Ihr Vertrauen"?

„Ich vertraue auf die Gerechtigkeit Gottes", war die Ant­wort.

„Wie, auf die Gerechtigkeit Gottes"? fragte der Besucher verwundert zurück. „Wenn Sie sich auf die Barmherzigkeit Gottes stützten, so würde ich das begreifen können; aber so

vertrauen Sie ja auf eine Sache, die Sie wegen Ihrer Sünden notwendig verdammen muß".

„Ich sage, was ich meine", erwiderte die Sterbende; „und obwohl ich von Natur eine große Sünderin war, so ist den­noch die Gerechtigkeit Gottes der Grund meiner Hoffnung für den Himmel; denn ich lese in Röm 3, 26, daß Gott ge­recht ist und den rechtfertigt, der des Glaubens an Jesum ist.

Diese Worte enthalten eine sehr beachtenswerte Wahrheit. Es hieße offenbar, sich in die Arme des Gerichts werfen, wenn ein überführter, strafbarer Verbrecher sein Vertrauen auf die Gerechtigkeit des Gerichtshofes, vor dem er ange­klagt ist, setzen wollte. Die Gerechtigkeit wird unbedingt seine Bestrafung fordern. Es würde daher eine große Torheit sein, in einem solchen Fall auf die Gerechtigkeit zu vertrau­en. Doch in dem Fall jener Sterbenden, liegt die Sache anders.

Es ist wahr, Gott ist heilig, so daß selbst die Engel in Seiner Gegenwart ihre Angesichter verhüllen; und dennoch hatte die sterbende Frau, die nach ihrem eigenen Geständnis von Natur eine große Sünderin war und jetzt vor Gott zu erscheinen im Begriff stand, nicht Unrecht, wenn sie in be­treff ihrer Errettung auf die Gerechtigkeit Gottes ihr Ver­trauen setzte. Und was gab ihr dazu den Mut? Wie kann jemand, der sich als schuldig bekennt, auf Erlassung seiner Schuld rechnen, wenn er sich auf die Gerechtigkeit Gottes stützt?

Das ist eine wichtige und beachtenswerte Frage und ver­dient unsere ernste Aufmerksamkeit. Die oben angeführte Stelle in Röm 3, 26 ist das Resultat der Beweisführung in der vorhergehenden Stelle. Doch laßt uns den Zusammen­hang prüfen. Es gibt in diesem Kapitel drei beachtenswerte Punkte zu betrachten.

1) „Jetzt aber ist, ohne Gesetz, Gottes Gerechtigkeit ge­offenbart worden, bezeugt durch das Gesetz und die Prophe­ten: Gottes Gerechtigkeit aber durch Glauben an Jesum Christum".

2) „Alle haben gesündigt und erreichen nicht die Gerech­tigkeit Gottes"; und

3) Die Gerechtigkeit Gottes ist „gegen uns und auf alle, die da glauben".

Es ist augenscheinlich, daß, wenn alle gesündigt haben, niemand irgendeine Gerechtigkeit vor Gott besitzt oder ein eigenes Verdienst beanspruchen kann. Aber wir finden, daß die Gerechtigkeit Gottes geoffenbart ist; und nicht nur dieses, sondern auch, daß, während sie zu allen hin ihre Richtung nimmt, sie auch allen zugerechnet wird, die da glau­ben. Das will sagen: Wenn der Mensch keine Gerechtigkeit vor Gott besitzt, so besitzt Gott Gerechtigkeit für den Men­schen, ja für alle Menschen. Und welchen wird sie zuteil? Denen, die glauben. Die Gerechtigkeit Gottes ist auf denen, die glauben. Mit anderen Worten, wer unter allen, die ge­sündigt haben, glaubt, ist gerechtfertigt — gerechtfertigt aus Glauben.

Aber hier entsteht die Frage: „Wie kann ein heiliger Gott Seine Heiligkeit aufrechterhalten, und dennoch einen Sünder rechtfertigen? In den Versen 24 und 25 fanden wir die Ant­wort: „Und werden umsonst gerechtfertigt durch seine Gnade durch die Erlösung die in Christo Jesu ist, den Gott dargestellt hat zu einem Gnaden­stuhl durch den Glauben an Sein Blut". — 0 möchten diese Worte in ihrem vollen Glanz in unsere Herzen leuchten und sie mit Anbetung erfüllen; Ja, mein teurer Leser, die Erlösung, die in Christo Jesu ist, das Werk Christi auf dem Kreuze, liefert die Antwort. Dort hat Jesus als Stellvertreter das Gericht und den Zorn Gottes getragen und den unbeschreiblich bitteren Kelch bis auf den letzten Tropfen geleert. Er nahm den Platz des schuldigen Verbre­chers ein und litt an seiner Statt. 

Er vergoß Sein Blut zur Vergebung der Sünden. 0 wunderbare Gnade! Und dann? das Schwert der göttlichen Gerechtigkeit, das auf das frei­willige Opfer gefallen war, kehrte befriedigt in seine Scheide zurück; und der Gott, Der in Seiner Barmherzigkeit Seinen eingeborenen Sohn sandte, damit wir durch Ihn leben möch­ten, ist Es, Der jetzt aufgrund jenes wunderbaren und voll­kommenen Werkes, umsonst, aus freier Gnade, recht­fertigt. Nichts steht dem Ausfluß Seiner Liebe mehr im We­ge. 

Seine Gnade ist die Quelle, das Werk Christi auf dem Kreuz der Grund, die freie Rechtfertigung des Sünders das köstliche Resultat; — und dieses alles — beachten wir es! — während Gott Seinen Charakter aufrechterhält.

Ich denke bei dieser Gelegenheit daran, daß mir jemand, der an den Herrn Jesum gläubig war, vor etlichen Jahren klagte, der Gedanke an die Gerechtigkeit Gottes beunruhige ihn immer wieder. Ich stand gerade nüt ihm vor seinem Hause. „Wenn die Tür Ihres Hauses verschlossen wäre, so daß wir nicht hineinkommen könnten, so würden wir in die­sem Zustand sicher den Stürmen der Nacht ausgesetzt sein, wenn wir uns aber am Innern des Hauses befänden, würden dann nicht dieselben Mauern, die in unserem ersten Zustand eine Schranke gegen unsere Sicherheit bildeten, unser Schutz und Schirm gegen den Sturm sein? Ebenso verhält es sich mit der Gerechtigkeit Gottes. Solange der Mensch in der Sünde und im Unglauben vorangeht, ist er dem Zorne Got­tes ausgesetzt; sobald er aber durch Gottes Gnade glaubt, dann ist die Gerechtigkeit Gottes für ihn".

0 wie bedeutungsvoll sind die Worte: „Gott ist es, der rechtfertigt". Wie wunderbar! Der Heilige Gott, Der die Sünde verabscheut, tritt als Rechtfertiger ins Mittel! Wie unendlich kostbar ist die Erlösung in Christo Jesu, Der es möglich gemacht hat, als ein gerechter Gott den zu recht­fertigen, der an Jesum glaubt.

Doch richten wir unser Auge noch auf eine andere Stelle, die ebenso bezeichnend, wie treffend ist. „Den, der Sünde nicht kannte, hat er für uns zur Sünde gemacht, auf daß wir Gottes Gerechtigkeit würden in ihm". (2. Kor 5, 21). Das ist ein beachtenswerter Ausdruck. Der Zusammenhang wird uns darüber Aufschluß geben. Christus, Der für alle gestorben ist, hat dadurch den Beweis geliefert, daß alle im Tode sind, und daß sie daher durch nichts außer durch Sei­nen Tod, erlöst weiden konnten. Der Zweck Seines Todes war, daß die Erlösten zur Ehre Gottes leben sollten, denn wir lesen: „ . . . auf daß, die, die leben, nicht mehr sich selbst leben, sondern dem, der für sie gestorben ist und ist auferweckt worden" (2. Kor 5, 15). 

Da sich alle im Tode befanden, so konnte die Erscheinung Christi im Fleische ihnen nichts nützen. „Daher kennen wir von nun an niemanden nach dem Fleische; wenn wir aber auch Christum nach dem Fleische gekannt haben, so kennen wir ihn doch jetzt nicht mehr also. Daher, wenn jemand in Christo ist, da ist eine neue Schöpfung. Das Alte ist vergangen; siehe, alles ist neu geworden. Alles von dem Gott . . ." V. 16-18). Nichts kann deutlicher und treffender sein. Wir sehen Chri­stum, zur Sünde gemacht, am Kreuze sterben als ein Opfer für die Sünde; und dies ist das totale Ende des Alten, ja, das Ende von allem, was mir, einem toten und verlorenen Sünder angehörte. Am Kreuze sehe ich durch den Glauben das Ende des eigenen Ichs, das Ende von allem, was mit die­sem Ich in Verbindung war. Christus, auferstanden aus den Toten, ist der Anfang der neuen Schöpfung.

 Er ist „der An­fang, der Erstgeborene aus den Toten. Dies wird uns noch deutlicher in den beiden ersten Kapiteln des Epheserbriefes gezeigt. Wie Gott Christum auferweckt hat, so hat Er auch uns, die wir tot waren in unseren Vergehungen und Sünden" mit Christo auferweckt. Er hat uns nicht nur versöhnt, son­dern uns auch „mitsitzen lassen in den himmlischen Örtern in ihm". Diese neue Schöpfung ist so ganz und gar von Gott, daß wir, einsgemachl mit Christo, dem „Erstgeborenen aus den Toten", in Ihm Gottes Gerechtigkeit geworden sind. Wir waren tot in den Sünden und in den Vergehungen; aber Gott hat uns ein neues Leben geschenkt und erblickt uns als eine neue Schöpfung in Christo, in der keine Sünde ist, und deren Charakter vollkommene Heiligkeit und vollkommene Gerechtigkeit ist. Uns betrachtet in dieser neuen Schöpfung, sind wir das, was Gott aus uns gemacht hat; denn alles ist neu geworden, und alles ist aus Gott; und darum ist der mit Christo auferweckte Gläubige die Gerechtigkeit Gottes.

Also jetzt, nachdem die Gerechtigkeit Gottes durch den Tod Christi völlig befriedigt ist, konnte Paulus im Blick auf den aus den Toten Auferstandenen sagen: „So sei es euch nun kund, Brüder, daß durch diesen euch Vergebung der Sünden verkündigt wird; und von allem, wovon ihr in dem Gesetz Moses nicht gerechtfertigt werden konntet, wird in diesem jeder Glaubende gerechtfertigt" (Apg 13, 38. 39). Möge der Herr uns leiten zu den grünen Auen und zu den stillen Wassern dieser kostbaren Wahrheit!

 „Gott ist es, der rechtfertigt". Ebenso gewiß wie Jesus gestorben und aufer­weckt äst, ebenso gewiß wird uns die Gerechtigkeit Gottes zugerechnet. Der 'gerechte Gott ist jetzt der unsrige auf Grund des Glaubens. Dies in seiner Fülle und in seinen gesegneten Folgen zu genießen, wird bald unser ewiges Teil sein. Der Apostel 'sagt: „Wir erwarten durch den Geist aus Glauben die Hoffnung der Gerechtigkeit" (Gal 5, 5). Wie gesegnet ist diese Hoffnung der Gerechtigkeit! Jetzt durch Zu­rechnung, bald werden wir uns für ewig in dem vollen Ge­nuß des Schauen's befinden. „Wenn er geoffenbart werden ward, werden wir ihm gleich sein, denn wir werden ihn se­hen, wie er ist".

0 hochgelobter Herr und Heiland, vermehre unseren Glauben!

Kein Brot im Schiff

oder Christus alles in allem

(Markus 8, 10-28)

Das Erste, was wir bei der Betrachtung des Evangeliums zu lernen haben, ist, daß Christus Sich Selbst für uns hin­gegeben hat; .und das Zweite, daß wir alles für Ihn aufzuge­ben haben. In der oben bezeichneten Geschichte finden wir beides. Wenn wir uns aber auch in gewissem Sinne sagen können, daß wir das Erste bereits 'gelernt haben, so vergeht doch für manchen oft eine lange Zeit, bevor er als ein völlig ruinierter Sünder erkannt hat, daß Christus unter allen Um­ständen für ihn ist. Jedoch sicher wird der Tag kommen, daß wir nichts mehr haben als Christum. In solchen Schmerzens­momenten, wo alles uns verläßt, wo wir die Nichtigkeit aller Dinge erfahren müssen, machen wir in der uns umgebenden Finsternis die Entdeckung, daß Christus allein für uns ist. — Wir sehen dies in der Geschichte des Jonas vorbildlich vor unsere Augen gestellt. Allerdings war er bekehrt; aber in der Tiefe des Wassers mußte er lernen, daß nur Gott ihn zu retten vermochte.

Vor allem habe ich Christum als Heiland. Um für Ihn le­ben zu können, muß ich zunächst wissen, daß Er völlig für mich ist. Wir sehen in Luk 5, daß der Herr den Petrus be­lehrt. Aber in welcher Weise belehrt Er ihn? Es war in dem für einen Fischer bedeutsamen Augenblick, als 'das Schiff voller Fische war, daß Petrus in der Gegenwart Gottes sein Nichts erblickte und ausrief: „Herr, ich bin ein sündiger Mensch"! Zu den Füßen Jesu liegend, opferte er seine Zeit und sein Schiff dem Herrn. Ein religiöser Mensch ist befrie­digt, wenn er sein Geld für die Ausbreitung des Evangeliums hingibt. Vielleicht haben manche von uns lange Jahre in einer solchen oberflächlichen Weise hingebracht.

Es gibt aber eine Zeit im Leben des Christen, wo er füh­len muß, wie alles ihn unbefriedigt läßt, 'aber auch, daß Christus völlig genug ist, um sein Herz au befriedigen. Pe­trus und seine Gefährten brachten in einer für sie als Fischer höchst verlockenden Periode ihre Schiffe ans Land, verließen alles und folgten Jesu nach. Auf diesem Wege machten sie Erfahrungen. Man hat oft Gelegenheit, am Sterbebett die Worte zu hören: „Ich habe erfahren, daß nichts befriedigen kann, als nur Christus allein". Und muß unser Herz dies nicht bestätigen? Im Lebenslauf einer solchen Person ist der Tag gekommen, wo sie gefunden hat, daß Christus in allem genug ist. Natürlich setzen solche Erfahrungen voraus, daß man Jesum schon länger kannte; und dies zeigt uns auch die Geschichte Petri.

Es ist eine schwere Aufgabe, die wir zu lernen haben, nämlich daß auf alles das Urteil des Todes geschrieben ist. Wenn wir die Schriften betrachten, so finden wir dies in jeder Geschichte. Christus unterweist die Seinen, auf daß sie praktisch lernen, was Tod und Herrlichkeit ist. Die Frage ist immer: Ist Er in allem genug? Er seufzte tief in Seinem Geiste am Grab des Lazarus, und warum? Er sah den Un­glauben des Volkes, das Ihn nicht erkannte als Den, Der in allem genug für sie war.

„Und sie (die Jünger) vergaßen Brote mitzunehmen und hatten nichts bei sich auf dem Schiffe als nur ein Brot".— Man kann sich wirklich keinen hilfloseren Zustand denken, als in einem Schiffe auf dem See ohne Brot zu sein. Aber der Herr Ast beschäftigt. Seine Jünger zu 'belehren, daß Er Selbst genug für sie ist. Er vermehrt das Brot nicht um einen

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Bissen, sondern Er prüft ihren Glauben, als wollte Er sagen:

„Bin ich euch denn nicht genug, selbst wenn sonst auch alles mangelt? Habt ihr nicht Gelegenheit gehabt, meine Macht kennenzulernen? Seid ihr noch so unverständig"? — Wir haben nicht nötig, besorgt zu sein. Der Herr segnet uns oft reichlich nach Seiner Barmherzigkeit, damit wir Ihn kennen­lernen, und - damit Er genug für uns sei in einer Zeit, wo diese Segnungen ausbleiben. Nicht als ob die Gaben den Wert des Gebers bestimmen, sondern vielmehr verleiht Er, der Geber, den Gaben ihren Wert. Was hatte Jonas zu ler­nen? Nicht allein, daß in ihm der Tod, sondern daß hienie­den alles im Tode sei.

Wir haben zwei Dinge zu verstehen — das Leben in dem Sohne Gottes und den Tod hienieden. „Allezeit das Sterben Jesu am Leibe umhertragend, auf daß auch das Leben Jesu an unserem Leibe offenbar werde". Wir dürfen uns nicht entsetzen, dürfen nicht zurückschrecken; denn der Glaube sieht nie auf die Schwierigkeiten, sondern auf Den, Der in allen Schwierigkeiten genug ist. Der Mann des Glaubens läßt sich nicht durch die Umstände beeinflussen. Wir sehen z. B., daß Moses, als er vom Berge herabstieg, 600 000 Menschen entgegentrat, als wären sie nichts. Er stand vor Gott. Er dachte nicht an sie, fürchtete nicht ihre überlegene Macht, sondern rechnete auf Gott. Die Jünger hingegen überließen sich nicht dem Herrn. Sie hätten sich dem Herrn gegenüber kräftig erweisen, d. h. Gebrauch machen sollen von der Macht des Glaubens. Wir finden diesen Unterschied zwischen David und Jonathan. Jonathan mochte ein stärkerer Mann sein, als David; aber David zeigte sich als ein Mann von Kraft, der vor Goliath nicht zurückbebte.

Wir werden in der Geschichte unseres täglichen Lebens lernen müssen, daß Christus genug für uns ist, und dürfen uns nicht im Mindesten durch das entmutigen lassen, was wir um uns her sehen; ja, wir dürfen unseren Mut nicht sinken lassen, wenn auch kein Brot im Schiffe ist. Der Wen­depunkt unseres Lebens ist, daß wir, indem wir durch die Wüste pilgern, es mit dem auferstandenen Christus zu tun haben .und nicht mit den Umständen, in welcher Weise sich diese uns auch entgegenstellen mögen. 

Dann wird das Resultat sein, daß wir zwar keine Hilfsquellen haben, aber da­rum nicht im Mindesten entmutigt sind; wir haben Christum. Paulus konnte von dem strengsten Richterstuhl der Welt sa­gen: „Alle verließen mich"; ... es war kein Brot im Schiff

— „Der Herr aber stand bei mir und stärkte mich, auf daß die Predigt vollbracht werde und alle die aus den Nationen hören möchten; und ich bin gerettet worden aus dem Rachen des Löwen" (2. Tim 4, 16. 17). Wir dürfen den Mut nicht verlieren, auch nicht handeln gleich solchen, die sich immer Erleichterung zu verschaffen suchen, und zwar durch Ver­änderung der Umstände. Wir werden nie anders eine erha­bene Stufe von Kraft erlangen, als wenn wir, statt den Herrn zu bitten, daß Er unsere Umstände ändern möge, zu Ihm sagen: „Herr erhebe mich über die Umstände"!

In dem alten Zustand war alles größer, als der Mensch, in dem neuen ist der Mensch in Christo größer, als alles.

— Wenn ich um die Wiedergenesung meines kranken Kindes bete und es mir wieder zurückgegeben wird, so werde ich in dieser Prüfung nicht dieselbe Erkenntnis von Gott erlangt haben, als wenn ich angesichts dieser Prüfung mich Seinem Willen überlassen hätte. Wenn ich am Herrn ruhe und lasse Ihn tun, was Ihm gefällt, dann ist Christus genug für mich. Das ist nicht nur jenes erbärmliche Zufriedensein mit etwas, das doch nun einmal nicht zu ändern ist. Der Glaube ist es, der mir den Pfad des Lebens zeigt, und wenn wir durch Glauben wandeln, so befinden wir uns auf diesem Pfad und legen alles in die Hand Dessen, Der die Liebe ist und der alles nach Seiner Weisheit ordnet. Gott kann nicht Seine Liebe dadurch beweisen, daß Er uns dieses und jenes gibt. Der Beweis Seiner Liebe ist die Herrlichkeit, wo Er jeder Art von Entbehrung begegnet ist. Aber, wie bereits gesagt, wir dürfen nicht zurückschrecken, nicht verzagt sein. 

Allerlei Drangsale sind unser Teil und ich will nicht, daß jemand in betreff ihrer unempfindlich sei; aber es ist ein Unter­schied zwischen dem Kampf einer Seele, die von seiten der Barmherzigkeit eine Milderung der Umstände begehrt, und dem Kampf einer Seele, die ohne diese Barmherzigkeit zu beanspruchen, lernt, in den Schwierigkeiten mit Gott zu wandeln. Würde nun vielleicht jemand sagen: „Auf einem solchen Weg möchte mich Gott in zu große Trübsale brin­gen", so erwidere ich: „Er liebt mich unendlich mehr, als ich mich liebe". Und wenn ich anders sprechen würde, so wäre das ein Beweis, daß ich weder das Heil noch die Liebe Sei­nes Herzens verstände.

Ich weiß wohl, was Trübsale sind. Aber wozu dienen sie7 Mich zu Ihm zu bringen, so daß „der Friede Gottes, der al­len Verstand übersteigt, mein Herz und meine Sinne in Chri­sto Jesu bewahrt". Es mag sein, daß ich keine Linderung er­fahre; aber die Segnung von Ihm Selbst, „der Friede Gottes, der allen Verstand übersteigt und Herz und Sinne in Christo bewahrt", ist zwischen meiner Seele und der Trübsal. Maria war, als sie zum Grabe ihres Bruders Lazarus schritt, be­friedigt in der Gegenwart Jesu.

Möchten wir doch stets die Wahrheit verstehen, daß hier auf alles das Urteil des Todes geschrieben ist, und daß Christus Selbst für uns ist. Wir haben inmitten des Elends, das uns hier umgibt, zu lernen, daß Christus für alles genügend ist; nur dann werden wir mit glücklichem Herzen und zum Preise Seines Namens unsere Pfade pilgern.

Der Herr Jesus in Johannes 11 und 12 

Diese Kapitel zeigen uns die verschiedenen Richtungen in welchen sich die Gedanken des Herrn gegenüber den Gedanken der Menschen bewegen. Seine Gedanken über Elend und Glückseligkeit sind ganz anderer Art, als die Gedanken der Menschen.

Das elfte Kapitel zeigt uns eine Szene menschlichen Elends. Die teure Familie in Bethanien war mit Krankheit heimgesucht worden; und die Stimme der Freude und des Dankes hatte sich in Trauer und Wehklagen gewandelt. Aber Er, Der unter allen die innigsten und zärtlichsten Symphatieen hat, ist der ruhigste unter ihnen; denn Er lebte in der Voraussicht der Auferstehung, was Ihn über das Krankenzimmer und über das Totengrab hinwegsehen ließ.

Als Jesus hörte, daß Lazarus krank war, blieb Er zwei Tage an dem Orte, wo Er war. Als aber die Krankheit La­zarus' mit dem Tod endigte, begann Er Seine Reise mit der sicheren und herrlichen Aussicht der Auferstehung. Dies machte Seine Schritte fest und ruhig. Und als Er der Stätte des Kummers nahte, blieb Sein Verhalten ganz dasselbe. Mit erhabener Ruhe antwortet Er auf die Betrübnis des Herzens Marthas, und zwar von einem Standpunkt aus, auf den Ihn die Kenntnis einer weit über die Macht des Todes hinaus­reichenden Macht gestellt hatte. Und obwohl Er noch weiter­zugehen hatte, zeigte Er durchaus keine Eile; denn als Maria sich Ihm nähert, befindet 'Er Sich noch an dem Ort, wo Martha Ihm begegnet war. Aber — es ist überflüssig zu sagen, — der herrliche Ausgang der Dinge rechtfertigt so­wohl die Ruhe Seines Herzens, als auch die Verzögerung Seiner Reise. So war es mit Jesu hienieden. Der Pfad, den Er wandelte, war Sein eigener Pfad. Während andere durch Kummer und durch Gedanken des Todes niedergebeugt waren, bewegte Er Sich in dem Sonnenschein der Auferste­hung.

Doch obwohl das Verständnis der Auferstehung den Ge­danken des Herrn eine andere Richtung gab, so blieb doch Sein Herz empfänglich für den Kummer anderer. Sein Herz offenbarte keine Gleichgültigkeit, sondern göttliche Erhabenheit gegenüber den Leiden dieser Zeit. Er weinte mit der weinenden Maria und mit denen, die sie be­gleiteten. Seine Seele aber bewegte sich in den Strahlen je­ner Region, in die der Tod nicht einzudringen vermag und die weit entfernt liegt von dem Grabe Bethaniens; aber Er konnte das Tränental besuchen und weinen mit den Weinen­den.

Doch während der Mensch voller Erwartung herrlicher und glänzender Dinge auf der Erde war, war Seine Seele mit dem heiligen Bewußtsein erfüllt, daß hienieden auf alles, wie anziehend und reizend es auch scheinen mag, das Urteil des Todes geschrieben ist, und daß wahre Glückseligkeit und Ehre nur in anderen und höheren Regionen erwartet werden kann. Dies sehen wir im zwölften Kapitel.

Viele, als sie von der Auferweckung des Lazarus gehört hatten, kamen zusammen und begrüßten Jesus als den König Israels. Auf dem Fest der Laubhütten empfangen sie Ihn mit königlichen Ehren, ein Vorbild dessen, was einmal in großer Herrlichkeit geschehen wird. Auch eilen die Griechen herbei und nehmen als Anbeter neben Israel ihren Platz ein. Sie kommen zu Philippus, gleichsam den Zipfel eines jüdischen Mannes ergreifend (Sach 8, 23), und wünschten Jesum zu sehen und zu verehren. Aber Jesus verhält sich in diesem allem in Zurückgezogenheit. Er wußte, daß die Zeit dieser Festlichkeiten und Feiertage noch nicht gekommen war. Während ihre Gedanken von den Herrlichkeiten des König­tums erfüllt sind, beschäftigt sich Sein Geist mit dem Tode; denn wir hören Ihn sagen: „Wahrlich, wahrlich, ich sage euch, wenn das Weizenkorn nicht in die Erde fällt und stirbt, so bleibt es allein".

Dies war der besondere Pfad des Geistes Jesu. Die Auf­erstehung war für Ihn alles. Sie erhellte Seinen Pfad inmitten der Schwierigkeiten dieses Lebens. Es gab für Ihn keine Hoffnung inmitten der Erwartungen und Anerbietungen dieser Welt. Die Auferstehung war für Seine Seele der heitere Sonnenstrahl, während sich über Bethanien schwere und finstere Wolken gelagert hatten; und während andererseits der über Jerusalem leuchtende Glanz eines prun­kenden Festtages vor diesem herrlichen Ereignis erbleichen mußte. Der Gedanke an die Auferstehung heiligte Sein Ge­müt ebensowohl inmitten der Leiden, als auch der Freuden, die Ihn 'umgaben. Die Auferstehung war für Ihn alles. Sie machte Ihn zu einem vollkommenen Muster jenes schönen Grundsatzes des Geistes Gottes: „Die Weinenden seien als Nichtweinende und die sich Freuenden als sich nicht Freuende".

Geliebte! Möchte diese Gesinnung auch unser Herz er­füllen! Der Herr gebe, daß der Glaube und die Hoffnung des Evangeliums die wahre Glückseligkeit unserer Herzen durch die Wirksamkeit des in uns wohnenden Geistes bilden!

Er starb für mich

Ein Reisender kam 'jüngst auf seiner Wanderung durch die südlichen Staaten Amerikas an einem Platz vorbei, wo er einen Mann bemerkte, der sich über einen frischen Grabes­hügel beugte und mit tränenbenetzten Augen in den sorg­fältig umgegrabenen Boden Blumen pflanzte. Nachdem er den Mann eine Zeitlang beobachtet und seine tiefe Traurig­keit wahrgenommen hatte, sagte er zu ihm: „Jedenfalls trauern Sie über dem Grabe Ihrer Frau, nicht wahr"? „O nein", war die Antwort, „ich habe meine Frau nicht verlo­ren". „Dann" fuhr der Reisende fort, „benetzen Ihre Trä­nen das Grab eines vielgeliebten Kindes"? „Nein", erwiderte der Trauernde, „ich habe weder Frau noch Kind verloren". „Darf ich denn wissen", fragte der Reisende, „wessen Tod die Ursache Ihrer so großen Trauer ist"?

 „Ich pflanze diese Blumen und vergieße diese Tränen für jemanden, der für mich starb", sagte der Leidtragende: „Ich war im letz­ten Kriege als Soldat einberufen. Ich hatte Frau und Kinder, die, wenn ich fiel, unversorgt zurückgeblieben wären. Da trat mein Freund in mein Haus und sagte: „Ich habe weder Frau noch Kinder und will daher statt deiner ins Feld zie­hen". Er tat es und wurde in einer Schlacht verwundet. Kaum vernahm ich, daß er sich im Hospital in einem sehr gefährlichen Zustand befinde, eilte ich zu ihm; aber ich fand ihn bereits in seinem Grabe. Dieser Hügel deckt seine Ge­beine. Er ist für mich ins Grab gestiegen, und in dankbarer Erinnerung pflanze ich 'diese Blumen und benetze sie mit meinen Tränen.

Der Leidtragende ließ nachher auf das Grab einen Stein setzen, mit der einfachen, aber rührenden Inschrift:

„Er starb für mich".

Es werden sicher wenige sein, die nicht durch diese kleine, rührende Geschichte bewegt werden; aber, mein teurer Leser, wie wenige gibt es, die berührt worden sind durch eine Tat­sache, die noch viel wunderbarer und weit rührender ist. Die Heilige Schrift sagt: „Größere Liebe hat niemand, als diese, daß jemand 'sein Leben läßt für seine Freunde" (Joh 15, 13); aber der Herr Jesus Christus, der Sohn Gottes, hat Sein Leben für Seine Feinde hingegeben; „denn wenn wir, da wir Feinde waren, mit Gott versöhnt wurden durch den Tod seines Sohnes usw." (Rom 5, 10). Er starb für unsere

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Sünden; Er starb für uns, um uns zu Seinen Freunden zu machen. Kannst du, mein Leser, sagen, daß du einer bist, den Er für Sich gewonnen hat? Kannst du sagen: „Er starb für mich, und nicht nur starb Er für mich, sondern Er lebt auch für immerdar zur Rechten Gottes für mich"? Und kannst du sagen: „Auch ich bin in Ihm gestorben und mithin getrennt von dem Zustand, in dem ich, als ein Kind Adams, geboren war, und l e b e jetzt in Ihm, dem Auferstandenen und bin eins mit Ihm, dem Verherrlichten"? —

Gott ist für uns

Wieviel ist in diesen wenigen Worten enthalten! Wir se­hen Gott mit uns durch das Wörtchen „für" in Verbindung gebracht. Dieses sichert alles für Zeit und Ewigkeit. Nichts, selbst nicht das Geringste von dem, was der Mensch braucht, gibt es, was nicht in diesen wenigen Worten mit einbegrif­fen wäre. Wenn Gott für uns ist, dann folgt notwendig, daß weder unsere Sünden noch unsere Vergehungen, weder un­sere verderbte Natur noch Satan, noch die Welt noch eine andere Kreatur uns irgendwie im Wege sein können, um unseren gegenwärtigen Frieden oder unser ewiges Glück zu stören. Gott kann sich aller bedienen; und Er hat es getan, und zwar in einer Weise, daß dadurch Seine Herrlichkeit geoffenbart und Sein Name für ewig verherrlicht worden ist.

Es könnte indes einer unserer Leser sich zu der Frage veranlaßt fühlen: woraus zu schließen sei, daß er das kost­bare Wörtchen „uns" auf sich selbst anwenden dürfe? Das ist wirklich eine wichtige Frage. Unser ewiges Wohl und Wehe hängt von der Antwort ab. Wie denn können wir wissen, daß Gott für uns Ast? Ist denn im Blick auf uns selbst irgendein Grund vorhanden, um deswillen Er für uns sein könnte? 0 nein; Er hat im Gegenteil Grund genug, um gegen uns zu sein. Aber trotz allem, was wir sind und was wir getan haben, wollen wir durch Gottes Gnade fünf Punk­te zum Beweis aufstellen, daß Gott in all unserem Elend, in all unserer Not und Gefahr für uns ist. Der erste große Beweisgrund, den wir anrühren wollen, ist

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die Gabe Seines Sohnes.

„Denn also hat Gott die Welt geliebt, daß er seinen ein­geborenen Sohn 'gab, 'auf daß jeder, der an ihn glaubt, nicht verloren gehe, sondern ewiges Leben habe" (Joh 3.16). — Es gereicht uns zu großer Freude, unsere Beweise mit 'diesen herrlichen Worten beginnen zu können. Sie begegnen von vornherein einer Ungewißheit, die sich dem ängstlichen Ge­müt meines Lesers aufdrängen möchte — einer Ungewiß­heit, die sich auf die Tatsache gründet, daß Röm 8, 31, so­wie überhaupt der ganze Brief nur auf Gläubige anzuwenden ist. Gott sei gepriesen! Diese Ungewißheit muß schwinden im Blick auf diese ermunternden, alles umfassenden Worte Dessen, Der sprach, wie nie ein Mensch gesprochen hat. Wenn wir von den Lippen unseres gesegneten Herrn die Worte: „Also hat Gott die Welt geliebt", vernehmen, so ha­ben wir keinen Grund, gegen ihre Anwendung auf alle, die in dem Worte „Welt" miteinbegriffen sind, irgendeinen Zweifel aufkommen zu lassen. Wenn jemand behaupten möchte, daß die freie Liebe Gottes sich ihm nicht zuwende, so muß er vorher den Beweis liefern, daß er nicht einen Teil von der Welt ausmache, sondern sich unter eine Klasse von Wesen zählt, die einer anderen Sphäre angehört. Hätte der Herr gesagt: „Also hat Gott einen gewissen Teil der Welt 'geliebt", — dann würde es allerdings absolut not­wendig sein, sich zu. vergewissern, daß man diesem Teil angehört, um jene Worte auf sich anwenden zu können. Wenn Er gesagt hätte, daß Gott die Berufenen, die Auser­wählten geliebt habe, dann müßten wir unbedingt wissen, ob unser Platz unter Ahnen sei, bevor wir die köstliche Ver­heißung 'der Liebe Gottes bezüglich der Hingabe Seines Soh­nes uns zueignen dürften.

Doch — Gott sei gepriesen! — der Herr spricht nicht in einer solchen Weise. Er richtete diese Worte an jemanden, der von Jugend auf nur 'einen höchst beschränkten Begriff von der Gunst und Güte Gottes 'hatte. Nikodemus hatte sich durch Unterricht die Anschauung 'gebildet, daß sich der rei­che Strom der Güte, Liebe 'und Barmherzigkeit Jehovas ein­zig und allein in die engen Grenzen des jüdischen Systems zu ergießen vermöge. Die Vorstellung, daß dieser Strom

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seine Ufer überfluten und sich selbst bis zu den Nationen ausdehnen können, hatte nie die Gedanken eines Mannes beschäftigt, der seine Erziehung nur unter den Einflüssen des Judentums genossen hatte. Es muß daher höchst seltsam in seinen Ohren geklungen haben, von den Lippen eines „von Gott gekommenen Lehrers" die Äußerung zu hören, daß Gott nicht bloß die jüdische Nation, auch nicht nur einen gewissen Teil der Menschheit, sondern die „Welt„ zu einem Gegenstand Seiner Liebe gemacht habe. Ohne Zweifel mußte diese Äußerung das höchste Erstaunen des „Lehrers in Isra­el" hervorrufen, zumal da er hören mußte, daß es selbst für ihn, trotz seiner religiösen Vorrechte, eine Notwendigkeit sei, „von neuem geboren zu werden, um in das Reich Gottes eingehen zu können".

Stellen wir denn hierdurch nicht die köstliche Wahrheit der Gnadenwahl oder der göttlichen Berufung in Frage? Das sei ferne. Wir betrachten sie vielmehr als eine der Grund­wahrheiten des Christentums; wir glauben an die ewigen Ratschlüsse unseres Gottes, an die Absichten Seiner auser­wählten Liebe, Seiner großen Barmherzigkeit. Aber verhin­dern denn diese die Auswahl betreffenden Dinge in gewis­sem Grade nicht die gnadenreiche Tätigkeit der göttlichen Natur oder den Ausfluß der Liebe Gottes gegenüber einer verlorenen Welt? In keiner Weise. Gott ist Liebe. Das ist Seine gesegnete Natur; und diese Natur muß sich gegen alle Menschen offenbaren. Der Irrtum liegt in der Annahme, daß Gott deshalb nicht alle Menschen oder die ganze Welt Le­ben und aller Kreatur die frohe Botschaft der freien Erlösung verkündigen lassen könne, weil Er — uneingeschränkt in Sei­ner Gnade und Barmherzigkeit — nach Seinen Vorsätzen, Ratschlüssen und Bestimmungen handelt, und weil Er von aller Ewigkeit her sich ein Volk zum Lobe Seiner Herrlich­keit auserwählt hat, und die Namen der Erlösten vor Anbe­ginn der Welt im Buche des Lammes eingeschrieben waren. Beide Wahrheiten, obwohl sie gänzlich voneinander verschie­den sind, sind im Worte Gottes klar und bestimmt auf ihren Platz gestellt; die eine nimmt oder schwächt nicht im Gering­sten die Kraft und Bedeutung der anderen, sondern beide zusammen stellen uns die köstliche Harmonie der göttlichen

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Wahrheit, die herrliche Einheit der göttlichen Natur vor Augen. Der Prediger des Evangeliums hat es daher aus­schließlich und allein mit der Tätigkeit der göttlichen Natur und dem Ausfluß der göttlichen Liebe zu tun. Er hat sich in seiner gesegneten Wirksamkeit nicht durch etwaige Hin­weisungen auf Gottes geheime Ratschlüsse zu beschränken, obwohl er ihrer vollkommen eingedenk ist. Seine Mission gilt der Welt, der ganzen Welt; der Inhalt seiner Predigt ist die Errettung — eine Errettung, vollkommen wie das Herz Gottes voll Liebe ist, so dauernd wie der Thron Gottes, so frei wie der hin und herwehende Wind — eine Errettung, die allen ohne Ausnahme und ohne irgendwelche Bedingung angeboten wird. Das Fundament seines Wirkens ist der Ver­söhnungstod Christi, der alle Hindernisse aus dem Wege ge­räumt und die Tore weit geöffnet hat, damit der mächtige Strom der göttlichen Liebe sich mit seinem ganzen Reichtum und in all seiner Segensfülle auf eine schuldige und verlore­ne Welt ergießen könne.

Hier liegt — mögen wir es wohl beachten — in bezug auf das Evangelium Gottes die Verantwortlichkeit des Menschen. Wenn es wirklich eine Wahrheit ist, daß Gott die Welt also liebte, daß Er Seinen eingeborenen Sohn gab — wenn es Sein Wille ist, daß alle Menschen errettet werden und zur Erkenntnis der Wahrheit kommen — wenn Er nicht will, daß jemand verloren gehe, sondern daß alle zur Buße kommen, dann ist sicher jeder, der dieses herrliche Evangelium hört, unter die ernsteste Verantwortlichkeit gestellt, zu glauben, um errettet zu werden. Keiner kann mit Aufrichtigkeit und Wahrheit sagen: „Ich hatte Verlangen, von dem kommenden Zorn errettet zu werden; aber ich war verhindert durch den unabänderlichen Ratschluß Gottes, der mich unwiderruflich für die Hölle bestimmt hatte. Weder im ganzen Worte Got­tes, noch in der ganzen Tragweite Seiner Tätigkeit, weder im Ausdruck Seines Charakters, noch in der Ausübung Sei­ner moralischen Regierung finden wir auch nur den schwäch­sten Schatten von einer Grundlage für einen solchen Ein­wand. Für niemanden ist eine Entschuldigung übriggeblieben. Gott kann allen, die Sein Evangelium verworfen haben, die Worte zurufen: „Ich wollte, aber ihr habt nicht gewollt". 

Es gibt durchaus nichts im Worte Gottes, was zu der irrigen Annahme Veranlassung geben konnte, daß von seiten Got­tes ein Teil Seiner Geschöpfe zu ewiger Verdammnis be­stimmt sei. Ewiges Feuer ist bereitet dem Teufel und seinen Engeln (Matth 25); der Mensch aber stürzt mit seinem eigenen Willen hinein. Gefäße des Zorns sind nicht durch Gott, sondern durch sich selbst zum Verderben berei­tet (Röm 9). Jeder, der in den Himmel geht, wird Gott dafür zu danken haben; jeder der zur Hölle fährt, wird es sich selbst zuschreiben müssen.

Andererseits dürfen wir es nicht aus den Augen verlieren, daß der Sünder nichts mit Gottes unerforschlichen Rat­schlüssen zu tun hat. Was weiß er, was kann er in betreff ihrer wissen? Durchaus nichts. Er hat es ausschließlich und allein mit der geoffenbarten Liebe Gottes, mit Seiner ihm angebotenen Barmherzigkeit, mit Seiner freien Erlösung, mit Seinem herrlichen Evangelium zu tun. Wir dürfen ohne Furcht behaupten, daß, solange in dem göttlichen Buch die herrlichen Worte stehen: „Wer da will, komme und nehme das Wasser des Lebens umsonst" (Offb 22), es irgend­einem Sohne oder einer Tochter Adams unmöglich ist, zu sagen: „Ich verlangte nach Errettung, aber ich konnte sie nicht erlangen; ich dürstete nach dem Wasser des Lebens, konnte es aber nicht erhalten, weil der Brunnen zu tief war und ich kein Gefäß zum Schöpfen hatte". 0 nein, eine sol­che Sprache wird nicht aufkommen, ein solcher Einwand wir in den Reihen der Verlorenen nie erhoben werden kön­nen. Wenn die Menschen die Schwelle der Ewigkeit über­schritten haben, dann werden sie klar einsehen, was sie jetzt so dunkel und sich einander widersprechend fanden, nämlich die vollkommene Harmonie zwischen der frei handelnden Gnade Gottes und dem freien an alle Menschen gerichteten Anerbieten der Errettung — die vollkommenste Übereinstim­mung zwischen göttlicher Unumschränktheit und menschli­cher Verantwortlichkeit.

Wir wünschen, daß der Leser diese Tatsache in ihrer gan­zen Wirklichkeit erkennen möge. Es ist wichtig, die Wahrheit in ihrer vollen Tragweite in der Seele festzuhalten und die Strahlen der göttlichen Offenbarung — ungeschwächt durch die trübe Atmosphäre menschlicher Theologie — auf Herz und Gewissen wirken zu lassen. Es ist gefährlich, eine ge­wisse Anzahl von Wahrheiten aufzunehmen und sie zur Grundlage eines Systems zu benutzen. Wir haben die Kraft der ganzen Wahrheit nötig. Das Wachstum und die praktische Heiligung der Seele weiden nicht durch einzelne Wahrheiten, sondern durch die Wahrheit in ihrer ganzen Fülle hervorgebracht, wie sie in der Person Christi verkör­pert und durch den ewigen Geist in der Heiligen Schrift ge­offenbart ist.

Wir müssen unsere durch Gewohnheiten einge­sogenen Meinungen gänzlich fahren lassen und uns als un­wissende Kindlein zu den Füßen Jesu niedersetzen um durch Seinen Geist aus Seinem heiligen Worte belehrt zu werden. Nur dann werden wir Ruhe finden gegenüber allen sich widersprechenden und das aufrichtige Gemüt beängstigenden dogmatischen Anschauungen. Dann werden alle finsteren Wolken und undurchdringlichen Nebel menschlicher Meinun­gen verschwinden und unsere Seelen werden sich des klaren Sonnenlichtes einer vollen
göttlichen Ordnung erfreuen.

Doch fahren wir mit unseren Beweisen fort. Die zweite Tatsache, die wir zum Beweis, daß Gott für uns ist, anfüh­ren wollen, finden wir

in dem Tode Seines Sohnes.

Zu diesem Zweck wird es nötig sein, nur einen Punkt und zwar den Hauptpunkt in dem Versöhnungstode Christi her­vorzuheben. Wir richten unseren Blick auf jene wunderbare Tatsache, wovon der Heilige Geist durch den Propheten Je­saja redet, der sagt: „Jehova gefiel es, ihn zu zerschlagen; er hat ihn leiden lassen" (Kap. 53). Unser hochgelobter Herr hätte Mensch werden und die Welt voller Sünde und Trübsal betreten können; Er hätte im Jordan getauft, durch den Heiligen Geist gesalbt, vom Teufel in der Wüste ver­sucht werden können; Er hätte umherziehen und Gutes tun können; Er hätte leben und wirken, weinen und beten kön­nen, und, uns in einem noch größeren Dunkel als zuvor zu­rücklassend, am Schluß Seiner Laufbahn wieder zum Him­mel zurückkehren können; Er hätte wie der Priester und Levit im Gleichnis unsere Wunden und unser Elend sehen und wie jene an der entgegengesetzten Seite vorübergehen

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können. Und was, mein Leser, würde für dich und mich üb­rig geblieben sein? Sicher nichts anderes, als die Flammen einer ewig dauernden Hölle. Denn — beachten wir es wohl! — alles Wirken des Sohnes Gottes während Seines Lebens hienieden — Sein erstaunenswerter Dienst — Seine Tags voller Mühe, Seme im Gebet zugebrachten Nächte — Seine Tränen und Seufzer — kurz, das Ganze Seines Wirkens von der Krippe bis zum Kreuz hätte nicht e i n e n Flecken von der Schuld eines menschlichen Gewissens auslöschen können. „Ohne Blutvergießen ist keine Vergebung". Die Menschwer­dung des Sohnes Gottes vermochte an und für sich keine Schuld zu tilgen. Das Leben Christi als Mensch auf Erden, erhöhte nur die Schuld des Menschengeschlechts. „Wenn ich nicht gekommen wäre und zu ihnen geredet hätte, so hätten sie 'keine Sünde". Das Lacht, das Seine gesegneten Pfade beschien, ließ nur umso deutlicher die moralische Finsternis des Menschen hervortreten. Wäre Er daher nur gekommen, um dreiunddreißig Jahre hier zu leben und zu wirken und dann zum Himmel zurückzukehren, 'so würde unsere Schuld und moralische Finsternis bewiesen, aber keine Versöhnung bewirkt worden sein. Nur „das Blut Jesu Christi, des Sohnes Gottes, reinigt von aller Sünde".

Dies ist eine große Fundamental-Wahrheit des Christen­tums und muß stets bestätigt und festgehalten werden. Es ist darin eine unendliche moralische Kraft enthalten. Wenn es wahr ist, daß alles Wirken in dem Leben des Sohnes Gottes — Seine Tränen, Seine Gebete, Seine Seufzer — daß alle diese Dinge zusammen nicht einen einzigen Flecken von Sünden wegtun können, müssen wir dann nicht notwendig fragen, welch einen Wert wir unseren Werken, unseren Tränen, unseren Gebeten, unseren religiösen Diensten, Zere­monien, Sakramenten und Anordnungen beilegen können? Können diese Dinge unsere Sünden auslöschen und uns eine Gerechtigkeit vor Gott geben? Dieser Gedanke würde einen hohen Grad von Anmaßung verraten. Wenn jene Dinge ein solches Resultat bewirken könnten, wozu dann noch das Opfer und der Versöhnungstod Christi? Wozu dieses un­schätzbare, unaussprechlich große Opfer, wenn irgendetwas anderes hinreichend gewesen wäre?

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Es könnte indes behauptet werden, daß, obgleich diese Dinge ohne den Tod Christi nichts nützen, sie dennoch hinzugefügt werden müssen. Aber zu welchem Zweck? Etwa «um diesen unvergleichlichen Tod, 'dieses köstliche Blut, dies un­schätzbare Opfer vollgültig zu machen? Ist das der Gedanke? Müssen die nichtigen Werke menschlicher Gerechtigkeit in die Waagschale geworfen werden, um dem Opfer Christi die nötige Kraft 'gegen das Gericht Gottes zu verleihen? Wie verwerflich ist ein solcher Gedanke!

Aber bedürfen wir denn keiner guten Werke? Ja sicher; aber was sind diese? Sind 'sie die frommen Werke, die reli­giösen Bemühungen und die moralischen Tätigkeiten der un­wiedergeborenen, Unbekehrten und ungläubigen Natur? Nein. Aber was sind denn die 'guten Werke des Christen? Sie sind lebendige, nicht tote Werke. Sie 'sind die köstlichen Früchte eines Lebens, das man besitzt — des Lebens Christi in dem wahren Gläubigen.

Es 'gibt unter der Sonne nicht irgendetwas, das Gott als ein gutes Werk annehmen kann, es sei denn die Frucht der Gnade Gottes in dem Gläubigen. Der schwächste Ausdruck des Lebens Christi in dem täglichen Leben des Gläubigen ist angenehm und köstlich vor Gott, während die ausgezeich­netste und höchste Wirksamkeit eines Ungläubigen in den Augen Gottes bloß ein „totes Werk" ist.

Wir müssen jedoch zu unserem Thema zurückkehren. Wir haben 'gesagt, daß wir für unseren heutigen Zweck nur auf einen besonderen Punkt in dem Tode Christi hinweisen würden. Dieser ist: „Jehova gefiel es, ihn zu zerschlagen", Hierin liegt der schlagende Beweis, daß Gott für uns ist. Er hat Seines eigenen Sohnes nicht geschont, sondern Ihn für uns alle dahingegeben. Er hat Ihn nicht nur gegeben, sondern auch „zerschlagen", und zwar für uns. Der fleckenlose Heilige und Vollkommene, der einzige vollkom­mene Mensch, dessen Fuß 'je den Erdboden betrat — der immer den Willen Seines Vaters getan hat. Dessen ganzes Leben von der Krippe bis zum Kreuz ein ununterbrochener zum Thron und zum Herzen Gottes emporsteigender Wohl­geruch war. Der durch jeden Blick, durch jeden Gedanken dem Wohlgefallen Gottes entsprach, und Dessen einziger

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großer Zweck die Verherrlichung Gottes und die Vollendung Seines Werkes war — wurde nach dem bestimmten Rat­schluß und nach Vorkenntnis Gottes überliefert und an das Fluchholz genagelt, um dort den gerechten Zorn Gottes ge­gen die Sünde zu tragen; und dies alles, weil Gott für uns ist.

Welche bewundernswürdige und unermeßliche Gnade er­blicken wir hier! Der Gerechte zerschlagen für die Ungerech­ten, — der sündenlose, fleckenlose, heilige Jesus zerschlagen durch die Hand unendlicher Gerechtigkeit, auf daß schuldige Empörer gerettet, und nicht allein gerettet, sondern in die Stellung und das Verhältnis von Söhnen des Herrn, des All­mächtigen, und von Erben Gottes und Miterben Christi ge­bracht weiden möchten. Dies ist sicherlach Gnade, reiche, freie, unumschränkte Gnade — eine für den 'größten Sünder überströmende Gnade — eine Gnade, „die da herrscht durch Gerechtigkeit zu ewigem Leben, durch Jesum Christum". Wer möchte einer solchen Gnade nicht sein ganzes Vertrauen schenken? Wer könnte auf das Kreuz blicken und noch zwei­fein, daß Gott für den Sünder, ja für jeden Sünder ist, der zu Ihm kommt. Wer möchte nicht der Liebe vertrauen, die uns vom Kreuz herab entgegenstrahlt? Wer könnte das Kreuz anschauen, ohne zu sehen, daß Gott nicht den Tod des Sün­ders will? Warum hat Er uns in unserer Schuld nicht um­kommen lassen, warum hat er, wie wir es durch unsere Sün­den reichlich verdient hatten, uns nicht zum ewigen Abgrund hinabsinken lassen? Warum hat Er überhaupt Seinen Sohn gegeben? warum hat Er Ihn am schmachvollen Kreuze zer­schlagen? warum Sein Antlitz verborgen vor dem einzigen vollkommenen Menschen, Der je gelebt hat, vor Seinem ein­geborenen Sohne? Warum 'dies alles, mein Leser? Sicherlich, es war, weil Gott trotz unserer Schuld und unserer Verge­hungen für uns ist. Ja, gepriesen sei Sein Name! Er ist für den armen, verderbten und verdammungswüldigen Sün­der, wer und wie dieser auch sei; und jeder, dessen Auge diese Zeilen lesen, ist 'einigeladen zu kommen und jener Lie­be zu vertrauen, die sich für den Sünder am Kreuze zerschla­gen ließ.

0 geliebter Leser! Komm, komm jetzt! Säume nicht, zweifle nicht, höre nicht auf die Stimme Satans! Lausche nicht auf die Einwendungen und Meinungen deines eigenen Herzens, sondern lausche auf das Wort, das dir bezugt, daß Gott für dich ist, und auf die Liebe, die dir entgegenstrahlt in der Hingabe und dem Tode des Sohnes Gottes. Diese beiden Tatsachen — die Gabe und der Tod des Sohnes Gottes — sind im Vorhergehenden von uns als Beweis für die Wahr­heit angeführt, daß Gott für uns ist. Wir sind unserem gesegneten Herrn auf Seinem wunderbaren und geheimnis­vollen Wege gefolgt, den die Fußstapfen göttlicher und un­unterbrochener Liebe kennzeichnen. Wir haben gesehen, wie der hochgelobte Gott nicht nur Seinen eingeborenen Sohn hingegeben, sondern Ihn auch zerschlagen hat für uns, wie Er den fleckenlosen. Leib Seines Sohnes zu einem Opfer für die Sünde gemacht hat, wie Er Ihn an unserer Statt gerichtet und in den Staub des Todes gelegt hat und dadurch den un­umstößlichen Beweis geliefert hat, daß Er für uns ist.

Konnte Er noch einen kräftigeren Beweis von Seiner Liebe zu uns und von Seinem Verlangen nach unserer Rettung geben, als die Gabe und den Tod Seines vielgeliebten, eingeborenen Sohnes? Gehen wir jetzt zu dem dritten Beweis über. Wir finden ihn in der Auferweckung des Sohnes Gottes.

Bei Betrachtung dieses herrlichen Ereignisses der Aufer­stehung heben wir jedoch nur einen Punkt hervor, nämlich das darin ausgesprochene Wohlwollen Gottes. Eine oder zwei Schriftstellen werden hinreichen, um diesen Punkt ins Licht zu stellen.

In Rom 4 sehen wir Gott als Den, Der den Herrn Jesum aus den Toten auferweckt hat. Der Apostel spricht hier von Abraham, „der wider Hoffnung auf Hoffnung geglaubt hat, auf daß er ein Vater vieler Nationen würde, nach dem, was gesagt ist: Also soll dein Same sein. Und nicht schwach im Glauben, sah er nicht seinen eigenen, schon erstorbenen Leib an, da er fast hundert Jahre alt war, und das Absterben des Mutterleibes der Sarah, und zweifelte nicht an der Ver­heißung Gottes durch Unglauben, sondern wurde gestärkt im Glauben, Gott die Ehre gebend, und war der vollen Ge­wißheit, daß er, was er verheißen habe, auch zu tun vermö-

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ge. Darum ist es ihm auch zur Gerechtigkeit gerechnet wor­den. Es ist aber nicht allein seinetwegen geschrieben, daß es ihm zugerechnet wurde, sondern auch unseretwegen, denen es zugerechnet werden soll, die wir an den glauben, der Je­sum, unseren Herrn, aus den Toten auferweckt hat, der un­serer Übertretungen wegen dahingegeben, und unserer Recht­fertigung wegen auferweckt worden ist". — Beachten wir es wohl! 'Es heißt hier nicht: „Wir glauben an den, der Seinen 'Sohn 'gab", sondern: „an den, der Ihn aus den Toten auf­erweckt hat".

0 mein teurer Leser, erwäge doch diese große Wahrheit! Was brächte den Heiland zum Kreuze? Was führte Ihn in den Staub des Todes? Waren es nicht unsere Sünden und Vergehungen? Ja 'gewiß. „.Er wurde um unserer Sünden wil­len dahingegeben". Er wurde an unserer statt an das Fluch­holz geheftet. Er wurde am Kreuze in der ganzen Tragweite des Wortes unser Stellvertreter. Er nahm unseren Platz ein und wurde in jeder Beziehung so behandelt, wie wir es ver­dient hatten behandelt zu werden. Die Hand der Gerechtig­keit traf Ihn am Kreuze wegen all unserer Sünden. Der Herr Jesus machte sich verantwortlich für alles was gegen uns war oder je gegen uns sein könnte, und — gepriesen sei Sein an­betungswürdiger Name! — Er starb für uns unter dem gan­zen Gewicht .unserer Sünden. Er, der Gerechte, starb für die Ungerechten. Und wo ist Er jetzt? Das Herz jauchzt mit un­aussprechlicher Freude und heiligem Triumph bei dem Ge­danken an die Antwort. Wo ist der Hochgelebte, Der an je­nem Kreuz hing und in jenem Grab lag? Er ist zur Rechten Gottes mit Ehre und Herrlichkeit gekrönt. Wer hat Ihm die­sen Platz gegeben? Er, Der Ihn „gegeben" und Ihn am Kreuz „zerschlagen" hat — Er ist es. Der Ihn aus den Toten auf-erweckte; und an Ihn haben wir zu. glauben, wenn unser Glaube zur .Gerechtigkeit gerechnet werden soll. Das ist der besondere Gedanke, der den Apostel beschäftigte. Die Ge­rechtigkeit wind uns zugerechnet, wenn wir an den Gott glauben. Der unseren Herrn Jesum aus den Toten auferweckt hat.

Beachten wir hier das lebendige Verbindungsglied! Der­selbe, Der mit unseren Sünden beladen am Kreuze hing, be-

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findet Sich jetzt ohne Sünden auf dem Throne. Wie ist Er dahin gekommen? War es durch die Kraft Seiner ewigen Gottheit? Nein, denn von diesem Gesichtspunkt aus betrach­tet, war Er immer da. Er war Gott über alles, gepriesen für immer! War es kraft Seiner ewigen Sohnschaft? Keines­wegs; denn auch in dieser Eigenschaft war Sein Platz stets droben. Sicher, die Tatsache, daß Er als der ewige Sohn des Vaters Seinen Platz zur Rechten der Majestät in den Him­meln eingenommen habe, würde nicht imstande sein, den Bedürfnissen eines schuldigen Sünders zu begegnen, indem Ihm als einem solchen der innigste und zärtlichste Platz im Schöße des Vaters von Ewigkeit her angehörte. Aber nahm Er denn — möchte man fragen — diesen Platz auf dem Throne des Vaters nicht ein, weil Er der reine, sündenlose und vollkommene Mensch war? Nein; denn als solcher hätte Er zu jeder beliebigen Zeit zwischen der Krippe und dem Kreuz diesen Platz einnehmen können.

Welchen Schluß können wir daraus ziehen? Den köstli­chen, friedengebenden Schluß, daß Er, Der unserer Übertre­tungen wegen dahingegeben, unserer Sünden wegen 'geschla­gen, an unserer statt gerichtet wurde, im Himmel auf dem Throne des Vaters mit Ehre und Herrlichkeit gekrönt ist und so umfassend 'und vollkommen die ganze Frage unserer Sünden beantwortet hat, daß eine unendliche Gerechtigkeit Ihn aus den Toten auferweckte und das Diadem der Herr­lichkeit auf Seine heilige Stim drückte. Begreifst du dies, mein Leser? Erkennst du die Tragweite dieser Tatsache in bezug auf dich selbst? Glaubst du an Den, Der Jesum aus den Toten auferweckte? Erkennst du, daß in diesem Fall Er Sich Selbst als dir zugetan erklärt hat? Und glaubst du, daß Er durch die Auferweckung Jesu aus den Toten dem großen Versöhnungswerk den Stempel Seiner völligen Anerkennung aufgedrückt und dadurch die für alle deine Schulden — für die „zehntausend Talente" — ein Quittung au&gestellt hat?

Das ist die Deutung des herrlichen Beweises in Röm 4. Wenn Er, Der unserer Übertretungen wegen dahingegeben worden ist, jetzt, und zwar infolge der Tätigkeit von seiten Gottes Selbst, im Himmel ist, dann sind sicher unsere Sün­den beseitigt, und wir stehen da gerechtfertigt von allen

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Dingen und so frei von jeder Anklage und Schuld, von je­dem Hauch der Verdammnis, wie der Herr Selbst es ist. Das ist eine unabänderliche Tatsache, wenn wir an Den glauben, Der unseren Herrn Jesum Christum aus den Toten aufer­weckt hat. Es ist durchaus unmöglich, daß Gott irgendeine Anklage gegen den Gläubigen annehmen kann, und zwar aus dem einfachen Grund, weil Der, Den Er aus den Toten auferweckte, Derselbe .ist. Den Er um unserer Sünden wällen zerschlagen hat.

Warum hat Er Ihn auferweckt? Weil die Sünden, um deret-willen Er zerschlagen wurde, für immer beseitigt waren. Der Herr Jesus könnte nicht sein, wof.r jetzt ist, wenn ein ein­ziger Flecken unserer Schuld zurückgeblieben wäre; denn Er hat unsere Sache auf Sich genommen und Sich für alles ver­antwortlich gemacht. Da Er nun aber, und zwar durch Gott Selbst bewirkt, droben ist, so ist es unmöglich, gänzlich un­möglich, daß irgendeine Frage bezüglich der vollkommenen Rechtfertigung und der vollkommenen Gerechtigkeit einer an Ihn glaubenden Seele erhoben werden könnte. Deshalb, in dem Augenblick, wo jemand an Gott in dem besonderen Charakter eines Auferweckers Jesu glaubt, steht Er voll­kommen gerechtfertigt vor Ihm. Das ist wunderbar, aber eine göttliche, ewige Wahrheit. Möchte der Leser die Kraft, die Köstlichkeit und friedengebende Verwirklichung davon empfinden. Ja, möchte der ewige Geist das gesegnete Be­wußtsein davon seiner Seele tief 'einprägen! Dann wahrlich wird er vollkommenen Frieden in seiner Seele haben und zugleich erfahren, daß Gott sowohl durch die A u f e r -w e c k u n g, als auch durch die Gabe und den Tod Sei­nes Sohnes laut bekundet hat, daß Er für uns ist.

Wenden wir uns jetzt zu unserem vierten Beweis, daß Gott für uns ist. Wir finden ihn

in der Sendung des heiligen Geistes.

Auch hier müssen wir uns im Blick auf dieses herrliche Ereignis auf einen Punkt beschränken, nämlich auf die Art und Weise, in der der ewige Geist, dieser herrliche Zeuge, herniederkam. Richten wir unsere Aufmerksamkeit auf Apg 2, wo wir lesen: „Und als der Tag der Pfingsten erfüllt wurde, waren sie alle an einem Orte beisammen. Und plötz­lich geschah aus dem Himmel ein Brausen, wie von einem daherfahrenden, gewaltigen Wind, und erfüllte das ganze Haus, wo sie saßen. Und es erschienen ihnen zerteilte Zun­gen wie von Feuer, und sie setzten sich auf einen jeglichen von ihnen. Und sie wurden alle mit dem Heiligen Geist er­füllt und fingen an, in anderen Sprachen zu reden, wie der Geist ihnen gab auszusprechen. Es wohnten aber in Jeru­salem Juden, gottesfürchtige Männer, von jeder Nation de­rer, die unter dem Himmel sind. Als 'sich aber das Gerücht hiervon verbreitete, kam die Menge zusammen und wurde bestürzt, weil jeder einzelne sie in seiner eigenen Mundart reden hörte. Sie entsetzten sich aber alle und verwunderten sich und sagten: Siehe, sind nicht alle diese, die da reden, Galiläer? Und wie hören wir sie, ein jeglicher in unserer eigenen Mundart, in der wir geboren sind: Parther und Meder und Elamiter, und die Bewohner von Mesopotamien und von Judäa und Kapadooien, Pontus und Asien, und Phrygien und Pamphylien, Ägypten und den Gegenden von Libyen, gegen Kyrene hin, und die hier weilenden Römer, sowohl Juden und auch Proselyten, Kreter Araber, — wie hören wir 'sie die 'großen Taten Gottes in unseren Sprachen reden"? Es ist wirklich eine Wahrheit von höchstem Interesse, daß der Heilige Geist auf jeglichen herniederkam, und daß ein jeglicher „in der eigenen Mundart eines jeden Hörenden redete, und zwar nicht in der Mundart, in der dieser erzogen, sondern in der er „geboren war" — in jener Mundart, in der die Mutter zu ihrem Kind redet. Von sol­cher Art war das Mittel und Werkzeug, dessen sich der göttliche Bote bediente, um den Menschen mitzuteilen, daß Gott für uns ist. Er redete nicht zu den Hebräern griechisch, oder zu den Griechen lateinisch; Er redete zu je­dem in der Sprache, die er verstand — in dessen Mutter­sprache; und zwar zu dem Zweck, das Herz mit der süßen Botschaft der Gnade zu erreichen.

Vergleichen wir hiermit die Tatsache der Gesetzgebung auf dem Berge Sinai. Dort redete Jehova nur in einer Sprache. Wären dort Personen „aus jeder Nation derer, die unter dem Himmel sind", versammelt gewesen, so würden sie keine

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Silbe verstanden haben. Das Gesetz, die Darstellung der Pflichten des Menschen 'gegen Gott und den Nächsten — war nur in eine Sprache gehüllt. Als aber die großen Taten Gottes verkündigt wurden — als die herrliche Botschaft der Liebe zu bringen war — als das Herz Gottes gegen arme, schuldi­ge Sünder geoffenbart werden sollte — war da eine Spra­che genug? Nein, „jede Nation derer, die unter dem Him­mel sind", mußte es hören, und zwar in ihrer „eigenen Mundart". —

Es könnte viellaicht eingewendet werden, daß die damali­gen Ohrenzeugen der Apostel Juden gewesen seien. Aber selbst m diesem Falle würde unser Gegenstand an Bewun-dcrungswürdigkeit, Lieblichkeit und Kraft um nichts beraubt selin. Es ist eine unumstößliche Tatsache, daß, als der Heilige Geist vom Himmel herniederkam, um von der Auferstehung Christi, von der vollbrachten Erlösung zu zeugen und Buße und Vergebung der Sünden zu predigen. Er Sich nicht auf eine Sprache beschränkte, sondern in jeder Mundart sprach, dite unter dem Himmel war. Und warum? Weil es Sein Ver­langen war, den Menschen das, was Er ihnen mitzuteilen hatte, verständlich zu machen und das Herz mit der ange­nehmen Botschaft 'einer erlösenden Liebe, mit der seelener­weckenden Botschaft einer völligen Sündenvergebung zu er­reichen. Als es sich um das Gesetz handelte — als Jehova mit den Menschen über ihre Pflichten zu reden hatte und ihnen zurief: „Du sollst dieses tun und jenes lassen"! — beschränkte Er Sich auf eine einzige Sprache. Als Er aber im Begriff war, die köstlichen Geheimnisse Seiner Liebe zu verkündigen — als Er dem Menschen beweisen wollte, daß Er f ü r i h n war, da trug Er Sorge, daß — gepriesen sei Sein herrlicher Name! — in allen Sprachen unter dem Him­mel geredet wurde und jeglicher „in seiner eigenen Mundart, in der er geboren war", die „großen Taten Gottes" hören konnte. *)

*) In 1. Mose 11 sehen wir verschiedene Sprachen wegen des menschlichen Hoch­muts als ein Gericht gegeben. In Apostelg. 2 aber sind die verschiedenen Sprachen eine Gabe der Gnade, um den Bedürfnissen der Menschen zu begegnen. In Offenb. 7 endlich finden wir die verschiedenen Sprachen vereinigt zu einem Liede des Lobes Gottes und des Lammes. Welche großen Taten Gottes Wie anbetungswürdig ist Sein Name!

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So sind wir nun im Laufe unserer Beweise Christo von der Krippe bis zum Kreuz, vom Kreuz bis zum Thron ge­folgt. Wir haben gesehen, wie das Herz Gottes in der Gabe, dem Tode und der Auferweckung des Sohnes Sich in tiefer, bewundernswürdiger Liebe und zärtlichem Mitleiden gegen schuldige und verlorene Sünder geoffenbart hat, und wie der Heilige Geist vom Himmel auf die Erde 'herniederstieg, um jeder Kreatur unter dem Himmel 'die frohe Botschaft einer vollen, freien und ewigen Erlösung durch das Blut des Lam­mes zu verkündigen, und zwar nicht in einer unbekannten Sprache, sondern in der Sprache, in der .ein jeder geboren war. Wa's bleibt uns nun noch übrig? Ist der Kette der Be­weise noch irgend ein Glied beizufügen? 0 ja; wir finden schließlich noch einen fünften Beweis

im Besitz der Heiligen Schrift.

Man. könnte sagen, daß dieser Beweis schon in dem vor­hergehenden enthalten sei, insofern der Besitz einer Bibel in der Muttersprache in Wirklichkeit dasselbe ist, als ob der Heilige Geist in der Sprache, worin wir geboren sind, zu uns redet. Das ist wahr; aber dennoch ist für den Leser die Tat­sache, daß Gott in seine Hände das unschätzbare Geschenk der Heiligen Schrift gelegt hat, ein neuer Beweis, daß Er für ihn ist. Denn warum sind wir nicht in Ungewißheit und völliger Dunkelheit gelassen? Warum ist das göttliche Buch unseren Händen anvertraut? Warum wurden gerade wir so begünstigt? Warum teilen wir nicht mit vielen Tau­senden das Geschick, in heidnischer Blindheit zu leben und zu sterben? Warum wirft dieses himmlische Licht gerade auf uns seine hellen Strahlen?

AA, geliebter Leser! Die Antwort ist: Gott ist für dich. Ja, für dich trotz deiner vielen Sünden — für dich trotz all deiner Trägheit, Gleichgültigkeit und Widersetzlichkeit, wie­wohl du nicht einen einzigen Grund angeben kannst, warum Er nicht 'gegen dich sein sollte. Er gab Seinen Sohn aus Sei­nem Schoß, verwundete Ihn auf dem Kreuze, erweckte Ihn aus den Toten, 'sandte den Heiligen Geist hernieder und legte in deine Hände das gesegnete Buch — alles, um dir zu zeigen, daß Er für dir h ist, daß Sein Herz dir entge­genschlägt und Er allen Ernstes deine Errettung will.

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Und — o beachte es wohl! — Du kannst nicht sagen und wirst es auch nie wagen zu sagen: „Ich konnte die Bibel nicht verstehen, sie war .mir zu hoch, voll dunkler, uner­klärlicher Geheimnisse, voller Schwierigkeiten, die ich nicht zu übersteigen vermochte, und voller Widerspräche, die ich nicht lösen konnte. Und wenn ich mich zu denen wandte, die Christen zu 'sein bekannten, so fand ich sie in unzählige Par­teien zersplittert mit verschiedenen Lehren und Formen. Da­zu entdeckte ich eine solche Oberflächlichkeit, eine solche Unzuverlässigkeit und soviele Widersprüche zwischen Be­kenntnis und Wandel, daß ich gezwungen war, den ganzen Gegenstand der Religion mit den gemischten Gefühlen von Erstaunen, Verachtung und Widerwillen fahren zu lassen".

Solche Einwendungen werden sich am Tage des Gerichts nicht als stichhaltig erweisen und dich nicht vor dem See, der mit Feuer und Schwefel brennt, schützen können. Erwäge dies mit dem tiefsten Ernst. Laß dich nicht durch den Teufel auch nicht durch dein 'eigenes Herz betrügen. Was sagt Abra­ham zu dem reichen Manne in Luk 16? „Sie haben Moses und die Propheten, laß sie die hören". Warum sagt der reiche Mann nicht, daß jene, Moses und die Propheten, nicht verstehen würden? Er darf es nicht. Nein, mein Leser; ein Kind kann die heiligen Schriften verstehen, denn sie sind „vermögend, dich weise zu machen zur Seligkeit durch den Glauben, der in Christo Jesu ist" (2. Tim 3, 15). Jeder Be­sitzer dieses heiligen Buches ist verantwortlich vor Gott für den Gebrauch, den er davon macht. Wenn das bekennende Christentum sich noch tausendmal mehr in Spaltung aufge­löst hätte, so bliebe dennoch für jeden Besitzer der Bibel die Mahnung: „Sie haben Moses, die Propheten, und das Neue Testament, laß sie diese hören".

0 könnten wir doch jeden Unbekehrten, zweifelnden Leser überreden, über diese Dinge ernstlich nachzudenken und den verborgenen Tiefen seines inneren Wesens die ungeteilte Aufmerksamkeit zu schenken, ehe es zu spät ist. Wie schrecklich muß doch der Zustand eines Verlorenen sein, der in der Hölle, diesem endlosen Ort ewiger Pein, zu dem Be­wußtsein erwacht, daß Gott für immer gegen ihn ist, daß alle Hoffnung vernichtet und nichts imstande ist, jene große

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Kluft zu überbrücken, die die Region der Verlorenen von der der Erlösten für immer trennt.

Wir können nicht weiter gehen. Der Gedanke ist wirklich zu überwältigend; unser Herz bebt zurück vor den Schrecken eines solchen Zustandes. Teurer Leser! Wenn du noch nicht Frieden gefunden hast, so laß dich, ehe du deine Blicke von diesen Zeilen abwendest, erbitten, noch in dieser Stunde zu dem lieberaden, gnadenreichen Heilande zu eilen, der bereit ist, dich mit offenen Armen zu empfangen, und Der in Sei­nem Worte sagt: „Wer zu mir kommt, den werde ich nicht hinauswerfen". So komm denn und vertraue dem glaubens­würdigen Worte Gottes und dem vollbrachten Werk Christi!

Hier liegt das köstliche Geheimnis der ganzen Sache. Schaue von dir hinweg, schaue auf Jesum. Vertraue auf das, was Er am Kreuz für dich getan hat, und alle deine Sünden werden .ausgelöscht; göttliche Gerechtigkeit, ewiges Leben, Kindschaft, die Innewohnung des Heiligen Geistes, ein Sach­walter droben beim Vater, eine Wohnung im Himmel und die Herrlichkeit Christi wenden dein gesegnetes Teil sein. Ja, mein Leser, wenn du an Ihn glaubst, wird alles — ja Er Selbst wird dein Teil sein.

Möge der Heilige Gelist dich leiten, noch in diesem Augen­blick zu den Füßen Jesu zu fliehen, um triumphierend aus­rufen zu können „Wenn Gott für uns ist, wer wider uns"! Gott gebe es um Jesu willen!

Verschlungen ist der Tod im Sieg

(1. Korinther 15)

Wenn wir das 15. Kapitel des ersten Korintherbriefes le­sen, find wir, daß am Schluß der Apostel von der Ankunft des Herrn redet, und zwar von Seiner Ankunft, um die Ver­sammlung (oder Kirche) zu Sich in den Himmel aufzuneh­men. Wir lesen dort die Worte: „Siehe, ich sage euch ein Geheimnis: Wir werden zwar nicht alle entschlafen, wir wer­den aber alle verwandelt werden, in einem Nu, in einem

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Augenblick, bei der letzten Posaune. Denn posaunen wird es, .und die Toten werden auferweckt wenden unverweslich, und war werden alle verwandelt werden" (V. 51. 52). Und »n bezug auf diese 'Letzteren, die bis zur Ankunft des Herrn übriggebliebenen Lebenden, sagt der Apostel: „Denn dieses Verwesliche muß Unverweslichkeit anziehen und dieses Sterbliche Unsterblichkeit anziehen. Wenn aber dieses Ver­wesliche Unveitwieslidikeit anziehen und dieses Sterblich« Unsterblichkeit anziehen wird, dann wird das Wort erfüllt werden, das geschrieben steht: Verschlungen ist der Tod in Sieg".

Freilich wird auch nach diesem herrlichen Ereignis der Tod als solcher nicht völlig aufgehoben sein, sondern erst nach dem tausendjährigen Reich seine gänzliche Vernichtung er­fahren (V. 26); aber bezüglich der Versammlung ist — Gott sei dafür gepriesen — der Tod von dem Augenblick an, wo sie durch Jesum in die Herrlichkeit aufgenommen ist, in Sieg verschlungen, d. h. völlig überwunden und hinweggetan. Und dieser Sieg hat nicht so sehr seinen Grund in der Auf-erweckung der Entschlafenen, als vielmehr in der augen­blicklichen Verwandlung der Lebenden, ohne daß diese es nötig haben, durch den Tod zu gehen. Alle Gläubigen, die bis zu dem Augenblick, wo Jesu kommt, auf Erden am Le­ben bleiben, werden nicht sterben. „Wir werden nicht alle entschlafen". Ohne durch den Tod gehen zu müssen, werden sie „in einem Nu, in einem Augenblick verwandelt weiden", das will mit anderen Worten .sagen: ihre Seele wind nicht von dem Leibe geschieden, und ihr Leib wird nicht in die Eide gelegt weiden, sondern in einem Augenblick -wird das Sterbliche oder Verwesliche aus dem Leibe hinweggenom­men sein.

Wie bewundernswürdig und herrlich ist dieser Sieg! Der Tod ist der Sold der Sünde: und alle Menschen sind von Natur dem Tode unterworfen. Es ist den Menschen gesetzt, einmal zu sterben (Hebr 9, 27). Und dennoch braucht der an Christum Glaubende nicht zu 'sterben; er ist nicht an den Tod gebunden. Es werden solche sein, die, wenn der Herr Jesus kommt, nicht nötig haben zu 'sterben; und diese li'efem uns den Beweis, daß sie, ja daß wir, daß alle Gläubigen nicht mehr dem Tod unterworfen sind. Der Tod — ein König des Schreckens für die Ungläubigen — hat keine Macht, keine Gewalt mehr über uns.

Und was ist die Ursache? Weil Chri­stus an unserer Statt den Tod erduldet hat. Er, für uns zur Sünde gemacht, unterwarf Sich dem Tod'e als dem Sold der Sünde. Der Apostel sagt: „der Stachel des Todes" — das heißt das, wodurch der Tod herrscht — „ist die Sünde". Aber Christus hat den Stachel des Todes hinweggenommen; denn Er wurde für uns zur Sünde gemacht. Er trug
unsere Sünden an Seinem Leibe auf dem Holze und starb an unse­rer Statt unter dem Zorne eines gerechten und heiligen Got­tes. Alle, die an Ihn glauben, sind dadurch von der Sünde freigemacht und vom Tode erlöst. Darum kann Paulus und darum 'können alle Gläubige mit
ihm ausrufen: „Wo ist, o Tod, dein Stachel? wo ist, o Hades, dein Sieg" (V. 55)?

Welch eine herrliche .und vollkommene 'Erlösung! Und die­se Erlösung wird in ihrer ganzen Tragweite und Fülle bei der Ankunft unseres Herrn und Heilandes geschaut weiden, wenn die übriggebliebenen Lebenden nicht sterben, sondern, ohne dem Tod unterworfen zu werden, zur Herrlichkeit ein­gehen. Ja, dann wird es geschaut wenden, daß alle, die mit Christo Jesu durch den Glaiuben verbunden sind, durch Ihn für immer der Macht des Todes entrückt 'sein werden. Im Blick auf diese unendlich herrliche Tatsache und im Vorge­nuß der unaussprechlichen Freude dieser Zukunft rufen wir mit dem Apostel freudig aus: „Wo ist, o Tod, dein Stachel? wo ist, o Hades, dein Sieg"? Und dieses ist und bleibt der Ton unseres Jubels, ob auch der Tod noch täglich um uns her wütet und seine Macht übt, und ob er auch noch man­chen aus unserer Mitte hinwegnimmt.

„Aber" — könnte vielleicht jemand einwenden — „ent­halten diese letzten Worte keinen offenen Widerspruch"? Keineswegs, mein teurer Leser. Wiewohl in unseren Tagen die Reihen der Gläubigen noch durch den Tod gelichtet wer­den, und wiewohl die Möglichkeit vorhanden ist, daß auch wir durch den Tod abgerufen werden, so befinden wir uns dennoch nicht mehr unter der Macht des Todes. Vielmehr liegt die Wahrheit 'gerade im entgegengesetzten Fall. Nicht wir sind dem Tode, sondern der Tod ist uns 'unterworfen.

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Man lausche nur auf die Worte des Apostels Paulus, wenn er in 1. Kor 3, 22 sagt: „Alles ist euer; es sei Paulus, oder Apollos, oder Kephas, oder die Welt, oder Leben, oder Tod, oder Gegenwärtiges, oder Zukünftiges: Alles ist euer". — Habt ihr 'es verstainden? Alles gehört uns, selbst der Tod. So wie Paulus, Apollos und Kephas unsere Diener sind, so steht auch der Tod im unserem Dienst. Und inwiefern ist er unser Diener? Er entrückt die Gläubigen dieser armen Erde und führt 'sie in das Paradies zu Jesu.

Daß die Gläubigen nun noch sterben, ist nicht darum, weil sie dem Tod unterworfen sind, — nein, denn bei der Ankunft Jesu zeigt sich gerade das Gegenteil — sondern weil Gott, um noch viele zu erretten, bis jetzt diese Ankunft verzögert hat. Kommt der Herr noch heute, wohlan, wir werden dann nicht sterben; dann wird die Wahrheit aus uns hervorstrahlen, daß der Tod durch Christum voll­kommen überwunden ist, und dann wird das Wort an uns erfüllt werden: „Verschlungen ist der Tod in Sieg".

All unsre Sund'

ist längst gesühnt,

der Kerker gekettet,

der Tod ist getötet.

In Jesu ward Heil uns und Leben.

Die Grundwahrheiten der Versammlung Gottes

1. Ein Leib (Eph 4)

Die Wahrheiten von dem einen Leibe, „dem Leibe Christi", hat der Heilige Geist im Neuen Testament mit großer Klarheit ent­hüllt. Es ist daher für jeden Christen nicht nur wichtig diese Wahrheit als solche zu verstehen, sondern auch die praktischen Folgen zu erfassen, die für ihn daraus erwachsen. Um indes ein klares Verständnis über das Wesen und den Charakter des Leibes Christi zu besitzen, muß man den Unterschied kennen, der zwischen den Wegen Gottes in alttestamentlichen Zeiten, (namentlich bezüglich des Volkes Israel), und den Wegen be­steht, die Gott in der Jetztzeit zur Verherrlichung Seines viel­geliebten Sohnes eingeschlagen hat. Ohne das wird man nie einen richtigen Begriff über die Gedanken Gottes erlangen können.

Wir hören gleich im Anfang des ersten Buches Mose von dem Fall des Menschen. Dieser Fall, so tief und unabänderlich er auch menschlicherseits sein mochte, wurde dennoch zu einer Gelegenheit, die Gnade Gottes in dem „Samen des Weibes", d. h. in Christo, anzukündigen. Später gab Gott dem Abraham Verheißungen, durch die Abraham, und mit ihm Israel als Volk, von den anderen Völkern getrennt und für Gott beiseitegestellt wurde. Dem Volke Israel, das sich selbst vertraute, gab Gott, auf dem Berge Sinai das Gesetz als einen Prüfstein. Das unaus­bleibliche Resultat zeigte sich bald; an dem Fuße desselben Berges, an dem die Kinder Israel das Gesetz empfingen, über­traten sie es in der gröbsten Weise, indem sie sich vor dem Machwerk ihrer eigenen Hände, vor einem goldenen Kalb, nie­derbeugten. Und wie groß auch die Geduld und Langmut Got­tes diesem Volke gegenüber sein mochten, es offenbarte doch dadurch nur um so mehr seine gänzliche Unfähigkeit, auf Grund des Gesetzes seinen Platz vor Gott behaupten zu können. Aber wie der erste Fall des Menschen in Eden, so wurde auch sein

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zweiter Fall unter dem Gesetz wiederum die Gelegenheit zu einer noch reicheren Entfaltung der unermeßlichen Gnade Got­tes, einer Gnade, die ihren Mittelpunkt in der Einführung des Samens des Weibes, in der Person Christi, fand. Christus, der Gegenstand aller Offenbarungen und Verheißungen, aller Vor­bilder und Weissagungen, kam in diese Welt; und alles, was Gottes würdig und für den Menschen notwendig war, wurde in Ihm gefunden.

Doch die Erscheinung Christi in dieser Welt stellte zugleich die traurige Wahrheit ans Licht, daß der Mensch nicht nur ein Über­treter des Gesetzes, sondern auch ein Feind Gottes ist, und zwar eines Gottes, der in der Person Christi in vollkommener Liebe und Herablassung herniedergekommen ist. Der Mensch haßte und kreuzigte den Herrn und offenbarte auf diesem Wege seinen wahren Zustand. Und dennoch gab Gott gerade da, wo die Feindschaft des Menschen ihren schrecklichsten Ausdruck fand, am Kreuz, den höchsten Beweis Seiner Liebe, indem Er die Erlösung in Christo bewirkte und über das ganze Verder­ben des Menschen, sowie über alle Macht des Feindes trium­phierte.

Doch das ist nicht alles. Gott hatte Israel durch Gebote und Satzungen von den übrigen Nationen in einer Weise abgeson­dert, daß die Gemeinschaft eines Juden mit einem Heiden eine Sünde gegen Gott gewesen wäre. Aber der Tod und die Auf­erstehung führten in dieser Hinsicht etwas ganz Neues ein. Viele, selbst aufrichtige Gläubige beschränken die Tragweite des Kreuzes auf die Errettung der Seele; jedoch Eph 2, 15—16 zeigt uns, welchen Platz das Kreuz, nicht nur hinsichtlich dieser Errettung, sondern auch hinsichtlich der Wege Gottes einnimmt. „Jetzt aber, in Christo Jesu, seid ihr, die ihr einst ferne waret, durch das Blut des Christus nahe geworden. Denn er ist unser Friede, der aus beiden eines gemacht und abgebrochen hat die Zwischenwand der Umzäunung, nachdem er in seinem Fleische die Feindschaft, das Gesetz der Gebote in Satzungen, hinweg­getan hatte, auf daß er die zwei, Frieden stiftend, in sich selbst zu einem neuen Menschen schüfe, und die beiden in einem Leibe mit Gott versöhnte durch das Kreuz, nachdem er durch dasselbe die Feindschaft getötet hatte". — Das Kreuz ist also

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nicht nur die Grundlage unseres Friedens, sondern auch das Fundament, auf welchem der „eine Leib" ruht, den Gott jetzt aus Juden und Heiden bildet. Ebenso sehen wir, daß der Herr, als Er noch auf Erden wandelte. Seinen Jungem verbot, zu den heidnischen Völkern und in die Städte der Samariter zu gehen. Ihre Wirksamkeit sollte sich nur auf die verlorenen Schafe des Hauses Israel erstrecken, wie auch Er Selbst nur zu diesen ge­sandt war. Das war die Aufrechterhaltung der alttestament­lichen, heiligen Ordnung Gottes, ein Zustand, der von dem, was wir in Eph 2 finden, sehr verschieden war. Was in dieser Hinsicht vor dem Tode des Herrn verboten war, wurde nach Seinem Tode und Seiner Auferstehung nicht nur zu einer Pflicht, sondern entsprach auch völlig den Gedanken Gottes. Es hatte also ein mächtiger Wechsel in den Wegen Gottes statt­gefunden, und zwar durch das Kreuz, das einerseits den völ­ligen Ruin, selbst des bevorzugtetsten und religiösesten Men­schen, ans Licht stellte, und andererseits Raum ließ für die freie und unumschränkte Wirksamkeit Gottes.

Es ist daher nicht mehr die Frage, was der Mensch für Gott tun kann, sondern was Gott sowohl für den Menschen, als auch für Seinen Sohn, den Gegenstand Seiner Liebe, tut — für Den, Der für die Herrlichkeit Gottes alles getan und erduldet hat. Welches ist nun die Frucht Seines Kreuzestodes? Die Sünde ist getilgt, jeder Unterschied zwischen Juden und Nationen ist be­seitigt; und Gott kann Seine Ratschlüsse erfüllen, die Er vor Grundlegung der Welt, ehe noch eine einzige Frage über Gesetz und Sünde erhoben war, gefaßt hatte, — jene Ratschlüsse, deren Gegenstand Christus und die Versammlung ist. Die Nationen oder Heiden, die einst ferne waren, sind nahegebracht worden; und beide. Gläubige aus den Juden und Gläubige aus den Nati­onen, sind einsgemacht worden und bilden nun zusammen einen Leib, den neuen Menschen, von welchem der verherrlichte Christus das Haupt ist. Das ist die Versammlung, der Leib Christi — bis dahin ein Geheimnis, eine Sache, die vorher nur in den Gedanken Gottes existierte.

Hierauf finden wir in Eph 4 die Ermahnung, „uns zu beflei­ßigen, die Einheit des Geistes zu bewahren in dem Bande des Friedens", und zwar in Verbindung mit der Erklärung: „Da ist

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ein Leib und ein Geist, wie ihr auch berufen worden seid in einer Hoffnung eurer Berufung. Ein Herr, ein Glaube, eine Taufe, ein Gott und Vater aller, der da ist über allen, und durch alle, und in uns allen". Sollte diese erhabene Wahrheit von dem „einen Leibe" auf das Urteil, den Wandel und die Zunei­gungen des Christen ohne Wirkung bleiben? Muß nicht, wenn ich andere Kinder Gottes sehe, die gleich mir denselben vor­trefflichen Namen, denselben Herrn anrufen, der Gedanke mein Herz erfüllen: „Wir sind ein Leib?" Gott hat diesen Leib gebildet, und zwar für Christum; es ist Sein Leib. „Wir sind Glieder seines Leibes, von seinem Fleische und von seinen Ge­beinen". Wenn wir die natürlichen Bande unserer Verwandt­schaft, als von Gott geknüpft, anerkennen, welchen Wert und welche Bedeutung sollten dann die Bande für uns haben, mit denen Gott die Christen in der Versammlung verbunden hat, die Ihm so nahe steht, und welche, als die Frucht Seiner voll­kommenen Liebe, für die ewige Herrlichkeit Seines geliebten Sohnes bereitet ist! Oh, wie beschämend ist es für die Christen, daß diese von Gott für ewig geknüpften, innigen Bande, was ihre Wertschätzung betrifft, oft so weit hinter den Banden der Natur zurückstehen müssen!

Wir haben also in der Schrift die einfache und klare Mitteilung gefunden, daß Gott auf Grund des Kreuzes alle Gläubigen aus Juden und Heiden zu einem Leibe, dem Leibe Christi, gebildet hat. Außer diesem Leibe Christi erkennt Er keine andere Körperschaft an. Woher kommt es nun, daß bei so vielen Seelen bezüglich dieser Wahrheit eine so große Unwis­senheit herrscht, und daß es den Anstrengungen des Feindes so sehr gelungen ist, die Christen in diesem Punkte mehr als in irgendeiner anderen Wahrheit in Unwissenheit zu halten? Zunächst wohl daher, weil diese Wahrheit einen so hervor­ragenden Platz in den ewigen Ratschlüssen Gottes und in der Verherrlichung Christi einnimmt. Nichts ist von jeher mehr das Ziel der Angriffe des Feindes gewesen, als die Ratschlüsse Gottes, deren Zweck die Verherrlichung Christi ist, zu durch­kreuzen und zu vereiteln. Ein zweiter Grund aber ist der, daß man eine Lehre nicht liebt, die, weil sie himmlisch ist, einen so entschiedenen Einfluß auf unseren praktischen Wandel aus­übt. Man liebt die Bequemlichkeit, eine Stellung in dieser Welt,

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oder auch Ehre und Ansehen in der bekennenden Kirche. Man möchte etwas neben Christo und dem Kreuze für sich haben. Man wünscht irgendeinen von Menschen anerkannten Platz einzunehmen. Und in demselben Maße, wie die Christen sol­chen Neigungen Raum geben, werden sie eine Beute der Wirk­samkeit des Feindes. Wenn Gott, nach Eph 1, 20—23, „Christus aus den Toten auferweckt und ihn zu seiner Rechten gesetzt hat über jedes Fürstentum und jede Gewalt und Kraft und Herrlichkeit und jeden Namen, der genannt wird, und alles seinen Füßen unterworfen und ihn als Haupt über alles der Versammlung gegeben hat, welche sein Leib ist, die Fülle des­sen, der alles in allem erfüllt", so ist es klar, daß der Leib, gleich dem Haupte der Versammlung, ein himmlischer ist. Hier gibt es keinen Raum für Dinge, welche den Gedanken, dem Ge­schmack und den Wünschen des Fleisches entsprechen.

Wir sind ermahnt, die „Einheit des Geistes zu bewahren in dem Bande des Friedens". Diese Ermahnung könnte manchen Gläubigen, im Blick auf die Verwirrung und auf die vielen Spaltungen unter den Christen, in Verlegenheit bringen. Und in der Tat wissen viele nicht, was sie unter diesen Verhält­nissen tun sollen; ja, sie finden es geradezu unmöglich, diese Ermahnung in unseren Tagen zu verwirklichen. Aber für einen Gläubigen, der sich dem Worte Gottes unterwirft, ist die Sache klar und einfach. Er ist nicht ermahnt, eine Einheit zu machen, sondern die Einheit, welche Gott, der Heilige Geist, gemacht hat, zu bewahren. Das ist wahrlich eine große Erleich­terung für einen demütigen Christen, der in der gegenwärtigen Zeit der Verwirrung nach dem wohlgefälligen Willen Gottes zu handeln wünscht. Er hat nichts zu machen, sondern nur das anzuerkennen und zu bewahren, was Gott gemacht hat.

Doch es möchte vielleicht jemand fragen: „Wo finde ich denn die Einheit des Geistes bewahrt?" Die Antwort ist: „Da, wo Christus den Mittelpunkt der Einheit bildet. Er hat gesagt:

„Wo zwei oder drei in meinem Namen versammelt sind, da bin ich in ihrer Mitte". Ohne Zweifel wird es mir nicht schwer fallen, überall Kinder Gottes zu finden, die sich nach mensch­lichen Regeln für gewisse Zwecke versammeln, oder die den einen oder anderen Namen, oder irgendeine Lehre als Mittel-

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punkt ihrer Einheit aufstellen. Aber wird da die Einheit des Geistes bewahrt, wo nicht Christus der ausschließliche Gegen­stand und Mittelpunkt des Zusammenkommens ist? Die Ge­genwart des Heiligen Geistes auf dieser Erde hat vor allen Din­gen die Verherrlichung Christi zum Zweck. Wenn daher Gläu­bige sich im Namen Jesu versammeln, in der Gegenwart Dessen, Der, obwohl Er unsichtbar und im Himmel ist, dennoch dem Worte Seiner Verheißung stets treu bleibt, und in Aner­kennung der Wahrheit, daß alle Gläubigen durch den einen Geist zu einem Leibe getauft sind, so bewahren sie die Einheit des Geistes; denn selbstverständlich ist hier der Heilige Geist die allein leitende und ordnende Person. Und man würde eine offenbare Geringschätzung des Zweckes des Todes Christi (Joh 11, 52) an den Tag legen, wenn man gegen ein solches Zusammenkommen gleichgültig sein oder sich davon zurück­ziehen wollte. Die Wertschätzung des Todes Christi sowie die Bewahrung der Einheit findet nur dadurch ihren Ausdruck, daß man sich auf diesem und auf keinem anderen Boden ver­sammelt. Nun sehe ich freilich viele Christen, die sich auf diesem Boden befinden sollten, anderswo versammelt. Aber soll ich, der ich den Willen meines Herrn kenne, deshalb fern­bleiben, weil andere diesen Willen nicht kennen, oder, obwohl sie ihn kennen, untreu sind und ihn nicht befolgen? Soll ich deshalb sagen: „Sein Wille kann nicht erfüllt werden?"

Hier liegt die Wurzel von dem Verfall des Christentums. Wie zur Zeit der Richter in Israel, tut auch heute jeder, was recht ist in seinen Augen. Doch laßt uns die Wahrheit festhalten, die uns der gnadenreiche Gott angesichts der baldigen Ankunft Christi aufs neue, wie ich nicht zweifle, vor Augen gestellt hat. Laßt uns das, was uns gegeben ist, festhalten; denn Er sagt:

„Ich komme bald; halte fest was du hast, auf daß niemand deine Krone nehme" (Offb 5, 11)! Ach, wie viele Brüder, wel­che diese Wahrheit erkannt haben, lassen sich im Blick auf sie traurige Dinge zuschulden kommen! Und das ist nicht allein tief beschämend für uns, sondern bildet auch ein Hindernis für die Wahrheit und bedeutet eine Geringschätzung der Gnade Gottes, welche uns die Wahrheit geoffenbart hat. Aber sollen wir deshalb die Wahrheit aufgeben oder die Möglichkeit ihrer Verwirklichung bezweifeln? Sollen wir wegen solcher Untreue

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das klare, bestimmte Wort Gottes beiseitesetzen und uns auf einen niedrigeren Boden stellen, auf einen Boden, welcher der Gesinnung des Fleisches entspricht? Sollen wir den Platz, wel­chen das Neue Testament den Gliedern des Leibes Christi an­gewiesen hat, verlassen und einen anderen Mittelpunkt als Christum, und eine andere Einheit als diejenige des Geistes ergreifen? Gewiß nicht. Vielmehr wollen wir uns unter das Gericht des Wortes Gottes beugen, als solche, die — in Demut gegen sich selbst — Gott, Seinen Geist und Sein Wort recht­fertigen.

Ich wiederhole also noch einmal: der Platz jedes treuen Gläu­bigen ist da, wo man die Einheit des Geistes in dem Bande des Friedens zu bewahren trachtet, und geschähe dieses auch nur in Gemeinschaft mit Zweien oder Dreien. Ich soll jeden Chri­sten, in welchen Umständen und Irrtümern er sich auch befin­den und welcher Partei er angehören mag, von Herzen lieben und Fürbitte für ihn tun. Aber sollte ich deshalb aufhören, die Einheit des Geistes mit allem Fleiß zu bewahren? Sollte ich Christen folgen oder mich ihnen anschließen, deshalb weil sie Christen sind, obwohl ich weiß, daß ihre Stellung nicht dem Worte Gottes entspricht? Sicher nicht! Es sollte vielmehr unser Trachten sein, sie zu befreien, und zwar nicht dadurch, daß wir uns auf denselben trügerischen Boden menschlicher Lehren begeben, auf welchem sie sich befinden, sondern dadurch, daß wir entschieden Stellung nehmen auf dem Felsen der Wahrheit, und durch die Gnade Gottes sie an ihre Verantwortlichkeit als Glieder des Leibes Christi erinnern. Wenn sie Glieder des einen Leibes sind, warum wollen sie das nicht bekennen? Wenn sie zu der Einheit des Geistes gebracht sind, warum wollen sie sich nicht befleißigen, sie zu bewahren? Es ist in unseren Tagen für die Christen nicht die Frage: „Was ist der Protestantismus?" oder „Was ist das Papsttum?" Nein, für sie gilt nur eine Frage:

„Was ist der Leib Christi?" — Laßt uns fern bleiben von allen menschlichen Erfindungen in göttlichen Dingen! Das Wort Gottes fordert die Christen zu allen Zeiten auf, sich Gott und Seinem Willen zu unterwerfen. Tun wir dies? Es steht geschrie­ben: „Wenn ihr dies wisset, glückselig seid ihr, wenn ihr es tut"; und wiederum: „Wer nun weiß. Gutes zu tun, und tut es nicht, dem ist es Sünde".

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2. Ein Geist (1. Kor 12, 1—15)

Es sollte das Bestreben jedes Christen sein, nicht allein in seinen Worten, sondern auch in Tat und Wahrheit den recht­mäßigen Anforderungen des vom Himmel herniedergesandten Heiligen Geistes nachzukommen, mit anderen Worten, sich der freien und unumschränkten Wirksamkeit und Leitung des Geistes in der Versammlung Gottes zu unterwerfen. Auch über diesen Gegenstand herrscht bei vielen Kindern Gottes große Unwis­senheit; und obwohl sie gesegnet sein mögen, und der Geist Gottes viel durch sie zur Errettung von Seelen gewirkt haben mag, so bleibt es dennoch ein großer Verlust für sie, wenn die Wahrheit der persönlichen Gegenwart des Heiligen Geistes, sowohl in der Versammlung, als auch in den einzelnen Gläu­bigen, nicht anerkannt wird und als eine Gewißheit die Seele beherrscht.

Wenn wir indes von den gegenwärtigen Ansprüchen des Hei­ligen Geistes oder von Seiner unumschränkten Wirksamkeit in der Versammlung sprechen, so soll damit Seine Wirksamkeit oder deren Bedeutung in den vergangenen Zeiten keineswegs in Frage gestellt sein. Er war von Anfang an die wirkende Kraft in allen Handlungen Gottes. Er nahm Anteil an der Schöpfung, Er gab den Alten Zeugnis, Er wirkte durch Mose, durch Bezaleel, durch Simson, durch David und die Propheten; mit einem Worte, Gott tat nichts, wobei der Heilige Geist nicht wirksam gewesen wäre.

Aber dennoch wird ein Blick in das Neue Testament genügen um eine wesentliche Veränderung in dieser Hinsicht zu ge­währen. Der Heilige Geist wurde nach der Himmelfahrt Christi herniedergesandt in einer nie zuvor gekannten Weise. Wäh­rend im Alten Testament Seine Ausgießung in einer Weise an­gekündigt wurde, welche der Gegenwart und der Regierung des Messias auf der Erde entspricht, finden wir im Neuen Testament Seine Ausgießung als die Folge der Verwerfung des Messias. Das war für die Juden etwas ganz Unerwartetes. Statt ihre Hoffnungen durch die Gegenwart des Herrn nun bald erfüllt zu sehen, sahen sie sich durch das Kreuz und den Tod des Herrn mit einem Male in ihnen getäuscht, indem Er als der

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Auferstandene die Welt in Finsternis zurückließ und gen Him­mel fuhr, demzufolge der Heilige Geist herniedergesandt wurde, um — während Jesus abwesend und im Himmel ist — auf der Erde zu sein.

Nächst der Person Christi bildet die Sendung des Heiligen Geistes den Hauptgegenstand der neutestamentlichen Wahr­heiten. Leider aber ist dies nicht der Fall in den Herzen vieler Christen, in deren Gedanken die Person des Heiligen Geistes durch einen bloßen Einfluß ersetzt ist, den der Heilige Geist, wie sie sagen, zu allen Zeiten ausgeübt habe; andere behaupten sogar, daß die Heiligen zu allen Zeiten ohne Unterschied den Heiligen Geist empfangen hätten. Die Folge solcher Anschau­ungen ist, daß man selbst bezüglich der klarsten Schriftstellen in allerlei Verirrungen gerät. Ohne Zweifel waren sowohl die Gläubigen des Alten Testaments als auch die Jünger des Herrn durch die Wirksamkeit des Heiligen Geistes lebendig gemacht und gläubig geworden; aber sie hatten Ihn nicht als eine in ihnen wohnende Person empfangen. Das konnte erst statt­finden, nachdem der Herr Jesus das Werk der Erlösung voll­bracht hatte und gen Himmel gefahren war, wie wir in Joh 7, 58. 

5o lesen: „Wer an mich glaubt, gleichwie die Schrift gesagt hat, aus dessen Leibe werden Ströme lebendigen Wassers flie­ßen. Dieses aber sagte er von dem Geiste, welchen die an Ahn Glaubenden empfangen sollten; denn der Geist war noch nicht, weil Jesus noch nicht verherrlicht worden war". Den Heiligen Geist sollte nicht jemand empfangen, damit er dadurch gläubig werde; sondern Er sollte in denen Wohnung machen, die be­reits gläubig tvaren. Es gab zu allen Zeiten Gläubige; aber „der Heilige Geist war noch nicht, weil Jesus noch nicht verherrlicht worden war". Diese Stelle widerlegt also klar und bestimmt die Behauptung, daß der Heilige Geist zu allen Zeiten gegeben worden sei. Ebenso reden die letzten Kapitel des Evangeliums Johannes nicht von dem Heiligen Geist in dem Sinn eines bloßen Einflusses, oder einer geistlichen Kraft, sondern von einer Person, die gesandt wird und herniederkommt. Das Wort „Sachwalter" in Kap. 14 bedeutet sicher nicht bloß „Wunder­kräfte, Sprachen usw.", wiewohl der Geist alles das wirkte, sondern es bezeichnet unstreitig eine Person. Ferner sagt der Herr in demselben Kapitel: „Er wird bei euch bleiben in Ewig-

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keit". Wunderkräfte, Sprachen usw. haben aufgehört, Prophe­zeiungen werden weggetan werden; aber hier haben wir eine göttliche Person, welche für immer bei den Gläubigen bleiben wird. Welch ein süßer Trost!

Das Kommen des Heiligen Geistes ist also bestimmt und feier­lich durch den Herrn Selbst angekündigt worden; und zwar verheißt Er Ihn das eine Mal als Den, Den der Vater in Seinem Namen, und das andere Mal als Den, welchen Er von dem Vater aussenden würde. In dem einen Falle sollte Er die Jünger an alles erinnern, was Christus zu Ihnen gesagt hatte, und in dem anderen sollte Er Zeugnis geben von dem Sohne. Ferner lesen wir in Kap. 14, 28, daß der Herr zu Seinen Jüngern sagt:

„Wenn ihr mich liebet, so würdet ihr euch freuen, daß ich zum Vater gehe usw." Ach! die armen Jünger dachten mehr an sich selbst, als an Ihn; denn sonst würden sie sich gefreut haben, den Herrn eine Stätte der Schmach und der Leiden verlassen und dorthin gehen zu sehen, wo die Liebe und Herrlichkeit Seines Vaters Seiner harrten. Aber in Kap. 16 stellt Er sie auf einen anderen Boden, indem Er sagt: „Es ist euch nützlich, daß ich hingehe". Es war nicht allein besser für Ihn, zum Vater zu gehen, sondern auch nützlich für sie. Wunderbar! Solche arme, schwache und zitternde Jünger, über welche Er mit steter Sorg­falt gewacht, die Er unter Seine Flügel gesammelt und beschützt hatte, ja, über die Er Selbst in der letzten Stunde Seiner Ver­werfung schirmend Seine Hände ausgebreitet hatte — solche Jünger zu verlassen, sollte nützlich für sie sein?. Und dennoch war es also. Denn so überaus köstlich die Gegenwart des Herrn auch für sie sein mochte, so war diese Segnung doch augen­scheinlich durch Seine Erniedrigung als Mensch beschränkt, indem Er als solcher nicht überall auf der Erde sein konnte. Der Heilige Geist aber. Der in Seiner Person diese menschliche Natur nicht annahm, konnte deshalb nicht nur immer und überall bei ihnen sein, sondern auch nach der vollbrachten Erlö­sung ihre Herzen in der vertrautesten Weise mit dem Wert des Opfers und der Person Dessen bekanntmachen. Der zum Himmel erhöht und dort vom Vater verherrlicht worden war.

Der Hingang des Herrn und das Kommen des Heiligen Geistes waren aber nicht allein nützlich für die Jünger, sondern sie lieferten zugleich der Welt den schrecklichen Beweis, daß sie

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hoffnungslos verloren war; wie der Herr sagt: „Wenn er (der Heilige Geist) gekommen ist, wird er die Welt überführen von Sünde und von Gerechtigkeit und von Gericht: von Sünde, weil sie nicht an mich glauben; von Gerechtigkeit aber, weil ich zu meinem Vater gehe, und ihr mich nicht mehr sehet; von Gericht aber, weil der Fürst dieser Welt gerichtet ist" (Joh 16, 8—n). Der Heilige Geist bezeugt, daß die Welt unter der Sünde ist, daß es hier auf Erden keine Gerechtigkeit gibt, als nur in Ihm, Der von ihr verworfen worden ist und Sich bei dem Vater be­findet, und daß sich mithin die Welt samt ihrem Fürsten unter dem Gericht befindet. Das Evangelium Johannes zeigt uns also das Kommen des Heiligen Geistes, sowohl in Seiner Beziehung zu der Welt, als einem System, das gerichtet ist, als auch in Seiner Beziehung zu den Heiligen, um diese außerhalb jenes Systems in alle Wahrheit zu leiten und für immer bei und in ihnen zu sein.

In der Apostelgeschichte wird uns Sein Kommen, sowie Seine Tätigkeit auf der Erde während der Abwesenheit des Herrn, in verschiedener Weise geoffenbart. Er verleiht den Aposteln die Gabe, in mancherlei Sprachen zu reden, wirkt Zeichen und Wunder durch sie, und gibt ihnen, ihren Verfolgern gegenüber, Mut und Unerschrockenheit. In der ganzen Apostelgeschichte begegnen wir daher nicht nur einem fortwährenden Zeugnis von Seiner Wirksamkeit und deren Resultaten, sondern wir fin­den in ihr auch eine Bestätigung der herrlichen Wahrheit, daß Er persönlich gegenwärtig war, so daß dieses Buch uns eigent­lich mehr die Taten des Heiligen Geistes, als diejenigen der Apostel berichtet, wie wichtig diese Gefäße Seiner Macht auch sein mochten. Wir sehen z. B. Ananias und Sapphira durch Seine Gegenwart gerichtet, weil sie Seine Person belogen hatten. Ebenso lesen wir in Kap. 8, 29: „Der Geist aber sprach zu Philippus usw.", und in V. 39: „Als sie aber aus dem Wasser heraufstiegen, entrückte der Geist des Herrn den Philippus usw." In Kap. 15 sehen wir, wie Er den Paulus und Barnabas aussendet, indem Er sagt: „Sondert mir nun Barnabas und Pau­lus aus zu dem Werke, wozu ich sie berufen habe". Und weiter:

„Sie nun, ausgesandt von dem Heiligen Geiste usw." Diese und viele andere Stellen, sowohl in der Apostelgeschichte als auch in den Briefen, namentlich in den beiden Briefen an die Korin-

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ther, liefern unzweideutige Beweise, nicht allein von der Wirk­samkeit und Macht des Heiligen Geistes, sondern auch von Seiner Gegenwart in der Versammlung Gottes, als einer gött­lichen Person. Ich will hier nicht von den Stellen reden, die uns Seine Inwohnung in den einzelnen Gläubigen bezeugen; denn so wichtig dieser Gegenstand auch ist, so ist es doch jetzt mehr mein Zweck, die Bedeutung Seiner Gegenwart in der Versamm­lung hervorzuheben. So finden wir besonders in 1. Kor 12, 1—15 Seine Tätigkeit in der Versammlung entwickelt. Er ist gegenwärtig als eine wirkliche Person, die in verschiedener Weise, sei es in Gaben der Heilungen und der Sprachen usw., oder in Gaben zur Auferbauung, Belehrung usw. wirksam ist. Immer wieder sehen wir klar und deutlich dieselbe große Wahr­heit hervorleuchten, daß Er Selbst gegenwärtig und in den vielen Gliedern des Leibes wirksam war, so verschieden die Form dieser Wirksamkeit auch sein mochte.

Nun aber entsteht die Frage: War das alles, was wir hier lesen, nur auf eine besondere örtliche Versammlung und ausschließ­lich auf jene Zeit beschränkt, oder gilt es für die ganze Ver­sammlung Gottes jetzt und zu allen Zeiten? Die Antwort ist nicht zweifelhaft, insofern wir dem Worte Gottes unterworfen sind. Der Herr Selbst erklärt uns in Joh 14, im Gegensatz zu Seiner eigenen zeitlichen Abwesenheit, daß der Geist der Wahrheit für immer bei den Seinigen bleiben solle. Ebenso sehen wir, daß der Geist Gottes dem ersten Korintherbriefe gleich im Anfang die ausgedehnteste Anwendung gibt; denn wir lesen in Kap. 1. 2: „Der Versammlung Gottes, die in Ko­rinth ist, den Geheiligten in Christo Jesu, den berufenen Hei­ligen, samt allen, die an jedem Orte den Namen unseres Herrn Jesu Christi anrufen, sowohl ihres als unseres Herrn". Wir erkennen hierin eine besondere Weisheit und Güte Gottes, Welcher voraussah, daß man die Anwendung dieses Briefes in einer Weise beschränken würde, als sei er nicht für alle be­stimmt, „die den Namen unseres Herrn Jesu Christi anrufen, sowohl ihres als unseres Herrn". Der Gesichtskreis dieses Brie­fes ist ohne Zweifel absichtlich so weit ausgedehnt worden, um dem Unglauben hinsichtlich der Fortdauer der Gegenwart des Heiligen Geistes in der Versammlung, so lange sie hie­nieden ist, entgegentreten und ihn als Sünde und als eine be­stimmte Verwerfung des Wortes Gottes behandeln zu können.

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Unstreitig wirkt der Geist Gottes nicht mehr in der Weise, und noch weniger in der Kraft, wie im Anfang. Aber wir können dies leicht verstehen; nachdem die Wirklichkeit Seiner Gegen­wart durch Zeichen und Wunder bekräftigt, und die neuen Mitteilungen Gottes allmählich aufgeschrieben und der Ver­antwortlichkeit des Menschen übergeben worden waren, be­durfte es in dieser Hinsicht keiner neuen Zeugnisse mehr. Über­dies dürfen wir nicht erwarten, daß der Geist Gottes ein System, durch das Er in so ausgedehntem Maße betrübt und in dem der Name Jesu verunehrt wird, mit der äußeren Zierde mächtiger Zeichen und Wunder schmücken werde. Wie un­passend wäre das auch für die Herrlichkeit Gottes! Und welch eine Verwirrung würde es zur Folge haben! Man würde Wun­der sehen in Rom und in der griechischen Kirche, unter den Lutheranern und Reformierten, unter den Methodisten, Bap­tisten und Independenten, kurz, unter allen Parteien und Sek­ten. Oder vorausgesetzt, Gott würde jetzt sagen: „Da wo zwei oder drei in dem Namen Jesu versammelt sind, da will ich Wunder tun", — was würde das Resultat sein? Wir, die wir so schwach und so leicht von uns eingenommen sind, würden im Blick auf die Entfaltung einer solchen göttlichen Macht nicht fähig sein, uns Zaum und Zügel anzulegen und in den richtigen Schranken zu bleiben. Aber ich bestehe noch einmal auf der Wahrheit, daß der Heilige Geist nicht bloß als eine Entfaltung göttlicher Macht auf Erden gegeben wurde, sondern — wenn ich mich so ausdrücken darf — als das wesentliche Zeichen von dem göttlichen Werte des Kreuzes. Gott, der Vater, sandte Ihn als das Siegel Seiner Erlösung, welche immer und unveränder­lich vollkommen und wirksam bleibt. Die Liebe des Vaters zu Christo und der unendliche Wert, den das Werk Christi in Seinen Augen hat, bilden die sichere Bürgschaft für die unauf­hörliche Fortdauer der Gegenwart des Heiligen Geistes in den Heiligen und in der Versammlung Gottes.

Hier möchte ich nun fragen: Ist die Tatsache, daß jetzt eine göttliche Person auf Erden ist, welche sowohl in jedem einzel­nen Gläubigen, als auch in der Versammlung Gottes wohnt, ein geringfügige Sache? Ist sie eine Wahrheit von untergeord­neter Bedeutung, die man nach Belieben den Umständen gemäß behandeln darf? Wahrlich nicht! Und doch geschieht das alles

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allzusehr. Was finden wir, wenn wir die Zustände, die gegen­wärtig in der Christenheit obwalten, nach dem Worte Gottes prüfen? Welcher geistliche Mensch würde zu behaupten wagen, daß der gegenwärtige Zustand der Kirche dem entspräche, was wir im Neuen Testament lesen? Welcher aufrichtige und ernste Christ könnte im entferntesten daran zweifeln, daß hier alles in Unordnung ist? — Sind ferner die Gebete um eine neue Ausgießung des Heiligen Geistes nicht ein schlagender Beweis von der großen Unwissenheit, die bei so vielen Gläubigen über diese Wahrheit herrscht? Was würde man von einem Jünger gedacht haben, der in der Gegenwart des Herrn Jesu den Vater gebeten hätte, doch Seinen Sohn in diese Welt her­abzusenden? Bezeugen alle diese Dinge nicht eine schreckliche Verwirrung? Und sollte ich das nicht tief fühlen und mich hin­sichtlich meiner eigenen Schuld in dieser ernsten Sache vor Gott demütigen? Sollte ich nicht da zu sein begehren, wo die Gegen­wart des Heiligen Geistes anerkannt wird, und wo man auf Ihn rechnet? Welch ein Trost für solche schwachen und unwissen­den Geschöpfe, wie wir sind, zu wissen, daß sich Der in unserer Mitte befindet. Welcher alle Dinge kennt und die Quelle aller Kraft ist! Ist Er nicht genug für uns? 

Können wir Ihm, ange­sichts der uns umgebenden Verwirrung, Gefahren und Schwie­rigkeiten, nicht völlig vertrauen? Wohl begegnen wir überall einem großen Mangel an Kraft und Freude, Frieden und Trost unter den Kindern Gottes, und wir können nur die Barmherzig­keit und überschwengliche Langmut Gottes bewundern, die nicht ermüdet, die Seinigen trotz ihres Unglaubens zu segnen; aber keineswegs dürfen wir dem Gedanken Raum geben, als ob Gott betreffs dieser Dinge gleichgültig wäre und Er nicht vielmehr unsere rückhaltlose Unterwerfung unter Seinen Willen und die Anerkennung der Gegenwart und freien Wirksamkeit Seines Geistes von uns erwarte. Im Gegenteil, Er will, daß wir uns in dem Namen Jesu versammeln, und dies aus dem allei­nigen Beweggrunde, um Ihm wohlzugefallen. Wenn wir nicht den Namen Jesu und die Gegenwart des Heiligen Geistes zum Mittelpunkt unseres Zusammenkommens und unserer Tätig­keit in der Versammlung haben, so erfreuen wir uns nicht der Anerkennung Gottes, sondern befinden uns unter der Herr­schaft menschlicher Überlieferungen in der einen oder anderen Form.

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Wir wissen wohl, daß uns mancher um dieser Worte willen der Gesetzlichkeit, Engherzigkeit und Schroffheit beschuldigen wird. Aber ich möchte fragen: „Ist es gesetzlich, wenn ich eine mir noch so teure Gemeinschaft aus dem Grunde aufgebe, weil ich den Willen Gottes tun und Seinem Worte folgen möchte? Oder ist es engherzig und schroff, wenn ich eine oder alle Par­teien verlasse, um da zu sein, wo ich mich, auf Grund des Wortes Gottes und in der Abhängigkeit von dem Heiligen Geiste, im Namen Jesu mit allen Heiligen versammeln kann?"

Denken wir uns den Fall, daß ein Gläubiger, der noch irgend­einer kirchlichen Partei angehört, an mich die Frage richten würde: „Wie kommt es doch, daß du nicht einmal mit mir in meine Kirche oder Versammlung gehen willst, während ich doch nichts darin sehen würde, mich mit dir und allen denen zu versammeln, die nur im Namen Jesu zusammenkommen?" — Meine Antwort würde sein: „Du kannst nach deinen Grund­sätzen als Protestant, als Baptist, oder als was du sonst sein magst, mit gutem Gewissen dahin gehen, wo man dem Herrn und Seinem Worte in der Einheit Seines Leibes und in der Freiheit Seines Geistes unterworfen zu sein wünscht; denn du wirst sicher zugeben, daß es keine Sünde ist, sich nach dem Worte Gottes zu versammeln; darum kannst du daran teil­nehmen. Mir hingegen ist es klar, daß es nicht schriftgemäß ist, den Boden des Wortes Gottes zu verlassen und den Stand­punkt eines Protestanten, oder eines Baptisten usw. einzu­nehmen. Es ist daher nicht Mangel an Liebe, daß ich nicht mit dir gehe, sondern ich fürchte vielmehr, etwas zu tun, was Gott mißfällig ist". — Das mag hart und schroff klingen; aber es ist tatsächlich böse, wenn ich meinem eigenen Willen oder dem Willen eines anderen folge, insofern der nicht der Wille Gottes ist; während andererseits gerade der Gehorsam gegen Gott und Seine Gebote das Kennzeichen der wahren Liebe ist (vgl. Joh 14, 25; 1. Joh 5, 2. 5).

Manche wollen eine falsche Stellung aus dem verwerflichen Grunde nicht aufgeben, weil sie darin bekehrt worden sind, andere, weil sie vorgeben, daß die Sache ihnen überhaupt nicht klar sei. Solche möchte ich jedoch in allem Ernst fragen: „Habt ihr jemals mit Aufrichtigkeit das Wort Gottes erforscht, um

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Seine Gedanken und Seinen Willen kennenzulernen?" Gott gibt Einsicht allen denen, die Ihn fürchten; denn „die Furcht des Herrn ist der Weisheit Anfang". Wenn ich wirklich wünsche, einfältig und treu den Willen .des Herrn zu tun und Seinem Wort zu folgen, so wird Er mich sicher und gewiß nicht im Finstern lassen; denn „Er gibt Einsicht .den Einfältigen".

Ganz zertrennt die Heil'gen stehen,

Herr Jesu komm!

Einheit ist nicht mehr zu sehen,

Herr 1esu komm!

Satans List hat sie zerstöret,

Sund' und Welt manch' Herz, betöret,

Ach, wie sehr wirst Du entehret!

Herr Jesu komm!

Doch:

Du bist bei uns mit Deinem Geist, 0 sel'ge heil'ge 'Nähe! Der so lebendig sich erweist, Als ob Dich Selbst man sähe. Bist unser Licht im dunklen Tal, Erquickst durch Deiner Liebe Strahl, Bist Seelentrank und -Speise. Stehst uns mit Rat und Tat zur Seit' Und gibst uns Selber das Geleit Auf unsrer Pilgerreise.

3. Die Versammlung und der Dienst (1. Kor 14)

Wie verschieden die beiden Gegenstände auch zu sein scheinen, so ist doch der zur Rechten Gottes erhöhte Christus die Quelle von beiden; und wir können sie deshalb zusammen betrachten. Beide sind gegründet auf die Tatsache, daß Sein Werk voll­endet ist, und zwar zu dem ausdrücklichen 'und hauptsächlichen Zweck, um Ihn zu verherrlichen. Denn was auch die Kraft des Geistes im Dienste, und was auch die Vorrechte der Kirche oder Versammlung sein mögen, so hat doch die Verherrlichung Christi in den Gedanken Gottes stets den ersten Platz; sie ist

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daher von der höchsten Wichtigkeit für die Wirksamkeit des Geistes Gottes, sowohl in den einzelnen Gliedern, den Dienern Christi, als auch in der Versammlung, Seinem Leibe, dessen Haupt Er ist. Laßt uns jetzt in dem Worte Gottes forschen, inwiefern diese beiden Gegenstände voneinander abweichen und auch wie sie sich in ein und demselben Grundsatze ver­einigen, um so ihren gemeinsamen Zweck und die daraus ent­springende Verantwortlichkeit des Christen kennenzulernen.

Wir haben schon in den beiden vorhergehenden Abschnitten gesehen, daß die Kirche oder Versammlung Gottes auf das voll­brachte Werk Christi und auf Seine Erhöhung zur Rechten Gottes gegründet ist. Diese Wahrheit wird uns in Mt 16 deut­lich bestätigt. Alle die Zeichen und Wunder, 'die der Herr getan hatte, alle die überschwenglichen Beweise Seiner göttlichen Sendung .und vor allem die sittliche Kraft und Herrlichkeit, womit Er bekleidet war, hatten 'den Unglauben des jüdischen Volkes völlig ans Licht gestellt. Aber nachdem der Herr sozu­sagen alle Mittel, die Seine Güte und Weisheit in Überein­stimmung mit dem Willen des Vaters Ihm eingeben konnten, erschöpft hatte, und nachdem, als das Ergebnis Seiner gedul­digen Gnade, die Verachtung des wahren Messias sich immer mehr in einem Geiste tödlicher Feindschaft gegen Ihn offen­barte, gab Er durch das bekannte Gespräch mit Seinen Jüngern Veranlassung zu dem ergreifenden Bekenntnis Petri: „Du bist der Christus, der Sohn des lebendigen Gottes!" 

Und im Blick auf dieses Bekenntnis sagt der Herr: „Auf diesen Felsen will ich meine Versammlung bauen". Der Messias in Seiner Schmach und Erniedrigung war der Stein des Anstoßes für Israel; aber Christus, .der Sohn des lebendigen Gottes, ist der Felsen, auf dem die Versammlung erbaut ist. Verworfen und getötet von seiten Seines irdischen Volkes, ist Christus, als der Sohn des lebendigen Gottes, aus dem Grabe hervorgegangen; und siegreich triumphierend über die Pforten .des Hades ist Er der unerschütterliche Felsen geworden, auf dem die Versamm­lung gegründet ist. In diesem Kapitel wird also zum ersten Mal die Versammlung erwähnt, nicht als eine schon bestehende, sondern als eine noch zukünftige Tatsache. Denn der Herr sagt:

„Auf diesen Felsen will ich bauen usw." Erst in Apg 2 wird die Kirche auf der Erde durch den vom Himmel herniederkom-

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menden Heiligen Geist gegründet; und am Ende desselben Kapitels lesen wir die Worte: „Der Herr aber tat täglich zu der Versammlung hinzu, die gerettet werden sollten", d. h. gerettet von den Gerichten, welche einer Nation bevorstanden, die den Sohn Gottes, ihren Messias, verworfen hatte. Wir sehen also, daß die Versammlung in unmittelbarer Ver­bindung mit der Gegenwart des Heiligen Geistes steht, und finden somit die Worte in 1. Kor 12, 13 bestätigt: „Denn auch in einem Geiste sind wir alle zu einem Leibe getauft usw." Die Bildung des Leibes war sozusagen von der Geistestaufe ab­hängig. Zugleich aber ist die Versammlung auch das Haus Gottes auf der Erde. Die lebendigen Steine, die schon vorher da waren (zunächst der Überrest Israels), werden gesammelt und zu einem göttlichen Hause aufgebaut. Indes, mögen wir die Versammlung als das Haus Gottes oder als den Leib Christi betrachten, stets waren es die durch den Heiligen Geist in eins versammelten Gläubigen, diejenigen, welche von dem kommen­den Zorn gerettet werden sollten, und die alle in einem Geiste zu einem Leibe getauft worden waren; in ihnen erblicken wir nach dem schriftmäßigen Sinn des Wortes die „Kirche oder die Versammlung Gottes". Dies ist von um so höherer Bedeutung, als man heute von einer „unsichtbaren" Kirche redet — ein Ausdruck, welchen man in der Heiligen Schrift nirgends findet, und wodurch man einen Zustand bezeichnen will, dem der Herr gerade durch die Gründung der Versammlung ein Ende gemacht hat. Wir wissen z. B., daß, während Israel das allein anerkannte Volk Gottes war, es in und außer den Grenzen Israels Gläubige gab, die vereinzelt und überall umher zerstreut waren. Aber eben deshalb starb Jesus, „auf daß Er auch die zerstreuten Kinder Gottes in eins versammelte" (Joh 11, 52). Am Pfingsttage sehen wir die Verwirklichung davon. Es ist also offenbar ein Irrtum, wenn man im Blick auf die Versamm­lung von einer sichtbaren und unsichtbaren Kirche redet; man beweist dadurch nur, daß man unter der Versammlung nichts als eine Vermischung von Gläubigen und Ungläubigen ver­steht. Aber durch diesen Irrtum ist es dahin gekommen, daß man die Kirche als eine bloße Fortsetzung des Judentums be­trachtet und deshalb ihren gegenwärtigen Zustand zu recht­fertigen sucht, während ihn das Wort Gottes so entschieden verurteilt.

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Solche traurigen Ergebnisse können indes niemals da befrie­digen, wo man die Absicht des Heiligen Geistes versteht, so­wohl die persönliche Herrlichkeit Christi als auch Seine Stel­lung als Herr unveränderlich aufrechtzuerhalten. Die Ver­sammlung Gottes ist berufen, Christum als Herrn und Haupt anzuerkennen; und der Herr hat Seine Versammlung in dieser Beziehung nicht ohne Unterweisung gelassen. Wie wäre es auch möglich, daß Er die Heiligen sich selbst überlassen hätte, so daß sie sich nach den Gebräuchen der verschiedenen Zeiten und Länder, in denen sie gerade leben, nach Belieben einrichten und formen könnten? Nein, wenn es noch etwas Teures und Wertvolles auf der Erde für Gott gibt, so ist es Seine Kirche oder Seine Versammlung, „die Herrlichkeit Christi", über welche Er mit Eifersucht wacht. Darum erwartet Er auch zu allen Zeiten von der Versammlung, daß sie Christum als Herrn und Haupt anerkenne. Dies wird uns durch die Betrachtung des Wortes noch klarer werden.

Wenige Versammlungen waren so reich mit Gaben gesegnet, wie diejenige zu Korinth. Aber was erblicken wir dort? Leider ein Schauspiel der gröbsten Unordnung und Sittenlosigkeit; und das liefert uns den Beweis, daß die Ordnung und der Segen in der Versammlung nicht durch Gaben, sondern allein durch die Unterwerfung unter Christum, als den Herrn, auf­recht erhalten werden können. Die Korinther mußten deshalb wieder zu den Wegen Gottes zurückgeführt werden. Wir finden daher, daß der Apostel in seinem ersten Brief oft und mit besonderem Nachdruck Christum als den Herrn bezeichnet, namentlich in bezug auf die Mitteilung, den Charakter und die Ausübung der Gaben. War auch jemand im Besitz irgendeiner Gabe, so durfte er sich ihrer doch nicht nach seinem Gutdün­ken, sondern nur in der Abhängigkeit von dem Herrn zur Auf­erbauung der Versammlung bedienen; in jedem anderen Falle war die Ausübung von Gaben untersagt. Das sehen wir deut­lich in Kap. 14, wo Paulus diese Tätigkeit regelt. So war z. B. die Gabe, in Sprachen zu reden, obwohl sie offenbar ein Er­zeugnis des Heiligen Geistes und nicht der Natur war, betreffs ihrer Ausübung gänzlich der göttlichen Ordnung unterworfen. Alles mußte zur Auferbauung der Versammlung geschehen. Aus demselben Grunde sollten die in Sprachen Redenden diese

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Gabe nur zu zweien oder höchstens zu dreien ausüben, und zwar nacheinander, und einer sollte auslegen. War kein Aus­leger anwesend, so sollten sie schweigen, Auch sollten die Propheten zu zweien oder zu dreien reden, und die anderen sollten urteilen. Wurde einem anderen, der zugegen war, etwas geoffenbart, so mußte der erste schweigen. So mußten sie ein­ander unterworfen sein, und einer nach dem anderen reden. Warum diese Beschränkung der Gaben? Damit die Versamm­lung nicht ermüdet, sondern erbaut würde. Alles mußte an­ständig und in Ordnung geschehen; alles war abhängig ge­macht von dem Herrn.

Aber, möchte jemand fragen, wie können solche Regeln in unseren Tagen Anwendung finden, wo doch nur noch so wenige Gaben vorhanden sind? Die Antwort ist: Wenn auch viele Gaben, wie z. B. diejenigen des Wundertuns, des Spra­chenredens usw., die 'in den ersten Tagen des Christentums als Zeugnisse dienten, verschwunden sind, so ist doch das geblieben, was der Kernpunkt dieses Kapitels bildet, nämlich die Gegen­wart des Heiligen Geistes in der Versammlung; und wenn Er damals alles in der Versammlung ordnete und regelte, sollte Er es dann jetzt nicht mehr tun? Wir haben denselben Geist und müssen daher auch auf Seine Gegenwart rechnen. Wenn wir glauben, daß es Ihm gefällt, auch jetzt noch in der Ver­sammlung zu wirken, so laßt uns diesen Glauben durch die Tat verwirklichen! Oder sollte der Heilige Geist das Wort Gottes als die alleinige Richtschnur unseres Glaubens und Wandels beiseitegesetzt haben? Ist es nicht vielmehr die Ver­schlagenheit der Menschen, die allerlei Beweisgründe zu er­sinnen weiß, um sich der Unterwerfung unter das Wort zu entziehen? Ist es möglich, daß Kinder Gottes sich mit solchen Beweisgründen zur Rechtfertigung ihres Ungehorsams begnü­gen können? Man hat Kirchen eingerichtet, die durchaus nicht den Charakter der Kirche oder der Versammlung Gottes an sich tragen, und die nicht den Grundsatz der Freiheit des Heiligen Geistes in ihrer Mitte zu wirken, „durch welchen Er will", in sich schließen. Man hat religiöse Körperschaften gegründet und sie den Ländern, denen sie angehören, anzupassen gesucht; aber sie entsprechen in keiner Beziehung der Versammlung Gottes in ihrer Gesamtheit, noch den in der Heiligen Schrift

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genannten örtlichen Versammlungen. Wie anders war es im Anfang! Wenn jemand der Versammlung Gottes zu Jerusalem angehörte, so war er auch ein Glied der Versammlung in Rom. Es war bloß eine Frage der Örtlichkeit. Die Schrift weiß nichts von der Mitgliedschaft einer Kirche, sondern kennt nur die Gliedschaft der Kirche. Wie ist es dagegen in unseren Tagen? Gehört man einer Religionsgemeinschaft an, so ist man selbst­redend von jeder anderen getrennt. Wie weit ist doch die Kirche von dem Worte Gottes abgewichen! Sie bildet einen Trümmer­haufen. Aber sollen wir deshalb ratlos zu irgendeinem System unsere Zuflucht nehmen? Wenn wir es tun, so liefern wir damit nur den Beweis, daß wir dem Worte Gottes nicht unter­worfen sind. Doch das sei ferne! Vielmehr gilt für uns, allem gegenüber, was mit dem Worte im Widerspruch steht, der eine Wahlspruch: „Laß ab vom Bösen und tue Gutes"! Ohne Zweifel werden wir auf einem solchen Wege vielen Schwierigkeiten und Hindernissen begegnen; aber von dem geoffenbarten Willen Gottes müssen alle anderen Bedenken in den Hintergrund treten.

Es ist nicht unsere Aufgabe, eine neue Kirche oder Versamm­lung zu gründen, sondern uns .einfach im Namen Jesu zu ver­sammeln, so wie es uns das Wort Gottes vorgeschrieben hat. Vielleicht sagt jemand: Zeiten und Umstände haben sich ver­ändert; und wie können sich zwei oder drei Christen, die sich hier oder dort versammeln, den Namen „Versammlung Gottes" beilegen? Ich erwidere: Ohne Zweifel hat eine traurige Ver­änderung stattgefunden; aber die Frage ist: Hat sich der Wille Gottes bezüglich Seiner Versammlung verändert? Was ist richtig: die durch die Untreue des Menschen herbeigeführte Veränderung anzuerkennen, oder zu dem Willen Gottes zu­rückzukehren, und dies auch nur mit zweien oder dreien, die sich in der Unterwerfung unter Sein Wort im Namen Jesu ver­sammeln? — Wenn ich nun mit solchen im Namen des Herrn versammelt bin, und zwar in Anerkennung aller Glieder Seines Leibes und wartend auf die Wirksamkeit Gottes durch Seinen Geist und Sein Wort, ist dann Jesus nicht in unserer Mitte? Ohne Zweifel. Und welch ein großer Trost ist das für unsere Seelen!

Ich hoffe, in dem folgenden Abschnitt unserer Betrachtung zeigen zu können, daß dieses gerade die gnadenreiche Vorsorge

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des Herrn für die letzten Tage ist. Die freie, unumschränkte Wirksamkeit des Heiligen Geistes unter den versammelten Gliedern Christi bleibt stets ein durch das Wort Gottes fest­gestellter Grundsatz in der Versammlung Gottes. Und wenn wir bemüht sind, dem Herrn treu zu sein, so wird, wie sehr wir auch Ursache haben, uns über den Zustand der Versammlung zu betrüben, der Segen nicht ausbleiben. Wir bedürfen eines gläubigen demütigen Herzens, um trotz aller Hindernisse und Prüfungen in dieser Welt alles für den Gehorsam gegen den Heran einzusetzen. Es gibt für uns nur einen schmalen Pfad; und wie verleugnungsvoll der auch sein mag, so wird es uns doch nicht schwer werden, ihn zu gehen, wenn wir im übrigen das Bewußtsein haben, ein Eigentum Dessen zu sein. Der Sich für uns hingab und alles erduldete, und wenn wir in der Ge­wißheit Seiner unendlichen Liebe Ihn kostbarer finden als alles in dieser Welt. Alles was Er jetzt von den Seinen erwartet, ist Treue. Wenn wir den Willen des Herrn kennen, so laßt uns nicht bis zum nächsten Tage warten, ihn auszuführen, unter dem Verwände, daß uns noch nicht alles klar sei. Denn wenn Gott uns ausgehen heißt, so ist es nicht Glaube, wenn wir zu Ihm sagen: „Zeige uns zuerst das Land!" Wir haben Seinem Willen zu folgen, soweit wir ihn erkannt haben. Es ist traurig, jemanden sagen zu hören: „Ich weiß, daß ich bekehrt bin und in den Himmel komme. Das ist die Hauptsache; alles andere ist nebensächlich und kümmert mich nicht". — Wie weit ist es mit solchen gekommen! Nicht nur kennen sie den Willen des Herrn nicht, sondern sie wollen ihn auch nicht kennen.

Für die Treuen bleibt der Grundsatz der Absonderung von allem Bösen stets in Kraft, mag es sich nun um das draußen herrschende Böse oder um das Böse innerhalb der Kirche oder Versammlung handeln, wenn solches durch die Macht Satans und durch die Nachlässigkeit der Menschen eingeschlichen ist. Selbst dann, wenn eine ganze Versammlung gemeinschaftliche Sache mit dem Bösen machen sollte, haben Wir uns, falls sich alle Ermahnungen und Versuche zur Wiederherstellung als fruchtlos erweisen würden, auch von dieser zu trennen; denn der Heilige Geist ist nicht nur der Geist der Wahrheit, sondern auch der Geist der Heiligkeit. Sicher hat das Böse bei denen, welche die Wahrheit erkannt haben, stets einen verwerflicheren

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Charakter in den Augen Gottes, als bei denen, die den Wert des Namens Jesu nicht kennen. Ebenso wichtig ist es aber auch andererseits, mit unserem Urteil über eine Versammlung oder über ein einzelnes Glied von ihr vorsichtig zu sein, und niemals eine Sünde vorzuwerfen, bevor dieselbe klar und bestimmt offenbar geworden ist; in einem solchen Falle haben wir viel­mehr auf den Herrn zu warten. Der Herr erwartet, daß Seine Versammlung nicht nur der Ort der Auferbauung der Heiligen sei, sondern daß sie auch Seinen Charakter vor den Augen der Menschen offenbare.

Der Herr wolle uns geben, treu zu sein! Der Streit, ob eine Sache alt oder neu sei, ob sie noch ,in der Kraft des Jünglings­alters von drei Jahrhunderten stehe, oder das graue Haar eines fünfzehnhundertjährigen Greisentums trage, ist nutz- und fruchtlos. Für uns gilt nur die eine Frage: „Stehen wir auf dem allein göttlichen Boden der Kirche?" Wir können uns mit nichts Wenigerem begnügen. Wir haben kein Vertrauen auf uns selbst, sondern befehlen uns Gott und dem Worte Seiner Gnade als unserer alleinigen Sicherheit und Kraft.

Ich möchte nun noch einige Augenblicke bei dem Dienste ver­weilen. Er hat, wie die Versammlung selbst, seine Quelle in Christo. Sowohl die Berufung, als auch die Aus­sendung geht von dem Herrn und nicht von der Versammlung oder von den Gläubigen aus. Ich rede hier von dem Dienst des Wortes. Denn es gab verschiedene Dienstverrichtungen, wie z. B. den Dienst der Diakonen, zu welchem die Versammlung nach ihrer Weisheit die passenden Werkzeuge auswählte. So lesen wir in Apg 6, daß die ganze Menge der Gläubigen die Diakonen der Versammlung aus ihrer Mitte wählte, damit sie, nachdem die Apostel ihnen die Hände aufgelegt hatte, die Tische bedienten. Ebenso haben die Versammlungen, wie wir z. B. in 2. Kor 8 lesen, Brüder ausgesandt, um ihre Gaben den Heiligen zu überbringen. Epaphroditus wurde von den Philip­pern als Diener für die Bedürfnisse des Apostels abgesandt (Phil 4). Aber wir finden nie, daß die Erwähnung und Beru­fung zum Dienst des Wortes von der Versammlung ausgegan­gen ist. Im Gegenteil sagt der Herr Jesus Selbst zu Seinen Jüngern: „Bittet den Herrn der Ernte, daß er Arbeiter aussende

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in seine Ernte". Er ist immer der Herr der Ernte; und dem­gemäß zeigt uns auch das Gleichnis in Mt 25, daß der Herr vor Seiner Abreise in das ferne Land Seine Knechte beruft und ihnen Gaben verleiht. Wie verschieden ist auch hier die reine göttliche Berufung zum Dienst des Wortes nach der Schrift von dem, was wir in unseren Tagen in der Christenheit sehen! Wie sehr ist ihre Würde und insbesondere jene heilige Unabhängig­keit des Menschen beeinträchtigt. Welche zur kräftigen Aus­übung des Dienstes und vor allem zur Verherrlichung des Herrn so wesentlich notwendig ist! Wenn Menschen Prediger anstellen und aussenden, ist das nur die willkürliche Anma­ßung eines Rechtes, das dem Herrn allein zusteht, und gereicht allen, die sich einer solchen Autorität unterwerfen, zu großem Nachteil.

Worin besteht denn ein in Übereinstimmung mit dem Worte ausgeübter Dienst? Er besteht in der von Gott gegebenen voll­kommenen Freiheit, für das Heil der Seelen tätig zu sein. Dieses bestätigt uns, im Einklang mit den Belehrungen der Epistel, die Apostelgeschichte. Wir haben bereits in 1. Kor 12 und 14 ge­sehen, daß es dem Wesen der Versammlung Gottes und der Gegenwart des Heiligen Geistes entsprechend ist, in voller Frei­heit für .die Herrlichkeit des Herrn und zum Segen aller zu wirken, durch welche Er will. Ebenso setzt die Ermahnung in 1. Petr 4, 10. 11 und die Warnung in Jak 5, 1 dieselbe Freiheit und die damit verbundene Gefahr im Dienste voraus. Weiter sehen wir in Apg 8, daß die durch die Verfolgung Zerstreuten überall das Wort predigten; und obwohl, wie ich glaube, diese nicht alle Diener des Wortes waren, so ist es doch ein Beweis, daß der Herr jeden Christen anerkennt, der die frohe Bot­schaft verkündigt. Ganz besonders aber begegnen wir in dem­selben Kapitel dem Philippus, wie er mit Freimütigkeit das Wort redet. „Aber", könnte man sagen, „Philippus war doch von der Versammlung gewählt". Es ist wahr, er war gewählt worden, aber wozu? Zum Diakonen, und nicht zum Dienste des Wortes. Dazu berief ihn der Herr später, demzufolge er die Stellung als Diakon aufgab, von Jerusalem nach Samaria ging und unter dem Segen des Herrn das Wort predigte. In Kap. 9 sehen wir einen Mann auf der Reise nach Damaskus, mit Vollmacht von den Hohenpriestern, um die Christen zu

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verfolgen. Das war der einzige Auftrag, den Paulus von Men­schen empfangen hatte*); er war autorisiert, nicht das Evan­gelium zu verkündigen, sondern es zu vernichten. Aber der Herr in Seiner unumschränkten Gnade bekehrte ihn und sandte ihn aus als „einen Prediger und Apostel und Lehrer der Nati­onen in Glauben und Wahrheit". Später führte der Herr noch mehrere in das Werk ein, unter anderen den Apollos, welchen „Aquila und sein Weib zu sich nahmen, um ihm den Weg Gottes noch genauer auszulegen". Und ob auch betreffs seiner nirgends in der Schrift eine menschliche Einweihung oder An­stellung ermahnt wird, so zollt ihm Paulus dennoch völlige An­erkennung, indem er ihn sich selbst und dem Apostel Petrus zur Seite stellt (1. Kor 3). Am Ende seines ersten Briefes an die Korinther sagt Paulus sogar, daß er Apollos viel zugeredet habe, nach Korinth zu gehen, daß es aber dessen Wille nicht gewesen sei, jetzt zu kommen (1. Kor 16). Ein inspirierter Apostel gibt also einem nicht ordinierten Diener einen Rat, den dieser nicht befolgt. Da der Apostel ihn dieserhalb nicht tadelt, so können wir nicht beurteilen, wer von ihnen Recht oder Unrecht hatte; aber dieser Vorfall zeigt uns doch, im Gegensatz zu den Träumereien der Menschen über apostolische Oberherrschaft, daß der Herr der alleinige Meister und Leiter Seiner Diener ist, und diese nur Ihm verantwortlich sind. Das ist ein für alle Zeiten geltender Grundsatz; und wir haben die Frage an uns zu richten: „Dienen wir dem Herrn und nur Ihm allein oder sind wir Diener der Menschen oder irgendeiner Benennung?" Ist dies zuletzt Genannte der Fall, dann laßt uns bedenken, daß „niemand zwei Herren dienen kann". Man kann nicht ein Diener Christi und zugleich der Diener irgendeiner Partei sein; eines von beiden muß aufgegeben werden.

Wir sehen also, daß der Dienst des Wortes einen von der Ver­sammlung unabhängigen Platz einnimmt, indem er nicht allen, sondern nur einzelnen Gliedern zum Nutzen aller anvertraut ist. Die Versammlung hat ihrerseits die Diener anzuerkennen, und andererseits haben die Diener die Versammlung anzuer­kennen. Man darf diese beiden Dinge ohne bedenkliche Folgen

*) Später, wenn er von seinem apostolischen Dienst spricht, sagt er: „Paulus, Apostel, nicht von Menschen, noch durch einen Menschen, sondern durch Jesum Christum und Gott, den Vater, der Ihn auferweckt hat aus den Toten" (Gal 1,1).

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nicht aus dem Auge verlieren. Ohne Zweifel besteht die Auf­gabe eines Dieners darin, in der Unterwürfigkeit unter Christen zu predigen oder zu lehren, zu ermahnen, zu unterweisen oder zu regieren, je nachdem er eine Gabe von dem Herrn empfan­gen hat. Aber was auch die Ratschläge und Urteile eines Die­ners sein mögen, so kann doch nichts die unmittelbare Verant­wortlichkeit Christo gegenüber auflösen. Derselbe Jesus, wel­cher der Herr des Dieners ist, wird auch als Herr durch die Versammlung Gottes anerkannt.

Endlich wird uns in Apg 15 und 15 gezeigt, wie wir selbst im Blick auf einen Begleiter oder einen Mitarbeiter im Dienste nicht nach Willkür, sondern in Abhängigkeit von dem Herrn zu handeln haben. Paulus und Barnabas nahmen auf ihrer ersten Missionsreise den Markus mit; der erwies sich jedoch, indem er sich von ihnen trennte und wieder zurückkehrte, als unfähig zum Werke. Paulus weigerte sich deshalb später, ihn wieder mitzunehmen, und es erhob sich infolgedessen, da Bar­nabas, ein Verwandter des Markus, auf dessen fernerer Be­gleitung bestand, zwischen beiden ein so harter Wortwechsel, daß sie sich voneinander trennten. Paulus wählte Silas zu seinem Reisegefährten, und diese beiden reisten ab, von den Brüdern der Gnade Gottes befohlen, indem diese jedenfalls überzeugt waren, daß das Recht auf seiten des Apostels war. Von Barnabas wird nichts weiter gesagt. Sicherlich ist in der Wahl eines Mitarbeiters ein geistliches Urteil erforderlich; und es ist klar, daß eine gezwungene Verbindung nicht nach den Gedanken des Herrn ist. Jedenfalls wollte Paulus sich Markus nicht aufzwingen lassen und wählte sich einen anderen Be­gleiter. Ist das nicht ein wichtiges Beispiel der Vorsorge Gottes, welche Er in Seinem Worte getroffen hat, selbst hinsichtlich der Annahme oder der Zurückweisung des Dienstes eines Mit­arbeiters? Der Herr Jesus behauptet stets den Ihm allein ge­bührenden Platz, nicht allein in bezug auf die Versammlung, sondern auch bezüglich des Dienstes, und Er lehrt uns, wie wir Sein Wort auf der Erde auszuführen haben. Freilich unterliegt es keinem Zweifel, daß wir einander unterwürfig sein sollen, und sicher steht dies mit der Unterwerfung unter den Herrn in Verbindung; aber zu allen Zeiten und unter allen Umstän­den müssen wir bemüht sein, dem Herrn zu gefallen.

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Wir sehen also, daß sowohl die Versammlung, als auch der Dienst nach dem Worte Gottes ihre Quelle in Christo haben, und beide unter eine Verantwortlichkeit gestellt sind, die nicht geschwächt oder gar gänzlich beiseitegesetzt werden darf. Die Versammlung hat die Pflicht, die Diener Christi aufzunehmen, hat aber nicht das Recht, sie zu wählen; und der Diener ist dem Herrn verantwortlich, von welchem er allein seine Kraft emp­fängt.

Ganz besonders aber haben wir es nötig, uns einfältig an den Herrn anzuklammern, an Seine Gnade und Sein Wort, um nicht durch die Schwierigkeiten, die nie ausbleiben, entmutigt zu werden. Denn wie der Weg des Herrn in Seine himmlische Herrlichkeit über das Kreuz führte, so trägt auch jeder wahre Dienst für Christum den Stempel des Kreuzes an der Stirn; aber es ist der Herr und Sein Kreuz. Laßt uns dem Herrn unterworfen sein und Ihm dienen! Ich zweifle nicht an dem Triumph in Christo; aber sicher können wir in dieser Welt auf Trübsale und Prüfungen rechnen; und auch in der Versamm­lung Gottes wird es an Schwierigkeiten nicht fehlen. Jeder, der Christo gedient hat, weiß etwas davon; aber Christus, Wel­chem die Versammlung angehört, und Dem wir dienen, „bleibt gestern und heute und in die Zeitalter derselbe".

4. Der Gottesdienst, das Brotbrechen und das Gebet

(Joh 4, 10-24)

Unter den jetzt von uns zu betrachtenden Gegenständen nimmt der Kultus oder der eigentliche Gottesdienst den ersten und wichtigsten Platz ein; und da dieser uns am meisten mit Gott Selbst in Beziehung bringt, so ist er für unsere Seelen auch der erhabenste und gesegnetste Gegenstand. Jedenfalls ist der Tisch des Herrn in den Gottesdienst mit eingeschlossen, erfor­dert jedoch wegen seiner unterschiedlichen Natur und seiner besonderen Beziehung zu den Heiligen eine besondere Betrach­tung, während der Gottesdienst, als solcher, zu Gott in wesent­licher Beziehung steht.

In dem oben angeführten Kapitel, Ev. Joh 4, sehen wir nicht nur, daß der Gottesdienst ein erhabenes, gesegnetes und hin-

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sichtlich unseres Wandels fruchtbringendes Vorrecht für uns ist, sondern es läßt uns auch den Gegensatz zu dem jüdischen Kultus erkennen. Zum besseren Verständnis muß ich jedoch einige Bemerkungen über den zur Ausübung des Gottesdien­stes erforderlichen Seelenzustand vorausschicken. Der Vater erwartet die Anbetung Seiner Kinder; und diese Anbetung ist eine Pflicht, an welcher sie alle ein persönliches und unmittel­bares Interesse haben. Wie aber hinsichtlich der Versammlung Gottes und der Gabe des Heiligen Geistes, so ist auch in bezug auf den Gottesdienst, sowohl von seiten Gottes als auch der Seinen, eine feste Grundlage zu seiner wirklichen, wahrhaft christlichen Ausübung nötig. Wenn es je ein Gebiet gegeben hat, auf dem die Zulassung des menschlichen Willens eine Sünde und eine Verunehrung Gottes war, so ist es vor allem das Gebiet des Gottesdienstes. Und demnach geschieht nichts so häufig und mit weniger Gewissen als gerade dieses. Gibt es wohl eine Sache, in welcher der Mensch sich mehr erhebt den Geist der Gnade mehr verachtet als es hier geschieht7 Nie­mand halte diese Sprache für übertrieben hart. Kann man eine Sache scharf genug bezeichnen, durch welche die Welt betro­gen, die Kirche geschändet und die moralische Herrlichkeit Christi vernichtet wird, und worin der Mensch aus einem falschen Grunde oder ohne Grund beschäftigt ist, Gott zu ver­ehren, und zwar angesichts der herrlichen Offenbarung, welche Gott von Sich Selbst in Seinem Sohne gegeben hat und geben kann?

Diese vollkommene Offenbarung Gottes allein ist sowohl die Quelle unserer Hoffnung und Segnung als auch die Grundlage des christlichen Gottesdienstes. Indes wie wesentlich sie auch für den Gottesdienst und wie unendlich sie in ihrem Wesen sein mag, so würde sie doch an und für sich allein nicht genügend sein. Es mußte auch den Bedürfnissen des Menschen in Über­einstimmung mit der göttlichen Herrlichkeit begegnet werden. Nun, Gott hat es an nichts fehlen lassen; und alles was Er getan hat, ist selbstverständlich unbedingt vollkommen.

Vor der Erscheinung Christi gab es ohne Zweifel nur eine teil­weise Offenbarung Gottes. Nachdem aber der Sohn Gottes gekommen ist, können wir jetzt als Gläubige ohne Anmaßung

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sagen: „Er hat uns ein Verständnis gegeben, auf daß wir den Wahrhaftigen kennen". Welch ein Glück, in dieser finsteren Welt sagen zu dürfen: „Wir kennen Ihn"! Wie gesegnet, ein göttliches Buch zu besitzen und geleitet durch den Geist die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft im Lichte Gottes be­trachten zu können! Köstlicher aber als alles ist das Wort:

„Wir kennen den Wahrhaftigen, und wir sind in dem Wahr­haftigen, in seinem Sohne Jesu Christo" (1. Joh 5).

Ohne Zweifel findet ein Wachstum in der Erkenntnis statt; jedoch müssen wir die Grundwahrheit festhalten, daß jeder, den Gott in Seine Gemeinschaft gebracht hat, mit dem Heiligen Geiste gesalbt ist und „alles weiß" (vgl. 1. Joh 2, 20). Alle besitzen eine geistliche Fähigkeit, welche mit dem Unterschied in der praktischen Entwicklung der Einzelnen nichts zu tun hat. Gott hat den Seinigen eine neue Natur gegeben, die durch den Geist fähig ist. Ihn Selbst zu verstehen, zu schätzen und zu genießen. Diese Vorrechte lassen uns in etwa erkennen, was zunächst erforderlich ist, um ein Anbeter Gottes zu sein. In einem nicht wiedergeborenen Menschen einen Anbeter zu suchen, wäre eine verwerfliche Torheit. Wenn wir nicht eine neue Schöpfung in Christo geworden sind und nicht eine neue Natur aus Gott besitzen, können wir Ihn weder kennen noch anbeten. Nicht als ob der Besitz des ewigen Lebens, das jede Seele durch den Glauben an den Sohn Gottes empfängt, an und für sich schon zur Anbetung befähige; nein, Gott gibt mehr als das. Der Herr sagt zu der Samariterin: „Wenn du die Gabe Gottes kanntest und wer es ist, der zu dir spricht: Gib mir zu trinken! so würdest du ihn gebeten haben, und er hätte dir lebendiges Wasser gegeben". Hier haben wir sozusagen den Kern wahren Gottesdienstes. Zuerst bedurfte jenes Weib der Erkenntnis der „Gabe Gottes", und dann der Erkenntnis Dessen, Der zu ihr sprach.

Gott gab im alten Bunde das Gesetz; doch Er verbarg Sich hinter dem Vorhang. Aber als der eingeborene Sohn den Vater offenbarte, nahm Gott nicht länger eine durch das Gesetz ge­kennzeichnete Stellung ein, indem Er eine Gerechtigkeit von seiten des Menschen forderte, sondern Er begegnete, als Licht und Liebe, dem Sünder in der Tiefe seines Elends mit jener

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freien Gabe, die Gottes Selbst würdig ist. Das ist passend für Ihn, und daran findet Er Seine Wonne. Doch dies war nur möglich durch die Erniedrigung und Verherrlichung des Sohnes Gottes, der für Sünder in den Staub des Todes hinabstieg. Wie köstlich sind daher die Worte, die der Herr an jene Frau rich­tete! Wahrlich, hätte sie die Gabe Gottes und die Herrlichkeit Dessen erkannt. Der mit ihr redete, so würde sie alles, was sie wünschte, bei Ihm gesucht und gefunden haben. Wie wenig ahnte sie, wer es war. Der mit ihr redete! Sie erblickte in dem Herrn nur einen Juden, obwohl es ihr Erstaunen erregte, daß ein Jude so liebevoll und herablassend mit ihr, einer Samarite­rin, verkehrte und redete! Wie wenig dachte sie daran, daß der vor ihr sitzende Fremdling der Herr des Himmels und der Erde, der eingeborene Sohn aus dem Schöße des Vaters war! Hätte sie nur eine Ahnung davon gehabt, so würde sie Ihn sicher um lebendiges Wasser gebeten haben. Wir erblicken hier die ganze Gottheit in ihrer Dreieinheit. Zuerst die Gnade Gottes als die Quelle; dann die Herrlichkeit der Person des Sohnes und Seine Gegenwart in Niedrigkeit unter den Menschen auf der Erde; und endlich den Sohn, welcher bedürftigen und dürstenden Seelen das „lebendige Wasser", den Heiligen Geist, gibt.

Zunächst also haben wir Gott, geoffenbart durch das Evange­lium in Gnade, im Gegensatz zu dem Gesetz; dann den Sohn Gottes, herniedergekommen in vollkommener Güte und völlig bereit, allen Bedürfnissen des Menschen durch eine Liebe zu begegnen, die selbst das gleichgültigste und verhärteste Herz zu gewinnen vermag; und endlich die Gegenwart des Hei­ligen Geistes. Das ist die notwendige Grundlage des Gottes­dienstes. Bei seiner Ausübung muß ich verstehen, daß von seiten Gottes eine völlige Offenbarung dessen geschehen ist, was Er in Seiner eigenen Natur und Gnade für den Menschen ist. Sodann, daß der Sohn, in Übereinstimmung mit dieser Offenbarung, unter die Menschen gekommen ist, um durch das Opfer Seiner Selbst die Sünde gänzlich hinwegzunehmen; und endlich, daß das Herz, nachdem seine Bedürfnisse geweckt sind, von dem Herrn lebendiges Wasser begehrt und empfan­gen hat, und zwar nicht nur als die Kraft des Lebens und der Erneuerung, sondern auch als die Quelle unaufhörlicher Er­frischung, die in das ewige Leben quillt.

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Die Frage der in ihrem Gewissen getroffenen Frau über den Ort der Anbetung gibt dem Herrn Veranlassung, die Dämme­rung eines herrlichen Tages feierlich anzukündigen mit den Worten: „Weib, glaube mir, es kommt die Stunde, da ihr weder auf diesem Berge, noch in Jerusalem den Vater anbeten werdet ... Es kommt aber die Stunde und ist jetzt, da die wahrhaftigen Anbeter den Vater in Geist und Wahrheit an­beten werden; denn auch der Vater sucht solche als seine An­beter". — Das ist der völlige und klare Ausdruck des Gottes­dienstes. Gott als der Vater geoffenbart, der Seine Kinder nicht nur beruft und annimmt, sondern sie vielmehr sucht, und zwar in der Fülle einer Liebe, deren Ausgang und Ziel der Himmel ist. In Israel hatte der Mensch Jehova zu suchen und konnte nur unter der genauen Beobachtung feierlicher Gebräuche und strenger Zeremonien vor Ihm erscheinen und anbeten. Da konnte von einem Nahen in Seine unmittelbare Gegenwart keine Rede sein; und selbst wenn dies möglich gewesen wäre, so hätte man dennoch nicht Ihm, als dem Vater, nahen können. 

Gott war so wenig der Vater Aarons, als des schwächsten Gliedes eines der geringsten Stämme Israels. Aber jetzt war die Stunde gekommen, wo der Vater Anbeter suchte. Das jüdische System war gewogen und zu leicht befunden worden. In den Augen Gottes war das weltliche Heiligtum schon gefallen, um Christo, dem wahren Tempel Platz zu machen. Die Erscheinung Jesu hatte alles verändert. Sowohl auf dem Berge Gerisim als auch in Jerusalem mußte die irdische Anbetung verschwinden, um der Anbetung des Vaters im Geiste und in Wahrheit Platz zu machen; denn „der Vater sucht solche als Seine Anbeter". Dieser Grundsatz stand im entschiedenem Gegensatz sowohl zu der Natur, als auch zu dem Judaismus. Nicht nur trat ein ganz neuer Charakter der Anbetung, der eine ganz neue, ihm entsprechende Offenbarung Gottes erforderte, in die Erschei­nung, sondern auch die alten Lampen des bis dahin im Juden­tum anerkannten Heiligtums mußten erlöschen. Nicht nur die Anbetung Samarias fand eine vollständige Verurteilung, son­dern auch die schwachen Strahlen, die als ein Zeugnis eines zukünftigen besseren Lichtes die Bestimmung hatten, in Israel die Finsternis zu erleuchten, mußten vor dem jetzt unge­schwächt ausstrahlenden Glanz des Himmels erbleichen. Die Juden haben durch ihr Verhalten das letzte Band zerrissen, das

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ein Volk nach dem Fleische mit Gott verbinden konnte, und haben durch die Verwerfung ihres Messias sich selbst ver­worfen. Doch diese Verwerfung hat die Erlösung durch das Kreuz eingeführt; und alle Glaubenden finden jetzt nicht nur Vergebung der Sünden in dem Blute Jesu, sondern der Herr offenbart ihnen auch Gott Selbst als Seinen Vater und ihren Vater, als Seinen Gott und ihren Gott, und dies in der Macht und Gegenwart des von dem Himmel herniedergesandten Hei­ligen Geistes, so daß sie in die heilige und wahre Anbetung des lebendigen Gottes eintreten können und fähig sind, durch Ihn und mit Ihm zu sagen: „Abba, Vater"!

Wir bedürfen also nicht nur eines geistlichen Lebens und der Erlösung, sondern auch des Heiligen Geistes; und darum fügt der Herr hinzu: „Gott ist ein Geist, und die ihn anbeten, müssen in Geist und Wahrheit anbeten". Beachten wir es wohl! Wenn der Herr vom Vater spricht, welcher Anbeter sucht, so ist alles reine Gnade; denn Er ist der Suchende. Aber dennoch ist es Gott, den wir nach Seiner unendlichen Barmherzigkeit Vater nennen dürfen; und dieses Vorrecht darf das Verständnis be­züglich Seiner Majestät nicht im geringsten schwächen, son­dern muß es sogar vermehren; und deshalb steht geschrieben:

„Gott ist ein Geist, und die ihn anbeten, müssen in Geist und Wahrheit anbeten".

Und nun, mein lieber christlicher Leser, wo ist dein Platz? Bist du mit solchen vereinigt, die also in Geist und Wahrheit den Vater anbeten? Oder nimmst du teil an einem Gottesdienst, welcher, anstatt die Herzen in Geist und Wahrheit zu Gott, dem Vater, zu erheben, sie, (falls Jerusalem nicht erreicht werden kann), zu dem Berge Samaria, d. h. zu einem Gottes­dienst zurückführt, der eine bloße Form und ein System ist, das etliche wahre Anbeter mit einem Haufen falscher Anbeter vermischt? Für ein einfältiges Auge ist es nicht schwer, den wahren Gottesdienst von dem falschen zu unterscheiden. Wie kann eine wahre Anbetung an einem Platze stattfinden, wo die Trennung des Gläubigen von der Welt nicht anerkannt wird? wo menschliche Vorschriften und Einrichtungen das göttliche Wort ersetzen? wo dem Heiligen Geist kein Raum gelassen wird, dem Worte gemäß zu wirken, und wo selbst ein Unbe-

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kehrter an den ernstesten Dingen teilnehmen und dabei sogar der Leiter sein kann? Was wird da die unausbleibliche Folge sein? Jedenfalls werden die Gläubigen, die sich in dieser Ver­mischung befinden, anstatt daß sie die Welt zu der Höhe des Glaubens erheben, sie selbst zur Gleichförmigkeit mit ihr herabgezogen werden. Ist es da ein Wunder, wenn stattliche Gebäude, kirchliche Feste, sinnenberauschende Kirchenkonzerte usw. den wahren Gottesdienst verdrängen und seinen Platz völlig ausfüllen? Man mag christliche Anbeter in solchen Zu­ständen finden, aber sicher keine christliche Anbetung. Bei vielen Christen ist das Verständnis über den Gottesdienst so unklar und dunkel, daß sie ein Gebäude, in das sie sich zum Anhören einer Predigt begeben, als den Ort ihres Gottes­dienstes bezeichnen. Eine Predigt anhören nennen sie Gottes­dienst; dies beweist, wie völlig der wahre Begriff des christ­lichen Gottesdienstes ihnen abhandengekommen ist. Sicher haben wir Gott dafür zu danken, wenn nur irgend Christus gepredigt wird, weil dadurch Seelen bekehrt werden können. Aber was wir wünschen, ist, daß die Seelen nicht nur zur Erkenntnis ihrer Sünden und deren schrecklichen Folgen ge­bracht werden, sondern daß sie auch die Verkündigung des Evangeliums Gottes hören, so wie es in den Briefen dargestellt ist, nämlich die frohe Botschaft, daß das Werk Christi nicht nur unsere Sünden getilgt hat, sondern daß wir auch eines neuen Lebens teilhaftig geworden sind, versiegelt durch den Heiligen Geist und mit Gott in Gemeinschaft getreten. Wo dies vorhanden ist, da kann — indem das durch die Gnade befreite Herz sich mit Danksagung zu Gott erhebt — die Anbetung als einfache, notwendige Frucht nicht ausbleiben. 

Der Gläubige besitzt das neue Leben als eine Quelle, die in das ewige Leben quillt; er genießt einen vollkommenen, unzerstörbaren Frieden, dessen Bewußtsein ihm den Mund zum Preise seines Heilandes öffnet. Ist die Verkündigung des Evangeliums kein deutlicher, klarer Ton, der die Seelen ergreift, dann werden sie, obwohl sie eine gewisse Vorstellung von Christo haben mögen, doch bald das Gesetz an die Stelle des Heiligen Geistes setzen und, anstatt sich der Macht des Lichtes und des Friedens in Christo, als einer Frucht des Zeugnisses und der Inwohnung des Heili­gen Geistes, zu erfreuen, in einem trostlosen Zustande der Ungewißheit verkümmern. Darum kann, wie bereits bemerkt,

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der wahre Gottesdienst nur auf die Offenbarung der Gnade in dem gestorbenen, auferstandenen und zum Himmel erhöhten Christus gegründet sein und durch die Kraft des Geistes Gottes von den Gläubigen genossen werden. Irdische Formen und menschlicher Wille finden hier keinen Platz; denn „Gott ist ein Geist, und die ihn anbeten, müssen in Geist und Wahrheit anbeten".

Dann finden wir in 1. Kor 14, welchen Platz die Danksagung, in Verbindung mit der Wirksamkeit Gottes in der Versamm­lung, in dem Gottesdienst einnimmt. Wir lesen: „Was ist es nun? Ich will beten mit dem Geiste, aber ich will auch beten mit dem Verstande; ich will lobsingen mit dem Geiste, aber ich will auch lobsingen mit dem Verstande". Der Herr erwartet einen einsichtvollen Dienst von den Seinigen. Wenn z. B., wie der Apostel in V. 16 anführt, während des Gottesdienstes Danksagung oder An­betung in einer fremden Sprache dargebracht wurde, dann war die Erbauung der Versammlung gestört, weil diese, der frem­den Sprache unkundig, nicht mit Einsicht ihr „Amen" hinzu­fügen konnte. Wie sorgfältig wachte der Geist Gottes über den Gottesdienst der ersten Versammlungen! Wie wenig aber achtet man in unseren Tagen darauf! Wo sehen wir die An­betung der Familie Gottes? Doch wie trostlos der Verfall unter uns auch sein mag so erwartet dennoch Gott von uns. Seinen Kindern, daß wir Ihn im Geiste und in Wahrheit anbeten, und folglich allein auf die Gegenwart und Leitung des Heiligen Geistes in der Versammlung rechnen. Lassen wir unsere eige­nen Gedanken und Meinungen zu Hause! So würde es z. B. nicht am Platze sein, wenn jemand in der Versammlung irgend­ein Lied, durch das sein Herz einmal erquickt worden ist, vor­schlagen würde, ohne zu prüfen, ob es auch bei dieser Ge­legenheit passend wäre; oder wenn jemand nur deshalb ein Kapitel lesen oder einen Vortrag halten wollte, um das für einen zufällig anwesenden Fremden auffällige Schweigen zu unterbrechen. Würde man von einem solchen Bruder sagen können, daß er sich der Gegenwart des Heiligen Geistes be­wußt wäre? Wird sich der Heilige Geist, der die Gedanken Christi mitzuteilen beabsichtigt, mit dem beschäftigen, was die, welche draußen sind, über die Versammlung reden oder denken

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mögen?
Geziemt es sich in solchen Umständen nicht vielmehr, von uns selbst
und von anderen abzusehen und mit unseren Herzen auf die Christum
betreffenden Gedanken des Heiligen Geistes zu lauschen! Wie einfach
ist in diesem Falle der Aus­fluß der Danksagung für die
Barmherzigkeiten, die Gott uns und allen Seinen Heiligen erwiesen
hat! Und wie lieblich wird dann das Verständnis sein, das Gott uns
von Seiner Wonne an Christo gibt!

Auch dürfen wir in der Versammlung nie einem kritisierenden Geist Raum geben, oder gar denken, daß hier der Ort sei, wo jemand seine vermeintliche Weisheit zeigen könnte. Im Gegen­teil sollte gerade hier selbst der Größte sein Nichts vor Gott erkennen; denn sonst wird bald der Samen der Zwietracht und der Zerrüttung gerade da gesät werden, wo Eintracht und Ein­klang herrschen sollten. „Wenn es aber jemandem gut dünkt, streitsüchtig zu sein, so haben wir solche Gewohnheit nicht, noch die Versammlung Gottes", sagt der Apostel. Wir alle sind Mängeln und Irrtümern unterworfen und bedürfen der Ermah­nung; aber ein liebloses Richten und Tadeln in der Versamm­lung verleugnet deren wahren Charakter.

In betreff des Brotbrechens wird die Anführung einiger Schrift­stellen genügen. Der Apostel Paulus hat das Abendmahl des Herrn der Versammlung überliefert, wie er es von dem Herrn empfangen hatte (1. Kor 11). Es ist eine heilige Anordnung und steht nicht nur mit der Einheit des Leibes Christi in inniger Verbindung, sondern ist auch der deutliche Ausdruck dieser Einheit, zu deren Offenbarung der Apostel besonders berufen war. Während die Taufe für jeden einzelnen Gläubigen das Bekenntnis seines Gestorbenseins und seiner Auferstehung mit Christo ist, indem er durch sie bezeugt, daß er an den gekreuzigten und auferstandenen Christus glaubt und dem­zufolge weder Jude noch Heide, sondern ein Jünger Christi ist, so gehört der Tisch des Herrn der Versammlung als solcher an und bildet einen wesentlichen Teil in dem Gottesdienst der Heiligen Gottes. Der Tisch des Herrn ist zunächst und eigent­lich die beständige Darstellung des Bodens, auf dem wir stehen, das Zeugnis von der Liebe Christi bis in den Tod und von Seinem Werke, kraft dessen solche, wie wir sind, anbeten

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können. Es ist daher kein Wunder, wenn der Apostel zeigt, welch einen ernsten und gesegneten Platz der Tisch des Herrn unter den ihm von dem Herrn gemachten Offenbarungen ein­nimmt. Er sagt: „Ich habe von dem Herrn empfangen, was ich auch euch überliefert habe, daß der Herr Jesus in der Nacht, in welcher er überliefert wurde, Brot nahm und, als er gedankt hatte, es brach und sprach: Dies ist mein Leib, der für euch ist; dies tut zu meinem Gedächtnis. Desgleichen auch den Kelch nach dem Mahle, und sprach: Dieser Kelch ist der neue Bund in meinem Blute; dies tut, so oft ihr trinket, zu meinem Ge­dächtnis. Denn so oft ihr dieses Brot esset und den Kelch trinket, verkündiget ihr den Tod des Herrn, bis er kommt".

Angesichts dieser Mitteilung ist es augenscheinlich, daß der Tod des Herrn in Seinem Abendmahl einen hervorragenden Platz einnimmt. Wie erhaben auch die Gunst unseres Gottes in den Himmeln, die daraus entspringende Gemeinschaft und unsere herrliche Hoffnung .auf die ewige Segnung mit Christo sein mögen, so darf doch nichts von diesem allen auch nur für einen Augenblick von dem Tode des Herrn getrennt werden oder ihn in den Schatten stellen. Im Gegenteil werden, je mehr wir den Wert des Todes des Herrn anerkennen, alle jene Dinge an Glanz gewinnen und für unsere Herzen lieblicher und köst­licher werden. Der Tod des Herrn erinnert uns beständig an das, was wir als verlorene Sünder waren, an die völlige Til­gung aller unserer Sünden durch Sein Blut, an die damit ver­bundene Verherrlichung Gottes, und vor allem an die in Seinem Tode geoffenbarte unbedingte Gnade, sowie an die uns in Seinem Tode rechtfertigende Gerechtigkeit Gottes. Alle diese Dinge/ und mehr noch die vollkommene Herrlichkeit Christi, werden dem Glaubensauge in dem einfachen, aber wunder­baren Wort: „Tod des Herrn" vorgeführt.

Ferner ist es nach Apg 20, 7 wohl klar, daß die Gläubigen jeden ersten Tag der Woche, und nicht etwa bloß jeden Monat oder gar nur jedes Vierteljahr einmal zum Brotbrechen zusam­menkommen sollten. Auch findet diese Zusammenkunft nicht an dem Todes- sondern an dem Auferstehungstage des Herrn statt. Jesus ist nicht mehr. im Grabe, sondern Er ist auferstan­den, so daß wir in den Stand gesetzt sind, an dem Tage, der

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von Seiner Auferstehungsmacht Zeugnis ablegt, nicht mit trauernden Herzen, sondern mit dankbarer und inniger Freude das Brot zu brechen. Unstreitig bezeichnet der Heilige Geist diesen Tag nicht nur als eine Gelegenheit zu unserer Erbauung, sondern als einen Tag, an dem Er die Christen zusammenruft, um das Gedächtnismahl des Herrn zu feiern und Seinen Tod zu verkündigen. Doch mit welcher Geringschätzung wird dieser Tag und vor allem der Tisch des Herrn von so vielen Gläubigen behandelt! Wie oft bringen sie ihre Sonntage in einer Weise zu, die nicht entfernt den klaren Anweisungen des Wortes Gottes oder den in dieser Hinsicht geoffenbarten Gedanken des Herrn entspricht! Und wie sehr ist in der Christenheit der Charakter des Tages und des Tisches des Herrn, nicht nur der Form, son­dern auch vornehmlich seinen Grundsätzen nach, in einer Weise verändert worden, daß keine Spur von der ursprüng­lichen Einrichtung des Herrn übriggeblieben ist!

Der Tisch des Herrn muß in der Versammlung der Heiligen stets den ersten Platz haben; er muß in ihren Zusammen­künften am Tage des Herrn der vorherrschende Gedanke sein. Ihre Gebete, ihre Erbauung und Belehrung dürfen diesen er­habenen Gegenstand niemals in den Hintergrund drängen. Denn wie geistlich der Dienst in der Versammlung auch sein mag, so nimmt dabei der Mensch doch irgendeinen Platz ein, während beim Abendmahl der Herr in Seiner Erniedrigung und in Seinem Tode der alleinige und erhabene Gegenstand ist. Allerdings mag dies für solche, die an starre Formen gewöhnt sind, eine seltsame Sprache sein; allein das hat seinen Grund darin, daß sie zu wenig mit der Gegenwart und Leitung des Heiligen Geistes in der Versammlung vertraut sind. Wo aber die Tür für die Wirksamkeit des Heiligen Geistes offen ist, und ein richtiges Verhältnis von dem, was die Versammlung durchdringt, vorhanden ist, da wird der Geist Gottes alles an seinen wahren Platz zu stellen wissen; und, indem unser gan­zes Vertrauen auf den Herrn gerichtet ist, werden wir den Trost Seiner Leitung haben. Ist es nicht demütigend und be­trübend, zu denken, daß der Feier des Abendmahls etwas mangele, wenn sie nicht mit einem Vortrag oder dergleichen geziert sei? Kann da auch nur der Gedanke eines Mangels sein, wo der Tod des Herrn unseren Herzen vorgestellt wird, und

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wir mit allen, die Ihn lieben, um den Herrn versammelt sind? Und könnte für Gott irgendein Dienst angenehmer sein, als die einfache Erinnerung an die Person und den Tod Seines Ge­liebten am Tische des Herrn?

Schließlich werden manche Seelen durch die Furcht beunruhigt, sich durch unwürdiges Essen und Trinken die Verdammnis zuzuziehen. Allerdings haben wir ernstlich gegen jede Nach­lässigkeit, gegen jede unwürdige Teilnahme am Tische des Herrn zu wachen; aber von der Verdammnis zu sprechen, hieße für den Gläubigen den Trost des Evangeliums und die allge­meine Richtung des Wortes Gottes umkehren. Es ist sicher wahr, daß, wenn wir mit einem leichtfertigen und verunreinig­ten Herzen an den Tisch des Herrn gehen, mit anderen Worten unwürdiglich essen und trinken, wir nicht das Abendmahl des Herrn, sondern uns selber Gericht essen und trinken. Die Hand des Herrn wird auf solchen ruhen, wie dies bei den Korinthern wegen der dort herrschenden Unordnung der Fall war; aber das war ausschließlich ein geistliches Gericht und hatte den Zweck, „daß sie nicht mit der Welt verurteilt würden". Andererseits gibt es keinen Grund, uns von dem Tisch des Herrn zurückzu­ziehen, selbst nicht in unseren Mängeln und Gebrechen; son­dern wenn wir uns vergessen und uns verunreinigt haben, so sollten wir uns vielmehr demütigen und den Herrn durch unser Selbstgericht rechtfertigen. Und wenn wir an die unergründ­liche Liebe des Herrn denken, die Er in Seiner Hingabe für uns gezeigt hat, und an die ganz unverdiente völlige Befreiung, die durch Seine tiefe Erniedrigung und dadurch bewirkt wurde, daß Er den Zorn Gottes auf dem Kreuze für uns ge­tragen hat; wenn wir uns ferner an alle die Ermunterungen und Unterstützungen erinnern, die wir durch Ihn im Kampfe hier erfahren, dann werden wir das dankbare Andenken an Seinen Tod als die höchste Verpflichtung betrachten, die wir unter keinen Umständen vernachlässigen dürfen.

Hinsichtlich des Gebetes möchte ich nur noch mit wenigen Worten auf einen unter den Gläubigen viel verbreiteten Irrtum aufmerksam machen, demzufolge das Gebet als eine Gabe betrachtet wird — eine Meinung, für welche die Schrift nirgends einen Anhaltspunkt bietet. Dieser Irrtum hat die traurige Wir-

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kung, daß es viele nicht wagen, in der Versammlung ein Gebet zu sprechen, weil sie keine Gabe dafür zu besitzen meinen; und anstatt daß die Versammlung durch ihr Gebet gesegnet werden könnte, schweigen sie zu ihrem eigenen Schaden und zum Schaden der Versammlung. Und ist es nicht Tatsache, daß manche aus dem Grunde kein Gebet sprechen, weil sie fürchten, es möchte nicht lange genug oder nicht in gewinnende, schone Worte gekleidet sein? Möchten doch alle auch in dieser Bezie­hung das Wort Gottes prüfen und die Ermahnung des Apostels in 1. Tim 2 beherzigen, wo er in entschiedener Weise die Männer auffordert, an allen Orten zu beten und heilige Hände aufzuheben! Möchten sich die Brüder, frei von aller Zweifel­sucht, dem Herrn übergeben und sich stets daran erinnern, daß das Wort Gottes nirgends eine Andeutung über eine Gabe des Gebetes macht. Es ist ein Irrtum, zu denken, daß die begabten Brüder allein geeignet seien, ihre betende Stimme in der Ver­sammlung Gottes hören zu lassen.

5. Gaben und Ämter (Eph 4,7-11)

Eine Betrachtung über Gaben und Ämter möchte manchen Seelen, die dazu nicht in unmittelbarer Beziehung stehen, als eine fruchtlose Spekulation erscheinen, während sie für andere, die sich daran beteiligt glauben, zur Schlinge werden könnte. Dennoch sind diese göttlichen Verrichtungen innig und wesent­lich mit Christo und der Versammlung Gottes verbunden. Gleich allen geistlichen Segnungen der Versammlung entströ­men auch sie der reichhaltigen Gnadenquelle in der Höhe; sie kommen von Christo aus den himmlischen Örtern. Das sollte genügen, um jede Abneigung und jedes Bedenken gegenüber einer solchen Betrachtung zu beseitigen. Es ist in Gottes Augen wichtig, daß die verliehenen Gaben zur Verherrlichung Seines geliebten Sohnes verwertet werden. Und darum sollte es dieser Gegenstand im Lichte des Wortes zu betrachten sowohl denen willkommen sein, deren Vorrecht und Verantwortlichkeit es ist, die Gaben auszuüben, als auch denen, die über die Verwal­tung dieser Gaben mit Eifersucht zu wachen haben, damit sie nicht aus irgendeinem selbstsüchtigen und weltlichen Grunde ihren wahren Zweck verfehlen. Fern sei der Gedanke, die Gaben des Herrn zur Selbsterhebung gebrauchen zu wollen!

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Aber nicht allein im Blick auf die Quelle, aus der sie entsprin­gen, sondern auch im Blick auf ihren tätigen und eingreifenden Charakter bilden die Gaben einen wesentlichen und höchst beachtenswerten Zug des Christentums. Beide, Quelle und Charakter, sind auf die ewige, am Kreuz vollbrachte Erlösung gegründet. Je mehr dies erwogen wird, desto mehr wird so­wohl die Bedeutung der Gaben ans Licht treten, als auch das Verständnis geweckt werden, daß der Zweck der Gaben Christi weit über jenes irdische, fruchtleere Gebiet hinausreicht, das die menschliche Theologie ihnen anweisen möchte.

Ferner begehen wir ein Unrecht gegen Gott und Seine Heiligen, wenn wir das, womit Er uns nach Seiner Güte in Seinem Worte bekanntmacht, und welches, wenn es richtig angewendet wird, einen so hervorragenden Teil der Segnungen der Versamm­lung bildet, als eine untergeordnete Sache betrachten, die man nach Belieben annehmen oder beiseitelegen könnte. Wenn wir Gaben geringschätzen, verunehren wir den Herrn, was stets einen ernsten Verlust nach sich zieht. Im Brief an die Epheser, in dem mehr als in irgendeinem anderen Teil des Neuen Testaments die Höhen und Tiefen der Segnungen der Ver­sammlung und der Herrlichkeit des Herrn selbst entwickelt sind, ist dem Gegenstande der Gaben ein hervorragender Platz von dem Heiligen Geiste angewiesen.

Laßt uns nun sehen, wie der Heilige Geist uns die Lehre be­treffs der von Christo ausfließenden Gaben vor Augen stellt. „Jedem einzelnen aber von uns ist die Gnade gegeben worden nach dem Maße der Gabe des Christus" (Eph 4, 7). Es handelt sich also nicht um den Besitz bloßer Fähigkeiten, und noch weniger um eine Sache, die man sich aus eigener Kraft und nach eigenem Willen aneignen könnte, sondern um etwas ganz Neues, als eine Frucht der unumschränkten Gnade des Herrn, Welcher in diesen Dingen nach Seinem Willen und zur Ver­herrlichung Gottes handelt. „Darum sagt er: Hinaufgestiegen in die Höhe, hat er die Gefangenschaft gefangen geführt und den Menschen Gaben gegeben" (V. 8). Obwohl der Herr Jesus in Seiner Person selbstverständlich zu allen Zeiten fähig war, Gaben zu geben, so gefiel es Ihm dennoch, nach der Ordnung der Wege Gottes, mit der Austeilung der Gaben zu warten, bis

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das große Werk der Erlösung — nicht nur als ein Zeugnis der Barmherzigkeit Gottes gegen den Menschen, sondern auch als ein Triumph über die Macht des die Kinder Gottes gefangen haltenden Feindes — vollbracht war. Nachdem der Herr den geistlichen Feinden eine vollständige Niederlage vor Gott beigebracht hat, ist Er, triumphierend über die ganze einst so furchtbare Macht des Bösen, über alle Himmel hinauf­gestiegen. Der Dienst ist also auf die Tatsache gegründet, daß Jesus Selbst im Kampfe mit den Mächten der Finsternis gestan­den und sie überwunden hat, und daß Er, aufgefahren in die Höhe, „die Gefangenschaft gefangengeführt und den Men­schen Gaben gegeben hat". Dies stellt den Anmaßungen der Menschen eine unübersteigliche Schranke entgegen. Die Ver­sammlung besitzt nicht die geringste Segnung, nicht ein ein­ziges, auf unsere eigene oder auf die Seele eines anderen erfolg­reich einwirkendes Mittel, außer in Verbindung mit Christo. Und nur da, wo man diese lebendige, alles umfassende Verbin­dung mit Ihm versteht, wird man das, was vielleicht den Schein des Dienstes trägt, aber, im Licht und in der Gegenwart Gottes betrachtet, nicht von Christo allein ausfließt, als wertlos und verderbenbringend verurteilen und verwerfen.

Christus ist also hinaufgestiegen in die Höhe, um von diesen Höhen des Glanzes und der Herrlichkeit herab den Menschen Gaben zu geben. Und hier lenkt der Geist Gottes für einen Augenblick unseren Blick nach einer anderen Richtung hin, um uns jenes mächtige Werk zu vergegenwärtigen, auf Grund dessen Christus Seinen Platz dort oben eingenommen hat. „Das aber: er ist hinaufgestiegen, was ist es anders, als daß er hinabgestiegen ist in die unteren Teile der Erde" (V. 9) ? Welch eine unergründliche Gnade erblicken wir hier in Christo! Welch eine unermeßliche Liebe gegen uns, die in den Staub des Todes hinabstieg, um uns segnen, ewiglich segnen zu können! Er hatte mit dem Vater und dem Geiste ein gleichmäßiges Recht auf jenen erhabenen Platz der Majestät, welchen kein anderer ausfüllen konnte. Aber Er stieg hinab in die unteren Teile der Erde. Der höchste Platz in der Höhe gebührte dem Sohne Gottes; aber Er achtete es nicht für einen Raub, Gott gleich zu sein, sondern kam herab auf diese arme Erde, um Leiden, Schmach und Sünde auf Sich zu nehmen. Welche Feder wäre

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fähig, zu beschreiben, was es für Ihn sein mußte herniederzu­steigen, um Mensch zu werden und als ein Verachteter und Ver­worfener auf der Erde zu leben? Und dennoch, was war es im Vergleich mit dem Kreuze? Ja, Er stieg hinab bis zu der nie­drigsten Stufe. Anbetungswürdige Liebe! „Deswegen hat Gott ihn auch hoch erhoben und ihm einen Namen gegeben, der über jeden Namen ist". Ihn, Der Sich bis zur tiefsten Tiefe erniedrigte, hat Gott als den Menschen Christus Jesus bis zur höchsten Höhe erhoben. Christus hat in Seinem Tode wieder­gutgemacht, was der Mensch verdorben hatte; ja, weit mehr als das! Gott ist durch diesen Tod in einer Weise verherrlicht worden, wie es keine Kreatur hätte ahnen und voraussagen können. Alle Vorbilder und Schatten waren nur schwache An­kündigungen dieser Herrlichkeit. Kein Prophet des Alten Bundes wäre fähig gewesen, sich bis zu den Höhen der Seg­nungen, die in Christo gefunden werden, emporzuschwingen, oder die Tiefen Seiner moralischen Herrlichkeit in den Augen Gottes zu ergründen. Es war nötig, daß Er Selbst erschien, damit der volle Wert Seiner Leiden und Seines Kreuzes offen­bar werde, und Seine Herrlichkeit ihren geeigneten Ausdruck finde.

Welch eine Veränderung hat stattgefunden! Die Menschheit ist jetzt in der Person des Herrn Jesu zu einer Natur geworden, an der Gott Seine Wonne findet. Jesus ist nicht nur als Sohn Gottes hinaufgestiegen, sondern wir erblicken Ihn in beson­derer Weise in Seinem Charakter als Sohn des Menschen in dem Himmel. „Er ist über alle Himmel hinaufgestiegen, auf daß er alles erfüllte!" Die Höhe Seiner Herrlichkeit nun, als Folge Seiner alle menschlichen Begriffe übersteigenden Ernie­drigung, bildet die Grundlage des Dienstes, auf der die Aus­übung der Gaben Christi, Gott gemäß, stattfindet. Für die Welt ist natürlich auch dies, wie alles Göttliche, nur ein Gegenstand des Spottes und der Verachtung, weil sie nichts davon kennt. Sie kann zwar das Christentum aus irgendeinem Beweggrunde annehmen, wie es einst ein gewisser römischer Kaiser getan hat, indem er Christo einen Platz als Gott unter seinen übrigen Göttern in seinem Ehrentempel einräumte. Sie gebraucht das Christentum zur Ausschmückung eines Schauplatzes, auf wel­chen der Mensch wegen seiner Sünde von Gott verbannt und

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hinausgetrieben ist. Allein sie versteht nichts von dem wahren Wesen des Christentums.

Der Glaube allein hat das Vorrecht, seinen Blick weit über diese Welt hinaus zu erheben, um in jenen erhabenen Höhen des Himmels seinen Herrn und Meister zu erblicken, der, auf diese arme Welt herniederschauend, in Seiner Gnade den Men­schen zu einem Kanal Seiner kostbaren Gaben macht, durch die Er uns nicht nur von Seiner Person und Seinem Werk, sondern auch von der Herrlichkeit, aus der Er sie uns zu­strömen läßt, einen Vorgeschmack gibt. Es sind himmlische Gaben, bestimmt zu unserem Nutzen und zu Seiner Verherr­lichung. Oh, möchten wir doch Seinem Worte glauben! Es ist das lebendige Wort des Gottes, Der lebt in die Zeitalter der Zeit­alter. Wie dürfen wir es wagen, zu denken und zu handeln, als wenn das Haupt der Kirche tot wäre? Nie und nimmer! Mag der Unglaube es tun; aber wir, die Gläubigen, sollten stets festhalten, daß Er immerdar lebt, und zwar nicht nur als Hoherpriester, um — wie es der Hebräerbrief uns zeigt — Sein Volk durch die Wüste zu führen, sondern auch als das Haupt Seines Leibes. Unleugbar gibt es in den Christen eine Neigung, das Priestertum Christi außerachtzulassen; aber noch größer ist die Gefahr, Ihn als das lebendige Haupt der Vergessenheit anheimzugeben, als jenen Segenspender, Der in Seiner unver­änderlich treuen Liebe stets bereit ist, der Versammlung Seine Gaben darzureichen.

„Und er hat die einen gegeben als Apostel, und andere als Propheten, und andere als Evangelisten, und andere als Hirten und Lehrer" (V. 11). Wir finden zwischen dieser Stelle und den in 1. Kor 12 erwähnten Gaben eine auffällige Verschie­denheit, und zwar aus dem Grunde, weil es sich hier um die Vollendung der Heiligen und um die damit verbundene Auf­erbauung des Leibes handelt, während die Gaben, in „Sprachen zu reden und Wunder zu tun", diesen Zweck nicht hatten. Hier im Epheserbrief handelt es sich um die Ratschlüsse Gottes in Christo, und um die Entfaltung der Liebe Gottes zu Seiner Ver­sammlung. Im 2. Kapitel begegnen wir den beiden ersten Gaben, als der Grundlage dieses neuen Gebäudes der Ver­sammlung Gottes: „Aufgebaut auf die Grundlage der Apostel und Propheten, indem Jesus Christus selbst Eckstein ist"

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(V. 20). Als Gott dieses neue Werk auf der Erde einführte, wurde es augenscheinlich von einer neuen Offenbarung beglei­tet. Christus wird hier nicht als das alleinige Fundament be­trachtet, obwohl Er dies selbstverständlich im hervorragendsten und erhabensten Sinn ist: „Auf diesen Felsen will ich meine Versammlung bauen". Es werden hier vielmehr die Apostel und Propheten mit eingeführt, indem diese berufen waren, das Geheimnis Gottes bezüglich der Versammlung zu offenbaren und auch die Grenzen der Haushaltung Gottes in der Versamm­lung hienieden mit göttlicher Vollmacht zu bezeichnen. Die Apostel unterschieden sich mehr durch Autorität in ihren Handlungen, während die Propheten die Gedanken und den Willen Gottes hinsichtlich jenes großen Geheimnisses kund­taten. Man darf hier jedoch nicht an die Propheten des Alten Testaments denken, denn sonst würden sie jedenfalls vor den Aposteln angeführt sein; aber nach der Weisheit des Geistes Gottes heißt es: „die Apostel und Propheten", zum Beweis, daß hier von den Propheten des Neuen Testaments die Rede ist. Aber noch einleuchtender erscheint dies durch die Worte in Kap. 5, 5: „Welches (Geheimnis) in anderen Geschlechtern den Söhnen der Menschen nicht kundgetan worden, wie es jetzt geoffenbart worden ist seinen heiligen Aposteln und Pro­pheten im Geiste: „Die Propheten des Alten Testaments ver­standen nichts von diesem Geheimnis; mithin konnte von ihnen nicht die Rede 'sein. Alles, auch der Dienst, war gänzlich neu. Selbst die Aussendung der zwölf Apostel, sowie der siebenzig Jünger zur Zeit der Anwesenheit des Herrn auf der Erde war ebenso verschieden von den vorherigen Wegen Got­tes, wie sie es war von dem Dienste der Apostel in Eph 4. Ohne Zweifel waren die Apostel hier dieselben Personen, mit Ausnahme des Judas Iskariot, der durch Matthias ersetzt wor­den war; ihr Dienst trug jedoch einen ganz anderen Charakter. Während die Apostel zur Zeit des Herrn auf der Erde aus­gesandt waren, die Botschaft des Reiches Gottes in Beziehung zu Israel zu verkündigen, hatte jetzt seit der Himmelfahrt des Herrn ihre Botschaft einen ganz und gar himmlischen Charak­ter angenommen. Ihre irdische Berufung und Sendung war beiseitegesetzt; sie bildeten von jetzt an die Gefäße der himm­lischen Gaben und ihre Botschaft richtete sich nicht nur an die Juden, sondern auch an die Heiden.

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Von ganz auffallendem Charakter und über die Mission der „Zwölfe" hervorragend war das Apostelamt des Paulus. Er war in jeder Beziehung außergewöhnlich; es war himmlisch seiner Quelle wie seinem Charakter nach, und riß die jüdischen Formen und Ordnungen vollständig nieder. Seine fern von Jerusalem stattfindende Berufung, seine Absonderung von den anderen Aposteln, die ihm geoffenbarte, überströmende Gna­de, der seiner Bekehrung und seinem Zeugnis unverkennbar aufgeprägte himmlische Stempel — alles das verlieh seinem Apostelamt einen höheren und himmlischeren Glanz, als demjenigen der übrigen Apostel, obwohl ihr Amt unzweifel­haft auf denselben Grundsätzen ruhte.

Aber, möchte ich fragen, wo finden wir hier auch nur eine ge­ringe Andeutung von einer feierlichen Einsetzung oder Ordination, auf welche die Menschen so viel Gewicht legen? Wer ordi­nierte von seiten der Menschen die Apostel für ihre himmlische Mission? Wenn sich nun hier keine Spur von irgendeiner feier­lichen Handlung, von Händeauflegen, oder von irgend etwas dergleichen findet, von Dingen, die man heutzutage nicht bloß als wünschenswert, sondern auch als wesentlich notwendig für den höchsten wie für den niedrigsten Diener der Kirche be­trachtet, so muß man doch fragen: Warum mag denn der­gleichen damals ganz unterblieben sein? Auch der größte Eiferer für die in seinen Augen so „heiligen Anordnungen" wird sich nicht anmaßen zu sagen, daß der Herr nicht so gut wie er gewußt habe, was sich für Seine eigene Herrlichkeit und für Seine erhabensten Diener gezieme. Offenbar ging die Be­rufung des großen Apostels unmittelbar von dem Herrn aus und war ganz unabhängig von Menschen.

Ebensowenig finden wir im Neuen Testament auch nur eine Spur von einer menschlichen Einsetzung der Propheten, Evan­gelisten, Hirten und Lehrer; nicht eine von diesen verschiede­nen Klassen wurde durch menschliche Machtvollkommenheit berufen. Allerdings fand Auflegung der Hände statt, und zwar nicht nur bei Kranken und bei solchen, die den Heiligen Geist noch nicht empfangen hatten, sondern auch in Verbindung mit dem Gegenstand unserer Betrachtung. Aber auch in diesem Fall lesen wir nicht, daß jemandem die Hände aufgelegt worden

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wären, um ihm dadurch irgendeine Gabe mitzuteilen; sondern es geschah, um begabte Männer bei der Ausführung eines besonderen Werkes der Gnade Gottes zu befehlen, oder um jemanden — wie z. B. den Philippus und seine sechs Genossen — in eine äußerliche Bedienung der irdischen Bedürfnisse der Heiligen einzuführen. (Auf die Verleihung einer Gabe an Timotheus durch das Auflegen der Hände des Apostels, 2. Tim 1. 6, werde ich später zurückkommen). So finden wir z. B. in Apg 15, 5, daß dem Barnabas und dem Paulus die Hände auf­gelegt wurden, aber nicht um sie als Diener einzuweihen, (denn beide waren schon lange mit Segen in dem Werke des Herrn tätig gewesen), sondern um sie für das besondere Werk, zu dem der Heilige Geist sie berufen hatte, der Gnade Gottes zu befehlen. Dies geht klar aus Apg 14, 2.6 hervor, wo wir lesen: „Und von dannen segelten sie ab nach Antiochien, von wo sie der Gnade Gottes befohlen worden waren zu dem Werke, das sie erfüllt hatten". Das war der einzige Zweck, weshalb ihre Mitarbeiter zu Antiochien ihnen die Hände auf­gelegt hatten. Diese Handlung war ein Zeichen ihrer Gemein­schaft im Blick auf das von dem Geiste Gottes aufgetragene Werk und scheint nach Kap. 15, 40 wiederholt worden zu sein.

Die Ermahnung des Apostels in 1. Tim 5, 22: „Die Hände lege niemandem schnell auf", hat bei etlichen die Meinung wach­gerufen, als ob jene Zeremonie auch bei der Einsetzung der Ältesten gebräuchlich gewesen wäre. Das ist jedoch ein sehr unsicherer Schluß, weil nach dem 19. Verse augenscheinlich nicht mehr von den Ältesten die Rede ist. Doch vorausgesetzt, daß auch den Ältesten, wie den Diakonen, bei ihrer Einsetzung die Hände aufgelegt worden wären, so bleibt es doch eine wich­tige und unleugbare Tatsache, daß keine Ältesten eingesetzt wurden, es sei denn durch göttlich bevollmächtigte Personen, die einen bestimmten Auftrag zu diesem Zweck empfangen hatten. Die Schrift räumt niemanden eine solche Autorität ein, außer einem Apostel oder jemandem, der durch einen Apostel mit dem bestimmten Auftrage, Älteste einzusetzen, betraut wurde. Wo aber ist heute jemand zu finden, der mit aposto­lischer Machtvollkommenheit auftreten oder ein Zeugnis auf­weisen könnte, daß er einen Auftrag empfangen habe Älteste einzusetzen? Die Schrift gibt nirgends einen Wink über die

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Fortdauer der apostolischen Macht. Auch lesen wir an keiner Stelle, daß der Apostel irgendeine Versammlung beauftragt hätte, sich Älteste zu wählen. Paulus spricht von schweren Zeiten, die kommen würden, und von der Wichtigkeit der Schrift in sol­chen Zeiten; aber er sagt kein Wort von apostolischer Nach­folge oder von einer Übertragung seiner Macht an andere; und ebensowenig gibt er Anleitungen über die Wahl von Ältesten für solche Zeiten. Deshalb sind die Einsetzungen und Ordinationen in unseren Tagen nicht nur eine ganz und gar unberech­tigte Nachahmung dessen, was das Wort Gottes über die Wahl von Ältesten mitteilt, sondern auch eine betrübende Verunehrung des Herrn, Der allein durch den Geist zu Seinem Dienste fähig macht.

Wenn nun eine Versammlung von Kindern Gottes im Worte findet, daß neben den allgemeinen Pflichten und Vorrechten, die allen Heiligen angehörten, auch noch gewisse Gaben und Ämter vorhanden waren, die nur im Besitz der Apostel oder ihrer Stellvertreter sein konnten und folglich jetzt in der Ver­sammlung fehlen, was hat sie dann zu tun? Soll sie deshalb das, was an die Versammlung zu Korinth oder an die Heiligen zu Ephesus geschrieben ist, vernachlässigen und das nachzu­ahmen suchen, womit nicht die Versammlung, sondern einzelne Personen, wie Timotheus und Titus, beauftragt waren? Würde es nicht demütiger sein, in diesem Falle das Wort Gottes zu Rate zu ziehen und den Herrn zu fragen, um Seinen Willen in dieser Sache zu lernen? Dann würde man bald erkennen, daß zur Ausübung der Gaben, welche Christus uns darreicht, keine menschliche Bestätigung oder Vermittlung erforderlich ist. Es ist wahr, daß der Fall mit Timotheus eine Ausnahme macht. Er war im voraus durch Weissagung für das Werk, zu dem der Herr ihn berief, bezeichnet worden. Der durch diese Weissa­gung geleitete Apostel legte ihm die Hände auf und übertrug ihm durch den Heiligen Geist eine Macht, welche für den Dienst passend war, den er zu erfüllen hatte. Und ebenso legten ihm die Ältesten seines Ortes, in Gemeinschaft mit dem Apostel, die Hände auf; jedoch war die Mitteilung der Gabe nur von der Wirkungskraft des Apostels und nicht von derjenigen der Ältesten abhängig, wie dieses aus der Vergleichung der beiden Stellen 1. Tim 4, 14 und 2. Tim 1. 6 klar hervorgeht, indem in der ersten die ganze Ältestenschaft in Verbindung mit dem

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Apostel erscheint, in der zweiten hingegen der Apostel bezüg­lich des Werkzeuges der Mitteilung von sich allein redet. Es war ein apostolisches Vorrecht, jemandem eine geistliche Kraft mit­zuteilen, oder ihn mit einem Amt zu bekleiden. Aber wer möchte sich jetzt ein solches Vorrecht, eine solche Autorität anmaßen? Man würde es als einen Verrat bezeichnen, wenn sich ein Untertan die Rechte des Königs anmaßen wollte; aber was soll man von jemandem denken, der sich einbildet, den Heiligen Geist oder irgendeine Kraft des Heiligen Geistes im Namen des Herrn mitteilen zu können?

Geistliche Gaben zu unterscheiden ist im allgemeinen eine klare und einfache Sache. Wenn z. B. ein Bruder in der Versammlung aufstehen und reden wollte, ohne eine Gabe von Gott emp­fangen zu haben, so würde ihn bald sein eigenes Gewissen und das Urteil der Brüder das Törichte und Verkehrte seines Be­ginnens auf schmerzliche Weise erkennen lassen. Indes kann es möglich sein, daß Brüder aus Vorurteil eine wirklich vorhandene Gabe nicht anerkennen, und daß Gott dies eine Zeitlang zu­läßt, weil vielleicht der betreffende Bruder von seiner Gabe zu hoch denkt, oder weil er sich selbst über den Charakter seiner Gabe oder über den Ort und die Zeit ihrer Ausübung nicht klar ist. Doch bleibt es eine unumstößliche Wahrheit, daß alles, was von Gott ist, sich selbst im Laufe der Zeit bewähren wird. Nach meinen eigenen Erfahrungen in dem beschränkten Kreis meiner Beobachtungen glaube ich, daß die Kinder Gottes im allgemeinen eher zu viel als zu wenig Gewicht auf die Gaben legen. Es gibt in dem gegenwärtigen Zustand der Kirche nur eine schwache Entfaltung der Gaben, und dies wird nach dem Verhältnis der geistlichen Einsicht, die man besitzt, mehr oder weniger gefühlt werden. Wenn indes jemand seinen wahren Platz zu erkennen wünscht, so möge er in einfältigem Vertrauen zu dem Herrn aufschauen und in dem Wort Seiner Gnade forschen. Es gibt viele Dinge, die geeignet sind, uns aufzu­halten oder uns von dem rechten Wege abzuleiten. Für solche, die eine dem Worte Gottes widerstreitende Stellung aufzu­geben haben und dadurch alles einbüßen, was sie zu ihren äußeren Durchkommen bedürfen, entsteht nicht selten die Frage: „Woher sollen wir Brot nehmen?" — und wenn dann nicht Mittel zur Verfügung stehen oder gestellt werden, so ist

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die Versuchung für sie groß, da zu bleiben, wo sie sind. Sie sehen sich einer Schwierigkeit gegenüber die unberechenbar ist, und die nur überwunden werden kann durch die Kraft Gottes, die allein die Seele zu befähigen vermag, „fest, unbeweglich, allezeit überströmend zu sein in dem Werke des Herrn".

Während wir indes versichert sein dürfen, daß das Wort und der Geist Gottes jedem einzelnen Christen seinen wahren Platz zu bezeichnen vermögen, so haben wir doch andererseits zu fragen, ob wir auch diesen Platz einnehmen. Der Herr kann allerdings unumschränkt wirken; und wir sollen für alles, was Er gibt, dankbar sein. Er kann Seine Gaben austeilen, wie und wo es Ihm beliebt. Man findet Seine Gaben sowohl unter den Predigern und Gliedern der Landeskirche, als auch in den Frei­kirchen, und in den außerkirchlichen Gemeinschaften. Wer wollte es leugnen, daß der Herr gewisse Personen selbst in der römischen Kirche, z. B. einen Martin Boos, zur Bekehrung von Sündern und zum Dienste der Heiligen gebraucht habe? Ob­wohl sich solche Männer in einer falschen Stellung befanden, konnte diese doch die Gnade Gottes in ihrem Lauf nicht auf­halten. Der Herr gibt durch den Heiligen Geist nach Seinem Willen; und wir sollten Seine Gaben, wo sie sich auch finden mögen, stets anerkennen. Dennoch aber bleibt es wahr, daß zwischen diesen unter dem Schütze des Staates oder der soge­nannten Geistlichkeit stehenden Systemen, und der göttlichen Anordnung der geistlichen Gaben nach Eph 4 nicht die ent­fernteste Ähnlichkeit besteht. Es existiert nur Einer, Der hin­aufgestiegen ist in die Höhe. Sollen wir auf einen anderen warten, oder nach einem anderen Himmel emporblicken, um dessen Gunst zu erflehen? In der Voraussetzung, daß mein Leser ein Christ ist, möchte ich die Frage an ihn richten: „Ach­test du das Wort Gottes? oder hat es nur insofern einen Wert für dich, als es sich um das Heil deiner Seele handelt? Solltest du dich nicht von demselben Worte und von demselben Geiste auch bezüglich des Dienstes und der kirchlichen Ämter leiten lassen? Behandelt das lebendige und bleibende Wort Gottes diese Dinge nicht mit der ernstesten Sorgfalt und peinlichsten Genauigkeit? Und sind wir nicht verantwortlich, auf das Wort zu lauschen und uns unter seine Belehrungen und Anweisun­gen zu beugen?"

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Jedem denkenden Gläubigen muß es klar sein, daß wir, da weder Apostel, noch Stellvertreter, wie Timotheus und Titus, vorhanden sind, nach dem Worte Gottes keine Ältesten in ihrer genauen amtlichen Form mehr erwarten können. Eine entgegengesetzte Behauptung entbehrt jeglichen Grundes in der Heiligen Schrift. Niemand besitzt jetzt die zur Einsetzung eines Ältesten unumgänglich nötige Autorität und Macht; und hierin zeigt sich gerade die verhängnisvolle Schwäche der gegenwärtigen Zeit, weshalb das ganze jetzt bestehende System aus dem vollständigen Mangel an Autorität zusammenbrechen wird. Niemand kann von den jetzigen Ältesten behaupten, daß sie der Heilige Geist zu Aufsehern gesetzt habe.

Aber sollte sich denn jetzt niemand finden, der zu einem Ältesten oder Aufseher geeignet wäre, und den die Apostel, falls sie sich unter uns befänden, einsetzen würden? Gott sei Dank, daß es deren noch viele gibt! Es gibt nur wenige Ver­sammlungen von Kindern Gottes, in welchen sich nicht ein oder mehrere erfahrene Männer befinden, die den Irrenden nach­gehen, die Unordentlichen warnen, die Kleinmütigen trösten und den Seelen mit Rat und Tat zur Seite stehen. Und die Pflicht eines jeden Christen besteht unter den jetzigen Verhält­nissen darin, daß er das benutzt, was uns geblieben ist. Ich sage nicht, daß man solche Männer Älteste nennen solle; aber man soll sie um ihres Werkes willen hoch schätzen, sie lieben und anerkennen, denn sie wachen über ihre Brüder Am Herrn. Ge­liebte! fragen wir uns ernstlich vor Gott: Erkennen wir solche an, welche uns vorstehen im Herrn? Sind wir diesen tätigen Dienern des Herrn unterwürfig? Das Wort Gottes fordert uns auch in dieser Beziehung zum Gehorsam auf. Aber jede mensch­liche Erfindung ist verwerflich. Wo der Herr Gaben verleiht, da haben wir sie dankbar anzuerkennen und die begabten Die­ner zu achten und zu lieben; aber wenn wir jetzt Menschen, unter dem Schein der Nachfolge, als Apostel bezeichnen, so wird der Herr, Der einst von unseren Worten und Handlungen Rechenschaft fordern wird, uns fragen, wer uns das Recht gegeben habe, solche willkürlichen Handlungen zu vollziehen oder doch gutzuheißen. Wer gibt einem Menschen die Erlaubnis, jemanden zu ordinieren? In der Tat, die Ein­setzung von Ältesten ist, so wohlgemeint sie sein mag, nicht

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nur ohne allen Wert, sondern auch eine schriftwidrige An­maßung einer Autorität, die dem Herrn allein gehört. Es ist daher geziemend für uns, einerseits den gänzlichen Mangel der apostolischen Macht in unseren Tagen, und andererseits das anzuerkennen, was uns Gott gegeben hat; denn ich wiederhole es, daß in unseren Tagen Männer mit den Eigenschaften von Ältesten vorhanden sind. Wiewohl wir nicht im Besitz der Macht sind, sie als solche einzusetzen. Und es ist nach Röm 12 ein allgemeiner Grundsatz der Heiligen Schrift, daß jeder, der irgendeine Gabe — sei es als Lehrer, Ermahner oder Vorsteher — besitzt, sie mit allem Fleiß, selbst inmitten des gegenwärtigen Verfalls, auszuüben hat.

Wir werden auch bald, wenn wir sonst dem Worte Gottes unterworfen sind, die Entdeckung machen, daß der Herr, im Blick auf den gegenwärtigen mangelhaften Zustand der Dinge, in Seiner Weisheit und Vorsorge gestattet hat, daß solche Zu­stände schon im Anfange der Kirche vorhanden waren. Wir wissen nämlich, daß der Apostel an solche Versammlungen, in denen es höchst wahrscheinlich keine Ältesten gab, (wie z. B. diejenigen zu Thessalonich und Korinth) Briefe geschrieben hat. In der korinthischen Versammlung herrschte eine solche Unordnung, daß hier nach unseren Gedanken die Einsetzung von Ältesten sicherlich am Platze gewesen wäre. Dennoch aber finden wir in beiden Briefen keine Andeutung über diese An­gelegenheit. Wären Älteste vorhanden gewesen, würde sich der Apostel sicher an diese gewandt haben. Überhaupt aber war es nicht seine Gewohnheit, in jungen Versammlungen Älteste einzusetzen, sondern vielmehr in solchen, die schon seit längerer Zeit bestanden hatten; und dies geschah ohne Zweifel in der Absicht, vorher die für ein solches Amt nötigen Eigenschaften ans Licht treten zu lassen. Andererseits finden wir in dem letzten Kapitel des ersten Thessalonicherbriefes wichtige Belehrungen für die Heiligen. Auch diese noch junge Versammlung wurde ermahnt, solche anzuerkennen, die unter ihnen arbeiteten. Und dies gilt für jede Versammlung, in wel­cher keine Ältesten sind. So lesen wir in 1. Thess 5, 12. 15:

„Wir bitten euch aber, Brüder, daß ihr die erkennet, die unter euch arbeiten und euch vorstehen im Herrn und euch zurecht­weisen, und daß ihr sie über die Maßen in Liebe achtet, 'um

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ihres Werkes willen". Es gab also schon damals Vorsteher im Herrn, ohne daß ordinierte Älteste vorhanden waren; und dies ist zugleich ein Beweis von der gnädigen Fürsorge Gottes für solche Zeiten, in welchen, aus Mangel an Aposteln, keine Ältesten eingesetzt werden können. Ebenso sagt der Apostel von dem Hause des Stephanas zu Korinth, „daß sie sich selbst den Heiligen zum Dienst verordnet hätten"; und er ermahnt die Brüder, solchen, und jedem, der mitwirkte und arbeitete, Untertan zu sein. Diese alle waren im Werke des Herrn tätig, ohne daß ihnen das Siegel apostolischer Anerkennung auf­geprägt gewesen wäre; und wir sehen, daß der Apostel sie ermutigt und sie der Liebe und Achtung der Heiligen empfiehlt. Hier gibt es kein äußeres Amt, wohl aber eine innere geistliche Kraft.

Wir haben also gesehen, daß der Herr allein die Gaben zum Dienste verleiht; alles hängt von Seiner Liebe zu Seiner Kirche, von Seiner Treue gegenüber den Heiligen ab. Ist denn der Herr Jesus jetzt weniger treu und weniger für die Seinigen besorgt, 'als an dem ersten Pfingsttage? Wer würde wagen, das zu behaupten? Ohne Zweifel war jene Ausgießung des Heiligen Geistes von einem strahlenden Gnadenglanz umgeben und von einer Einfachheit und Kraft begleitet, die alles über­wältigte. Aber wer war die Quelle, und woher kam die Kraft, die so viele wunderbare Früchte auf dem einst so harten, kalten und steinigen Boden erzeugte? War es nicht der Herr, Der für die Ehre Seines Namens durch den Heiligen Geist wirkte, nach­dem Er, um dem Menschen Gaben zu geben. Seinen Platz in der Herrlichkeit eingenommen hatte? Und ist Seine Gnade, die Er bei der Ankündigung jenes von den Geschlechtern her ver­borgenen großen Geheimnisses offenbarte, für diese schweren Zeiten nicht dieselbe? Ja sicher, so lange es noch Heilige hie­nieden gibt, welche es nötig haben, vollendet zu werden „für das Werk des Dienstes, für die Auferbauung des Leibes des Christus", werden auch, bis das ganze Werk vollbracht ist und alle zur Einheit des Glaubens hingelangt sind, die Gaben nicht fehlen. Und je mächtiger sich der Feind offenbart, je schlauer seine Fallstricke gelegt und je größer die Gefahren sind, desto mehr wird die Liebe und Treue des Herrn mit den Seinigen sein. Es gibt sowohl jetzt wie damals für die Kirche eine Fülle

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von Segnungen in Christo. Möchten wir für jedes Bedürfnis mehr auf Ihn vertrauen und nicht durch Aufrichtung irgend­eines Werkes unserer Hände, durch Aufrichtung eines goldenen Kalbes, Seine Wahrheit verunehren und — als ob wir nicht wüßten, was aus Ihm, Der nach oben gegangen ist, geworden wäre — Seine Gnade bezweifeln! Das sei ferne! Es ist sicher in den Augen der Ungläubigen eine Torheit, wenn eine Versamm­lung Gottes irgendwo zusammenkommt, ohne vorher zu wissen, wer reden, ermahnen oder danksagen wird; aber der Glaube weiß, daß der Herr, Der alle Macht im Himmel und auf Erden in Händen hat, und Der Seine Versammlung liebt und pflegt, in der Mitte ist, und daß die Gegenwart des Heiligen Geistes nimmer fehlen wird, um zu leiten und zu wirken. Dies ist sowohl für jeden Einzelnen, wie für alle Heiligen wahr; und ich möchte meinesteils nicht einen Augenblick auf einem Boden stehen, der nicht die ganze Länge und Breite der Versammlung Gottes umfaßte, und von wo aus der Glaube und die Liebe sich nicht zu allen Heiligen ausdehnen und sie umschließen könnten. Wenn jemand berufen ist, im Wort und in der Lehre zu arbeiten, so wird ihm der Herr den Weg dazu bezeichnen. Er öffnet die Tür, die niemand zu schließen vermag; und Er schließt, und niemand öffnet. Er weiß für den schwächsten Seiner Pilger einen Pfad zu finden und ihm Mut zu geben; und Er wird ihm klarmachen, wann und wo er Ihm zu dienen hat.

Aber wie geht es, wenn mehrere begabte Brüder in einer Ver­sammlung sind? Um so besser; und wenn fünf oder zehn solcher Brüder sich in einer Versammlung befinden, so laßt uns dem Herrn dafür danken! Es ist Raum für alle. Gott wolle uns davor bewahren, auch nur im Entferntesten jener Neuerung unsere Zustimmung zu geben, die jedem Diener seine eigene kleine Herde angewiesen hat. Jemand, der nicht versteht, daß die Heiligen die „Herde Gottes" sind, ist sicherlich unfähig, in geziemender Weise zu dienen. Augenscheinlich hat man den wahren Standpunkt der Kirche aus dem Auge verloren, wenn man anstatt an die „Herde Gottes", nur an „seine Herde" oder an „unsere Herde" denkt.

Ich schließe diesen Abschnitt mit der Bemerkung, daß es mein Zweck war, den Unterschied zwischen Gaben und Ämtern

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hervorzuheben; ich habe zu zeigen versucht, daß Gaben ihre Quelle in dem verherrlichten Christus haben, während Ämter die Einsetzung von seiten solcher Personen erforderten, die von dem Herrn zu diesem Zwecke bevollmächtigt waren. Wir können hinsichtlich der Gaben sicher sein, daß sie uns bleiben, werden, so wahr und so lange Christus das Haupt bleibt und die Quelle der Gaben ist, wohingegen eine förmliche Autorisation nicht mehr möglich ist, weil die dazu erforderliche aposto­lische Macht mangelt. Alles was heute in dieser Weise ge­schieht, ist nur eine armselige und vermessene Nachahmung dessen, was die Apostel und ihre Bevollmächtigten taten. Aber wenn wir Wirklich den Herrn lieben und die göttliche Ordnung wertschätzen, so ist es unsere Pflicht im Namen des Herrn alle Seine Gaben, selbst die geringsten, in einer Weise anzuerken­nen, wie wir es vielleicht bis jetzt noch nicht getan haben.

Dienst am Wort (v. W. B.)

Fühlst du erfüllt dich von dem Geist der Wahrheit Daß du in Seinem Dienst mit vielem freuen Und Segen wirken kannst, wozu die Klarheit Von Seinem Licht dich täglich will erneuen:

Dann stell dich voll und ganz, in Sein Geleit, Und übe treuen Dienst in dieser Zeit.

Bist voll des Wissens du, kannst andre lehren, Dann prüfe, ob dich treibt der Geist der Liebe; Damit nicht endlich gar den Rücken kehren Du mußt dem Arbeitsfeld, das leer und trübe Geblieben ohne Heil'gen Geistes Wehn, Und du — beschämt — wirst leer ausgehn.

Erfüllt dich froher, freud'ger Mut zum Dienen, Und stählet Manneskraft dir dies Begehren, — Erwäg' ob fleißig du, so wie die Bienen Am Quell den Honig saugen zum Verzehren, Das Nöt'ge dir erwirbst bei Tag und Nacht. Und dann zu dienen durch des Wortes Macht.

Fühlst du dich schwach, so hol' am Thron der Gnade Dir stets aufs neue Trost und Kraft und übe Dich auf des großen Meisters Pilgerpfade,

Nach Ihm dich bildend m dem Geist der Liebe; Und Seine Gnade laß genügen dir, Zu schmücken dich mit Seiner Lehre Zier.

Doch steht dein großes Ich im Vordergründe, Sind Ehre, Ansehn deines Wirkens Triebe, Dann gibt es keinen Balsam für die Wunde Und keinen Trost kostbarer Heilandsliebe. Dann mög' in Gottes Licht dir werden kund, Daß dir geziemt, zu heil'gen deinen Mund.

6. Die Hilfsquellen des Glaubens und der Verfall der Christenheit (2. Tim 2, 11. 12)

Wie viele sehr ernste Elemente drängen sich in dem jetzt vor uns liegenden Gegenstand zusammen! Welch einen traurigen Anblick bietet die Christenheit in ihren Trümmern, die zu augenscheinlich sind, um geleugnet werden zu können! Aber andererseits ist es ebenso feierlich, an die treue Güte Gottes zu denken. Der im voraus alles kannte und es uns im Worte Seiner Gnade mitgeteilt hat, indem Er, als das Böse gleich einem verheerenden Strom den Schauplatz des Namensbekenntnisses Christi auf der Erde zu überfluten im Begriff stand, uns in Seiner Liebe und Weisheit einen sicheren Pfad beschrieb — einen Pfad, der dem Auge des Adlers zwar verborgen ist, den aber Sein Volk erkennen, und auf dem es in der glücklichen Gewißheit des Wohlgefallens Gottes wandeln kann.

Für solche, die um des Herrn und der Wahrheit willen über den gegenwärtigen Zustand der Christenheit trauern und sich weigern, Gemeinschaft mit ihm zu machen, ist es sicher ein Bedürfnis, ein kräftiges Zeugnis von dem mit Macht um sich greifenden Verderben zu geben, vor welchem das Wort Gottes bereits gewarnt hat, als es sich in seinen ersten Anfängen zu zeigen begann. Zwar mag es für manchen, der nicht geneigt ist, entschieden in den Wegen des Herrn zu wandeln, schwer sein, ein solches Zeugnis abzulegen. Aber unsere Herzen wer­den sich bald in das richtige Geleise gebracht sehen, wenn wir uns die Frage vorlegen: „Um was handelt es sich? und wessen

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Ehre suchen wir?" — Der Herr bewahre uns, daß wir nicht an uns selbst denken, nicht unsere eigene Ehre oder Bequemlich­keit suchen! denn das ist eine Unehre für alle, die Christo an­gehören. Möge es unser einziger Ruhm sein, den Herrn zu verherrlichen!

Laßt uns jetzt unter der Gnade des Herrn untersuchen, worin Sein Wille in dieser Beziehung besteht. Es wird das vor allem den Blick derer erweitern, welche noch jung und unerfahren in der Wahrheit Gottes sind, wenn sie erkennen und sehen, wie treu der Herr und wie zuversichtlich Sein Wort ist; aber möch­ten sie auch, dadurch ermutigt, ihr ganzes Vertrauen auf Ihn und Sein Wort setzen, auf Ihn, vor Dessen Auge das Ende so klar wie der Anfang ist. Er ist der Weg, und nur auf diesem einen Wege kann Sein Herz bezüglich derer, die Ihn lieben, völlige Befriedigung finden. Auch werden wir bei dieser Ge­legenheit sehen, daß, obwohl die einstige Herrlichkeit der Kirche verschwunden ist, dennoch für den Glauben das Kost­barste gesichert ist. Nicht als ob wir die Macht und Herrlichkeit des Herrn geringschätzen. 

Das Gegenteil ist der Fall; denn je höher der Platz ist, den wir den Wegen Gottes einräumen, und je mehr wir dem, was uns die Gnade gesichert hat, einen höhe­ren Wert beilegen als äußerer Machtentfaltung vor den Augen der Menschen, um so mehr werden wir fühlen, welch eines Unrechts wir uns gegen den Herrn schuldig machen, wenn wir mit kalter Gleichgültigkeit auf die Schwäche unserer Tage und auf die stets zunehmenden frevelhafte Verunehrung des Namens Jesu unter den auf diesen Namen Getauften herab­schauen. Je mehr wir auf die ersten Tage der Kirche, die sie hier pilgerte, und auf die Macht des Heiligen Geistes, die sich damals kundtat, zurückblicken, um so tiefer wird unser Gefühl werden für die Wunden, die unserem teuren Herrn in dem Hause derer geschlagen worden sind, welche Ihn lieben. Es wird uns tief betrüben, zu sehen, wie das Gebaren der Kirche den Herrn genötigt hat, anstatt sie nach außen hin zu ehren, ihre Blöße aufzudecken und sie, angesichts der Feinde Seines Namens, der Schande preiszugeben. Alles das sollte uns mit tiefer Beschämung erfüllen, um so mehr wenn wir sehen, wie die Gläubigen die Wahrheit so wenig schätzen und ein so schwaches Gefühl für die Ehre der Person des Herrn an den

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Tag legen — abgesehen von dem allgemeinen Mangel an wah­rem Verständnis darüber, was die Kirche in ihrer einfachsten Form ist, sowie von der Tatsache, daß die Wahrheit ihrer herr­lichen Einheit mit Christo und ihrer Hoffnung bezüglich der Zukunft in völlige Vergessenheit geraten ist. Wir befinden uns, wenn wir nicht in irgendeinem Maße die Gefühle des Herrn teilen, keineswegs in dem passenden Zustande, um in den gegenwärtigen Verhältnissen richtig nach Seinem Worte han­deln zu können. Es ist wichtig, zu verstehen, daß der Herr uns keine Andeutung in der Schrift gegeben hat, daß die bloße Nachahmung irgendeiner Sache Ihm genüge. Es genügt z. B. nicht, daß wir die Briefe Pauli zur Hand nehmen und uns, als ob wir vollständig befähigt wären, alles Fehlende wiederher­zustellen, daran geben. Älteste hin und wieder anzustellen. 

Das uns von Gott gegebene Wort benutzen, und das was zerstört und verdorben ist, in anmaßender Weise wiederher­stellen wollen, sind zwei verschiedene Dinge. Wer die gefallene Kirche wiederaufzubauen trachtet, befindet sich in dieser Hin­sicht nicht in Gemeinschaft mit Christo und verrät einen Mangel an geziemendem Mißtrauen gegen sich selbst sowie eine völlige Unkenntnis über den gegenwärtigen Zustand der Dinge; er entbehrt auch jener Glaubensdemut, welche ihr Ver­trauen allein auf die gegenwärtigen Hilfsquellen in Christo setzt. Gott beharrt unwandelbar auf dem Grundsatze, daß, wenn eine Abweichung von Ihm stattgefunden hat, — ob vor oder nach der Sintflut, ob in Israel oder in der Kirche, — der erste Schritt zum Guten darin besteht, das von Gott verurteilte Böse als solches anzuerkennen. Tut man das, so wird man vor der Anmaßung bewahrt bleiben, jene wunderbare Entfaltung, der göttlichen Macht, Gnade und Weisheit in der Versammlung Gottes, welche nächst dem Kreuze das größte Werk Gottes auf der Erde ist, ersetzen oder wiederherstellen zu wollen. 

Solche arme, gebrechliche Gefäße, wie wir sind, die wir nicht einmal die empfangenen Segnungen bewahren konnten, und die wir durch unsere Schwachheit und Unwachsamkeit eine Beute der List Satans geworden sind und die wir Diebe und Räuber, welche das Haus Gottes plünderten, eingelassen haben — wie vermöchten wir ein solches Werk zu tun! Sind das die Gefühle eines demütigen Glaubens? Wenn der Sündenfall Adams eine schreckliche, beklagenswerte Sache, wenn die Entehrung des

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Gesetzes Gottes seitens Israels ein Greuel war, was muß die Verachtung Gottes, des Heiligen Geistes, für die Kirche sein? Die Kirche, der Brief Christi, die Behausung Gottes im Geiste, der Gegenstand Seiner vollkommenen Liebe, begnadigt in dem Geliebten, die Gerechtigkeit Gottes in Christo, hat praktisch die Herrlichkeit Gottes hienieden aufgegeben und das Werk ihrer Hände Seinem Worte und Geiste vorgezogen, um sich zu beugen vor den Götzen der Kunst und der Erfindung des Menschen. Ach! das ist Weit häßlicher als alles, was je die Schrift oder die Geschichte von weit weniger bevorzugten Zeiten und Menschen berichtet hat.

Laßt uns nun hören, was das Wort Gottes über diesen Gegen­stand sagt; wir werden alle zugeben müssen, daß der Herr die gegenwärtige Sachlage völlig wahrheitsgetreu zum voraus angekündigt hat. Wir sehen in den Andeutungen, die der Herr Seinen Jüngern in Lk 17 gibt, daß bis zu dem Kommen des Herrn zum Gericht die Welt nicht, wie manche träumen, stufen­weise aus einer Wildnis in ein Paradies umgewandelt werden wird, noch daß die Heiden ihre falschen Götter, oder die Juden ihre Feindschaft gegen den wahren Messias aufgeben werden; sondern wir sehen im Gegenteil, daß es sein wird, wie in den Tagen der Bequemlichkeit, der Weltlichkeit und der Erhebung des Menschen gegen Gott. „Und gleichwie es in den Tagen Noahs geschah, also wird es auch sein in den Tagen des Sohnes des Menschen: sie aßen, sie tranken, sie heirateten, sie wurden verheiratet, bis zu dem Tage da Noah in die Arche ging und die Flut kam und alle umbrachte". Das sind die Vorbilder der Zustände, wie sie zur Zeit der Erscheinung des Herrn zum Gericht sein werden. Sorglosigkeit und Liebe zur Bequemlich­keit werden sich bei den Menschen gerade so finden, wie vor der Sündflut. Wie damals, so werden auch dann die Menschen in die gewöhnlichen Dinge des täglichen Lebens vertieft sein. Trotz Gesetz und Evangelium begegnet man heute schon über­all jenem Zustande des Verderbnisses und der Gewalttätigkeit, welcher über die damalige Welt die Sündflut brachte. Und um das düstere Gemälde der Tage des Sohnes des Menschen zu vervollständigen, wird uns das noch traurigere und abschrec­kendere Schauspiel der Tage Lots nach der Flut vor Augen geführt. „Gleicherweise auch wie es geschah in den Tagen Lots:

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sie aßen, sie tranken, sie kauften, sie verkauften, sie pflanzten, sie bauten; an dem Tage aber, da Lot aus Sodom herausging (bedeutungsvolles Wort!), regnete es Feuer und Schwefel vom Himmel und brachte alle um. Desgleichen wird es an dem Tage sein, da der Sohn des Menschen geoffenbart wird".

Die Briefe schwächen dieses Zeugnis des Herrn in keiner Weise, sondern bestätigen es im Gegenteil in jeder Beziehung, nur mit dem Unterschiede, daß das Zeugnis des Heiligen Geistes sich mehr auf die bekennende Christenheit bezieht, während das Zeugnis des Herrn das Judentum zum Mittel- und Ausgangs­punkt hatte. So warnt z. B. der Heilige Geist in Röm 11 die aus den Nationen gesammelten Bekenner des Christentums, indem Er an dessen Ende erinnert: „Rühme dich nicht wider die Zweige. Wenn du dich aber wider sie rühmst — du trägst nicht die Wurzel, sondern die Wurzel dich". Die Juden, als die natürlichen Zweige, waren die Verwalter und Träger der Ver­heißungen und des Zeugnisses für Gott hienieden. Aber sie übertraten das Gesetz, gingen den Götzen nach, verwarfen und töteten den Messias und wurden, nachdem sie schließlich noch die Annahme des ihnen durch das Evangelium darge­botenen letzten Rettungsmittels verweigerten, als die natür­lichen Zweige des Ölbaumes ausgebrochen, und an ihrer Statt wurden die Nationen in den alten Stamm des Bekenntnisses eingepfropft. Dann kommt die Warnung: „Du wirst nun sagen: Die Zweige sind ausgebrochen worden, auf daß ich ein­gepfropft würde. Recht; sie sind ausgebrochen worden durch den Unglauben; du aber stehst durch den Glauben. Sei nicht hochmütig, sondern fürchte dich; denn wenn Gott der natür­lichen Zweige nicht geschont hat, daß er auch deiner etwa nicht schonen werde. Siehe nun die Güte und die Strenge Gottes:

gegen die, welche gefallen sind, Strenge; gegen dich aber Güte Gottes, wenn du an der Güte bleibst".

Und hier möchte ich an jeden, der noch eine Spur von Gottes­furcht in sich trägt, oder der noch in etwa mit dem Worte Gottes bekannt ist, die Frage richten: Ist die Christenheit an der Güte Gottes geblieben? Betrachten wir die römische wie die protestantische Kirche, durchlaufen wir alle die verschiedenen Religionssysteme, alle bestehenden Sekten und Parteien — wir

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werden überall die Bestätigung finden, daß die Christenheit nicht an der Güte Gottes geblieben ist. Und nach dem Worte des Herrn: „Sonst wirst auch du ausgeschnitten werden", wird die Christenheit wegen ihrer Untreue ebenso gewiß von dem Gericht getroffen werden, wie die Juden davon getroffen wor­den sind, welche, aus ihrem Erbteil verstoßen und als eine Schmach auf der ganzen Erde zerstreut, den Stempel der Ver­urteilung an ihrer Stirn tragen.

Alle Briefe in den hierauf bezüglichen Einzelheiten zu unter­suchen, würde den Raum dieser Blätter weit überschreiten. Es genüge daher die Bemerkung, daß wir in den apostolischen Briefen ein stets zunehmendes, immer höher anschwellendes, ehrfurchtgebietendes Zeugnis besitzen. Je nachdem das Ver­derben zunimmt, sehen wir auch die Merkmale des Gerichts immer augenscheinlicher hervortreten. In immer deutlicheren und stärkeren Tönen läßt der Geist Gottes die Posaune er­schallen, um da, wo noch irgend ein Ohr ist, zu hören, die Treuen aus dem Schlummer aufzuwecken. Es ist dem Feinde gelungen, die Grundlage des Christentums Schritt für Schritt zu untergraben; und mit Riesenschritten naht die Zeit heran, wo die Christenheit der Schauplatz des Verderbens in seiner gröb­sten Form sein wird. Zu einem System des Unglaubens und Aberglaubens geworden, wird sie, als der Sitz aller Greuel, bald einen Zustand zur Schau tragen, abschreckender und schuldiger als alles bisher Dagewesene; ja, sie wird schließlich das Werkzeug einer offenbaren Empörung gegen Gott bilden.

Im zweiten Thessalonicherbriefe erklärt der Apostel, daß der Abfall kommen und der Mensch der Sünde geoffenbart würde. Schon in seinen Tagen war das „Geheimnis der Gesetzlosigkeit wirksam"; jedoch wird der völlige Ausbruch der Gesetzlosig­keit durch die Hand des Herrn bis zu einer bestimmten Zeit zurückgehalten werden. Aber in dem Augenblick, wo die Hand den Zügel schießen läßt, wird die Gesetzlosigkeit nicht länger ein Geheimnis bleiben, sondern vor aller Augen ans Licht treten. Sie wird dann zum „Abfall" herangereift sein, und der Weg zur Offenbarung des „Menschen der Sünde" wird ge­bahnt sein. Die Aussicht, welche uns die Heilige Schrift in dieser Beziehung gewährt, ist also nichts anderes, als die un-

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ausbleibliche Zunahme des Bösen — ein stets an Heftigkeit und Ausdehnung zunehmendes Verderben, dessen furchtbarstes Ergebnis, hervorgerufen durch die Beseitigung des einzigen, sich ihm entgegenstemmenden Dammes, einerseits der „Ab­fall" und andererseits der „Mensch der Sünde" ist. Welch ein Gegensatz zu dem Menschen der Gerechtigkeit ist dieser Mensch der Sünde, der sich erfrecht, den Platz Gottes im Tempel einzunehmen!

Das Böse zeigte sich nicht gleich im Anfang in seiner ganzen Kraft; aber man gewahrte verschiedene und zunehmende Of­fenbarungen von ihm. Der Apostel Johannes sagt: „So sind auch jetzt viele Antichristen geworden; daher wissen wir, daß es die letzte Stunde ist." Dies ist um so beachtenswerter, weil Johannes das Kommen des Antichristen, dessen Vorläufer schon vorhanden waren, ankündigt; und dieses Vorhandensein des antichristlichen Geistes war der Beweis, daß die letzte Stunde schon da war. Der Geist Gottes wollte das Neue Testament nicht eher schließen, bis das Böse in seiner schlimmsten Form, wenigstens in seinen Keimen, sich so weit geoffenbart hatte, daß es beschrieben werden konnte; und so ist uns die Ent­stehung, der Fortschritt und der endliche Ausbruch der Gesetz­losigkeit, ja, was noch mehr ist, sogar die Offenbarung des Gesetzlosen, der sich wider den Herrn der Herrlichkeit erhebt, mitgeteilt worden. Die letzten Kapitel des Neuen Testaments zeigen uns das tausendjährige Reich, und zwar eingeleitet durch die Zerstörung des Tieres und des falschen Propheten samt ihrem ganzen Anhang, nachdem die Zerstörung Babylons schon vorher stattgefunden hat.

Wir sind schnell vorangeeilt, ohne auf die Beweise von dem Verfall des Christentums näher einzugehen — auf Beweise, die wir im allgemeinen in den Briefen, ganz besonders aber im 11. Vers des Briefes des Judas in scharfen Zügen aufgezeichnet finden. Wer vernimmt hier nicht die ernsten Töne des gewis­sen, wenn auch noch in dem Schöße der Zukunft schlummern­den Gerichts? „Wehe ihnen! denn sie sind den Weg Kains gegangen", den Weg jenes unnatürlichen Bruders, der als ein religiöser Mann sein Opfer darbrachte, aber den Schuldlosen erschlug. Und wer würde nicht die vorbildliche Bedeutung jenes

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Mannes verstehen, der den Lohn der Ungerechtigkeit liebte und gegen seinen Willen die herrlichsten Dinge über ein Volk weissagen mußte, das er nicht liebte, sondern das er gern an den Verderber verkauft hätte? Welch eine feierliche Sprache redet dieser Lohn der Ungerechtigkeit, den er für die Ver­kündigung der herrlichen Dinge Gottes empfing, ohne ein Herz für das Volk, geschweige denn irgendwelchen Eifer für das Volk, den Willen oder die Verherrlichung Gottes zu haben! Und endlich, welch eine ernste Warnung liefert uns jene ent­setzliche Empörung Korahs, der „Widerspruch" derer, welche den Dienst des Heiligtums hatten und sich in ihrem levitischen Stolz den Platz Moses und Aarons (des Apostels und des Hohenpriesters des jüdischen Bekenntnisses) anmaßen wollten! Gibt es nicht heutzutage noch solche, die sich Diener Christi nennen und dazu noch behaupten, die ausschließlich von Gott eingesetzten Priester zu sein und als solche die Vollmacht zu haben, Sünden vergeben und auf der Erde von jeder Schuld vor Gott freisprechen zu können? Und nicht nur das; die Finsternis, in die ein großer Teil der Christenheit versunken ist, reicht so weit, daß man meint, Opfer für Lebende und Tote bringen zu können. — Nicht mit Bitterkeit reden wir von diesen Dingen; aber sollte uns der Anblick solcher Torheiten nicht mit Bestürzung und Entsetzen erfüllen?

Aus allen diesen Dingen sehen wir zur Genüge, wie wenig die Christenheit an der Güte Gottes geblieben ist. Wollte es dennoch jemand wagen, diese traurige Erscheinung zu vertei­digen oder zu rechtfertigen, so verrät er dadurch nur, wie wenig er sich fürchtet, Gott zum Lügner zu machen; und er offenbart sich sogar, sei es aus Unwissenheit oder mit Absicht, allen diesen unzweideutigen Aussprüchen der Schrift gegen­über als ein Verächter der Belehrungen des Heiligen Geistes. Das Wort Gottes ist für alle geöffnet; und darum sind wir verantwortlich, die Dinge so zu betrachten, wie Gott sie an­sieht. 

Der Einwand, daß wir kein Urteil über diesen Punkt haben, ist sicher eine eitle Entschuldigung vor dem Herrn; denn der Geist Gottes, Der alle Dinge beurteilt und unterscheidet, wohnt in jedem Gläubigen; und jeder, der sich solche Ein­wendungen erlaubt, sagt mit anderen Worten, daß er höchst ungeistlich sei. Aber wenn wir erkannt haben, daß die Chri­stenheit in den vorher angekündigten Zustand des Verderbens versunken ist, und daß das Böse, das damals keimte, jetzt die bittersten und verderblichsten Früchte trägt, können wir dann länger an diesen Dingen teilnehmen und im Blick auf unsere Beteiligung an der gemeinsamen Sünde gleichgültig bleiben? Wenn der Herr uns in Seiner Gnade die nachdrücklichsten Warnungen erteilt hat, so können wir uns wahrlich nicht mit der Entschuldigung zufriedenstellen, daß der Herr bei Seiner Ankunft alles in Ordnung bringen werde. Sicher wird Er alles in Ordnung bringen; aber es wird dann zu spät sein, meine bewußte, den Herrn verunehrende Untreue wieder gutzu­machen.

Meine Gleichgültigkeit gegen Sein Wort und Seine Verherrlichung, meine Rücksichtslosigkeit gegen den Heiligen Geist, den ich durch mein Verhalten betrübt habe, alles wird zu meiner tiefen Beschämung dienen. Ja, der Herr wird kom­men und alles in Ordnung bringen, aber unstreitig durch ein schonungsloses, göttliches Gericht. Denn was wird Er hienieden finden? Einige arme, zerknirschte Herzen, einen gottesfürch­tigen Überrest, der unaufhörlich zu Gott schreit, gleich jener bedrängten Witwe in dem Gleichnis von dem ungerechten Richter, der weder Gott noch Menschen fürchtete. Das wird die Sachlage hienieden sein. Wie betrübend daher, mit einem Zu­stande, der solche Resultate erzeugt, gemeinschaftlich voran­zugehen, und
zwar unter dem törichten und sündhaften Vor­wand, daß der Herr bei Seiner Ankunft alles in Ordnung bringen werde!

Laßt uns jetzt sehen, welche Vorsorge der Herr für die Seinigen während dieser finsteren Tage getroffen hat. Zunächst wenden wir uns zu der schon oft angeführten Stelle in Mt 18, 20: „Wo zwei oder drei versammelt sind in meinem Namen, da bin ich in ihrer Mitte". Welch eine zärtliche Sorgfalt und erhabene Weisheit offenbart der Herr in diesen Worten im Blick auf die bösen Zeiten! Selbst wenn die einst so stattliche Herde, jene Versammlung von Tausenden in der sichtbaren Fülle Seiner Gnade, sich bis zu der Zahl von zweien oder dreien vermindern sollte, wird dennoch die Verheißung nicht fehlen. Wir sind leider nur zu geneigt, das Geringe zu verachten und nach dem, was in den Augen der Welt groß ist, zu trachten. Allein wer kein Herz für zwei oder drei hat, wird es auch nicht in der

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rechten Weise für zehntausend haben, und kann höchstens durch den alles überwältigenden Strom der Freude einer glück­lichen Menge mit fortgerissen werden, wie es ohne Zweifel in jenen glänzenden Tagen der Fall gewesen sein mag, wo der Heilige Geist herniederkam, und die Wogen des geistlichen Lebens so hoch gingen, daß alle jene später ans Licht tretenden bösen Elemente überflutet wurden.

Welch eine Gnade, daß, gemäß dieser herrlichen Verheißung, die Gedanken des Herrn, in der Voraussicht des kommenden Verderbens, schon auf etliche wenige gerichtet waren, die sich vielleicht in irgendeinem abgelegenen Dorf oder in einer öden Gegend, oder auch in einer großen volkreichen Stadt, wo die Jünger des Herrn oft vereinzelter als sonstwo stehen, in Sei­nem Namen versammeln würden. Nie und nimmer werden Seine Segnungen fehlen. Denn seitdem Er segnend von den Seinigen geschieden ist, ist Er für sie stets derselbe geblieben; und keine Gefahr, kein Verderben in der Christenheit vermag den unendlichen Wert Seines kostbaren Blutes zu beschränken, so wie die Erlösung nimmermehr veralten und verschwinden kann. Aber wir finden hier mehr als das: es ist die Macht Seiner Autorität, welche selbst der unscheinbarsten, geringsten Vertretung Seiner Versammlung gewährt ist. Zwei oder drei haben über die Aufrechterhaltung eines mit dem Charakter Christi übereinstimmenden Wandels mit demselben Eifer zu wachen, als wenn ihrer dreitausend wären. Doch wie kann dieses geschehen? Nur durch die Ausübung der Zucht. Die Verpflichtung zu einem reinen Wandel steht mit dem Dasein der Versammlung Gottes in unmittelbarer Verbindung; denn diese hört auf, die Versammlung Gottes zu sein, sobald die heilige, ernste und feierliche Ausübung der Anordnungen Gottes nicht mehr stattfindet. „Feget den alten Sauerteig aus, auf daß ihr eine neue Masse werdet, gleichwie ihr ungesäuert seid". Diese Verantwortlichkeit kann durch den Verfall ebensowenig angestastet werden, wie die Segnungen der Gnade und Für­sorge des Herrn dadurch verhindert werden können. Welch ein sicherer und unschätzbarer Trost ist das!

Deshalb sollte jeder Gläubige bedenken, daß es nicht seine Sache ist, ein Anhänger irgendeines kirchlichen Systems oder

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einer besonderen Ansicht zu sein, sondern sich im Gegenteil nur für das Eine zu entscheiden, was er dem Herrn schuldig und was Seiner würdig ist, nämlich — und Wir können in dieser Beziehung sicher nicht zu entschieden und zu gründlich jedes Band, das ihn nicht mit Christo verbindet, zu

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verleugnen und zu zerreißen. Nur da, wo wir Christo in der Mitte der Seinigen nach jeder Richtung hin gehorchen können, und wo dem Heiligen Geist Raum gelassen wird, unumschränkt nach dem Worte Gottes zu wirken, ist die Versammlung Gottes dargestellt. Die freie Wirksamkeit des Geistes aber besteht allein und ausschließlich darin: Christum zu verherrlichen und das Ansehen Seines Namens zu wahren. Daher sollten alle, die überzeugt sind, dem Herrn anzugehören, nicht länger An­hänger von menschlichen Religionssystemen bleiben, sondern sich vielmehr um das eine vollkommene Banner scharen, das Gott sowohl hinsichtlich des Glaubens als auch der kirchlichen Gemeinschaft aufgepflanzt hat. Ein entgegengesetztes Ver­halten ist Ungehorsam gegen das Wort Gottes und Verunehrung des Heiligen Geistes. Keiner, selbst nicht der weiseste unter den Menschen, vermöchte ein Banner aufzurichten, das für alle Zeiten passend wäre, wie Gott dies getan hat, und wie es durch den Glauben anerkannt und verwirklicht wird.

Alle Kinder Gottes erkennen an, daß das Wort Gottes bezüg­lich der Seelenrettung vollkommen weise ist; und keins von ihnen wird, wenn es sich um die Ewigkeit handelt, seine Seele den Lehrern der Menschen anvertrauen. Aber ist es nicht ver­messen, das Wort beiseitezulegen, wenn es sich um die Kirche, den Gottesdienst, den Dienst am Wort, das Abendmahl und die Anbetung handelt? Wie kommt es doch, daß die Menschen so selten daran denken, sich allein durch das Wort Gottes leiten zu lassen, und daß fast jede Partei, wenn ihr z. B. ein Prediger fehlt, nichts Eiligeres zu tun weiß, als sich einen solchen zu wählen, obwohl ihr die Schrift keineswegs die Erlaubnis dazu erteilt, und auch die Versammlungen der ersten Tage dies nicht getan haben? Ach! man fragt nicht Gott in Seinem Wort um Rat. Was aber werden die im Namen Jesu Versammelten tun? Ihnen genügt, in dem Gefühl ihres Man­gels und ihrer Schwachheit, das Wort ihres Herrn: „Wo zwei oder drei versammelt sind in meinem Namen, da bin ich in

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ihrer Mitte". Nicht, als ob ich den Wert der Gaben gering­schätzte; das sei ferne! Jedoch, einfach dem Herrn unter­worfen zu sein und auf Ihn zu warten, bis Er jemanden sendet, wird vor allem das Beste sein. Und in der Tat, da wir nicht dazu beauftragt sind, so haben wir auch nicht nötig, jemanden zu wählen; denn alles ist unser, „es sei Paulus oder Apollos oder Kephas". Es ist Gottes Sache, zu wählen und zu geben. Er hat alle Seine Diener mit der Versammlung verbunden; sie sind Glieder des Leibes Christi und Seine Gaben für die Ver­sammlung. Wie sehr betrügen sich daher z. B. solche, die, indem sie sich ihren Prediger wählen, sich dadurch auf das Maß seiner persönlichen Gabe beschränken müssen, es sei denn, daß er alle Gaben in seiner Person vereinigte.

Nehmen wir einen anderen Fall. Die Gläubigen befinden sich wegen einer gewissen Sache — etwa wegen einer Irrlehre, oder wegen eines in Sünden gefallenen Bruders — in einer schwie­rigen Lage, indem sie aus Mangel an klarem Urteil nicht wis­sen, welchen Weg sie einzuschlagen haben: was werden sie tun? Sie werden auf den Herrn warten: eine für uns um so heil­samere Sache, weil man dann fühlt, daß Er allein helfen kann. Und Er, Der liebend und sorgend in der Mitte Seiner Heiligen ist, wird die Angelegenheit in irgendeiner Weise so klären, daß ihre Gewissen auf den Ruf des Herrn antworten und han­deln können. Solche Entscheidungen sind, wenn der Wille der Heiligen wirksam ist, eine Prüfung für das Herz; aber sie zeigen zugleich, daß nicht ihre Weisheit oder ihre Erfahrungen richtig zu leiten vermögen, sondern daß allein der in ihrer Mitte weilende Herr dazu imstande ist.

Wir müssen uns jedoch stets daran erinnern, daß unser Zu­sammenkommen in dem „Namen Jesu" ebensowenig für unsere Engherzigkeit und Parteilichkeit, wie für die gröbere Form der Gemeinschaft mit der Welt oder dem offenbaren Bösen Raum läßt. Wie könnten zwei oder drei im Namen Jesu Versammelte zusammen glücklich sein und zu gleicher Zeit einen außerhalb ihrer Gemeinschaft stehenden Bruder mit arg­wöhnischen Blicken betrachten? Ein solches Verhalten würde nur zu augenscheinlich den Beweis liefern, daß sie ihr Vorrecht nicht verständen und sich in einer falschen Stellung befänden.

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Der Herr sieht die Seinigen nie mit argwöhnischen Blicken an, noch prüft Er sie, als mißtraue Er ihrem Charakter, sondern Er heißt sie alle (ich rede hier natürlich nicht von solchen, die wegen einer Irrlehre oder wegen eines unlauteren Wandels verdächtig sind) von Herzen willkommen; und darum wird man auch da, wo man den Wert Seines Namens kennt, ein Herz für alle Gläubigen haben. Dagegen wird man sich ent­schieden fernhalten von einem jeden, der vielleicht in einem guten Ruf steht, in der Welt geachtet und auch in irgendeiner Weise in dem Werke des Herrn tätig gewesen ist, der aber einen Mangel an Herz und Gewissen für Christum verrät. So ist der Name Jesu der Prüfstein, um einerseits selbst den Schwächsten, der Ihn liebt, aufzunehmen, und andererseits uns von jedem, der den Herrn Jesum Christum nicht in Reinheit und Wahrheit lieb hat, fernzuhalten. Welche Macht ist in diesem Namen! Er verbindet Herzen, die 'sich völlig fremd waren, und offenbart und schließt alles aus, was nicht .aus Gott ist. Mag es sich um eine Wahrheit, mag es sich um die Zucht, mag es sich um Personen oder Grundsätze handeln — alle nötige Weisheit und Kraft wird in diesem kostbaren Namen gefunden.

Wenn wir uns jetzt zu 2. Tim 2 wenden, so sehen wir ein Bild der bekennenden Kirche, des Hauses Gottes, wie es der Heilige Geist Selbst entworfen hat. Im ersten Brief trägt der Apostel Sorge für die Aufrechterhaltung der Ordnung und einer guten Regierung im Hause Gottes; im zweiten dagegen setzt er die Zunahme des Bösen in einer Ausdehnung voraus, daß er nur noch in einem Gleichnis auf das Haus anspielt. „Doch der feste Grund Gottes steht und hat dieses Siegel: Der Herr kennt, die Sein sind, und: Jeder, der den Namen des Herrn nennt, stehe ab von der Ungerechtigkeit!" Hier haben wir die beiden großen Grundsätze, denen wir überall in dem Worte Gottes begegnen, nämlich einerseits die Unumschränktheit des Herrn, und .andererseits die Verantwortlichkeit. Dann folgt eine mehr ins Einzelne gehende Anwendung: „In einem großen Hause aber sind nicht allein goldene und silberne Gefäße, sondern auch hölzerne und irdene; und die einen zur Ehre, die anderen aber zur Unehre". Timotheus mußte auf die Entwick­lung des Bösen unter denen, welche Christum nicht „zur Ehre",

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sondern „zur Unehre" bekennen, vorbereitet werden. „Wenn sich nun jemand von diesen reinigt, so wird er ein Gefäß zur Ehre sein, geheiligt, nützlich dem Hausherrn, zu jedem guten Werke bereitet".

Trennung vom Bösen ist der unwandelbare Grundsatz Gottes, obwohl er je nach dem Charakter der Haushaltung Gottes in verschiedener Weise zur Ausübung kommen mag. „Tut den Bösen von euch selbst hinaus", heißt es in 1. Kor 5; wenn dieses aber nicht mehr länger möglich .ist, so muß man sich selbst von dem Bösen reinigen. Es gibt nichts, was der Mensch mehr fühlt und fürchtet. Und kein Wunder; denn sobald jemand in dieser Beziehung nach seiner Überzeugung handelt, muß er erfahren, daß sich honigsüße Freundschaft in gallen­bittere Feindschaft verwandelt; und der Wunsch, um jeden Preis Gott zu gefallen, wird als pharisäischer Stolz und hoch­mütige Absonderung betrachtet. Mit welcher Sanftmut und Höflichkeit man sich auch von den Gefäßen der Unehre tren­nen mag — nichts kann ihren Groll und ihren Ärger besänf­tigen; immer bleibt es in ihren Augen eine verwerfliche Sache und eine unverzeihliche Beleidigung. Und das tritt um so mehr zu Tage, je bescheidener man dabei zu Werke geht; voraus­gesetzt, daß die Sache gründlich ist, und daß nicht täuschende Gefühle dabei leiten, sondern nur der Wunsch vorhanden ist, Christo mit glücklichem Herzen ganz unterworfen zu sein.

Beachten wir indessen, daß es sich in 2. Tim 2 um die Tren­nung von der religiösen oder christlichen Welt handelt. Die „christliche Welt" — welch ein Ausdruck! Welch ein Wider­spruch! Als wenn auch nur die entfernteste Möglichkeit einer Verbindung zwischen dem von dem Himmel, von Christo stammenden Christentum und der Welt, welche Ihn gekreuzigt hat, stattfinden könnte! Kein Wunder, daß wir in diesem Brief von schweren Zeiten in den letzten Tagen lesen. Und diese Zeiten sind um so schwerer, weil die Menschen, nachdem sie die Wahrheit erkannt haben, wieder zu dem Zustand des Bösen, in dem sich die heidnische Welt vor der Zeit des Chri­stentums befand, zurückgekehrt sind (vgl. 2. Tim 5 mit Röm l). Wie schmerzlich und belehrend ist diese Vergleichung! Das christliche Bekenntnis ist in diesem Zustand der Dinge fürwahr

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ein großes Haus, in dem alles gefunden wird, was sowohl für die schlechtesten, als auch für die besten Zwecke bestimmt ist. Es ist das große Haus, das den Namen Christi trägt, oder, wenn man will, die „christliche Welt" genannt werden kann.

Was hat der Gläubige unter solchen Verhältnissen zu tun? Einige sagen: „Man darf über das große Haus nicht zu streng urteilen; denn da das christliche Bekenntnis noch vorhanden ist .und Christus gepredigt wird, so ist doch noch etwas Gutes da". Aber, erwidere ich, könnte man wohl etwas Böses in der Welt finden, das nicht mit irgendeinem schönen Namen geschmückt wäre? Die wichtige Frage in diesen Um­ständen ist nicht, ob hier und da noch etwas Gutes vorhanden ist, sondern einfach: Was ist der Wille des Herrn? Wir haben nicht dafür Sorge zu tragen, daß andere in unserem Lichte wandeln, sondern dafür, daß wir nicht in ihrer Finsternis wan­deln. Der wesentliche Punkt ist nicht, daß wir uns mit anderen beschäftigen und ihnen bezüglich dessen, was sie zu tun haben, Vorschriften machen, sondern daß wir unsere eigene und unsere gemeinsame Sünde fühlen und durch die Gnade ent­schlossen sind, den Herrn um jeden Preis zu ehren und Ihm zu gehorchen. Das ist klare und gebieterische Pflicht eines jeden Gläubigen, der unbeugsame, unserem Geiste sich emp­fehlende Grundsatz der Schrift. 

Es ist möglich, daß irgendeiner meiner Leser nicht demgemäß handelt; aber nichtsdestoweniger kann er nicht leugnen, daß er so handeln sollte. Ich gebe zu, daß es Schwierigkeiten und Verbindlichkeiten gibt. Mancher hat Familienmitglieder oder Freunde, die er nicht betrüben möchte, oder Hoffnungen, wenn auch nicht für sich selbst, so doch für seine Kinder. Aber kann ein durch den Glauben gereinigtes Herz um deswillen das Wort des Herrn beiseitesetzen? Dürfen wir dem Gedanken Raum geben, daß der Herr unsere Bedürf­nisse nicht kenne und kein Gefühl für unsere Familie habe? Wenn wir wissen, daß Er uns liebt, können wir Ihm dann nicht bezüglich eines Bissen Brotes Vertrauen schenken? Wenn wir Ihm in bezug auf das ewige Leben und den Himmel vertrauen, so sollten wir sicherlich auch voraussetzen, daß Er hinsichtlich der Prüfungen und Schwierigkeiten des täglichen Lebens Sorge für uns trägt. Wir dürfen uns nicht einbilden, daß wir mehr Weisheit, Liebe und Fürsorge für unsere Familie haben als der

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Herr. Laßt uns nicht für den nächsten Schritt sorgen, denn es ist nicht .die Weise des Herrn, uns alles auf einmal zu zeigen; sondern laßt uns für den Augenblick nach Seinem Worte handeln und Ihm die Folgen anheimstellen. Er ist unseres Ver­trauens würdig und wird mehr geben, als wir für den ersten Schritt bedürfen. Jedoch müssen wir für immer verlassen, was durch das Wort Gottes verurteilt ist. „Gedenket an Lots Weib", und schauet nicht zurück, sondern folget Seinem Worte, wohin es auch führen mag; und ihr werdet stets das Wort: „Wer da hat, dem wird gegeben werden", bestätigt finden. Freilich macht es in unseren Augen einen großen Unterschied, ob der Weg rauh oder eben, 'dunkel oder hell ist, und ob die Schwie­rigkeiten groß oder klein sind; jedoch die größten Schwierig­keiten bieten nur eine Gelegenheit, um ans Licht zu stellen, wer der Gott ist. Den wir gefunden haben.

Dann sehen war in dem weiteren Verlauf unseres Kapitels, daß wir uns nicht allein von den Gefäßen der Unehre zu trennen haben, sondern es heißt auch: „Die jugendlichen Lüste aber fliehe; strebe aber nach Gerechtigkeit, Glauben, Liebe, Frieden mit denen, die den Herrn anrufen aus reinem Herzen". Es gibt also keine Entschuldigung für solche, die sagen: „Ich lasse mich auf nichts ein und bleibe für mich". Wir müssen allem, was der Schrift entgegen ist, den Rücken wenden. Es bedarf sicherlich keines Beweises für irgendeinen Christen, daß das, was schriftwidrig ist, auch unheilig ist. Es ist aber höchst betrübend, wenn man Christen mit den Worten drängen muß:

„Wer da weiß. Gutes zu tun, und tut es nicht, dem ist es Sünde". Wenn du das was die Schrift nicht gestattet, sondern verurteilt, verlassen hast, dann achte 'auf das Wort: „Strebe aber nach Gerechtigkeit, Glauben, Liebe, Frieden". Strebe da­nach, und zwar nicht gleich einem Einsiedler, sondern in Ver­bindung mit denen, „die den Herrn anrufen aus reinem Her­zen", und wäre es auch in Verbindung mit nur „zweien oder dreien". 0, welch ein Trost! Schrecken wir nicht zurück vor einer so geringen Zahl, die Gott ohne Zweifel zu Hunderten und Tausenden anwachsen lassen kann. Aber das ist Seine Sache. Unsere Aufgabe ist, den Pfad 'des Herrn mit Freude und Dankbarkeit und mit einem lauteren und demütigen Herzen nach Seinem Worte zu verfolgen, auch wenn Wir nur wenige finden, die den Herrn aus reinem Herzen anrufen. 

Der Glaube hat die göttliche Bürgschaft, auf seinem Pfade Gefährten zu finden, obgleich der Pfad zwischen den Trümmern des christ­lichen Bekenntnisses hindurchführt. Schrecken wir deshalb vor keinem Hindernis, vor keiner Gefahr zurück, sondern laßt uns stets daran denken, daß der Herr es ist, der so gnädiglich an uns gedacht hat. 0, möchten wir doch alle, die wir Seinen gesegneten Namen lieben, ein unbegrenztes Vertrauen auf Ihn setzen! Er Selbst wendet Sich an die Herzen derer, die inmitten der Verunehrung Seiner Gnade und Wahrheit betrübt sind, um ihnen auf die deutlichste Weise den Pfad, nicht allein der Trennung, sondern auch der Verbindung zu bezeichnen — den Pfad, der nicht nur vom Bösen ab, sondern auch zum Guten hinführt.

Wie klar ist der große sittliche Grundsatz Gottes trotz aller Unordnung geblieben! Die Wirkungen Seiner Gnade über­dauern den ganzen Verfall. Wenn auch Tausende von Christen sich zu irgendeiner Partei vereinigen, so vermögen sie doch nicht das Grundübel ihres Systems zu heilen; denn obwohl sie Glieder Christi sein mögen, so haben sie doch den Grundsatz der Versammlung in ihrer wahren Verfassung verlassen. Wenn hingegen „zwei oder drei", oder wie viele und wenige ihrer sein mögen, nach dem Worte des Herrn Seinen Namen zu ihrem Mittelpunkt machen, die Gegenwart des Geistes Gottes anerkennen und Seiner Leitung unterworfen sind, so führen sie, und nur sie, die Gedanken Gottes aus. Mögen auch zehn­tausend wahre Christen sich vereinigen, so stellen sie dennoch nur dann die Versammlung Gottes dar, wenn sie allein im Namen Jesu zusammenkommen. Der Unterschied ist, daß wir uns nicht versammeln im Namen von Christen, sondern im Namen Christi. In dem ersten Fall haben wir kein Recht, einen unlauteren Christen zurückzuweisen, während im zweiten Fall die entscheidende Frage gilt: „Ruft er den Herrn an aus reinem Herzen?"

Der Herr wolle uns geben, mit Ausdauer und mit einem de­mütigen Herzen dazustehen, wo Er uns haben will, und im Vertrauen auf Ihn alle Befürchtungen und Besorgnisse schwin­den zu lassen! Denn wenn der Herr unser Helfer ist, was

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hätten wir dann noch zu fürchten? Er, Der allein würdig ist, der Mittelpunkt aller Heiligen auf der Erde zu sein, hat in Seiner unendlichen Gnade verheißen. Selbst dann in der Mitte zu sein, wenn auch nur „zwei oder drei versammelt sind in Seinem Namen".

Wir sind dem Gesetz gestorben

„Ich bin durch das Gesetz dem Gesetz gestorben, auf daß ich Gott lebe" (Gal 2, 19). Dies ist vor allem in unsern Tagen ein wichtiges Wort. Die Anwendung dieser hier vorgestellten Wahrheit wird uns vor zwei Irrtümern bewahren, nämlich vor Gesetzlichkeit und vor Gesetzlosigkeit. Wenn ich diese beiden Irrtümer miteinander vergleiche, oder wenn ich gezwungen wäre, einen von beiden zu wählen, so würde ich ohne Zweifel dem ersten den Vorzug geben. Ich sehe viel lieber jemanden, der sich unter die Autorität des Gesetzes Moses beugt, als jemanden, der gesetzlos und leichtsinnig seinen Weg geht. Ich weiß wohl, daß die Forderungen des Gesetzes, die an den in Sünden toten Menschen gestellt werden, nicht erfüllt werden können, und daß das Gesetz nichts als Fluch und Verdammnis in seinem Schöße birgt; ich weiß wohl, daß das Gesetz mit dem Evangelium der Gnade in vollem Widerspruch steht, dennoch habe ich eine größere Achtung vor jemandem, der, weil er nichts weiter als Moses sehen kann, durch die Vollbringung des Ge­setzes seinen Wandel in dieser Welt zu regeln trachtet, als vor jemandem, der dieses Gesetz verachtet, um sich selbst zu leben.

Gott sei Dank! das Evangelium gibt uns ein Heilmittel gegen beide Irrtümer. Doch auf welche Weise? Wird mir gesagt, daß das Gesetz gestorben sei? Keineswegs. Das Evangelium belehrt mich, daß ich, weil ich an den Herrn Jesum glaube, gestorben bin. „Ich bin durch das Gesetz dem Gesetz gestorben". Und zu welchem Zweck? Um mir selbst zu leben? Um meinen eigenen Willen zu tun und meinen Vergnügungen nachzujagen? Durch­aus nicht, sondern auf daß ich Gott lebe.

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Das ist eine Hauptwahrheit des Christentums, eine Wahrheit, ohne die wir nicht wissen, was Christentum ist. Dasselbe fin­den wir in Röm 7: „Also seid auch ihr, meine Brüder, dem Gesetz getötet worden durch den Leib des Christus, um eines andern zu werden, des aus den Toten Auferweckten, auf daß wir Gott Frucht brächten" (V. 4). Und wiederum: „Nun aber sind wir vom Gesetz losgemacht, weil wir dem gestorben sind, in welchem wir festgehalten wurden, so daß wir dienen in dem Neuen des Geistes, und nicht in dem Alten des Buchstabens" (V. 6). Bemerken wir es wohl, daß wir dienen, und keineswegs uns selber leben müssen. Wir sind von dem unerträglichen Joch des Gesetzes erlöst, um das „sanfte Joch" Christi zu tragen, nicht aber um unserer Natur Folge zu leisten. Deshalb schreibt auch der Apostel an die Galater: „Ihr seid zur Freiheit berufen, Brüder; allein gebraucht nicht die Freiheit zu einem Anlaß für das Fleisch, sondern durch die Liebe dienet ein­ander" (Kap. 5, 13).

Die Art und Weise solcher Menschen, die sich auf gewisse Grundsätze des Evangeliums berufen, um dadurch für die Befriedigung des Fleisches einen scheinbaren Rechtsboden zu finden, ist für ein ernstes Gemüt anstößig. Sie suchen, sich der Autorität des Gesetzes zu entziehen, jedoch nicht, um sich unter die Autorität Christi zu stellen, sondern um nach ihren eigenen Lüsten zu leben. Eitles Bemühen! Das kann nie auf Grund der Wahrheit geschehen; denn nirgends wird in der Schrift gesagt, daß das Gesetz gestorben oder beiseitegesetzt ist, wohl aber, daß die Gläubigen dem Gesetz und der Sünde gestorben sind, auf daß ihre „Frucht zur Heiligkeit, das Ende aber ewiges Leben" sei.

Wir legen diesen so wichtigen Gegenstand auf das Herz unserer Leser. Sie werden ihn in Röm 6 und 7 und in Gal 3 und 4 gründlich entwickelt finden. Ein richtiges Verständnis dieser Wahrheit wird uns über tausend Schwierigkeiten hinweghelfen und vor zahllosen Irrwegen bewahren. Möge das Wort Gottes eine vollkommene Macht auf unser Herz und unser Gewissen ausüben!

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Unsere wahre Stellung

Der Übergang über den Jordan war für die Kinder Israel die Erfüllung der von Gott dem Mose gegebenen Verheißung, sie, das Volk Gottes, aus der Hand der Ägypter zu befreien und in ein gutes, gesegnetes Land — „in ein Land von Milch und Honig fließend" — zu führen. Gott hatte sich ihrer erbarmt und Er war in Gnaden zu ihnen herniedergekommen und hatte aus ihrer Mitte einen Mann zu ihrer Leitung und Führung gewählt. Wie tröstend mußte für die armen, unterjochten Israeliten die Kunde sein, daß sie bald aus ihren Leiden, aus allem Elend erlöst, ein Land betreten würden, wo alle ihre Bedürfnisse befriedigt und jeder Schmerz gestillt sein sollte! Und, geliebter Leser, befinden wir uns nicht in einem ähnlichen Verhältnis? Hat Gott nicht verheißen, uns bald in ein Land, weit herrlicher und schöner als das irdische Kanaan, einzu­führen, in ein Land, wo wir weder Schmerz noch Trauer noch Tränen, sondern wo wir ewige Freude finden werden? Hat Er nicht gesagt, daß jeder, der an den Sohn glaube, in Ewigkeit nicht verloren sei? Weshalb sollten wir uns denn noch fürch­ten? Ist Sein Wort nicht völlig genügend für uns? Oder soll ein anderer es noch bestätigen? Nein, Sein Wort steht ewig fest; Er kann nicht lügen. Er liebte uns, bevor wir noch an Ihn dachten. Er erwies Seine Liebe darin gegen uns, daß Christus, Sein geliebter Sohn, für uns gestorben ist, da wir noch Sünder waren. Es ist nicht die Frage, was du darüber denkst, sondern was die Gedanken Gottes sind. Gott sagt, daß das Werk Chri­sti genug für dich sei; möchtest du nun durch deinen Unglau­ben Gott zum Lügner machen? Nein, der Herr wolle vielmehr geben, daß du dich auf das vollbrachte Werk Christi völlig stützen möchtest und Dein Herz von jener Freude erfüllt sei, welche die Welt nicht kennt.

Ja, Gott hatte das Geschrei Seines Volkes gehört; und jetzt befand es sich in der Wüste. Das Rote Meer war durchschritten. Die Kinder Israel hatten die Macht und die Liebe ihres Gottes geschaut, und alle ihre Feinde waren vernichtet. Der Weg zum verheißenen Lande stand ihnen offen; alles war für sie in

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Ordnung gebracht; sie bedurften nur des Glaubens, um von allem Besitz zu nehmen. Ebenso verhält es sich mit uns. Der Weg ist uns geöffnet; denn Christus starb am Kreuze. Nichts steht uns mehr im Wege; denn Christus hat unsere Sünden auf dem Kreuz getragen. Er hat die Sünde zunichte gemacht, und alles ist vollbracht.

Der Jordan war, sozusagen, die letzte Schranke, wodurch die Israeliten von den ihnen von Jehova bereiteten Segnungen ge­trennt waren. (Siehe Jos 3, 3—4 u. 15—17). Alles hat Jehova bereits angeordnet; und das Volk wurde aufgefordert, den Be­fehlen seines Gottes im Glauben nachzukommen. So ist es auch jetzt für uns eine Sache des Glaubens, daß alles vollbracht ist. Christus, die wahre Lade des Bundes Jehovas, ist für uns in den Tod gegangen. Bevor Er diese Welt verließ, konnte Er die Worte sagen: „Das Werk habe ich vollbracht, welches du mir gegeben hast, daß ich es tun sollte". — Ja, Gott sei gepriesen! Christus hat uns den Weg völlig geöffnet; und wenn du dich, mein christlicher Leser, dessen nicht erfreust, so hat das seinen Grund darin, daß du dein Auge nicht auf Ihn gerichtet hast. Wie aber kannst du noch länger so furchtsam und ungewiß deinen Weg fortsetzen, da Er doch stets bereit ist, uns glücklich zu machen, und es Sein Wunsch ist, daß wir schon hier auf Erden uns freuen und Ihn also verherrlichen!

Laßt uns wohl darauf achten und es ernstlich erwägen, daß sich der Weg nicht erst später, wenn die finsteren Wasser des Todes zu unseren Füßen rollen, öffnen wird — nein, er ist bereits geöffnet. Wenn eine Seele dieses nicht versteht und nicht einsieht, so kann sie unmöglich glücklich sein und wird sich sehr oft vor dem Tode fürchten. Wenn hingegen das Auge auf die Lade des Bundes, auf Christum, gerichtet ist, so sieht sie den Weg offen und ist sich ihrer Errettung ebenso gewiß, wie Stephanus, oder wie Paulus es war. Es gibt in Wahrheit keine einzige Schranke auf der Seite Gottes zwischen Seinem Thron und den Gläubigen. Nur unser eigenes Ich steht uns im Wege, wenn Wir uns nicht als mit Christo gestorben und vom Gericht befreit betrachten. Was sagt die Schrift? Sie sagt es geradezu, daß ich mit Ihm gestorben bin, und zwar jetzt schon, während ich noch auf der Erde wandle. Wenn aber

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jemand behaupten wollte, daß der Weg sich erst bei unserem Tode öffnen werde, so wäre er folglich jetzt noch nicht geöff­net, und es müsse in diesem Falle noch etwas von Christo voll­bracht werden. Wer könnte je einem solchen Gedanken Raum geben!

Vielleicht sagst du: „Ich fürchte mich nicht vor dem Gericht, aber ich fürchte den Tod". — Aber auch dann siehst du nicht auf Christum, Der für jeden Gläubigen, er mag stark oder schwach sein, den Tod auf Sich genommen und überwunden hat. Stephanus schaute über den Tod hinaus in die Herrlichkeit, wo Jesus zur Rechten Seines Vaters stand. Und wer hatte ihm diesen Weg gezeigt? Hatte Er es Selbst getan? Nein; Jesus war es. Der ihm den Weg geöffnet hatte, und daher konnte er mit Ruhe und mit einem auf den Herrn gerichteten Blick in den Tod gehen; ja mit dem Ausruf: „Herr Jesu, nimm meinen Geist auf!" konnte er zugleich für seine Feinde beten: „Herr, rechne ihnen diese Sünde nicht zu".

Das Evangelium hat nicht nur den Zweck, uns aus unsern Ängsten zu bringen und uns aus unserem elenden Zustande zu befreien; o nein — es verkündigt uns noch weit mehr; es sagt uns, daß wir uns Seiner ewigen unerschöpflichen Liebe erfreuen und mit Ihm die innigste Gemeinschaft pflegen dür­fen; es sagt uns, daß wir mit Christo gestorben und aufer­weckt sind und jetzt von dem himmlischen Kanaan, wo Chri­stus ist, Besitz nehmen können.

Sicher wirst du nie wahre Ruhe für dein Herz und dein Ge­wissen haben können, solange du nicht die wunderbaren, köstlichen Gedanken Gottes bezüglich der Seinigen einiger­maßen verstehst. Aus freier, vollkommener Gnade sandte Gott Seinen einzigen, vielgeliebten Sohn, damit Er das Werk der Erlösung auf dieser Erde vollbringe und Gott bestätigte dieses Werk dadurch, daß Er Ihn aus dem Tode, den Er zur Befriedi­gung der Gerechtigkeit Gottes erduldete, wieder auferweckte. Der Herr wolle in deinem Herzen, geliebter Leser, eine klare Erkenntnis des vollbrachten Werkes Christi wirken, auf daß du dich einer wahren Glückseligkeit erfreuen mögest, und der Name des Herrn dadurch verherrlicht werde!

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Unter Gnade

(Röm 3,14)

Es geht oft lange Zeit darüber hin, ehe man völlig versteht, was es heißt, unter Gnade zu sein. Und auch selbst dann, wenn wir diese Lehre mit unserem Verstände klar aufgefaßt haben, ist für uns nichts so schwer, als uns in der Gnade zu halten. Die Gnade ist nicht nur eine dem Sünder zuteil gewor­dene Barmherzigkeit, die ihn gerettet und seine Sünden hin­weggenommen hat, sondern sie ist eine Macht, unter die er gestellt ist, und demzufolge er nicht allein von seinen Sünden, sondern auch von der Sünde befreit ist. Er ist nicht nur von den Folgen der Sünde bezüglich des zukünftigen Gerichts, sondern auch von der Sünde selbst, als einer Natur gerettet, welche ihn in einem Zustande der Knechtschaft gefangen hielt. „Die Sünde wird nicht über euch herrschen; denn ihr seid nicht unter Gesetz sondern unter Gnade" (Röm 6, 14). Der Apostel spricht hier zu Gläubigen aus den Nationen, welche nicht unter dem Gesetz waren, sondern vor ihrer Bekehrung einfach gesetzlos, ihrer sündigen Natur gemäß, in der Entfernung von Gott lebten. Und auch nach ihrer Bekehrung wurden sie nicht in solch ein religiöses System eingeführt. An dem sich die Juden befanden, und welches diese, obwohl es sie äußerlich von den Nationen trennte, dennoch ebenso, ihrem Herzenszustand nach, unter der Macht der Sünde ließ, unter welcher auch die Nati­onen gefangen lagen.

Unter dem jüdischen System gab es zwar Opfer für die Sünden und mithin eine Vergebung der Sünden; aber in betreff der Sünde selbst, als einer Natur, gab es keine Befreiung. Zwar war ein Gesetz zu dem Zwecke gegeben worden, um dadurch, wenn es möglich gewesen wäre, der Sünde Zügel anzulegen und die Wirksamkeit der Sünde zu verhindern; aber die ganze Geschichte der Juden bis zum Kreuze des Herrn hin ist die Geschichte einer Natur, welche zur Genüge — besonders bei Gelegenheit des Kreuzes — gezeigt hat, daß sie in keiner Weise durch irgendein ihr auferlegtes Gesetz Am Zaum zu halten ist.

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Überdies wurden die Opfer selbst, abgesehen von ihrer vor­bildlichen Tragweite durch die Übertretung des Gesetzes wir­kungslos, weil der Fluch des Gesetzes, nachdem es gebrochen war, den Übertreter unvermeidlich beseitigen mußte, wie wir dieses in dem gegenwärtigen Zustande Israels klar sehen kön­nen. Die Opfer berührten, wie gesagt, die Frage bezüglich der Sünden, waren aber keineswegs zur Wegnahme der Sünde, als einer Natur, gegeben, obwohl die Beobachtung des Gesetzes zu dem Zweck geboten war, um die Wirksamkeit der Sünde zu verhindern. Da nun aber dieser Zweck nicht erreicht wurde, so mußte notwendigerweise die Gerechtigkeit Gottes den Sünder richten; und alle die vorhergegangenen Opfer erwiesen sich als nutzlos. Ein religiöses System, bei dem die Segnung durch die Beobachtung des Gesetzes bedingt ist, ist für den Menschen als Sünder — sei er Jude, oder Heide — nicht allein nutzlos, sondern auch nachteilig, weil es ihn unter eine um so größere Verantwortlichkeit stellt, ohne ihm die nötige Kraft zur Be­obachtung des Gesetzes zu geben. Ja, noch schlimmer als dieses — es verhärtet ihn in der Sünde, indem ihre Kraft durch die Anlegung eines Zügels um so mehr hervorgerufen und der Mensch dadurch noch vollständiger unter ihre Macht gebracht wird. Nach der Weisheit Gottes war das Gesetz dem Menschen nicht als ein Grund der Segnung, sondern als ein Mittel ge­geben, um seinen wahren Zustand vor Gott ins Licht zu stellen und das Bedürfnis nach Erlösung in ihm zu erwecken. Das Gesetz gab weder das Leben, noch die Gerechtigkeit, sondern forderte die Gerechtigkeit, kraft deren Erfüllung man das Leben genießen konnte. „Der, welcher diese Dinge getan hat, wird durch sie leben" (Gal 5, 12). Das Gesetz ist für den Menschen als Sünder in seiner Natur die „Kraft der Sünde" (1. Kor 15, 56), während es für eine lebendiggemachte Seele die Erkennt­nis der Sünde bewirkt, wie der Apostel sagt: „Aber die Sünde hätte ich nicht erkannt, als nur durch Gesetz. Denn auch von der Lust hätte ich nichts gewußt, wenn nicht das Gesetz gesagt hätte: Laß dich nicht gelüsten" (Röm 7, 7). Die Sünde wird durch das Gesetz „überaus sündig".

Das Opfer Christi auf dem Kreuze ist der Ausgangspunkt der Gnade und die feierliche Einführung des Christentums, indem wir durch unsere Teilnahme an dem Tode Christi unter die

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Gnade gestellt sind. Durch die Taufe im Namen Jesu sind wir in Seinen Tod getauft und also mit Ihm, Der aus den Toten auferstanden und in Macht zur Rechten Gottes erhöht ist, in Verbindung gebracht. „Die Gnade herrscht durch die Gerech­tigkeit zum ewigen Leben durch Jesum Christum,, unseren Herrn" (Röm 5, 2l). Wir können nur unter der Gnade sein, indem wir in Christo Jesu sind; und wir sind nur in Christo in Gnaden durch die Teilnahme an Seinem Tode. „Wenn das Weizenkorn nicht in die Erde fällt und stirbt, bleibt es allein; wenn es aber stirbt, bringt es viel Frucht" (Joh 12, 24). Nicht nur erwies sich das Judentum mit seinen Opfern und Satzun­gen nutzlos für den Menschen, sondern sogar die Menschwer­dung Christi konnte dem Menschen an und für sich nichts nützen und ihn ebensowenig zu Gott führen, wie das Juden­tum. Ein lebendiger und ins Fleisch gekommener Christus blieb allein. Um andere mit Sich im die Segnungen einzuführen, mußte Er sterben, wie Petrus sagt: „Der Gerechte für die Un­gerechten, auf daß er uns zu Gott führe" (1. Petr 5, i8). Nicht so sehr die Menschwerdung Christi, als vielmehr die Wahrheit des Kreuzes war für die Juden der Stein des Anstoßes. Wir lesen, daß die Juden untereinander stritten und sagten: „Wie kann dieser uns sein Fleisch zu essen geben7 Da sprach Jesus zu ihnen: Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Es sei denn, daß ihr das Fleisch des Sohnes des Menschen esset, und sein Blut trinket, so habt ihr kein Leben in euch selbst. Wer mein Fleisch ißt und mein Blut trinkt, hat das ewige Leben, und ich werde ihn auferwecken am letzten Tage" (Joh 6, 52—54).

Wir können in unseren Tagen, wo eine fleischliche Formreli­gion ihr Haupt zu erneutem Widerstande gegen Christum er­hebt, nicht entschieden genug auf der Grundwahrheit bestehen daß wir nur durch die Teilnahme an dem Tode Christi in den Besitz der Segnungen, mit anderen Worten, „unter Gnade" gelangen können. Außerhalb der Gnade ist alles unter dem Gericht; denn dort „herrscht die Sünde zum Tode". Unter die Gnade gebracht, befinden wir uns außerhalb der Sünde und ihrer Folgen. Das ist mehr, als Vergebung der Sünden zu haben; und wir sehen hier den offenbaren Gegensatz zwischen dem Christentum und dem Judentum. Das Judentum war wohl mit einer teilweisen Sündenvergebung bekannt, befand sich aber

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vollständig unter der Knechtschart der Sünde, obwohl ihm das Gesetz als eine Schranke gegen die Sünde gegeben war. Die Gnade führt uns eine doppelte Segnung zu — sowohl die Be­freiung von der Sünde als einer Natur, als auch die Vergebung der Sünden als den Früchten dieser Natur; sie ist mithin, bezüglich der Sünde und der Sünden, der Ausfluß der doppel­ten Tragweite des Opfers Christi. Christus hat durch Seinen Tod auf dem Kreuze sowohl die Sünde hinweggenommen, als auch die Sünden derer getragen, welche glauben. Denn wenn Er nur unsere Sünden getragen und beseitigt hätte, so würde Er uns dadurch praktisch auf denselben Boden gestellt haben, auf welchen die Opfer des Judentums die Juden stellten. Die Natur der Sünde wäre geblieben und somit die Macht, ent­weder unser ganzes Leben in Gesetzlosigkeit zuzubringen, damit die Gnade überströme, oder sich unter den Zügel gesetz­licher Vorschriften zu stellen, dessen Resultat die reine Knecht­schaft der Sünde gewesen wäre. Das 6. Kapitel des Römer­briefes begegnet dem ersten dieser beiden Zustände, in welchen die Gläubigen aus den Nationen in Gefahr standen, hinein­zufallen, da sie nie unter Gesetz waren, während der zweite Zustand mehr den Gläubigen aus den Juden drohte, wovon das 7. Kapitel uns ein Gemälde liefert. In beiden Fällen ist die Sünde herrschend, obwohl die Möglichkeit der Vergebung vor­ausgesetzt ist.

Wir bedürfen also nicht bloß der Vergebung der Sünden, son­dern auch der Befreiung von der Sünde selbst. Und diese haben wir durch das Kreuz. „Denn daß er gestorben ist — er ist ein für allemal der Sünde gestorben" (Röm 6,10); und wie­derum: „Das dem Gesetz Unmögliche, weil es durch das Fleisch kraftlos war, tat Gott, indem er seinen eigenen Sohn in Gleich­heit des Fleisches der Sünde und für die Sünde sendend, die Sünde im Fleische verurteilte" (Röm 8, 5). Die Sünde selbst hat in dem Tode Christi ihr Ende gefunden; und also besitzen wir durch die Gnade im Gegensatz zum Judentum beides — die Befreiung von der Sünde und die Vergebung der Sünden. Die erste dieser gesegneten Wahrheiten ist, sozusagen, die Grund­lage des Christentums, und die zweite die daraus entsprin­gende notwendige Folge. Der Gläubige wandelt, nachdem er bildlich durch die Taufe an dem Tode Christi teilgenommen

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hat, in Neuheit des Lebens. „Indem wir dieses wissen, daß unser alter Mensch mitgekreuzigt ist, auf daß der Leib der Sünde abgetan sei, daß wir der Sünde nicht mehr dienen; denn wer gestorben ist, ist freigesprochen von der Sünde" (Röm 6, 6. 9). Der Gläubige ist mit Christo dem ganzen Zustande des Lebens im Fleische, in dem er sich als ein Kind Adams befand, abgestorben. So lange er im Fleische war, war er moralisch lebendig unter dem Gesetz; „denn das Gesetz herrscht über den Menschen, so lange er lebt". Aber gestorben mit Christo, ist er nicht nur der Sünde gestorben, sondern auch „getötet worden dem Gesetz durch den Leib des Christus", so daß er sowohl dem Gesetz, als auch der Sünde gestorben ist. Der Apostel sagt: „Die Sünde wird nicht über euch herrschen; denn ihr seid nicht unter Gesetz, sondern unter Gnade" (Röm 6, 14); und: „Wenn jemand in Christo ist, da ist eine neue Schöpfung; das Alte ist vergangen, siehe, alles ist neu gewor­den. Alles aber von dem Gott, der uns mit sich selbst versöhnt hat durch Jesum Christum" (2. Kor 5, 17. 18). Dies ist der Zustand jedes wahren Gläubigen und das Ergebnis des Werkes Gottes in unumschränkter Gnade. Es handelt sich hier nicht um Erfahrungen, sondern um eine Tatsache, die wahr ist und wahr bleibt. Wir wandeln durch Glauben und nicht durch Gefühle, wie wir auch gerettet sind durch Glauben und nicht durch Ge­fühle.

Wir werden nun aufgefordert, uns für tot zu halten und „festzustehen in der Gnade unseres Herrn Jesu Christi". Was auch unsere Erfahrungen sein mögen — wir sind, als Gläubige in Christo, mit Ihm gestorben und auferstanden; und Gnade, nichts als Gnade ist es, in der wir vor Gott stehen. Und indem wir also in der Gnade wandeln, haben wir nicht nur ein durch das Blut Christi gereinigtes Gewissen, die Vergebung der Sünden, sondern wandeln auch in praktischer Heiligkeit außer der Macht der Sünde; und die Gnade herrscht sowohl in prak­tischer Gerechtigkeit, als auch in unserer praktischen Stellung vor Gott. Möge der Gott aller Gnade, mit dem wir es zu tun haben, uns, die Gläubigen in Christo, stets in dem Bewußtsein dieser Gnade erhalten, damit wir völlig verstehen mögen, was es heißt, nicht „unter Gesetz", sondern „unter Gnade" zu sein.

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Die Verantwortlichkeit

Um ein klares Verständnis bezüglich des Platzes zu haben, den der Mensch als eine Kreatur vor Gott einnimmt, ist es nötig, ihn da, wo wir ihn zuerst finden, nämlich in Eden, zu betrachten, und von hier aus die Veränderung, welche mit ihm stattgefunden hat, sowie den Boden der Verantwortlichkeit, auf dem er sich jetzt befindet, ins Auge zu fassen.

Zunächst finden wir also den Menschen in Eden, und zwar im Besitz der vollständigen Herrschaft über die Erde mit allem, was darauf und darinnen ist. Er besaß weder die Heiligkeit, noch die Gerechtigkeit, sondern war einfach ein unschuldiges Geschöpf (1. Mo 1. 26—29) und als solches im Besitz der Herr­schaft. Seine Verantwortlichkeit finden wir jedoch erst in dem ihm gegebenen Gebot (Kap. 2, 16—17) klar ausgedrückt. Wäh­rend er in vollem Maß nach den ihm verliehenen Freiheiten in vollkommener Übereinstimmung mit dem göttlichen Willen handelte und von allem, was Gott für ihn bestimmt hatte, einen freien Gebrauch machte, tat er nicht seinen eigenen Willen, sondern war völlig gehorsam. Ein Kind ist erst dann ungehorsam, wenn sich sein kleiner Wille im Widerspruch gegen den Willen der Eltern erhebt. Die Kreatur hatte einen Willen, dem alles hienieden unterworfen war; aber dieser Wille mußte rückhaltlos und vollkommen dem höheren Willen unter­worfen bleiben. Deshalb war der göttliche Wille der einzige geltende Wille.

Hier aber gab es einen zweifachen Willen; und es war die Frage, welcher Wille hier der höchste, und ob der Mensch der Ausdruck des göttlichen oder des satanischen Willens sein sollte. Wenn die Kreatur ihren eigenen Willen ausübt, so ge­schieht es in Opposition gegen den Willen Gottes; und da Satan die einzige Kreatur war, die dem göttlichen Willen ent­gegenstand, so wurde der Wille des Menschen, indem er sich durch Satan verführen ließ, selbst ein satanischer. Hier handelte es sich nicht um die Macht, sondern um die Anwendung der Macht. Adam war zwar im Besitz der Macht, aber nicht, um

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sie gegen Gott zu gebrauchen, sondern sie vielmehr dem gött­lichen Willen zu unterwerfen. Auch wurde er nicht in ihrer Ausübung verhindert, sondern empfing das Gebot, sie einzu­schränken. Seine moralische Vollkommenheit bestand daher weder darin, daß er nach seinem Belieben handelte noch in der Freiheit, also handeln zu können, sondern im einfachen Ge­horsam; und schon dadurch, daß er dem Gedanken, nach eige­nem Gutdünken handeln zu können, Raum ließ, fehlte er, und die Sünde war da.

Die Verantwortlichkeit gründet sich immer auf ein bestehendes Verhältnis. Sie läßt sich nicht feststellen, bevor nicht schön das Verhältnis festgestellt ist. So bestand auch bereits das Ver­hältnis Adams, ehe noch von seiner Verantwortlichkeit die Rede sein konnte; und seine Vollkommenheit erwies sich in einem diesem Verhältnis entsprechenden Wandel. Er war in­sofern frei, als er, wie sein Fall es bewies, ungehindert und unumschränkt handeln konnte; aber er hatte nicht die Freiheit, nach eigenem Gutdünken handeln und seinen eigenen Willen tun zu können. Da er keine Maschine war, so war nicht seine Macht, wohl aber seine Freiheit, diese Macht gegen den Willen Gottes zu gebrauchen, eingeschränkt. Also nach der Stellung, dem Verhältnis und der Verantwortlichkeit des ersten Men­schen in Eden können wir in Übereinstimmung mit der Lehre der Schrift nicht sagen, daß Adam ein moralisch freies Wesen gewesen wäre; denn um dieses zu sein, durfte für ihn der Unterschied zwischen Gutem und Bösem nicht bestehen. Er war geschaffen für das Gute und hatte es nicht zu wählen, und das Böse kannte er nicht und konnte es darum nicht wählen; aber er kannte den Willen Gottes und war gewarnt, diesen Willen bei Todesstrafe nicht zu übertreten. Darin bestand die Prüfung, welche den Beweis lieferte, nicht daß die Kreatur böse sei, sondern daß sie, sich selbst überlassen, nicht bestehen könne. Der Wille Gottes war in jeder Beziehung für den Men­schen so lange genügend, als dieser Wille der Gegenstand seines Herzens war; aber sobald er ihn aus dem Auge verlor, sank er, gleich Petrus auf dem Wasser. Denn auch diesem Apostel war, nachdem er gesagt hatte: „Herr, wenn du es bist, so befiehl mir, zu dir zu kommen auf dem Gewässer" — von seiten des Herrn durch den Zuruf „Komm"! der göttliche Wille offenbar geworden. Und so lange Petrus mit der göttlichen

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Person beschäftigt war und auf den in dem Wörtchen:

„Komm!" ausgedrückten Willen Gottes achtete, konnte er auf dem Wasser wandeln. Dieses kleine Wort war so völlig ge­nügend für ihn, daß er in dessen Kraft, gleich dem Henoch und dem Elias, in den Himmel hätte hinaufsteigen können, wenn es eine Forderung nach dieser Richtung hin enthalten hätte. (Vgl. ps 55, 6. 9 mit 2. Petr 5, 5.7). Ich spreche selbstredend nicht von dem Grundsatz des Glaubens jener Männer, son­dern einfach von dem genügenden Wort des göttlichen Wil­lens; denn wir hören erst nach dem Eintritt der Sünde vom Glauben reden.

Der 'Mensch war in die Gegenwart Gottes gestellt; aber er besaß weder eine göttliche Natur, noch göttliches Leben, wel­ches nur aus jener entspringen kann. „Da seine göttliche Kraft uns alles in betreff des Lebens und der Gottseligkeit geschenkt hat; durch die Erkenntnis dessen, der uns berufen hat durch Herrlichkeit und Tugend, durch welche er uns die größten und kostbaren Verheißungen geschenkt hat, auf daß ihr durch diese Teilhaber der göttlichen Natur werdet, indem ihr ent­flohen seid dem Verderben, das in der Welt ist durch die Lust" (2. Petr 1. 5. 4). Die Stellung Adams war nicht durch den Glauben — der, wie wir später sehen werden sozusagen die Tätigkeit der neuen oder göttlichen Natur ist — bedingt, wie die Stellung Abels und seiner Nachfolger (Hebr 11, 4 usw.) nach dem Einritt der Sünde es war, sondern war bezüglich des Willens von dem Gehorsam abhängig. 

Alles auf der Erde und im Meer war dem Willen der Kreatur unterworfen; aber dieser Wille durfte nur der Ausdruck des göttlichen Willens sein. Ich wiederhole es daher, daß es an Eden zwei Willen gab; und der verbotene Baum war als Prüfstein augenscheinlich der Schlüssel zu der Stellung Adams, indem dadurch die Frage erhoben wurde, ob der Wille Gottes oder der des Menschen der höchste sei. Wir erblicken also in dem Menschen in Eden eine Kreatur, die weder Gerechtigkeit noch Heiligkeit und, in Ermangelung einer göttlichen Natur, weder göttliches Leben noch Glauben besaß, sondern die einfach unschuldig war und, im Besitz der Segnungen und mit Macht ausgerüstet, die Herr­schaft über alles unter dem Himmel hatte, die aber selbst — und durch sie alles unter dem Himmel — unter der Herrschaft Gottes stand, und zwar durch einfachen Gehorsam gegen den Willen Gottes, ausgedrückt in den Worten: „Von dem Baum der Erkenntnis des Guten und Bösen, davon sollst du nicht essen; denn welches Tages du davon issest, wirst du des Todes sterben" (1. Mo 2, 17). 

Dann lesen wir weiter: „Es ist nicht gut, daß der Mensch allein sei;"und es wurde ihm eine „Hilfe" gegeben, welche seine Freude und Verantwortlichkeit mit ihm teilen sollte. Doch nach dem unerforschlichen Ratschluß Gottes diente diese „Hilfe" dem ersten Menschen zum Verderben, wurde aber dadurch zugleich die Gelegenheit zur Entfaltung der noch tieferen Ratschlüsse Gottes in der Erlösung, und ver­legte den Ausgangspunkt den Handlungen Gottes gegenüber dem Menschen von dem Boden der Verantwortlichkeit der Kreatur auf den Boden der unumschränkten Gnade. Lind gerade in ihr, durch welche der Fall herbeigeführt, die Sünde eingedrungen und alles unter die Herrschaft des Verderbnisses gebracht war, be­gann die Hoffnung zukünftiger Segnungen zu dämmern.

Augen­scheinlich zeigte sich Schwachheit in der Stellung Adams; denn er konnte nicht selbständig sein und bedurfte einer „Hilfe". Aber offenbar diente diese „Hilfe" — das Zeugnis der
Schwach­heit Adams — zur Einführung weit erhabener Segnungen, als diejenigen waren, welche Adam damals besaß, so daß Eva zu­gleich der Kanal des Verderbens und der Erlösung, des Fluches
und des Segens, der Qualen der Hölle und der Herrlichkeiten des Himmels wurde — der Kanal irdischen Glanzes bis aufwärts zu ewiger Herrlichkeit, sowie auch die Quelle irdischen Kum­mers und Wehes bis hinab zur ewigen Verzweiflung. Wie wunderbar!

Hier war also Adams schwächste Seite, und eben hier geschah der Angriff. Satan schaute weiter als Adam; er strebte nach dem Umsturz der Herrschaft Gottes auf der Erde und suchte sich der Segnungen Adams zu bemächtigen. Und wie bald erreichte er seinen Zweck! Doch Gott schaute weiter als Satan und hatte Seine Ratschlüsse schon längst gefaßt, bevor Satan seine finstern Pläne ausführte. Gepriesen sei der herrliche Name Gottes! Der Untergang der paradiesischen Herrlichkeit des ersten Menschen war der Aufgang der ewigen, wolkenlosen Herrlichkeit des zweiten Menschen. Nicht daß wir uns über den Fall freuen können; o nein, er muß uns vielmehr tief in

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den Staub beugen; aber wir freuen uns in Ihm, Der hoch er­haben über dem Verderben steht.

Kehren wir indes wieder zu dem Menschen in Eden zurück. Wir haben seine Schwachheit und den Kanal seines Verderbens gesehen. Laßt uns jetzt sehen, wo der Wendepunkt seines Lebens ist, wo seine Unschuld endigt und seine Sünde beginnt. „Und die Schlange war listiger, als alles Getier des Feldes, das Jehova Gott gemacht hatte; und sie sprach zu dem Weibe: Ist es wirklich so, daß Gott gesagt hat: Ihr sollt nicht essen von jeglichem Baume des Gartens" (1. Mo 5, i)? Hier haben wir die kühne Einflüsterung, daß eine Liebe, die etwas verboten hat, nicht vollkommen sein könne, und daß es keine volle Glückseligkeit sei, solange die Kreatur noch ein Verlangen habe, dessen Befriedigung untersagt werde. Durch solche Trug­schlüsse wurde Eva verführt; und obwohl ihre Antwort den Willen Gottes zu berücksichtigen scheint, so verrät sie dennoch eine Geringschätzung dieses Willens, indem sie ihre eigenen Gedanken hinzufügt; denn die Worte: „und ihn nicht an­rühren", waren nicht der Ausdruck des göttlichen Willens. Wenn sie fähig war, etwas hinzuzufügen, so war sie auch fähig, etwas zu verwerfen; und somit war sie vorbereitet für den zweiten Schritt. „Und die Schlange sprach zu dem Weibe:

Mit nichten werdet ihr sterben, sondern Gott weiß, welches Tages ihr davon esset, eure Augen aufgetan werden, und ihr werdet sein wie Gott, erkennend Gutes und Böses". Jetzt war jede Schranke niedergerissen; der Wille Gottes ist in ihrem Herzen beiseitegesetzt; und die Leidenschaft der Luft nimmt mit völliger Macht Besitz von ihrem Herzen. „Und das Weib sah, daß der Baum gut zur Speise, 'und daß er eine Lust für die Augen, und der Baum begehrenswert wäre, um Einsicht zu geben; und sie nahm von seiner Frucht und aß, und gab auch ihrem Manne mit ihr, und er aß".—Hier ist der Wendepunkt im Leben 'des ersten Menschen. Wenn der Wille Gottes verworfen ist, dann ist der Wille des Menschen der höchste auf Erden; und dies wäre wirklich genug gewesen, Gott gleich zu sein. Aber der Mensch war zu töricht, um zu bedenken, daß durch die Verwerfung des Willens Gottes der Wille Satans geltend gemacht wurde, und daß er durch sein eigenwilliges Handeln in Opposition gegen den Willen Gottes ein Sklave Satans

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geworden sei. Und so ist es gekommen, daß das „Bild Gottes" durch einen Fall verunstaltet und das „Gleichnis" Gottes, bezüglich der Herrschaft des Menschen als Haupt, der Ausdruck des eigenen Ichs und des satanischen Willens gewor­den ist. Deshalb ist der „Wille des Fleisches", oder die „Ge­sinnung des Fleisches Feindschaft gegen Gott; denn sie ist dem Gesetz Gottes nicht Untertan, denn sie vermag es auch nicht" (Röm 8, 9). „Und Adam lebte hundertunddreißig Jahre und zeugte 'einen Sohn in seinem Gleichnis, nach seinem Bilde" (1. Mo 5, 5). So ist es Satan gelungen, den Willen Gottes durch den Willen der Kreatur zu verdrängen; und die Kreatur ist durch eigene Wahl und eigenen Willen ein Sklave des Teufels geworden und zeugt ihre Nachkommenschaft nach ihrem Gleichnis und ihrem Bilde.

Wir haben also zunächst gesehen, daß die Verantwortlichkeit Adams darin bestand, dem Verhältnis der Unschuld und der Segnung in der Gegenwart Gottes gemäß, in vollkommenem Gehorsam zu wandeln; und daß zweitens die „Hilfe", die Gott ihm nach Seiner Weisheit zur Seite stellte, der Kanal sowohl seines Verderbens, als auch seiner Erlösung sein sollte; denn des „Weibes Samen sollte der Schlange den Kopf zermalmen". Und drittens war der Wendepunkt in seiner Stellung, daß sein Wille, indem der sich durch die Verführung Satans über den Willen Gottes erhob, selbst satanisch und er als Mensch mora­lisch nach seinem Willen ein Sklave des Teufels wurde, wäh­rend er seine Freiheit — eine freie, aber immerhin böse Tätig­keit — fern von Gott unter dem Urteil des Todes behauptet. Aber dieser Wendepunkt erscheint uns noch auffälliger, wenn wir unseren Blick auf den zweiten Menschen richten. Der im Gegensatz zu dem ersten sagte: „Siehe, ich komme, um deinen Willen, o Gott, zu tun"; und: „Ich bin nicht gekommen, meinen Willen zu tun, sondern den Willen dessen, der mich gesandt hat". — Nichts tritt klarer in den Evangelien hervor, als dieser eine Punkt, nämlich der vollkommene Gehorsam des „zweiten Menschen". Er hatte keinen eigenen Willen und suchte nichts für Sich Selbst; alles wurde ihm von oben gegeben (vgl. Joh 5, 19. 20. 51; 8, 26. 29; 12, 50; 15,10)- Auf demselben mora­lischen Platze, auf dem der erste Mensch gefehlt hatte, trium­phierte der zweite Mensch: und diese Tatsache tritt uns in der

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Versuchungsgeschichte in der Wüste in auffälliger Weise vor Augen. Satan begegnete dem Herrn auf dem gleichen Boden, auf dem Adam fiel, indem er Ihn zu verleiten suchte, gleich jenem Seinen eigenen Willen zu tun und, als Ihn hungerte. Seine Bedürfnisse zu befriedigen. Aber der Herr, als der „zweite Mensch", lebte nicht vom Brot allein, sondern von jeglichem Worte Gottes. Hier gab es keine Hintergedanken, keine Ge­ringschätzung des göttlichen Willens, der seinen Ausdruck in den Worten fand: „Nicht von Brot allein soll der Mensch leben, sondern von jedem Worte, das durch den Mund Gottes ausgeht" (Mt 4, 4). Er konnte sagen: „Der mich gesandt hat, ist mit mir; er hat mich nicht allein gelassen, weil ich allezeit das ihm Wohlgefällige tue" (Joh 8, 29). Alles, was von dem ersten Menschen in seinem besten Zustande vor seinem Fall gesagt werden konnte, war nach der Schätzung Gottes in den Worten ausgedrückt: „Sehr gut!" — wenn Gott aber Seiner Würdigung bezüglich des „zweiten Menschen" Ausdruck geben wollte, so konnte dies nur aus dam geöffneten Himmel durch den Ruf des Vaterherzens geschehen. „Dieser ist mein geliebter Sohn, an welchem ich Wohlgefallen gefunden habe".

Unsere ersten Eltern befanden sich, wie bereits bemerkt, in Eden — dem Garten der Wonne Gottes. Sie waren nackt und schämten sich nicht; aber nach dem Eintritt Satans wurden in Folge ihres Ungehorsams ihrer beider Augen aufgetan und sie wurden gewahr, daß sie nackt waren. Beschämt zogen sie sich in die Mitte der Bäume des Gartens zurück; denn sie waren nicht länger passend für die Wonne Gottes; und sofort be­gannen sie, das Böse zu heilen, indem sie mit zusammenge­flochtenen Feigenblättern ihre Blöße zu bedecken suchten.

Dieser neue Zustand der Dinge besteht einfach darin, daß Adam selbst aus Eden verlangte, weil er sich unfähig fühlte, länger darin bleiben zu können; und er kann nie wieder dahin zurückverlangen. Er ist „weise" geworden und kennt das Gute und Böse. Das Gute kannte er schon vorher, aber nun kennt er auch das Böse; und diese Erkenntnis hat ihn weise gemacht. Er hat Erkenntnis erlangt, und „Erkenntnis bläht auf". Er hat eine Erkenntnis und Weisheit erlangt, die er nie wieder ver­lieren wird und er hat sich in einen Zustand gebracht, von dem

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er sich niemals wieder befreien kann. Er kann weder seine verlorene Unschuld zurückrufen, noch seiner nun erlangten Erkenntnis sich entledigen oder seine Sünde ungeschehen machen; und er ist nicht mehr passend für die Wonne oder das Wohlgefallen Gottes. „Da schickte ihn Jehova Gott aus dem Garten Eden heraus". Gott hatte ihn passend gemacht für die Segnungen in Seiner Gegenwart; er selbst aber hat sich passend gemacht für Kummer, Elend und Zorn, wovon er sich nie selbst wieder befreien kann. Ja, was noch schlimmer ist, er hat auch jedes Ver­langen, befreit zu werden, verloren; denn sobald seine Augen über seinen Zustand geöffnet sind, gebraucht er — anstatt sich zu Gott, der alleinigen Hilfsquelle, zu wenden — seine neu erlangte Erkenntnis und Weisheit, um sich selbst zu helfen. Die Verantwortlichkeit Adams nach dem Fall bestand nicht darin, das Verlorene wiederzuerlangen, wozu ihm die Macht fehlte, und das Gott durch ein „flammendes Schwert" unmöglich gemacht hatte, sondern darin, Gott anzuerkennen und seinen Platz als Sünder einzunehmen, bis Gott für ihn ins Mittel trat. Wir haben hier also zwei Tatsachen, nämlich daß der Mensch ein Sünder ist, und daß seine einzig wahren Hilfs­quellen in Gott sind. Aber ach! seit er weise geworden ist, glaubt er seine Hilfsquellen in sich selbst finden zu können.

Wenn Gott Barmherzigkeit erweisen kann, so ist es in bezug auf die Sünde; und wirklich. Er kann für einen Sünder etwas Besseres ins Leben rufen. Es handelt sich dabei keineswegs um eine Wiederherstellung in Eden; denn Gott verbessert nie das, was der Mensch verderbt hat; sondern Er schafft etwas Besseres um Seiner Selbst willen und bietet dem Menschen Sein eigenes Heilmittel an. Er versorgte den Menschen in seinem neuen Zustande mit dem, was für ihn ein Unterpfand und Vorbild zukünftiger Segnungen war. „Und Jehova Gott machte Adam und seinem Weibe Röcke von Fell und bekleidete sie" (1. Mo 5, 21). Es ist sehr gesegnet, diese Grundwahrheit zu verstehen und klar im Bewußtsein zu halben, daß Gott nicht allein für den unschuldigen Menschen, sondern noch vielmehr für den verlorenen Sünder die einzige wahre Hilfsquelle ist. Gott war genug, völlig genug für den unschuldigen Menschen, und Er ist auch völlig genug für den verlorenen, ruinierten

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Sünder. Die köstliche Wahrheit wird zwar als eine Lehre viel­fach anerkannt, aber ach! in welch geringem Grade verwirk­licht. Es handelt sich keineswegs um die Frage, was der Mensch — sei es für sich selbst oder für Gott — zu tun vermöge, son­dern einfach um die Anerkennung, daß Gott, voll Barmherzig­keit in bezug auf die Sünde, etwas für den Sünder tun könne. Die Verantwortlichkeit des gefallenen Menschen besteht also, mit einem Wort, einfach darin, seinen Platz als Sünder und Gott als den Geber anzuerkennen und auf Ihn zu warten. Dies ist Glauben, sowie ein Grundsatz, der uns besonders in der Geschichte Kains und Abels (Kap. 4) klar vor Augen gestellt wird. Zwar zollt Kain dem Jehova Gott eine gewisse Anerken­nung, indem er ein Opfer darbringt; aber es war kein Sünd­opfer, und darum kann Gott den Opferer nicht anerkennen. „Aber auf Kain und sein Opfer blickte er nicht" (V. 5). Die Verwerfung des Opfers war zugleich eine Verwerfung des opfernden Kains.

 Indem er Gott durch das Opfer der Früchte des Landes anerkennen will, weigert er sich, seinen eigenen Platz als Sünder einzunehmen; und eben dieses war die Ur­sache seiner Verwerfung. „Wenn du nicht wohl tust, so lagert ein Sündopfer vor der Tür" (V. 7); d. h. solch ein Sündopfer, wie Abel dargebracht, und wodurch auch dir der Weg zur An­nahme geöffnet ist, befindet sich in deiner Nähe. — Gott be­wies hier offenbar Geduld und Nachsicht gegen Kain; aber dieser hatte kein Herz dafür. Es gab Vergebung und über­strömende Gnade bei Gott, aber Kain begehrte weder das eine, noch das andere; er wünschte zwar, ein Bekenner zu sein; aber nach Gott Selbst hatte er kein Bedürfnis. Er mochte sehr freigiebig und religiös in der Darbringung seines Opfers sein und mit großer Andacht dabei zu Werke gehen; aber dieses alles stammte aus dem Fleische und konnte deshalb Gott nicht ge­fallen. Und nicht allein dieses. Kain beschimpfte auch die Hei­ligkeit Gottes indem er durch die Darbringung der Resultate seiner eigenen Wirksamkeit die Früchte eines Landes opferte, auf dem der Fluch ruhte, und mithin leugnete er das Dasein der Sünde. Er maßte sich an, Gott durch das zu gefallen, was ihm zuerst selbst gefallen hatte. Das ist die Gesinnung der Welt, welche hier ihren Anfang nahm (1. Joh 2, 15—17). Man will ein Bekenner Gottes sein, aber man will nicht den eigenen wahren Platz und Charakter vor Gott bekennen.

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In Abel erblicken wir einen völligen Gegensatz davon. Er ist der von der Bibel erwähnte erste Mann des Glaubens (1. Mo 4, 4; Hebr 11, 4). Abel brachte sein Opfer, nicht um sich selbst, sondern Gott zu gefallen. Er kam mit den Erstlingen der Herde, um sie als ein Opfer darzubringen; und dadurch legte er erstens ein Zeugnis ab, daß er Gott in seinem wahren Cha­rakter anerkennt, und zweitens, daß er durch die Darbringung eines Sündopfers den Platz vor Gott einnimmt, der ihm zu­kommt, und drittens, daß er in der Art und Weise seiner Dar­bringung die Worte bestätigt: „Ohne Blutvergießung ist keine Vergebung". — „Und Jehova blickte auf Abel und sein Opfer; aber auf Kain und sein Opfer blickte er nicht". Geliebter Leser! Gewahrst du diesen Unterschied zwischen der Anmaßung Kains und dem Glauben Abels? Die Stellung des Kain war eine eigenwillige, selbstgerechte und gesetzlose Stellung, die vom Abel bildet gerade das Gegenteil davon. Bei Abel finden wir kein Vertrauen auf sich selbst oder auf Fleisch, keinen Eigenwillen, keine Selbstgefälligkeit, sondern er nimmt als ein unter dem Gericht stehender Sünder seinen Platz ein. Er beugt sich unter Gott in der völligen Anerkennung dessen, was sich für die Heiligkeit Gottes geziemt. Und dies war der Platz der Segnung in der Nähe des Herzens Gottes, indem er bald in der Gegenwart Dessen Eingang fand. Dessen Herz so erhaben befriedigt worden war durch den Glauben, welcher Ihn, den Herrn, so hoch geehrt hat. Das Opfer Abels zeugte von dem Glauben, das Opfer Kains hingegen von dem Un­glauben des Darbringers, sowie die Mordtat Kains von dessen Gesetzlosigkeit. In Abel erblicken wir also den Glauben, in Kain die Gesetzlosigkeit, den Geist „dieser gegenwärtigen bösen Welt".

Die Fußwaschung

(Johannes 13, 1—17)

Man hat, und zwar mit Recht und zu wiederholten Malen, darauf hingewiesen, daß der Herr Jesus in Seinen Handlungen und Gesprächen, die wir in den Kapiteln 13 bis 17 des Evan­geliums Johannes aufgezeichnet finden. Sich im Geiste zwischen Seine Auferstehung und Himmelfahrt stellt. Auch charakteri-

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sieren sich die Handlungen und Gespräche dadurch, daß sie nicht mehr in Beziehung zur Welt stehen, sondern sich auf den engen Kreis Seiner Jünger beschränken. Wir finden hierfür einen Beweis in den Worten: „Das Werk habe ich vollbracht, welches du mir gegeben hast, daß ich es tun sollte . . . Nun aber komme ich zu dir ... Ich bin nicht mehr in der Welt". — Es ist klar, daß, als der Herr diese Worte sagte. Er noch vor dem Kreuze stand und noch nicht in Wirklichkeit das Werk der Erlösung vollbracht hatte. Er versetzte Sich also im Geiste in jenen Augenblick, wo alles völlig vollbracht war.

In dem uns vorliegenden Abschnitt ist der Herr Jesus beschäf­tigt, die Füße Seiner Jünger zu waschen und auf diese Weise eine Reinigung zubewirken, die für den Wandel unerläßlich nötig war. Selbstredend dürfen wir nicht aus dem Auge verlieren, daß hier von zwei Arten von Reinigung die Rede ist. Der Fuß­waschung ist eine andere Reinigung vorangegangen, woran der Herr durch die an Petrus gerichteten Worte erinnert: „Wer gebadet ist, hat nicht nötig, sich zu waschen, ausgenommen die Füße, sondern ist ganz rein" (Kap. 13, 10). Jedoch handelt es sich hier eigentlich nicht um das Versöhnungswerk Christi, dessen Blut uns von allen Sünden gereinigt hat, obwohl dieses Werk der Grund von allem ist, sondern das Mittel dieser Reinigung ist das Wasser — ein Bild des durch den Heiligen Geist angewandten Wortes. Sicher sind im Blick auf das Opfer Christi unsere Sünden vollkommen und für ewig hinweggetan, so daß wir jeden Augenblick in den Himmel eintreten können. Wenn der Herr Jesus kommt, kann Er uns. Dank Seinem für uns vergossenen Blut, zu jeder Zeit in den Himmel aufneh­men und uns in die Gegenwart Seines Vaters bringen, der nicht den geringsten Flecken an uns sieht. Wir sind nicht so rein, wie wir denken, sondern so rein, wie Gott es will. Wir sind durch das Blut Christi nicht nach einem menschlichen, son­dern nach einem göttlichen Maßstab gereinigt. „Ganz rein", sagt der Herr; nicht ein einziger Flecken ist zurückgeblieben. Dieses zu verstehen, ist für die Ruhe des Gewissens durchaus erforderlich. Für den Himmel halten wir uns oft nicht rein genug, und das ist die Ursache unserer Furcht; für die Erde halten wir uns oft reiner, als wir wirklich sind, und das ist die Ursache unserer Eigengerechtigkeit. Doch gerade das Gegenteil ist wahr. Wir sind für den Himmel reiner, als wir uns vor-

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stellen, und für die Erde oft mehr befleckt, als wir vermuten; und darum müssen stets unsere Füße gewaschen werden.

Aber hier handelt es sich, wie bereits bemerkt, nicht um eine Reinigung durch das Blut, sondern um eine Reinigung durch das Wasser. Dieser Dienst Christi hat die Wirkung, daß der Heilige Geist in praktischer Weise durch das Wort alle Verun­reinigungen beseitigt, die wir uns im Wandel durch diese Welt der Sünde zuziehen. Auf unserem Wege kommen wir in Be­rührung mit dieser Welt, die Christum verworfen hat; und Er reinigt uns von ihrer Befleckung durch den Heiligen Geist und das Wort. Wir bedürfen einer Reinheit, die der Gegenwart Gottes entspricht. Jedoch handelt es sich hier nur um die Füße. Die in der Stiftshütte dienenden Priester wurden bei ihrer Einweihung gewaschen; und diese Waschung wiederholte sich nicht. Ebenso verhält es sich mit uns. Wir sind einmal wieder­geboren aus Wasser und Geist, und dieses geschieht nicht von neuem. Aber so wie die Priester, so oft sie zu ihrer Dienstver­richtung zu Gott nahten, ihre Hände und Füße wuschen, so bedürfen auch wir stets der Fußwaschung. Hier ist es der Dienst Christi, der Dienst Seiner Liebe. Er legt die Oberkleider ab, umgürtet Sich mit einem leinenen Tuch und gießt Wasser in das Waschbecken. Obschon Er Lehrer und Herr war, ver­richtet Er hier doch die Arbeit eines Sklaven; und nachdem Er Seinen Jüngern die Füße gewaschen hat, sagt Er: „So seid auch ihr schuldig, einander die Füße zu waschen; denn ich habe euch ein Beispiel gegeben, auf daß, gleichwie ich euch getan habe auch ihr tut". — Hieraus ersehen wir, daß wir schuldig sind, uns einander die Füße zu waschen; der Herr Jesus hatte nicht diese Pflicht, denn Er war ihr Lehrer und Herr. Dennoch tut Er es, während wir, deren Pflicht es ist, es oft unterlassen. Der Herr hat uns ein Beispiel gegeben, nicht nur daß wir, son­dern wie wir einander die Füße waschen sollen. Zu diesem Zwecke müssen wir die Oberkleider ablegen und uns mit einem lei­nenen Tuch umgürten; mit anderen Worten: wir müssen uns erniedrigen und Knechte werden. Dazu bedarf es einer gebeug­ten und knieenden Stellung. Stehend vermag man wohl den Kopf, aber nicht die Füße zu waschen. Wie der Herr, so müssen auch wir uns bücken, um dieses Werk verrichten zu können. Er wäscht nur die Füße und nicht, ob es auch Petrus begehren

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mochte, die Hände und das Haupt. Wir möchten im Gegenteil oft lieber die Hände und das Haupt, als die Füße waschen. Wir beginnen leider oft mit dem Haupt, während wir uns mit den Füßen beschäftigen sollten. Auch vergessen wir oft, wie der Herr das Wasser — dieses Bild des Wortes — in ein Becken zu gießen; denn nur das unter der Leitung des Heiligen Geistes angewandte Wort ist imstande, uns von den Verunreinigun­gen in unserem Wandel zu befreien.

Vor allen Dingen sollen wir stets daran denken, daß wir nur dann jemandem in Wahrheit die Füße waschen können, wenn dies in dem Geiste und der Gesinnung des Herrn geschieht. Wir müssen in Seiner Gemeinschaft sein und in Seinem Geiste wandeln. Wie oft mangelt dieses! Wie oft sind wir hart und aufgeregt und mit Bitterkeit gegen den erfüllt, dessen Füße wir waschen wollen! In einem solchen Zustande ist es aber sicher besser zu Hause zu bleiben und nichts zu tun. Der Herr ist nicht schuldig, uns die Füße zu waschen; nur Seine Liebe drängt Ihn zu dieser Arbeit. Er will uns so gern in Seiner Ge­meinschaft haben, weil Er weiß, daß wir nur dann glücklich sind. Vor Beginn der Fußwaschung lesen wir: „Da er die Sei­nigen, die in der Welt waren, geliebt hatte, liebte er sie bis ans Ende". — Die Liebe war also die Quelle, aus der alles hervor­strömte. Wo es an der Liebe mangelt, da kann eigentlich von einer Fußwaschung keine Rede sein; denn dann sind wir, selbst wenn wir noch so richtig das Wort anwenden, unfähig, dieses Werk im dem Geiste des Herrn zu verrichten.

Petrus wollte nicht zugeben, daß der Herr ihm die Füße waschen sollte, indem er sagte: „Du sollst nimmermehr meine Füße waschen!" Der Gedanke, daß der Herr die Arbeit eines Sklaven verrichten sollte, war ihm unerträglich. Jedoch als der Herr sagte: „Wenn ich dich nicht wasche, so hast du kein Teil mit mir!" — zeigte er sich alsbald bereit, indem er rief: „Herr, nicht meine Füße allein, sondern auch die Hände und das Haupt". Kein Teil mit Jesu zu haben, das war ihm schrecklich; schon allein der Gedanke daran genügte, um ihn willig zu machen; denn für die Teilgenossenschaft mit Jesu opferte er alles auf. Steht es so auch mit uns? In diesem Falle werden wir uns, wie Petrus, dem Herrn willig übergeben/um uns durch Ihn reini-

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gen zu lassen. Was könnte auch wertvoller sein, als eine Teilhaber­schaft mit Jesu? Und dennoch geschieht es nicht selten, daß wir uns weigern und uns nicht die Füße waschen lassen wollen, wenn auch aus anderen Gründen, als bei Petrus. Wir können es oft nicht begreifen, warum es nötig ist, daß der Herr ein solches Werk an uns vollzieht. Dann aber gilt das an Petrus gerichtete Wort Jesu: „Was ich tue, weißt du jetzt nicht; du wirst es aber hernach verstehen". Wie oft kommt es im Leben vor, daß wir fragen: „Warum dieses, warum jenes?" — und die Antwort des Herrn ist: „Du wirst es hernach verstehen". Wenn wir einmal in der Herrlichkeit sein werden, und im Lichte Gottes alles offenbar sein wird, dann werden wir sicher mit Asaph sagen:

„Ich war dumm und wußte nichts; ein Tier war ich bei dir" (ps 75, 22). Ja, dort werden wir in den Wegen, die uns hier auf Erden unbegreiflich sind, die liebreiche Hand des Herrn erkennen. Der uns solche Pfade führte, um uns von allem zu reinigen, was unsere Gemeinschaft mit Ihm störte, und wir werden begreifen, wie der Herr stets für uns gesorgt und uns vor vielem Bösen bewahrt hat.

Wie gesegnet, zu wissen, daß zwischen Gott und uns jede Scheidewand niedergerissen ist, und daß aus Seinem Herzen uns nur Liebe und Gnade entgegenströmt. Aber auch wie wichtig und nötig ist es für uns, daß wir uns nicht weigern, wenn der Herr uns die Füße waschen will! Wenn unsere Füße unrein und schmutzig sind, oder, mit anderen Worten unser Wandel befleckt ist, kann Er nicht mit uns sein. Möge es daher unser Verlangen sein, durch Ihn, selbst wenn es schmerz­lich für unsere Natur ist, gereinigt zu werden. Je mehr wir uns reinigen lassen, um so sorgfältiger wachen wir über uns, und desto unerträglicher ist uns jeder Flecken. Wenn wir uns hingegen daran gewöhnen, mit unreinen Füßen zu gehen, wird es uns bald auf einen Flecken mehr oder weniger nicht an­kommen. Oh, wie betrübend und entehrend für Jesu! Er will so gern jede Unreinheit beseitigen. Wir können damit ruhig zu Ihm gehen; nur dann werden wir wirklich glücklich sein, den Herrn genießen und zu Seiner Verherrlichung wandeln können, bis wir die goldenen Straßen des himmlischen Jerusa­lems, wo kein Schmutz uns mehr verunreinigen kann, durch­schreiten und uns in dem vollen Genuß der herrlichen Früchte des Werkes Christi befinden werden.

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Vergeben und vergessen

„Ihrer Sünden und ihrer Gesetzlosigkeiten werde ich nie mehr gedenken" (Hebr 10, 17). Man sagt gewöhnlich unter den Menschen: „Ich will wohl vergeben, aber ich kann nicht ver­gessen". Die menschlichen Gefühle mögen zu Zeiten das Herz so sehr erfüllen und einnehmen, daß die Erinnerung an meine Vergehungen keinen Raum darin finden; doch diese Erinne­rung kehrt nach dem Maße zurück, wie diese Gefühle gegen mich abnehmen und schwach werden. Anders aber ist es mit der Liebe Gottes. Ihr Strom ist so mächtig und so vollkommen, daß er nicht nur unsere Missetaten bedeckt, sondern sie für immer bedeckt. Es bleibt keine Spur davon zurück; sie kommen nie mehr in das Gedächtnis Gottes. „Ihrer Sünden und ihrer Gesetzlosigkeiten werde ich nie mehr gedenken". Gott kann nicht allein vergeben, sondern auch vergessen. Unvergleichliche Liebe!

Hier ist wahre Ruhe für ein aufgewachtes Gewissen. „Das Blut Jesu Christi, des Sohnes Gottes, reinigt uns von aller Sünde" (1. Joh 1.7). Das Auge einer unermeßlichen Heiligkeit kann nicht einen Flecken von Sünde auf dem Gewissen dessen entdecken, der durch das Blut Christi gereinigt ist. Alle Sünden und Gesetzlosigkeiten des Glaubenden sind für immer in das Meer ewiger Vergessenheit versenkt. Gott hat Sich mit Seinem eigenen Worte dafür verbürgt, daß Er nie mehr daran geden­ken werde. „Er erblickt keine Ungerechtigkeit in Jakob und sieht kein Unrecht in Israel". Das Blut Christi hat alles Böse, alles Unrecht für immer beseitigt. Gottes Auge ruht jetzt auf diesem kostbaren Blute, wodurch Er zugleich völlig verherr­licht worden ist; und nie mehr kann die Sünde dessen, der an Christum glaubt, zwischen ihn und Gott treten. Köstliche, gesegnete Wahrheit.

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Das Abendmahl des Herrn

„Ich habe von dem Herrn empfangen, was ich auch euch über­liefert habe, daß der Herr Jesus in der Nacht, in welcher er überliefert wurde, Brot nahm, und als er gedankt hatte, es brach und sprach: Dies ist mein Leib, der für euch ist, dies tut zu meinem Gedächtnis. Gleicherweise auch den Kelch nach dem Mahle und sprach: Dieser Kelch ist der neue Bund in meinem Blute; dieses tut, so oft ihr trinket, zu meinem Gedächtnis. Denn so oft ihr dieses Brot esset und den Kelch trinket, ver­kündigt ihr den Tod des Herrn, bis er kommt" (1. Kor 11, 25—26). „Der Kelch der Segnung, den wir segnen, ist er nicht die Gemeinschaft des Blutes des Christus? Das Brot, das wir brechen, ist es nicht die Gemeinschaft des Leibes des Christus? Denn ein Brot, ein Leib sind wir, die vielen; denn wir alle sind des einen Brotes teilhaftig" (1. Kor 10, 16. 17).

Diese Worte Pauli umfassen in kurzen Zügen alles, was be­züglich des Abendmahls des Herrn in der Schrift gelehrt wird. Verweilen wir daher etliche Augenblicke bei den Einzelheiten und erwägen wir unter der Leitung des Heiligen Geistes den herrlichen Inhalt der Worte.

Was uns zunächst und vor allem ins Auge fällt, .ist die unaus­sprechliche Liebe Jesu, die uns hier entgegenstrahlt. In der Nacht, da Er überliefert ward, nahm Er das Brot. Wie herrlich, teurer Leser! Beachten wir es wohl: in jener Nacht, als sich die Macht der Finsternis auf Ihn stürzte, als Satan seine feurigen Pfeile auf Ihn abschoß, als die Wut der Menschen den Höhe­punkt erreichte, als einer der Zwölfe Ihn mit einem Kuß über­lieferte, und, — was alles andere weit überragt —, als einige Stunden nachher der Zorn Gottes über Ihn ausgeschüttet wur­de und Er, von Gott verlassen, ganz allein am Kreuze hängen sollte, da nahm Er das Brot und dankte. In jener Nacht der Leiden und der Tränen konnte Er, die eigenen Leiden verges­send, an die Freude der elf Jünger, an unsere Freude denken; denn nicht nur für sie, sondern auch für uns und für alle, die durch ihr Wort an Ihn glauben würden, setzte Er das Abendmahl

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ein. „Mit Sehnsucht habe ich mich gesehnt, dieses Passah mit euch zu essen, ehe ich leide", hatte Er gesagt, und dieses galt nicht so sehr dem Passahmahl selbst, als vielmehr dem, was Er am Ende desselben Seinen Jüngern zu schenken gedachte. Doch nicht nur hier zeigte sich der Strahl der Liebe Jesu. 0 nein, noch ein anderer trefflicher Beweis wird uns bezüglich dieser Liebe gegeben. „Ich habe es von dem Herrn empfangen, was ich auch euch überliefert habe", sagte Paulus. Dieser Apostel war bei der Einsetzung des Abendmahls nicht anwesend gewesen:

er war in jener Zeit noch ein Feind Jesu. Aber der Herr hatte ihn durch eine Offenbarung mit dieser Einsetzung bekanntge­macht. Er war, wie er uns im Galaterbrief sagt, nicht nach Jerusalem gegangen, um durch die Zwölfe die Lehre und die Einsetzungen Jesu zu erfahren, sondern der Herr hatte ihn durch Offenbarung mit allem bekanntgemacht. Es ist köstlich, zu wissen, daß der verherrlichte Herr im Himmel und der leidende Herr auf Erden ein und derselbe in Liebe, Treue und Güte ist. In der Nacht, da Er überliefert wurde, nahm Er das Brot, und zur Rechten Gottes mit Ehre und Herrlichkeit ge­krönt, gab Er die Einsetzung des Abendmahls, — das Unter­pfand Seiner unveränderlichen Liebe —, dem Apostel der Nati­onen, um sie Seiner geliebten Versammlung zu überliefern. Ja, unser Heil ist Seine Freude, unser Wachstum in der Gnade, unsere Zunahme im Glauben und in der Liebe, unsere Freude — alles ist Sein Verlangen.

Dieses zeigt uns, zu welchem Zweck der Herr das Abendmahl uns gegeben hat, jedenfalls nicht zur Vergebung der Sünden. Eine solche Bedeutung hat zwar die christliche Kirche hinein­gelegt, obwohl nichts weiter als dies von den Gedanken des Herrn entfernt ist. Wir treten nicht an den Tisch des Herrn, um dort Vergebung der Sünden zu finden, sondern weil wir durch den Glauben an Ihn diese Vergebung gefunden haben. „Der Kelch der Segnung, den wir segnen, ist er nicht die Ge­meinschaft des Blutes des Christus? Das Brot, das wir brechen, ist es nicht die Gemeinschaft des Leibes des Christus?" Wir haben Anteil an dem Leibe und Blute Christi; und das Brot und der Kelch sind davon der Ausdruck. Sie zeugen uns von der unaussprechlichen Liebe Christi, Der Seinen Leib für uns dahingegeben und Sein Blut vergossen hat zur Vergebung

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unserer Sünden. Darum sagt der Apostel: „Der Kelch der Segnung, (Danksagung) den wir segnen usw." Der Tisch des Herrn bildet die Stätte, wo wir unseren Dank darbringen für Seine Liebe und Sein für uns vollbrachtes Werk. Jesus nahm das Brot und dankte. Wie schrecklich die Umstände auch waren, in denen Er Sich in dieser Nacht befand, und deren Er Sich vollkommen bewußt war — dennoch dankte Er, denn Er war auf dem Wege, das Werk unserer Versöhnung zu vollbringen, wodurch wir von allen unseren Sünden gereinigt und auf ewig Sein Eigentum werden sollten. Und wir können danken; denn das Werk ist vollbracht, die Versöhnung geschehen, unsere Sünden sind beseitigt, und wir sind für ewig Sein Eigentum. Wir treten daher nicht an den Tisch des Herrn, um hier über unsere Sünden zu trauern, sondern um uns ihrer Vergebung zu erfreuen und die unendliche Liebe des Herrn zu preisen. Dort muß das Gefühl des Dankes unser Herz erfüllen und feierliches Lob über unsere Lippen fließen. Wir sitzen dort mit dem Bewußtsein der Vergebung unserer Sünden durch das kostbare Blut Jesu und mit der Gewißheit unserer Gemein­schaft mit Ihm, und wir empfangen aus Seiner Hand die Zei­chen Seines Leidens 'und Sterbens, die Pfänder Seiner ewigen Liebe. Fehlt uns diese Gewißheit, so ist der Tisch des Herrn nicht der Platz, wo es uns gestattet ist zu sitzen. Wie können wir den Kelch der Segnung segnen, wenn keine Danksagung in unseren Herzen ist? Und wie können wir danken, wenn wir nicht unserer Gemeinschaft mit Christo versichert sind? Dann sind wir zwar fähig zu bitten, aber nicht fähig zu danken. Doch gerade um unseren Dank darzubringen, sind wir ge­kommen; um ein Fest der Freude zu feiern, sind wir anwesend. So wie einst die Kinder Israel nach der Vertilgung ihrer Feinde am Ufer des Roten Meeres das Loblied ihrer Befreiung an­stimmen konnten, so können auch wir, sitzend um den Tisch des Herrn, und zwar mit den Beweisen unserer Erlösung vor unseren Augen, uns der Hebe Jesu erfreuen und Ihn loben und preisen.

Dann ist das Abendmahl ein Gedächtnismahl. „Dies ist mein Leib, der für euch ist; dies tut zur meinem Gedächtnis . . . Dieser Kelch ist der neue Bund in meinem Blute; dies tut, so oft ihr trinket, zu meinem Gedächtnis". Das waren die Worte

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des Herrn, als Er das Abendmahl einsetzte. Jesus ging hin zu Seinem Vater. Nach der Vollendung des Werkes der Ver­söhnung und Erlösung sollte Er Sich zur Rechten der Majestät in der Höhe setzen, um droben im Vaterhause für die Seinigen eine Stätte zu bereiten. Die Seinigen sollten daher allein auf Erden zurückbleiben. Und nun bereitet der Herr ihnen einen Tisch, um welchen sie sich als Seine Freunde versammeln und Sein Gedächtnis feiern sollten. Wie herrlich! Das menschliche Auge schaut Ihn nicht. Er ist im Himmel; aber hier kommen wir zusammen und empfangen aus Seiner Hand das Brot und den Kelch und erinnern uns Seiner unaussprechlichen Liebe. Wir reden und singen hier von Seiner Liebe und Treue, von Seinem Leiden und Sterben, von Seiner Herrlichkeit. Er bildet hier den Mittelpunkt unserer Betrachtung, den Gegen­stand unserer Freude und Anbetung. Wir sind nicht hier, um etwas zu hören oder zu lehren, sondern um Ihn zu verherr­lichen, von Ihm zu zeugen. Ihn zu preisen und zu rühmen. 0 wie viel können wir an diesem Tische genießen! Oder ist der Gedanke an Seine Liebe, ist es Seinen herrlichen Namen zu preisen, kein Genuß für die Seele? Wird das Herz nicht erquickt, wenn das Auge auf die Herrlichkeit und Schönheit Jesu gerichtet ist? Dient es uns nicht zu einer unaussprech­lichen Freude, solch einen treuen, guten Freund voll von un­endlicher Liebe zu haben? — einen Freund, der Sein eigenes Leben für uns geopfert hat, damit wir, von Tod und Sünde erlöst. Seine Herrlichkeit mit Ihm teilen sollten? Ja, wahrlich, am Tische des Herrn steht Er vor uns in all Seiner Herrlichkeit und Schönheit, in Seiner anbetungswürdigen Liebe und Güte. Und die Folge davon für uns ist, daß wir uns 'selbst mehr und mehr vergessen lernen, um an Ihm unsere Wonne zu haben. Wir lernen, von uns abzusehen, um uns mit Ihm, mit Ihm allein zu beschäftigen.

Darum dient das Abendmahl zur Stärkung unseres Glaubens und zur Vermehrung unserer Liebe. Freilich erscheinen wir nicht zu diesem Zwecke am Tische des Herrn; o nein, die Gedächtnisfeier unseres Herrn und Heilandes ist der einzige Zweck unseres Zusammenkommens. Wir kommen nicht, um an uns selbst — sei es in betreff unserer Sünden, unseres Wachstums oder unseres Genusses — zu denken, sondern wir

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kommen, um uns ausschließlich mit Jesu zu beschäftigen. Doch die Stärkung unseres Glaubens, die Vermehrung unserer Liebe ist eine notwendige Folge dieser Gedächtnisfeier. Wir scharen uns um das Brot und den Kelch, diese Zeichen Seines zu unserer Versöhnung hingegebenen Leibes und vergossenen Blutes; wir verkündigen hier Seinen Tod, jedoch nicht, wie oft fälschlich gelehrt wird, durch das, was wir reden, sondern, indem wir das Brot brechen und den Kelch trinken. Das Brot redet uns von dem für uns in den Tod dahingegebenen Leibe Jesu, während der Kelch von dem für uns vergossenen Blute Zeugnis ablegt; und indem wir nehmen, verkündigen wir den Tod des Herrn. Und wird dies nicht selbstredend an und für sich zur Stärkung unseres Glaubens dienen? Wenn unsere Blicke auf die Hingabe Jesu für uns in den Tod, auf das für uns vollbrachte Werk, auf unsere Versöhnung mit Gott und auf die vollkommene Ver­gebung aller unserer Sünden gerichtet werden, werden wir dann nicht in dem Bewußtsein unserer vollkommenen Erlösung be­festigt? Und wenn wir beständig die Pfänder der Liebe Jesu empfangen, wird dann unser Herz nicht mehr und mehr mit Liebe gegen Ihn erfüllt? 0 gewiß. Die Hauptsumme des Chri­stentums ist, das eigene Ich aus dem Auge zu verlieren und sich in Jesu allein zu erfreuen, oder mit anderen Worten, wegen der Vortrefflichkeit der Erkenntnis Jesu Christi, unseres Herrn, alle Dinge dieser Erde, ja sich selber für Schaden und Dreck zu achten. Nirgends gibt es hierzu einen geeigneteren Platz, als den Tisch des Herrn. Darum ist die Feier des Abend­mahls so gesegnet für Herz und Leben.

Doch das Abendmahl hat noch eine andere Bedeutung. Es ist nicht nur das Fest unserer Erlösung, und nicht nur die Ge­dächtnisfeier Jesu und die Verkündigung Seines Todes, son­dern ist auch die Offenbarung der Einheit der Gläubigen. „Denn ein Brot, ein Leib sind wir, die vielen, denn wir alle sind es einen Brotes teilhaftig", sagt der Apostel. Die an Jesum Glaubenden stehen nicht für sich allein, sie sind nicht abgesondert und ohne Band, sondern sind untereinander ver­bunden und in der engsten Weise miteinander vereinigt, und zwar nicht nur aus Freundschaft und Liebe oder weil sie den­selben Glauben und denselben Herrn haben, sondern weil sie einen Leib bilden. Der verherrlichte Jesus ist das Haupt, und

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die Gläubigen bilden zusammen Seinen Leib. Durch die Taufe mit dem Heiligen Geist ist diese Vierbindung zustande gebracht. ./Denn wir alle sind durch einen Geist zu einem Leibe getauft". Der Ausdruck, die Offenbarung dieser herrlichen Wahrheit, ist das Abendmahl. Alle, welche daran teilnehmen, essen von einem Brote und offenbaren dadurch, daß sie Glieder eines Leibes sind. Wie traurig also, wenn die Gläubigen in Parteien aufgelöst und zerstreut sind, wenn sich der eine hier, der andere dort befindet! Ach! die vorhandenen verschiedenen Sek­ten und Parteien, die alle ihren besonderen Tisch aufgerichtet haben, sind ein Zeugnis von der List Satans und von der Un­treue der Gläubigen. Im Anfang war es nicht so. Damals saßen alle Gläubigen in jedem Orte an einem Tische und offenbarten an diesem Platz die Einheit des Leibes. So ist es nicht mehr. Das einzige, was wir tun können, ist, uns von allen Sekten und Parteien zu trennen und, indem wir uns, als gläubig an Jesum, um Seinen Tisch versammeln, diesen Tisch allen zu­gänglich machen, die von Herzen an Jesum glauben und dieses durch Lehre und Wandel kundgeben. Nur in dieser Hinsicht kann man sich als am Tische des Herrn sitzend betrachten, während alle anderen Einrichtungen nur Tische der verschie­denen Parteien und Sekten sind. Am Tische des Herrn gilt nur die Frage, ob man dem Herrn angehört, während an dem Tische irgendeiner kirchlichen Gemeinschaft die Frage gilt, ob man das glaube, was seitens dieser Gemeinschaft als Wahrheit festgestellt ist, und ob man bereit sei, sich den durch sie be­stimmten Regeln und Einrichtungen zu unterwerfen.

Das Abendmahl ist also ein fest — ein Fest der Erkauften des Herrn — ein Fest zum Gedächtnis Jesu, unseres Herrn und Hei­landes zur Verkündigung Seines Todes — ein Fest, wo die Gläubigen ihre Einheit in Christo als Glieder Seines Leibes offenbaren. Hieraus folgt selbstredend, daß Ungläubige nicht an den Tisch des Herrn gehören. Was sollten sie dort auch tun? Können sie Festfeier halten? Können sie Dank opfern? Können sie den Kelch nehmen und ihn segnen? Unmöglich. Können sie das Gedächtnis Jesu feiern? Sicher nicht; denn um dieses zu können, muß man ein Freund Jesu sein. Und können sie von dem einen Brot essen und also bekennen, ein Leib mit den übrigen Versammelten zu sein? Keineswegs. 0 wenn sie

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es verstehen könnten, dann würde der Tisch, der für uns eine Ursache unaussprechlicher Freude ist, sie verurteilen. Sie wür­den fühlen, daß sie durch ihre Gegenwart den Tisch des Herrn entehrten und entweihten und sich selber eine schwere Strafe bereiteten. Aber zugleich folgt auch hieraus, daß die Gläu­bigen keinen Unbekehrten, keinen Ungläubigen an des Herrn Tische zulassen dürfen. Wie tief ist die Versammlung des Herrn in dieser Beziehung gefallen! Wie sehr ist sie von der ursprünglichen Einrichtung abgewichen! In einem großen Teil der christlichen Kirche ist das Abendmahl ein Gegenstand der abgöttischen Verehrung seitens einer unwissenden Menge ge­worden, während andererseits eine große, in allerlei Parteien zersplitterte Zahl aus ungläubigen, weltlich gesinnten, gott­losen Menschen besteht. Mit diesen sitzen die wahren Gläu­bigen und erklären, indem sie von einem Brote mit ihnen essen, daß sie einen Leib mit ihnen bilden. 0 möchten sich doch die Augen der Kinder Gottes gegenüber einer solchen Sünde öffnen, damit sie sich von einer solchen Abendmahlsfeier fern­halten und sich von den Ungläubigen absondern! Mit vollem Recht müssen wir die Worte des Apostels Paulus: „Das ist nicht des Herrn Abendmahl essen" — auf eine solche Feier anwenden. Nein, an einem solchen Tisch kann der Herr nicht gegenwärtig sein; Er kann unmöglich einen solchen Tisch als den Seinigen anerkennen. Möchte dieses doch jeder bedenken, der bis jetzt noch daran teilnimmt! Es ist eine ernste Sache. Wir haben gesehen, welch großen Wert der Herr auf die Feier des Abendmahls legt, und wie gerne Er die Seinigen an Seinem Tisch vereinigt sieht. Aber eine solche Vereinigung mit Unbe­kehrten, mit Seinen Feinden, dient nur zu Seiner Betrübnis und Unehre. Es handelt sich nicht darum, was wir darüber denken, sondern was Gott darüber denkt. Und Sein Wort spricht in dieser Beziehung deutlich genug. Wer darin forscht, wird nicht behaupten, daß das Abendmahl für Unbekehrte eingesetzt worden ist. Im Gegenteil stimmt man fast im allgemeinen darin überein, daß es der Tisch der Gläubigen ist; und von allen Seiten wird der Zustand, in welchem sich die verschie­denen Kirchengemeinschaften befinden, betrauert und beklagt. Aber wie wenige haben die Kraft und den Mut, mit einem solchen Zustande zu brechen und dem Worte Gottes zu gehor­chen! Und doch wie reich gesegnet würde ein solcher Schritt sein!

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„Aber" wendet vielleicht jemand ein — „wir möchten doch nicht gern über andere ein hartes Urteil fällen"! Nun, das ist auch durchaus nicht nötig. Aber sind die Menschen, mit denen du das Abendmahl feierst, nicht als unbekehrt, weltlich und etliche sogar als gottlos bekannt? Ist ihr Leben nicht ein Leben in dieser Welt? Sind sie nicht Feinde des Evangeliums? Frage sie einmal, ob sie bekehrt seien, und sie werden deine Frage Frage verneinen, oder dich gar verhöhnen. Bekennt je­mand, ein Gläubiger zu sein, und steht sein Leben zu diesem Bekenntnis nicht im Widerspruch, so verweigern wir ihm den Platz am Tische des Herrn nicht. Vielleicht täuscht er uns; aber dadurch ist der Tisch des Herrn nicht verunehrt,

„Aber"— wendet ein anderer ein — „ich feiere das Abendmahl für mich selbst und kümmere mich nicht um die Mitfeiernden". Das ist unmöglich; denn das Abendmahl ist der Ausdruck der Einheit der Versammlung. „Ein Brot, ein Leib sind wir, die vielen". Du sitzest nicht allein, sondern bist in Gemeinschaft mit anderen am Tische des Herrn, und du erklärst, mit allen, welche daran teilnehmen, ein Leib zu sein.

„Aber" — ruft ein dritter — „Judas war doch auch beim Abend­mahl". Doch wenn dieses der Fall gewesen wäre, würde das dir ein Recht geben, mit den Ungläubigen am Tische des Herrn zu sitzen? War Judas damals schon als ein Heuchler, als ein Überlieferer des Herrn offenbar? Keineswegs. Keiner von den Jün­gern hatte darüber die geringste Vermutung; ja, sie begriffen nicht einmal die Anspielung Jesu in dieser Beziehung. Die Be­teiligung des Judas an der Feier des Abendmahls konnte daher den Jungem durchaus nicht hinderlich sein. Indes tritt es bei einer sorgfältigen Vergleichung der anderen Evangelien klar an den Tag, daß der Herr den Judas fortschickte, bevor Er das Abendmahl einsetzte. „Jesus antwortete: Jener ist's, dem ich den Bissen, wenn ich ihn eingetaucht habe, geben werde. Und als er den Bissen eingetaucht hatte, gibt er ihn dem Judas" (Joh 13, 26). Dieser eingetauchte Bissen war ein Stück von dem Passahlamme. Und dann lesen wir: „Als nun jener den Bissen genommen hatte, ging er alsbald hinaus" (V. 50). Und nun sagt uns Paulus, daß der Herr nach dem Mahle, d. h. nach Beendigung des Passahmahls, den Kelch genommen und das

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Gedächtnis Seines Todes eingesetzt habe. Hieraus geht deut­lich hervor, daß Judas zwar an dem Passahmahl teilgenommen, aber gleich nach dessen Beendigung den Obersaal verlassen hat, mithin nicht bei der Einsetzung des Abendmahls gegen­wärtig gewesen sein kann.

Es ist so klar wie der Tag, daß das Abendmahl nur den Gläu­bigen gehört, und daß diese berufen sind, die Heiligkeit des Tisches des Herrn zu bewahren. Alle aber, welche glaubten, „waren beisammen". — „Sie verharrten aber in der Lehre der Apostel und in der Gemeinschaft, im Brechen des Brotes und in den Gebeten" (Apg 2). „Denn was habe ich auch zu richten, die. draußen sind? Ihr, richtet ihr nicht, die 'drinnen sind? Die aber draußen sind, richtet Gott" (1. Kor 5, 12. 15). Es gibt also ein Innen und ein Außen. Drinnen sind die Gläubigen, draußen ist die Welt. Ober die, welche drinnen 'sind, übt die Versammlung, über die, welche draußen sind, übt Gott das Gericht aus. „Ich habe euch geschrieben, keinen Umgang zu haben, wenn jemand, der Bruder genannt Wird, ein Hurer ist, oder ein Habsüchtiger, oder ein Götzendiener, oder ein Lästerer, oder ein Trunkenbold, oder ein Räuber, mit einem solchen selbst nicht zu essen" (1. Kor 5, 11). Das ist deutlich genug. Die Gläubigen sind zusammen, brechen gemeinschaft­lich das Brot und wachen über die Heiligkeit des Tisches des Herrn, indem sie jeden, der unordentlich wandelt, davon ent­fernen. Draußen ist die Welt, die durch Gott gerichtet wird.

Zum Schluß noch ein Wort über die Art und Weise der Abend­mahlsfeier. Auch in dieser Beziehung ist die christliche Kirche von der ursprünglichen Einsetzung ganz und gar abgewichen. Man hat das Abendmahl zu einem Sakrament gemacht. Nun enthält das Wörtchen Sakrament an und für sich nichts Böses, indem es eine heilige Handlung bezeichnet; und in diesem Sinne ist es nicht nur auf Taufe und Abendmahl, sondern auch ebensowohl auf das Gebet und jede andere geistliche Verrich­tung anwendbar; allein der Gebrauch, den man von dieser Bezeichnung gemacht hat, steht mit 'der Heiligen Schrift ganz und gar im Widerspruch, weil man damit etwas ganz Beson­deres ausdrücken will. So hat die römische Kirche sieben, die protestantische zwei Sakramente. Nirgends aber wird man dar-

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über im Neuen Testament ein Wort finden, wie darin auch nirgends von dem heiligen Abendmahl, oder von der heiligen Taufe die Rede ist. Das Wörtchen „heilig" ist hier nichts als eine menschliche Beifügung, welche durch jene falschen Vor­stellungen entstanden sind, die man sich nach und nach von der Taufe und dem Abendmahl gemacht hat. Das Abendmahl ist, wie wir bereits gesehen haben, das Fest unserer Erlösung und das Gedächtnis unseres Herrn. Aber die Kirche hat ein Sakrament daraus gemacht, wodurch man Vergebung der Sün­den erlangt. In der römischen Kirche ist die Messe daraus ent­standen mit der vorgeblichen Verwandlung des Brotes und des Weins in den wahrhaftigen Leib und das wahrhaftige Blut des Herrn. In der lutherischen Kirche, sowie mit geringen Ab­weichungen in den meisten anderen Kirchengemeinschaften, ist es ein Sakrament zur Vergebung der täglichen Sünden ge­worden. Aus diesem Grunde hat man die Form der voran­gehenden Vorbereitung, des Sündenbekenntnisses und der Ab­solution eingeführt. Die Folge dieser verkehrten Auffassung des Abendmahls ist, daß man Prediger oder Priester angestellt hat, die, nachdem sie geweiht oder ordiniert sind, allein als berechtigt betrachtet werden, das Abendmahl auszuteilen. Auch hat man — außer in der katholischen Kirche, wo das Meßopfer täglich mehrmals bedient wird, und wo es nichts mehr ist, als eine Zeremonie und ein Gegenstand abgöttischer Verehrung seitens einer unwissenden Menge — die Feier des Abendmahls auf etliche wenige Male im Jahr beschränkt. Aber beides steht im Widerspruch mit der Einsetzung des Herrn, sowie mit dem Beispiel, das uns die ersten Christen überliefert haben.

Das Abendmahl des Herrn ist ein Mahl, an dem sich die Gläu­bigen zusammen vereinigen, um zum Gedächtnis des Herrn das Brot zu brechen. Es ist der Tisch des Herrn, wo kein anderer als der Herr Jesus der Gastherr ist. Niemand hat das Recht, sich an Seinen Platz zu stellen; niemand hat das Recht, die durch Ihn gesprochenen Worte an Seiner Statt zu sprechen. Von einer „Bedienung" beim Abendmahl ist in der Heiligen Schrift mit keiner Silbe die Rede, aber so wie auch nicht von Predigern oder Priestern die Rede ist, die geweiht oder ordi­niert sein müssen, um das Brot und den Kelch auszuteilen. Alle

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diese Dinge sind nichts als menschliche Erfindungen. Nach der Heiligen Schrift kommen einfach die Gläubigen zusammen, um untereinander das Brot zu brechen und den Kelch unter sich zu teilen, keineswegs aber um das Brot und den Kelch aus der Hand einer ordinierten Person zu empfangen. Paulus, indem er von allen Gläubigen spricht, sagt einfach: „Das Brot, das wir brechen"; — und in der Apostelgeschichte lesen wir- „Am ersten Tage der Woche aber, als sie versammelt waren, um Brot zu brechen . . .". Man versammelte sich um den Tisch des Herrn; jeder der Anwesenden brach das Brot und trank aus dem Kelch, während nach 1. Kor 12 und 14 der Dank durch einen jeden ausgesprochen werden konnte, der dazu durch den Heiligen Geist angetrieben wurde.

Und was den zweiten Punkt betrifft, so hat zwar weder der Herr, noch haben es die Apostel festgestellt, wie oft wir das Abendmahl feiern sollen, sondern dies ist dem geistlichen Urteil der Versammlung anheimgegeben worden. Wir sehen aber, daß der Heilige Geist die Versammlung des Herrn in den Tagen der Apostel geleitet hat, sich an jedem ersten Tag der Woche um den Tisch des Herrn zu versammeln. Und wir wer­den wohl tun, diesem Beispiel zu folgen. Nichts ist herrlicher und gesegneter für unser Herz, nichts bringt uns mehr in die Gegenwart Jesu, nichts läßt uns mehr Seine unendliche Liebe verstehen und genießen, als das Brotbrechen. Lasse sich daher niemand durch den Gedanken zurückhalten, daß solch eine so oft wiederholte Feier leicht zu einer Gewohnheit werden könne; denn ebensogut würde man aus demselben Grunde weniger beten und weniger in der Heiligen Schrift lesen dürfen, weil auch dieses zu einer Gewohnheit werden könnte. Es gibt sicher große Gefahr, daß diese Dinge zur bloßen Gewohnheit oder Form für uns werden können, wie dieses mit allen geistlichen Dingen der Fall sein kann; aber sie deshalb zu unterlassen oder seltener zu verrichten, ist sicher ein ganz verkehrter Weg. Nein, laßt uns vielmehr wachen und beten, daß wir stets mit großem Verlangen und mit großer Freude am Tische des Herrn sitzen mögen; und wir werden stets erfahren, daß es eine ge­segnete Sache ist. Man erkundige sich nur bei allen, welche nach dem Beispiel der ersten Versammlung an jedem ersten Tage der Woche zum Brotbrechen zusammenkommen; und sie

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werden e«, laut bezeugen, daß sie den Wert der Feier des Abendmahls je länger, je höher schätzen und sich an jedem ersten Wochentag freuen, das Vorrecht zu haben, den Tod des Herrn verkündigen und durch die Zeichen Seines Leidens und Sterbens Seine unaussprechliche Liebe anschauen und genießen zu können.

Gefahr und Rettung

Vor etlichen Jahren ereignete sich in einer jener weit ausge­dehnten, pfadlosen Prärien Nord-Amerikas folgender merk­würdige Vorfall. Eine Reisegesellschaft bemerkte nämlich beim Durchschreiten der Prärie, daß ihr kundiger und erfahrener Führer plötzlich stehen blieb und mit banger Besorgnis lau­schend zurückschaute, sich dann niederwarf und, sein geübtes Ohr an den Boden lehnend, laut ausrief, daß er das drohende Geknister eines entfernten Feuers vernehme, und daß die Prärie hinter ihnen ohne Zweifel in Flammen stehen müsse. Und nur zu bald gewahrten die Reisenden zu ihrem Schrecken die am Horizont aufsteigenden Rauchwolken, während ein scharfer Wind die verderbensprühenden Flammen mit rasen­der Schnelligkeit auf sie zutrieb, so daß sie schon in wenigen Minuten sie erreichen und verzehren mußten. Jedoch in diesem verhängnisvollen Augenblick hatte der mit dergleichen Gefah­ren vertraute Führer ebenfalls ein Feuer angezündet, welches vor den Augen der Reisenden im Nu eine große Fläche lichtete, so daß sie kurz nachher auf der abgebrannten Fläche Platz nehmen konnten. Mit einem Male waren sie vor dem heran­wehenden Feuer gesichert aus dem einfachen Grunde, weil hier das Feuer schon alles verzehrt hatte, und mithin die kommende Flamme keine Nahrung mehr fand. Sie waren also von einer Stätte drohender Gefahr auf einen Platz völliger Sicherheit, von einer Stätte der Angst und des Schreckens auf einen Platz sorgloser Ruhe versetzt worden. Es war unmöglich, daß das Feuer sie noch erreichen konnte, weil sie auf einem Boden standen, wo es schon das Werk der Verwüstung voll-

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endet hatte. Flammen, die sie vorher noch bedrohten, hatten ihnen einen Zufluchtsort bereitet; der einst so schreckliche Feind war ihr bester Freund geworden; die Gefahr war vorüber.

Hierin erblicken wir ein treffendes Bild von dem einzig siche­ren Zufluchtsort des geretteten Sünders, der sich gleich jenen Reisenden außer Gefahr befindet. „Es ist dem Menschen ge­setzt, einmal zu sterben, danach aber das Gericht" (Hebr 9, 27). Und wiederum: „Ein jeglicher wird mit Feuer gesalzen werden" (Mk 9, 49). Das Gericht kommt, und unaufhaltsam rollen die Feuerwogen des göttlichen Zorns in schrecklicher Ausdehnung heran und werden bald alle, die in ihren Sünden verharren, gewiß und sicher ereilen. Die Menschen mögen dies nicht glauben; aber dennoch ist es so. Sie mögen es versuchen, sich in ihren Gedanken darüber hinwegzusetzen, oder sie mögen gar darüber spotten; die Sache selbst wird dadurch in keiner Weise verändert. Jeder Pulsschlag bringt sie jener Stunde näher und näher, in welcher die Toten, Geringe und Große, vor Gott stehen werden. Der Tag der Rache, der große Tag der Vergeltung »st vor der Tür. Sein Kommen ist nur noch eine Frage der Zeit. Die Zeit der Annehmung, der Tag des Heils wird bald vorüber sein, und die Pforte der Barmherzigkeit wird für immer verschlossen, und jeder, der in seinen Sünden beharrt, dem verzehrenden Feuer des gerechten Grimmes Got­tes unvermeidlich Freigegeben sein.

Lieber Leser, wo befindest du dich? Auf welchem Platz stehst du? Auf dem Boden des Gerichts oder auf dem Boden der Sicherheit? Bist du in deinen Sünden, oder bist du in Christo? Wende dich nicht von diesen Fragen ab, sondern erwäge sie gerade jetzt in ihrer ganzen Wichtigkeit. Einmal müssen sie gelöst werden. Säume daher nicht länger damit, auch nicht eine einzige Stunde; denn du weißt nicht, wie nahe der Augenblick ist, der dich in die Ewigkeit abruft. Und wenn du in deinen Sünden stirbst, werden die Flammen der Hölle dein ewiges Teil sein. Darum eile und errette deine Seele!

Fragst du etwa: „Wie kann ich gerettet werden?" Bist du dahin gekommen, aus der Tiefe eines gebrochenen und gedemütigten Herzens auszurufen: „Was muß ich tun, damit ich gerettet

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werde?" dann wird die gute Botschaft des Heils, das Evan­gelium der Gnade Gottes gleich linderndem Balsam in dein Herz dringen, daß Jesus für jeden, der an Ihn glaubt, einen Platz der Sicherheit bereitet hat, indem Er dem Feuer des gött­lichen Zornes begegnet ist und die Flammen des göttlichen Gerichts für uns gelöscht hat. Er nahm den Platz des Sünders ein. Er litt den Tod des Sünders, Er ertrug das Gericht des Sünders, Er bezahlte die große Schuld des Sünders. Er wurde für uns zur Sünde gemacht, damit wir Gottes Gerech­tigkeit würden in Ihm. Jetzt ist jeder verlorene Sünder, der einfach und von Herzen an Ihn glaubt, so sicher, wie Jesus Selbst es ist. Der Gläubige hat kein Gericht mehr zu fürchten; denn an seiner Statt hat es Christum getroffen. „Also ist jetzt keine Verdammnis für die, welche in Christo Jesu sind" (Röm 8, l). Und wie könnte es auch noch eine Verdammnis geben für die, an deren Statt Christus das Gericht getragen hat? Er nahm das ganze Gewicht aller unserer Sünden auf Sich und versetzte uns von dem Boden des Gerichts auf den Boden ewiger und göttlicher Sicherheit. Er hat jede Frage hinsichtlich unserer Sünden und des Zustandes zwischen Gott und uns in Ordnung gebracht; und Er ist jetzt vor Gott unsere Gerechtig­keit geworden. So unmöglich, wie noch irgendeine Anklage gegen Christum, den Auferstandenen, erhoben werden könnte, kann es eine Anklage geben gegen den, der an Ihn glaubt. Er war einst mit unserer Sünde beladen, aber Er hat sie für immer hinweggetragen; und jetzt sind alle, die an Ihn glauben, auf einen Platz vollkommener Sicherheit gestellt, wo die Flamme des Gerichts sie nie erreichen kann; die ist für immer vorüber.

Gleichwie in den Tagen Noahs die Arche der einzige Bergungs­ort auf der ganzen Erde war, gibt es auch jetzt nur eine Zu­fluchtsstätte der Errettung; und nur in Christo ist diese Stätte. Keinen von denen, die sich in der Arche befanden, konnte das Gericht erreichen, denn „der Herr selbst schloß hinter ihnen zu". Und keiner von denen, die in Christo Jesu sind, wird ver­lorengehen, denn sie sind „aus dem Tode in das Leben hin­übergegangen". Noah glaubte, daß die Sintflut heranbrechen würde, nicht etwa weil er ein Zeichen davon sah, sondern weil Gott es gesagt hatte. „Durch den Glauben bereitete Noah, da er einen göttlichen Ausspruch von dem, was noch nicht zu

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sehen war, empfangen hatte, von Furcht bewegt, eine Arche zur Rettung seines Hauses". — Und als das drohende Gericht kam, waren alle, welche Gott geglaubt hatten, vor dem Ge­richt in der Arche geborgen, während die Verächter des Wortes Gottes inmitten ihrer Sorglosigkeit durch das Gericht ereilt und vertilgt wurden.

Darum, mein teurer Leser, wenn du noch nicht gerettet bist, so bedenke es wohl, solange es noch heute heißt, daß die Flammenwogen des Gerichts Gottes sich unaufhaltsam heran­wälzen und auch dich bald erreichen werden, wenn du nicht in Eile jene sichere Zufluchtsstätte betrittst, wo diese Flammen bereits ihr Werk vollendet haben und darum keine Nahrung finden können. Jene Reisenden fanden eine zeitliche Rettung, indem sie dem immer näher herankommenden Feuer entflohen und jene Stätte betraten, wo das Feuer bereits vorher gewütet und ihnen eine Stätte der Sicherheit bereitet hatte. So hat das Feuer des Zornes Gottes anstatt des Sünders Jesum getroffen, damit der Sünder in Ihm eine ewige Rettung finden kann. Darum, eile und errette deine Seele.

Die Gefühllosigkeit der Sünde

Wie wenig verstehen die meisten Menschen, was die Sünde in den Augen Gottes ist! Wie oft bekennen sie oberflächlich, daß sie Sünder seien, ohne auch nur im Entferntesten daran zu denken, wie scheußlich vor Gott die Sünde ist, deren Beseiti­gung nur von seiten Gottes, und zwar nur durch den Tod Seines Sohnes geschehen konnte! Wohl mag, während die im Herzen aufsteigenden bösen Gedanken unbeachtet bleiben, ein bloß natürliches Gewissen durch eine böse Handlung be­unruhigt werden; aber wie fern liegt oft dem menschlichen Herzen die Frage, warum Christus sterben mußte und warum Gott das Böse verbot, das in ihrem Herzen ist! Sie glauben nicht, daß sie durchaus sündig und von Gott getrennt sind. — Als Gott den Menschen aus Eden vertrieb, gab Er ihm als steten Begleiter das Gewissen mit auf den Weg. Und dieses

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Gewissen, wenn es verletzt ist, ist ein schrecklicher Begleiter, aber in Wahrheit zugleich auch eine Barmherzigkeit von seiten Gottes, Der auf diesem Wege beabsichtigte den Menschen zum Verständnis seines Zustandes zu bringen.

Paulus war nach seinem natürlichen Gewissen tadellos; allein sobald das Licht in seine Seele schien, zeigte sich die Feind­schaft seines Herzens gegen Gott. Jedoch strahlte das Licht, das sein Herz bloßstellte, von dem Angesicht Dessen aus. Der das auf seinem Gewissen lastende Gericht Gottes getragen hatte.

Viele sprechen oft in einer Weise vom Himmel, als ob es eine abgemachte, selbstverständliche Sache sei, daß sie hineinkom­men, während sie sich um nichts weniger bekümmern, als um den Himmel. Wie oft hört man sie in Leichtfertigkeit sagen:

„Ich hoffe, in den Himmel zu kommen", während sie gegen niemanden gleichgültiger sind, als gegen Christum! Gibt es irgend etwas, wodurch die Gefühllosigkeit des Menschen in­folge der Sünde mehr an den Tag tritt, als seine offenbare Sorglosigkeit über seinen Zustand vor Gott? Oder gibt es ir­gend etwas, was seine weite Entfernung von Gott mehr ins Licht stellt, als seine alle Begriffe übersteigende Gefühlslosigkeit gegen die himmlischen Dinge und gegen Christum? Adam gab für den Genuß eines Apfels alles preis, was Gott für ihn war; und dieses tut der Sünder jeden Tag. Er gibt fortwährend Gott preis für die Dinge dieser Welt. Irgendeine Ergötzung in dieser Welt hat mehr Macht über ihn, als all' die suchende Liebe Gottes, als der ganze Reichtum der Gnade Christi. Gleich dem reichen Jüngling geht er „betrübt hinweg"; und obwohl ihm sein wahrer Zustand vor Augen gestellt worden ist, so geht er dennoch „hinweg". Aber dadurch liefert er den un­zweideutigen Beweis von der tiefen Verdorbenheit seines Her­zens, das von jeder Spur göttlichen Lebens gänzlich entblößt ist. Der Heilige Geist wendet Sich zu den Sündern mit der Ein­ladung: „Laßt euch versöhnen mit Gott!" aber wie wenige achten darauf! Doch wenn sich Gott einer Seele offenbart, so entdeckt sie, daß in ihr, das ist in ihrem Fleische, die Sünde wohnt, welche sie an und für sich selbst für immer von Gott trennen müßte, die aber zugleich die Ursache geworden ist, daß

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Jesus Sich für sie hingegeben und den Zorn Gottes getragen hat, um ihr nach vollbrachtem Werke die ungesuchte Liebe Gottes zu offenbaren. Dann lernt sie verstehen, daß Gott nach Seiner großen Barmherzigkeit dazwischen getreten ist und in betreff ihrer Sünden und ihres Zustandes — der Ursache ihrer Betrübnis — mit Seinem Sohne in Gerechtigkeit gehandelt hat, um Seiner Liebe gegen sie freien Lauf zu lassen und in Gnade mit ihr verkehren zu können.

Wie schrecklich ist es deshalb, wenn der Mensch angesichts dieser Tatsachen in der Sünde beharrt, um derentwillen Chri­stus, der Sohn Gottes, den Tod geschmeckt hat! Welch ein ernster Gedanke, die Ursache des Todes Christ zu sein! Aber wie wahr dieses ist, so ist es auch ebenso wahr, daß Er ge­storben ist, um die Sünde hinwegzunehmen, so daß der Ihm nahende Sünder sagen kann: „Ich glaube, daß dieser hoch­gelobte Jesus am Kreuze den Kelch des Zorns Gottes getrun­ken hat, und daß Er jetzt als mein Heiland zur Rechten Gottes sitzt". — Dieses Bewußtsein allein kann die Seele mit Ver­trauen zu Gott erfüllen. Gott erwartet jetzt nichts anderes van dem bußfertigen Sünder, als daß er an Seine Liebe glaube. „Er hat seines eigenen Sohnes nicht verschont". Jesus gab Sich Selbst für den Sünder hin, damit der, gereinigt von Sünden, für immer in Seiner Nähe sein könne. Diese vollkommene Gnade reinigt das Herz von aller Unaufrichtigkeit, so daß der Sünder nicht mehr bemüht ist, den wirklichen Zustand zu ver­bergen, sondern vielmehr in dem Bewußtsein ruht, daß Gott alle Dinge kennt, — ein Bewußtsein, das uns fähig macht, uns selbst zu erkennen und zu verurteilen. Dann kann die Seele, im Besitz der vollkommenen, göttlichen Gunst, mit Aufrichtig­keit sagen: „Ich habe Frieden mit Gott durch unseren Herrn Jesum Christum und rühme mich in Hoffnung der Herrlichkeit Gottes". Und dies ist der Weg zur völligen Entwicklung des christlichen Charakters.

0 mit welch einem Gott haben wir es zu tun! Er empfiehlt uns, den Sündern, Seine eigene Liebe, damit wir sie genießen und Frieden mit Ihm haben möchten. Wie glücklich ist das Herz, das versteht, was Er für uns, die von Natur armen, verlorenen Sünder, ist — Er, Der Sich in triumphierender Gnade über all

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unserem Elend erhob! Und der Heilige Geist ist beschäftigt, Zeugnis abzulegen von dem, was Gott in Seiner Güte für uns ist/ die wir in uns selbst nur Sünder sind. Glückselig alle, die in Wahrheit verstanden haben, daß das Kreuz Christi allen Ansprüchen Seiner Herrlichkeit entsprochen hat! Aber wie schrecklich ist der Zustand derer, die es vorziehen, in der Fin­sternis, dem Unglauben und der Gefühllosigkeit der Sünde zu verharren!

Die Ruhe

Von wie vielen armen, ermüdeten Herzen mögen wohl in diesem Augenblick gleich einem Echo die Worte des Psalmisten widerhallen: „O daß ich Flügel hätte wie die Taube! ich wollte hinfliegen und ruhen" (ps 55, 6). Das Verlangen nach Ruhe ist seit dem Sündenfall immer der Gegenstand der tiefsten Sehn­sucht des Menschenherzens gewesen. Schon in Eden, ehe noch der Lohn der Sünde eingeerntet war, kündigte diese Sehnsucht ihr Dasein durch das Verlangen nach Ruhe an. Von dem Augenblick an, wo ein unbefriedigter Wunsch den unschul­digen Genuß der Güte Gottes aus den Herzen unserer ersten Eltern verdrängt hatte, war auch die Ruhe aus den Herzen gewichen, und seitdem hat sich jene Sehnsucht nach Ruhe bei ihren Nachkommen in den aufeinanderfolgenden Geschlech­tern von Herzen zu Herzen fortgepflanzt. Immer stärker und heftiger drangen die Seufzer aus der Tiefe dieser Sehnsucht zu dem beleidigten Thron Gottes hervor, bis nach den ewigen und weisen Ratschlüssen des Vaters der Sohn Seiner Liebe aus Seinem Schöße in diese arme Welt herniederkam. Dann ver­nehmen wir zum ersten Male, daß dem Menschen, inmitten dieser traurigen Szene, Ruhe angeboten wird, jedoch nicht jene verheißene Ruhe, die durch den jüdischen Sabbath bereits an­gedeutet war, und nach welcher die Kreatur sich sehnt, son­dern eine Ruhe, die wir jetzt schon genießen können. Ohne Zweifel bleibt noch eine Ruhe für das Volk Gottes; diese wird geoffenbart werden, wenn die Macht Gottes alle Dinge im Himmel und auf Erden in geordneter Schönheit unter Christum

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vereinigt haben wird. Aber es gibt gegenwärtig inmitten dieser unruhigen, mühseligen, mit Seufzern erfüllten Szene eine Ruhe für jedes mühselige und beladene Herz, und zwar die süßeste und köstlichste Ruhe. Es ist nicht die Ruhe Gottes, welche die Hoffnung in späteren Zeiten erwartet, sondern die Ruhe in Gott, die der Glaube jetzt genießt, und welche Jesus den Müh­seligen und Beladenen anbietet und gibt, indem Er sagt:

„Kommet her zu mir, alle ihr Mühseligen und Beladenen, und ich werde euch Ruhe geben" (Mt 11, 28). Es ist, wie jemand bemerkt hat, nicht mehr eine Frage der Verantwortlichkeit, eine Sache, die von unserer Annahme abhängig ist, sondern es ist die freie und unumschränkte Gnade, die aus sich selbst und für sich selbst handelt, indem sie Mühselige und Beladene zur Ruhe führt. 0 wie gesegnet ist dies alles! Er, Der diese Worte sprach, wußte was die Welt, und auch was der Mensch, selbst der bevorzugtste war. Er wußte, daß in einer Welt, die ohne Gott war, und wo Sein Name entehrt und Seine Gnade ver­achtet wurde, eine große Zahl von Mühseligen und Beladenen war, wo aber keine Ruhe zu finden war. Er Selbst war der einzige, in Dem das ermüdete Herz einen Ruheplatz finden konnte; und Er, Dessen Auge gleichsam den ganzen Raum der Zeiten und alle darin befindlichen Herzen überschauen konnte, ruft allen zu: „Kommet her zu mir"!

Diese Einladung dringt nach allen Richtungen hin, weil sich überall Menschen befinden, denen sie gilt. Wo irgendein menschliches Herz schlägt/ dessen Leben allein das Leben Adams ist, da findet sich auch jene schmerzliche Leere, die nur Er ausfüllen kann. Der gesagt hat: „Kommet her zu mir, und ich werde euch Ruhe geben". Nicht eine vergängliche und zeit­liche Gabe bietet Er hier an, sondern eine ewige und göttliche Ruhe — eine Ruhe, welche tief und bleibend ist, wie die Natur und der Thron Dessen, Der Seinen eingeborenen Sohn auf diese arme fluchbeladene Erde herniedersandte, um jene wun­derbaren Worte himmlischen Trostes zu reden, die gleich lin­derndem Balsam in das verwundete Herz fallen und die Seele mit süßem Entzücken erfüllen — Worte, die, aus dem Herzen Gottes dringend, als Antwort dienen auf den Angstruf: „O daß ich Flügel hätte wie die Taube! — ich wollte hinfliegen und ruhen"! Es handelt sich hier nicht um eine mitgeteilte Macht,

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die uns befähigt, einen mühsamen Ausflug nehmen zu können zu einem Lande der Ruhe und Freude, sondern es ist der sanfte Flug der Liebe, die sich herniederläßt zu dem Herzen des Be­ladenen, um ihm Ruhe und Freude zu bringen, ohne daß es von Seiner Seite auch nur der geringsten Anstrengung be­dürfte, um .diese Gabe zu erlangen. Es ist eine Gabe, nicht gesandt durch die Hand eines der Häupter der heiligen Engel des Lichts, sondern gesandt von Gott durch die Hand des Sohnes Seiner Liebe. Ja, es war die gesegnete Mission unseres Herrn Jesu in dieser armen Welt, eine gegenwärtige Ruhe zu geben. Bald wird Er kommen in Herrlichkeit, und dann wird Er eine vollkommene Ruhe von den Umständen und Leiden dieser Zeit jener Ruhe beifügen, deren Süßigkeit wir jetzt schon genießen, während das Herz in Ihm ruht. Den die Umstände weder erschüttern noch verändern können, und Welcher „der­selbe ist gestern und heute und in Ewigkeit".

Woher aber kommt es, möchte ich fragen, daß vielen diese Ruhe so ganz und gar fremd ist, während sie sie doch unauf­hörlich suchen und sich danach sehnen? Die Ursache ist ein anklagendes Gewissen und ein unbefriedigtes Herz. In der vergeblichen Hoffnung, das Gewissen zu beruhigen, unterwirft sich der Mensch den ermüdenden Gebräuchen religiöser Vor­schriften und gesetzlicher Forderungen; und mit der gleichfalls nichtigen Anstrengung, das Herz zu befriedigen, stürzt er sich in den betäubenden Strudel geräuschvoller Vergnügungen. Doch anstatt seinen Zweck zu erreichen, entfernt er 'sich nicht nur immer weiter von der wahren Quelle, wo allein das Gewissen und das Herz Befriedigung finden kann, sondern er wird auch, je ernster und eifriger er auf seiner Bahn vorwärts schreitet, immer mühseliger und beladener. Wie ganz anders ist es hin­gegen, wenn man den Blick von dem Menschen weg auf den gepriesenen Heiland richtet. Der in diese Welt kam, um dem Menschen das zu geben, was dieser vergeblich durch eigene Anstrengungen zu erlangen sucht — nämlich Frieden für das Gewissen und Ruhe für das Herz.

Diese Gedanken führen uns zu den beiden erhabenen Seiten der gesegneten Mission des Sohnes Gottes. Er kam, um einer­seits durch das Opfer Seiner Selbst die Sünde wegzunehmen

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und die Errettung des Menschen zu bewirken, und andererseits den Vater zu offenbaren und das Herz Gottes in der Voll­kommenheit Seiner Natur als Liebe vor den Blicken Seiner Geschöpfe zu öffnen. Die Erkenntnis des ersten bewirkt den Frieden des Gewissens, der Genuß des zweiten erfüllt das Herz mit vollkommener Ruhe, deren Süßigkeit kein unbefriedigtes Sehnen darin zurückläßt.

Lieber Leser, kennst du diese Ruhe? Wenn nicht, so wende dich zu dem Blute Christi und trinke aus der Lebensquelle mit vollen Zügen. „Er hat Frieden gemacht durch das Blut seines Kreuzes"; und „Sein Blut ist wahrhaftig Trank", der das Ge­wissen fleckenlos macht, gleich dem unbefleckten Lichte Gottes. Dann aber setze dich zu Seinen Füßen nieder und lerne von Ihm, wie Er die Liebe des Vaters offenbart, jene Liebe, in welcher Er, während Er als Mensch diese Erde überschritt, stets ruhte, — und du wirst die Ruhe des Herzens kennen, wie Er sie kannte Der da sagt: „Ich habe ihnen deinen Namen kund­getan und werde ihn kundtun, auf daß die Liebe, womit du mich geliebt hast, in ihnen sei und ich in ihnen" (Joh 17).

Das ist Ruhe — Ruhe in Gott, das gegenwärtige Teil des Glau­bens, der horchend zu den Füßen Dessen sitzt. Der sagt:

„Kommet her zu mir ... ich werde euch Ruhe geben".

König David und sein neuer Wagen 

(1. Chronika 13—16)

Die Verrichtung einer guten Sache und namentlich des Werkes des Herrn, aber in verkehrter Weise und nach eigenem, mensch­lichen Ermessen muß und wird die traurigsten Übel und wohl gar den Tod zur Folge haben. Es ist eine unleugbare Tatsache, daß Widerwärtigkeiten weniger gefährlich sind, als Tage des Wohlergehens; und wohl niemand hat dies mehr erfahren, als David, der Sohn Jesses. Nichts ist mehr wahr, als das Wort des

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Apostels: „Wenn ich schwach bin, dann bin ich stark"; — und wir können unsererseits wohl hinzufügen: „Wenn wir stark sind, dann sind wir schwach".

Die oben angeführten Kapitel stellen eine anziehende, beach­tenswerte und ernste Szene dar, in der wir David von Personen und Umständen umgeben sehen, die geeignet sind, aufzublä­hen und Herz und Sinn von den Wegen und dem Worte Got­tes, ja von Gott Selbst abzulenken; und leider nur zu oft ist dies dem Feinde gelungen. David steht hier nach seinen Leiden, Ängsten und verschiedenen Siegen auf dem Punkt, zum König über ganz Israel gemacht zu werden. Die Obersten und Füh­rer versammeln sich um ihn; und alle verfolgen nur eine Ab­sicht, ein Ziel, nämlich jenen Mann zu rühmen und zu erheben, welcher Goliath, ihren mächtigen Feind, erschlagen hat (1. Chr 12, 24—40). Aber dieses alles scheint für das Herz und den Glauben Davids zu viel zu sein; denn es bemächtigt sich seiner, lenkt das Auge auf das eigene Ich und zieht ihn aus der Ge­meinschaft Dessen, Welcher gesagt hat: „Ohne mich könnt ihr nichts tun". Die, welche sich auf den Arm des Fleisches stützen, wie mächtig und herrlich der auch scheinen mag, anstatt auf Ihn zu schauen und zu vertrauen. 

Der uns allewege erhält, leitet und unterweist, sind sicher in Gefahr, verkehrt zu wan­deln und werden unausbleiblich Sünde, Schmerz und Traurig­keit über sich und andere bringen. Israel ist zu sehr mit seinem Könige und zu wenig mit dem Herrn beschäftigt; und der König ist so sehr für das Volk und dessen Führer eingenom­men, daß nur an Freude und Festlichkeit gedacht und drei Tage hindurch über den Ergötzlichkeiten und Belustigungen alles andere beiseitegesetzt wird. Der nächste Schritt verrät schon das Geheimnis und den wahren Zustand des Herzens Davids. Er hält Rat mit den Obersten und Führern und nicht mit dem Herrn allein. Der Mensch und nicht Gott — ausgenommen in einem höchst geringen Grade — beschäftigt seinen Geist (1. Chr 13). Welch ein treues Bild ist dieses von unseren Tagen! Man blickt nur auf die religiöse Welt. Was anders tut sie als sich mit dem Geschöpf beraten und nicht mit dem Schöpfer allein. Der „Gott ist über alles, gepriesen in Ewigkeit"?

Im zweiten Verse ist Gott eingeführt; aber Er erhält neben David nur den zweiten Platz, weil das Geschöpf, beinahe mit

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Ausschluß des Schöpfers, verehrt und bedient wird. Die Folge ist, daß Gott solche Menschen ihren eigenen Gang verfolgen läßt, bis viele zum Bewußtsein des großen Übels und der Tor­heit gelangt und, daß sie Gott und Sein Wort verlassen haben, indem sie ihren eigenen, mit ihrem irrenden Verstande ersonnenen Wegen gefolgt sind. Man blicke nur auf das Papsttum, auf die griechische Religion, auf den Protestantismus und auf die verschiedenen kleineren Gemeinschaften; und man ver­gleiche das Ganze mit den Evangelien, der Apostelgeschichte und den Briefen der Apostel, und sicher wird man finden, in welch einer schreckenerregenden Weise man den in diesen drei Teilen des Neuen Testaments bezeichneten Boden verlassen hat.

Wo findet man jetzt etwas, das ähnlich ist der Einheit und Einfachheit, welche die Zusammenkünfte und den Gottesdienst Christi und Seiner Apostel so sehr charakterisierte? Es zeigt sich kaum noch eine Spur von derselben Art und Sache. Die religiöse Welt hat eine ganz entgegengesetzte Form von Gottes­dienst für sich gemacht, eine Form, die von derjenigen des Herrn und der Apostel ganz und gar abweicht. Man nehme die Geschichte und die Briefe der Apostel zur Hand und man zeige uns irgendeine wesentliche Ähnlichkeit zwischen dem hier wahrgenommenen einfachen, schmucklosen, geistlichen, fami­liären Gottesdienst und den verschiedenen angenommenen Gebräuchen unserer Tage. Kein aufrichtiger, redlicher Mann kann behaupten, daß in allen Religionsparteien, von Rom, diesem Meer der Ungerechtigkeit, bis zu dem kleinsten Bäch­lein der Sekten herab, etwas der ursprünglichen Vereinigung Ähnliches zu finden ist, oder mit 'der Art und Weise oder den Grundsätzen des Gottesdienstes der ersten Christen zu ver­gleichen sei. Die sogenannten Priester, Geistliche oder Pastoren maßen sich, — ich rede von ihrem Amt —, den Platz Christi, des einzigen Hauptes, sowie den Platz des Heiligen Geistes, des einzigen Regierers und Leiters der Kirche, an. Dies ist eine so traurige Tatsache, daß, gemäß den Regeln und Vor­schriften fast aller dieser Sekten, weder die Apostel noch der Herr Jesus Selbst, falls sie heute oder morgen an deren soge­nannten Gottesdienst teilnehmen würden, es wagen dürften, irgendein Lied anzugeben, oder zu beten, oder zur Erbauung

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der Versammlung die Lippen zu öffnen. Und warum dieses? Wegen der menschlichen, unbiblischen Regel und Anordnung, daß der Priester, oder der Geistliche oder der Pastor die einzige rechtlich eingesetzte Person ist, der man das Recht eingeräumt hat, die Dinge zu verwalten und das Wort zu führen. Diese Anordnung läßt weder dem Herrn und Seinen Aposteln, noch dem Heiligen Geiste einen anderen Platz als den eines stummen Zuhörers. Ist das die göttliche Weise, um das Werk Gottes zu tun? Ja, ist es nicht menschlich, selbst satanisch, wenn der Herr Jesus, der Heilige Geist und die Apostel schweigen müs­sen, weil, gemäß den Regeln aller kirchlichen Parteien unserer Tag, der Priester, der Geistliche, oder der Pastor, mag auch jeder von ihnen ein wahrer Christ sein, von Menschen in den Platz des Heiligen Geistes eingesetzt ist und demzufolge bei Gelegenheit des Gottesdienstes alles zu verrichten hat? Ist dieser Dienst in der Hand eines Mannes nicht zu einer leeren Form herabgesunken? Was anders ist dies als „Davids neuer Wagen" (1. Chr 15, 7), um das Werk Gottes zu tun, anstatt sich nach der im Neuen Testament bezeichneten alten und einfachen Weise Gottes umzusehen? Und ist es daher ein Wunder, daß so viele Unruhe, Betrübnis, Blindheit, Weltlich­keit, Dürre und geistlicher Tod inmitten der kirchlichen Par­teien unserer Tage herrschen? Anstatt die Bundeslade durch die von Jehova erwählten Leviten tragen zu lassen, beschlossen David und seine Großen, dies durch den neuen Dienst eines neuen Wagens bewerkstelligen zu lassen. Anstatt des Dien­stes bezüglich der Bundeslade ausgeführt von den erwählten Dienern Gottes, sehen wir hier von seiten Davids und Israels in dem neuen Wagen eine Nachahmung des Beispiels der Phili­ster, ähnlich dem Dienst der verschiedenen Religionsbekennt­nisse, welche ebenfalls den schriftwidrigsten Mustern nach­gefolgt sind.

Der Mensch liebt das, was neu und ungewöhnlich ist, und was er selbst erfunden hat. Die Geschichte Roms (ich meine das kirchliche und nicht das heidnische Rom) liefert uns die Be­weise dafür. Hier findet man Neuerungen, neue Erfindungen, Anordnungen, Pläne und eigene Gebräuche, die man, vermischt mit dem einfachen Wege und Worte Gottes, den Juden und Heiden nachgeahmt hat. Und hat nicht der Protestantismus manches, das nur eitles Blendwerk ist, dem römischen System

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entlehnt? Sicher; und ebenso haben Andersdenkende, welche aus der Landeskirche ausgeschieden sind, Irrtümer mit her­übergenommen, deren Quelle in Rom zu suchen ist. Man ver­gleiche nur alle diese kirchlichen Gemeinschaften mit den Ver­sammlungen der Apostelgeschichte und der Briefe, und man wird sofort finden, wie völlig diese menschlichen Systeme den durch den Heiligen Geist berufenen Versammlungen entgegen­gesetzt sind. Kaum gibt es in den sogenannten Kirchen noch einen Zug, der ähnlich demjenigen ist, was wir im Neuen Testament finden. Ist die Gemeinschaft irgendeiner Partei gleich der Ge­meinschaft des Leibes Christi? Ist der Dienst in irgendeinem Punkte gleich? Nein. Ist die Art und Weise, den Dienst auf­rechtzuhalten, dieselbe? Keineswegs. Ist, wie ehedem, jene Einfalt und Einheit durch den Heiligen Geist dieselbe, oder begegnet man nur der Vereinigung irgendeiner Partei oder Sekte, wo Schein und Stolz vorherrschen? Gibt es mit einem Worte irgend etwas in diesen menschlich ersonnenen Körper­schaften, was wirklich ähnlich wäre dem einfachen Gottes­dienste der früheren Versammlungen, wovon wir lesen: „Die Gläubigen alle aber waren zusammen — und große Gnade war auf ihnen allen; . . . von den Übrigen aber wagte keiner, sich ihnen anzuschließen; . . . aber um so mehr Gläubige wurden dem Herrn hinzugetan".

Es besteht nicht die geringste Ähnlichkeit zwischen den reli­giösen Körperschaften der Jetztzeit und den Versammlungen der ersten Christen. Ebenso könnten wir sagen, daß es ein und dieselbe Sache sei, wenn die Bundeslade auf Anweisung Davids und Israels auf einem neuen Wagen gefahren wurde oder wenn sie auf Bestimmung Jehovas auf den Schultern Seines auser­wählten, geheiligten Volkes getragen wurde. David beriet sich mit dem Geschöpf und trachtete nach äußerem Ansehen; und dennoch vermengte er den Namen des Herrn mit seinen eigenen Plänen, um seinem Gewissen ein wenig Ruhe zu verschaffen (1. Chr 15, 2—6). Das ist es gerade, was die Diener, Priester und Geistliche als solche öffentlich getan haben. Sie sind der Schicklichkeit und des Ansehens wegen, sowie im Blick auf Amt und Würde, in ein System getreten, dessen geringster Teil, im Lichte der Heiligen Schrift geprüft, nicht darin gefun­den wird. Sicher, man könnte, und zwar in der aufrichtigsten

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Liebe, alle sogenannte Kirchen oder Gemeinschaften kühn herausfordern, auch nur den schwächsten Zug wirklicher Ähn­lichkeit zwischen irgendeinem ihrer Systeme und der Kirche Gottes, wie sie in Seinem eigenen Worte gefunden wird, zu zeigen. Wenn ein von Rindern gezogener, neuer Wagen gleich ist einer Anzahl heiliger, ergebener Leviten, dann sind auch die von einzelnen Menschen ersonnenen, sogenannten Kirchen unserer Tage und die durch den Heiligen Geist gesammelte Kirche in den Tagen der Apostel eine und dieselbe Sache. Aber die sogenannten Kirchen der Gegenwart sind von der Kirche Gottes von Alters her so sehr verschieden, wie die Anordnun­gen Davids von der Art und Weise verschieden waren, in welcher die Leviten die Bundeslade Gottes zu tragen pflegten. Beachten wir es hier, wie der Mensch sich der Werke seiner Hände rühmt. „Und sie fuhren die Lade Gottes auf einem neuen Wagen aus dem Hause Abinadabs weg; und Ussa und Achjo führten den Wagen. Und David und ganz Israel spielten vor Gott mit aller Kraft: mit Gesängen und mit Lauten und mit Harfen und mit Tamburinen und mit Zimbeln und mit Trompeten" (1. Chron 15, 7—8). Aber trotz ihrer Musik und Ruhmredigkeit gab es nichts Beständiges und Festes in ihrem Werk. Menschliche Erfindungen statt der Anordnungen des Herrn sind sicher erschütterlich und nicht haltbar. Die Rinder hatten sich losgerissen; und als Ussa seine vermessene Hand ausstreckte, um die Bundeslade zu halten, fand er sofort seinen Tod (V. 9—10). Das sind die Folgen, wenn man das Werk Gottes auf Menschenweise zu verrichten trachtet. Betrübnis, Schrecken und selbst der Tod verbreiten sich über die Szene; und statt der Musik und der Freude, ist jede Seele mit Trauer und Schmerz erfüllt. „Seid niedergeschlagen und trauert und weinet" (am Tage des Abweichens von Gott) sagt Jakobus; „euer Lachen verwandele sich in Traurigkeit und eure Freude in Niedergeschlagenheit". Wer will behaupten, daß die ver­schiedenen Systeme der Menschen, die man Kirchen nennt, nicht jetzt schon wanken? Man betrachte das römische System in Deutschland, in Italien und in anderen Ländern; man be­trachte die verschiedenen protestantischen Körperschaften mit ihrem offenen Unglauben, man betrachte die kleineren Ge­meinschaften, die Independenten, Baptisten, Methodisten und andere Parteien mit ihren immer mehr um sich greifenden Ab-

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zweigungen und Spaltungen, — und man sage uns, ob wohl je eine solch auffällige Erschütterung stattfand, als in unseren Tagen; ja man sage uns, ob nicht die Rinder sich losgerissen haben und das ganze menschliche Machwerk zur großen Be­stürzung aller Beteiligten heftig erschüttert ist. Und warum dies alles? Einfach darum, weil die verschiedenen Parteien und Sekten, gleich David und Israel, anstatt allein durch das Wort und den Geist Gottes geleitet zu sein, den Erfindungen ihres eigenen Geistes gefolgt sind. Dazu beachte man, daß die ge­machten Anstrengungen um diesen wankenden Zustand der Dinge zu stützen, statt eines Heilmittels das Gericht von Gott herbeiführen. Nichts kann verbessert oder wiederhergestellt werden, was von Anfang bis zu Ende verkehrt ist. Man muß es beseitigen oder durch das ersetzen, was recht ist; denn je mehr man daran zu flicken sucht, desto mehr verschlechtert man es. Das aber ist es eben, was in den verschiedenen kirch­lichen Parteien zu geschehen pflegt; allerlei Arten von Dingen und Händen werden ausgestreckt, um den wankenden Bau zu halten. Aber wenn man, wie es von Seiten Ussas geschah, anstatt die ganze Bauart als verkehrt anzuerkennen und auf­zugeben, eine unverbesserliche Sache wieder herzustellen sucht, so ist nichts als das Gericht Gottes zu erwarten.

 Eine große Menge sogenannter Geistlicher sind sogar so verblendet und verhärtet, daß sie nicht nur ihre eigenen wankenden Systeme durch falsche und törichte Mittel zu stützen trachten, sondern sich sogar nicht schämen, die Wahrheit und göttlichen Grundsätze solcher Christen öffentlich anzugreifen, die sich einfach als Christen versammeln, und die nicht irgendein von Men­schen ersonnenes System nachahmen und aufrechthalten, son­dern die einfach und allein dem Muster und der Lehre des Wortes Gottes folgen. Wie viele falsche Anklagen sind von ihrer Seite gegen solche Christen vorgebracht worden, was ihre Zuhörer, die sie schriftwidrig als ihre Herde bezeichnen, be­zeugen werden. Jedoch die aufrichtigen Kinder Gottes inmitten dieser Sekten durchschauen dies alles; und Gott hat ihnen die Augen geöffnet, um die Motive dieser Männer und die Un­gereimtheit ihrer Beschuldigungen zu erkennen. Der arme Ussa hielt es sicher, indem er seine ungeweihte Hand ausstreckte, für ein kluge Sache, den Wirkungen der sich losreißenden Rinder vorzubeugen und den Sturz des Wagens zu verhüten; aber

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seine Handlung hatte für ihn selbst den Tod, den Verlust der Gegenwart oder der Bundeslade Gottes, und für alle Mitbe­teiligten an diesem schriftwidrigen Unternehmen Trauer und Bestürzung zur Folge. Die Bundeslade oder die Gegenwart Gottes mußte sich jetzt von David und Israel in das Haus Obed-Edoms zurückziehen (V. 15), wo sie menschlichen Schutz nicht nötig hatte, und wo sich nicht, als ob Gott des Menschen bedürfe, eine sich unbefugt einmischende Hand zu ihrer Stütze erhob. Und was war die Folge? „Gott segnete das Haus Obed-Edoms und alles, was sein war" (V. 14). Hier finden wir also Segnung und Freude, während wir auf der anderen Seite Ver­lust, Trauer und Tod fanden. Ist das nicht eine ernste Lehre für jeden, der in Wahrheit an Christum Jesum gläubig ist? Bist du, mein christlicher Leger, noch Mitglied und Förderer eines Systems menschlicher Erfindung, ähnlich jener beklagenswer­ten Angelegenheit bezüglich des neuen Wagens Davids und Israels? Nun, dann beachte es wohl, daß, wie verkehrt und dem Worte Gottes entgegen alles auch war, der Mensch sich dennoch darüber ergötzte und frohlockte, weil es eine Erfin­dung seines eigenen Verstandes und das Werk seiner eigenen Hände war; aber beachte auch die Folgen, die Bestürzung, den Fall und das dadurch erzeugte Elend. Und so wird es mit jedem System des Menschen sein, welches, obwohl es „gut in seinen eigenen Augen" ist und durch alle Arten musikalischer Töne gefeiert wird, dennoch von Gott gerichtet, zertrümmert und zunichte gemacht werden wird, weil es nicht in Überein­stimmung, sondern im Widerspruch mit Seinem Worte steht und nur die Verherrlichung des Menschen und die Entehrung Gottes bewirkt. Wenn der Herr morgen erschiene, was würde dann das Los aller sogenannten Kirchen, dieser menschlichen Systeme sein? Sie würden als menschliche Systeme vernichtet werden. Nur wenn wir einzig und allein in Seinem Namen ver­sammelt sind, können wir auf Seine Anerkennung rechnen und Seine Ankunft mit Freuden erwarten. Darum, mein christlicher Leser, siehe zu, ob du dich nicht in einer Verbindung befindest, die vielleicht eine bloß menschliche Erfindung ist, der Schau­platz eines neuen Wagens, und zwar begleitet mit Gepränge und äußerlich anziehenden Tönen, um dir selbst Reize zu ver­schaffen und das Herz von Gott und Seinem Worte abzulen­ken.

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Ja, wirklich, die uns in 1. Chron 15 geschilderte Szene ist ein treues Bild der kirchlichen Parteien unserer Tage, von Rom bis zur kleinsten Sekte herab; denn sie sind sämtlich, weil sie von Menschen eingerichtet sind, eine und dieselbe Sache, wiewohl sie in vielen Zügen voneinander unterschieden sind. Wer wird im Blick auf die Heilige Schrift leugnen können, daß alle diese Parteien durch Menschen gebildet sind und nicht im Worte Gottes gefunden werden? Man nehme eine der Versammlun­gen des Neuen Testaments und man zeige die wirkliche Ähn­lichkeit mit den sogenannten Kirchen oder religiösen Gemein­schaften unserer Tage! Es ist unmöglich. Die Kirche des Neuen Testaments oder die damals örtlich getrennten Versammlungen sind durch den Geist Gottes gebildet worden und waren be­rufen, sich zu „befleißigen, die Einheit des Geistes zu bewah­ren im Bande des Friedens". 

Der Heilige Geist machte Sünder lebendig, und versammelte sie in eins; und also entstand die Einheit des Geistes, deren Ausdruck die Versammlung oder Kirche Gottes war, in welcher Stadt, in welchem Lande und selbst in welchem Hause man sich auch nur im Namen Jesu versammeln mochte. Aber wo finden wir in unseren Tagen etwas, das diesem ähnlich wäre? Man darf es kühn behaupten, daß unter den verschiedenen sogenannten Kirchen oder Par­teien des Christentums dergleichen nirgends zu finden ist. Es ist daher kein Wunder, daß eine große Erschütterung statt­findet bei der Erkenntnis, daß das Werk, gleich demjenigen Davids und Israels, nicht vom Geiste Gottes sondern von Men­schen ist. Wenn es mir der Herr erlaubt, werde ich in den folgenden Abschnitten zu zeigen trachten, wie der Herr die Seinigen zurechtführt und von ihren selbsterwählten Wegen befreit, indem Er sie leitet auf die Ihm wohlgefälligen „Pfade der Gerechtigkeit um seines Namens willen".

Vielleicht wird mancher Leser die Sprache dieser Zeilen etwas hart und streng finden; aber wenn er beachtet, daß sie nicht gegen Personen, sondern gegen irrtümliche Systeme — Kirchen genannt — gerichtet ist, so wird er diese Strenge und Härte nicht mehr finden, indem ich ihm zugleich versichere, daß ich nicht das geringste Gefühl von Bitterkeit gegen irgend jemand in meinem Herzen habe. Möge der Herr Seine Rinder von allem befreien, was Seinem Willen und Wort zuwider ist!

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2.

Wir haben also bereits die üblen Wirkungen gesehen, wenn eine gute Sache auf eine verkehrte Weise verrichtet wird. Es war richtig, die Bundeslade Gottes an den ihr geziemenden Platz zu bringen; aber es war von seiten Davids und Israels ganz und gar verkehrt, den Heiden nachzuahmen, zumal da der Herr Selbst in Seinem Wort die ausführliche Andeutung über die Art und Weise der Fortschaffung Seiner Bundeslade gegeben hatte. Doch wie in unseren Tagen war auch damals das Wort Gottes vernachlässigt, während die Pläne und Er­findungen des Menschen an dessen Stelle gesetzt wurden.

Es besteht bezüglich dessen, was man Aufrichtigkeit nennt, selbst unter vielen Christen eine seltsame Vorstellung. Wieder­holt hört man sagen: „Wenn du nur aufrichtig bist, dann hat es wenig Bedeutung, welches deine Religion ist". Nur von dem Beweggründe, der Absicht — meint man — hänge alles ab. Doch ein größerer Irrtum kann kaum gedacht werden. Sind nicht die Hindus, die Mohammedaner und die Chinesen auf­richtig? Sind nicht die Juden und die Römlinge aufrichtig? Aber wie anerkennenswert die Aufrichtigkeit und die lauteren Be­weggründe an und für sich sein mögen, was nützen sie uns, wenn wir, anstatt dem Worte Gottes zu glauben und zu folgen, nur an eine Mythe glauben und den Trugschlüssen unserer eigenen Einbildungskraft folgen? Die Aufrichtigkeit Pauli war eine so wirkliche, und seine Beweggründe waren so lauter und rein, daß er Gott einen Dienst zu tun meinte,wenn er die Jünger Christi lötete. Großer Eifer ist eine andere der vielen Täu­schungen, welche viele zum Heil nötig erachten. Die Juden zeigten einen großen Eifer wider Christum; und viele vor ihnen hatten gute Beweggründe und waren äußerst aufrichtig, den Herrn dem Tode zu überliefern; aber machten ihre Beweg­gründe, ihre Aufrichtigkeit und ihr Eifer ihre Handlung zu einer guten Handlung? Keineswegs. Nein, mein christlicher Leser, nicht das Maß von Aufrichtigkeit, Eifer und guten Be­weggründen vermag eine schlechte, schriftwidrige Handlung gutzumachen. Schaue auf David und Israel; betrachte ihre Aufrichtigkeit, ihren Eifer und ihre uneigennützigen Beweg­gründe; war dennoch nicht alles wertlos vor Gott? Das Werk

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Gottes muß in göttlicher Weise getan werden; und wenn dies nicht der Fall ist, so wird das Werk nicht nur nicht anerkannt, sondern wird Gericht, Betrübnis und Tod zur Folge haben. „Gott läßt sich nicht spotten; denn was irgend ein Mensch säet, das wird er auch ernten". Wie besorgt und vorsichtig sollten daher die Christen sein; und wie sehr bedürfen sie der Prüfung, ob sie auf dem durch das Wort Gottes bezeichneten einfachen Wege vorangehen, damit sie nicht, wie David, nicht nur den Verlust der Gegenwart des Herrn, sondern auch Trauer, Elend und selbst den Tod über sich selbst und andere bringen!

Aber wenn Gott ein Gott des Gerichts ist, so ist Er auch ein Gott der Gnade und des Erbarmens. Gericht ist Sein unge­wöhnliches Werk, und „die Barmherzigkeit rühmt sich wider das Gericht". So finden wir es auch hier. „Hiram, der heid­nische König von Tyrus, sandte Boten zu David, und Zedernholz und Mauerleute und Zimmerleute, ihm ein Haus zu bau­en" (1. Chron 14, i). So zeigte der Herr Seinem Knechte David die Unumschränktheit Seiner Gnade, indem Er diesen heid­nischen König erweckte, zu helfen, David ein Haus zu bauen, wiewohl David, handelnd gegen das Wort und den Willen Gottes, für einen Augenblick Gott beiseitegesetzt hatte. Die „Barmherzigkeit rühmt sich wider das Gericht". Wenn Gott züchtigt, so ist es zu unserem Nutzen; und sicher fühlte David dieses und war daher für die Entfaltung der Vermittlung Got­tes in großer und besonderer Liebe zubereitet.

 Der König von Tyrus scheint durch seine Handlung auszudrücken, daß er in David, da derselbe in diesem Charakter sich ihm vorstellte, nicht nur den König Israels als solchen, sondern in ihm auch den von Gott gesalbten und eingeführten König anerkenne; denn ein Haus ist das Zeichen der Niederlassung. Wie lieblich muß dieses alles für das Herz Davids gewesen sein, und welche Züge göttlicher Güte treten uns in allem vor Augen! Und noch mehr als dieses. Wir lesen: „Und David erkannte, daß Jehova ihn als König über Israel bestätigt hatte, denn sein Königreich war hoch erhoben um seines Volkes Israels willen" (V. 2). Wir haben hier also nicht nur Offenbarung, sondern auch Verwirklichung. Das für David erbaute Haus mochte ihm die besondere/ durch einen verborgenen Kanal strömende Güte Gottes offenbaren; aber vor Gott Selbst mittels Seines

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Volkes Israels vernimmt und verwirklicht er die Tatsache, daß „Jehova ihn als König über Israel bestätigt hatte, und daß sein Königreich hoch erhoben wurde um seines Volkes Israel wil­len". Das Werk Hirams hatte seine Wirkung im Herzen und Gewissen Davids ausgeübt. Obwohl er uns sagt, daß „sein Königreich hoch erhoben wurde um seines Volkes Israel wil­len", so schreibt er doch dieses und die Bestätigung des König­reichs Gott allein zu. Es sind nicht die Obersten, auf die er bei Gelegenheit des „neuen Wagens" so sehr geschaut hatte, sondern es ist der Herr, Den er wahrnimmt, und Der ihn „als König über Israel bestätigt hatte". Aber jetzt zeigt sich in den Fortschritten Davids ein großer Entscheidungspunkt. „Und die Philister hörten, daß David zum Könige gesalbt worden war über ganz Israel; und alle Philister zogen herauf, um David zu suchen. Und David hörte es und zog ihnen entgegen. Und die Philister kamen und breiteten sich aus im Tale Rephaim" (V. 8. 9).

Hier sind die Heere der beharrlichsten, bittersten und mächtig­sten Feinde Gottes und Israels. Was wird der König jetzt tun? Wind er sich mit Fleisch und Blut, mit den Hauptleuten und Obersten beraten? Wird er den Rat Gottes und den Rat der Menschen mit einander vermengen? Wird er wie ehedem sagen:

„Wenn es euch gut dünkt und wenn es von Jehova, unserem Gott, ist?" Nein, nichts von diesem allen. Er hatte zu gründlich die doppelte Wahrheit der großen Barmherzigkeit und der da­zwischentretenden Gerichte Gottes kennengelernt, als daß er auch nur für einen Augenblick auf irgendein Geschöpf und deren Macht geschaut, und nicht alles von Gott Selbst erwartet hätte. Nicht ein einziges Wort richtet er an sich selbst oder an die Obersten, sondern er wendet sich ohne Zögern an den Herrn Selbst. „Und David sagte Gott und sprach: Soll ich hinaufziehen wider die Philister, und willst du sie in meine Hand geben? Und Jehova sprach zu ihm: Ziehe hinauf; denn ich will sie in deine Hand geben". Gott ist hier der einzige, Der gefragt und Dem gefolgt wird. Und was ist die Folge? Ein vollkommener Sieg. „Da zogen 'sie hinauf nach Baal-Pera-zim, und David schlug sie daselbst" (V. 11). Man findet hier keine Schwäche, keinen Zweifel, keine Betrübnis, sondern einen vollständigen, entscheidenden und gewissen Sieg, und

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der Sieg ist stets die Wirkung des Gehorsams. „Gehorchen ist besser als Schlachtopfer, und Aufmerken besser als das Fett der Widder". „Glaube mir!" sagt der Herr. „Alle Dinge sind möglich dem, der glaubt". Gehorsam und Glaube sind eins. Hätte David zu Anfang dem Worte des Herrn gehorcht und geglaubt, so würde er sich und anderen viele Demütigungen erspart haben, die eine Folge des Unglaubens oder des Un­gehorsams waren. Und ist es nicht in unseren Tagen dieselbe traurige Sache? Ist es nicht der Unglaube oder der Ungehorsam gegen das Wort des Herrn, demzufolge die Parteien, die soge­nannten Kirchen, die bloßen Gemeinschaften von Menschen entstanden sind? Wenn des Herrn Wort geglaubt und befolgt worden wäre, so würden sicher keine Sekten und Spaltungen unter den Kindern Gottes vorhanden sein; oder sobald man sich von dem Worte Gottes entfernt hat, hat man menschliche Erinnerungen getroffen, und mit einem Male ist die Kirche Gottes, welche nur eine ist und sein kann, zerrissen und zer­klüftet auf verschiedene „neue Wagen" menschlicher Erfindung gebracht worden.

Es ist indes eine große Freude zu sehen, daß viele Kinder Got­tes, obwohl sie durch ihre Übereinstimmung mit den Parteien lange geholfen haben, das Übel und den Irrtum zu fördern, ihre verkehrte Stellung, wodurch ihre Seelen verfinstert und geschwächt wurden, erkannt haben, und man, statt sich auf Menschen zu stützen, dem Worte Gottes glauben und gehor­chen, wie David es im letzten Augenblick tat, als er jenen voll­ständigen, entscheidenden Sieg davontrug. Welch eine Szene stellt sich hier dem Auge und Geiste Davids dar? Als er, Ussa und Israel bei Gelegenheit der Bundeslade Gottes gegenüber den Geboten des Herrn ungehorsam und nachlässig gewesen waren, war der gerechte Zorn Gottes entbrannt und hatte einen „Bruch" an Ussa gemacht, weshalb David „selbigen Platz Perez-Ussa nannte bis auf diesen Tag". Aber jetzt ist alles anders. Wir finden hier die bei einer anderen Gelegen­heit gesprochenen Worte Davids bestätigt: „bevor ich gede­mütigt ward, irrte ich, jetzt aber halte ich dein Wort" (ps 119, 67). Jehova ist auf seiner Seite und wider seine Feinde, und David sagt: „Gott hat meine Feinde durch meine Hand durch­brochen gleich einem Wasserdurchbruch; daher nannte er den

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Namen selbigen Ortes Baal-Perazim" (V. 11), d. h. Ort der Durchbrüche. Während also bei Gelegenheit des Ungehorsams nur ein einziger „Bruch" gemacht worden ist, sehen wir in diesem Falle des Gehorsams Davids „die Feinde durchbrochen gleich einem Wasserdurchbruche".

Indes gibt es hier noch eine Sache von großer Bedeutung be­züglich des Gegensatzes in dem Betragen des Königs, als er seinem eigenen und dem Willen des Volkes durch Unglauben folgte, und in seiner nachherigen Treue. Im ersten Falle war er so verblendet und verwirrt, daß er die Philister — seine und Gottes Feinde — bei Verrichtung des Werkes Gottes sich zum Muster nahm. Nun aber im Glauben und Gehorsam gegen­über dem Worte Gottes will er nicht nur keinem einzigen ihrer Anschläge Folge leisten, sondern will auch den teuersten Gegenstand ihrer Herzen zerstören. „Und sie ließen daselbst ihre Götter; und David gebot, und sie wurden mit Feuer ver­brannt" (V. 12). Hier erblicken wir also die große Verschieden­heit, ob ein Gläubiger allein das Wort Gottes, oder ob er den Menschen zu seinem Führer wählt. In dem einen Fall besitzt er Frieden, Macht, Gewißheit und Sieg, während er im anderen Fall überall von Dunkelheit, Verlust, Zweifel und Bestürzung beherrscht wird. 0 möchten die Kinder Gottes doch das Elend sehen und fühlen, welches sie dadurch über sich gebracht haben, daß sie die schriftwidrigen sogenannten Kirchen der Menschen, mit denen sie verbunden sind, unterstützen, und möchten sie sich doch sammeln um die Person Dessen, Der gesagt hat:

„Wo zwei oder drei versammelt sind in meinem Namen, da bin ich in ihrer Mitte". David hatte die Neigung gezeigt, Gott beiseitezusetzen und sich auf den Arm des Fleisches zu stüt­zen, und darum war es nötig, in seine Seele das Gefühl der Nichtigkeit des Geschöpfs und der unaufhörlichen Macht und Größe Gottes tief eindringen zu lassen, damit er sich nicht bei sich selbst oder bei anderen nach Hilfe und Leitung umsehe, sondern sich in jeder Lage an seinen Gott wende. Im Blick auf diese Notwendigkeit wird es den Philistern gestattet, nochmals in Schlachtordnung vor ihm zu erscheinen. Was wird David jetzt tun? Er hat durch die Güte Gottes einen großen Sieg davongetragen; wird er jetzt auf sich selbst vertrauen oder mit den Hauptleuten sich beraten? 0 nein, die bittere Erfah-

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rung, die er gemacht hatte, war noch nicht vergessen. Überdies hatte er die Liebe, Sorgfalt und Macht Dessen erfahren. Der gesagt hat: „Vertraue auf mich"! — „Und die Philister zogen wiederum hinauf und breiteten sich aus im Tal. Und David befragte Gott abermals, und Gott sprach zu ihm: Du sollst nicht hinaufziehen hinter ihnen her; wende dich von ihnen ab, daß du an sie kommst, den Bakabäumen gegenüber. Und es wird geschehen, wenn du das Geräusch eines Daherschreitens in den Wipfeln der Bakabäume hörst, als dann komm hervor zum Streit; denn Gott ist vor euch her ausgezogen, um das Heerlager der Philister zu schlagen. Und David tat so, wie Gott ihm geboten hatte, und sie schlugen das Heer der Philister von Gibeon bis nach Geser" (V. 13—16).

Wie wahr sind die Worte Gottes! Der König, der Streiter und Diener Gottes muß eine Zucht von ganz besonderer Art durch­machen; er muß Gebote von einem scheinbar widersprechen­den Charakter lernen und befolgen. So war es mit Abraham. Ein Sohn und Erbe wurde ihm verheißen, als die Regeln der Natur nicht mehr ein Kind erwarten ließen. Gott hatte ihm die Verheißung gegeben, daß sein Same wie der Staub auf Erden und wie die Sterne des Himmels an Menge sein sollte. Und trotz dieser Verheißung wunde Abraham aufgefordert, den einzigen Sohn zu opfern. Sicher waren diese geheimnis­vollen Wege versenkt in die unergründliche „Tiefe des Reich­tums, sowohl der Weisheit als auch der Erkenntnis Gottes". Aber Gott leitet, wie bereits bemerkt. seinen Diener, welchen Er viel gebraucht, durch eine höchst verschiedenartige und oft scheinbar sich widersprechende Zucht, damit er in allen Dingen Gott zu Rate ziehe und auf Ihn lausche und nicht auf Satan, nicht auf sich selbst oder auf den Menschen.

Wir dürfen in keiner Sache auf den Menschen unser Vertrauen setzen; denn es gibt „nichts Gutes" in ihm. Der Herr Selbst „wußte, was in dem Menschen war", und darum vertraute Er sich ihm nicht. Der König erfuhr deutlich und schmerzlich die Kraft und Wahrheit der Worte: „Es ist besser auf Jehova vertrauen, als 'sich verlassen auf Menschen; es ist besser auf Jehova zu trauen, als sich verlassen auf Fürsten" (ps 118, 8. 9); und er mußte zubereitet werden, zu verstehen, daß Gott

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tun wird, was Ihm gutdünkt, und daß Er über Sein Tun keine Rechenschaft gibt, sondern Seine Handlungen und Unterwei­sungen verändert und wechselt, wie es Ihm am besten scheint. Derselbe Gott, Welcher in Vers 10 gesagt hatte: „Ziehe hin­auf!" sagt hier in Vers 14: „Du sollst nicht hinaufziehen!" Warum diese besondere Übungsweise für Seinen Diener? Weil Er David in der kräftigsten Weise belehren will, daß es die Schlacht des Herrn und nicht die Schlacht Davids ist. „Du sollst nicht hinaufziehen hinter ihnen her. Und es wird geschehen, wenn du das Geräusch eines Daherschreitens in den Wipfeln der Bakabäume hörst, alsdann komm hervor zum Streit; denn Gott geht vor dir her, um das Heer der Philister zu schlagen". — Als Pharao und hinter ihm die Heere Ägyptens den Israe­liten auf den Fersen waren, das Rote Meer vor ihren Füßen rauschte und fast unübersteigliche Berge sich zu beiden Seiten erhoben, sagte Moses: „Fürchtet euch nicht! Stehet und sehet die Rettung Jehovas, die er euch heute schaffen wird; denn die Ägypter, die ihr heute sehet, die werdet ihr fortan nicht mehr sehen ewiglich" (2. Mo 14,15). Auch Josaphat, als ei sich einer großen Menge — bestehend aus den Kindern Ammons und Moabs und denen vom Gebirge Seir — gegenüber sah, schaute nur auf den Herrn, und die Antwort lautete:

 „So spricht Jehova zu euch: Fürchtet ihr euch nicht, und erschrecket nicht vor dieser großen Menge; denn nicht euer ist der Streit, sondern Gottes ... Ihr werdet hierbei nicht zu streiten haben; tretet hin, steht und sehet die Rettung Jehovas an euch, Juda und Jerusalem! fürchtet euch nicht und erschrecket nicht; morgen ziehet ihnen entgegen, und Jehova wird mit euch sein" (2. Chron 25, 15—17). Ebenso mußte auch Gideon belehrt werden, daß nicht durch eine starke Macht, sondern durch den Heiligen Geist die Siege errungen würden. Nachdem sein Heer bis auf dreihundert Streiter verringert war, hatte er Gelegen­heit, durch einen Traum zu erfahren, daß er in der Hand Je­hovas nur ein Gerstenbrot sei, daß aber, wenn Jehova dieses Gerstenbrot in das Lager der Midianiter wälze, ihr ganzes Heer vor diesem armseligen Brote fallen werde. (Man lese Richter 6 und 7).

Dies sind einige von den vielen, für das stolze Menschenherz notwendigen Unterweisungen Gottes. Selbst bezüglich der Art

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und Weise, dem Feinde zu begegnen, will Gott Seine Verände­rungen und Bestimmungen treffen, damit der Mensch wissen möge, daß man keinen Schritt tun darf, ohne Seines Willens in dieser Beziehung versichert zu sein. Gerade weil es hieran mangelte, irrte David so sehr und mußte daher belehrt werden, daß selbst ein gestriger Befehl für heute keine Geltung mehr habe, sondern daß er der täglichen Speise und Unterweisung wegen vor Gott kommen müsse und sein Wille gebrochen werde, indem ihm an dem einen Tage befohlen wurde: „Ziehe hinauf!" und an dem anderen: „Du sollst nicht hinaufziehen!" Aber, — wie bei Moses, Gideon und Josaphat —, welche Zei­chen der Rettung, des Sieges und des Triumphes erblickt er zu seinen Gunsten! Als er seinem eigenen und dem Rate seiner Obersten folgte, erfreute er sich keiner Rettung, keines Sieges, keines Triumphes, sondern Sünde, Trauer und Tod waren die Früchte. Ebenso ist es mit vielen Kindern Gottes, die anstatt nur und stets auf den Herrn zu blicken, ihren eigenen und den Gedanken ihrer sogenannten Geistlichen folgen und mit­hin sich verbunden haben mit einem schriftwidrigen System, das gleich dem neuen Wagen Davids, durch Menschen auf­gerichtet ist. Daher haben ihre Herzen und Seelen Trauer, Dürre und selbst den Tod zur Frucht; denn wie kann jemand glücklich sein, der das Wort Gottes beiseitegesetzt, um schrift­widrigen Überlieferungen der Menschen zu folgen? 

David durfte nicht eher den Kampf beginnen, bis sein Ohr „das Geräusch eines Daherschreitens in den Wipfeln der Baka­bäume" vernahm. Das ist wieder das Laib Gerstenbrot Gide­ons. „Das Törichte Gottes ist weiser als die Menschen, und das Schwache Gottes stärker als die Menschen" (1. Kor 1. 25). „Wenn jemand unter euch sich dünkt, weise zu sein in diesem Zeitlauf, der werde töricht, auf daß er weise werde. Denn die Weisheit dieser Welt ist Torheit bei Gott" (1. Kor 3, i8. 19). Sobald David „das Geräusch des Daherschreitens in den Wip­feln der Bakabäume" vernahm, konnte er dem Feinde entge­gentreten; denn dieses Geräusch erinnerte ihn daran, daß Gott vor ihm hergehe, um das Heer der Philister zu schlagen (V. 15). In dieser beachtenswerten Weise wurde er belehrt, daß es der Streit Jehovas sei, und daß er keine Bewegung zu machen habe, ohne vorher das deutliche und bestimmte Wort des Herrn vernommen und durch das Rauschen in den Baumwipfeln den

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klarsten Beweis empfangen zu haben, daß Gott vor ihm her­gehe. Das Lager Israels konnte sich nicht ein Haar weit fort­bewegen, bevor sich die Feuer- und Wolkensäule zuerst m Bewegung gesetzt hatte; war das aber geschehen, so mußte Israel, mochte es Nacht oder Tag sein, sofort aufbrechen und erst dann Halt machen, wenn die Feuer- oder Wolkensäule still stand. „Wir wandeln durch Glauben und nicht durch Schauen", sagt der Apostel. „Abraham zog aus, nicht wissend, wohin er komme". 0 möchten wir einen kindlicheren Glauben an das Wort, an die Taten und Wege des Herrn haben! David machte bei dieser Gelegenheit nicht die geringste Einwendung; er suchte weder bei sich selbst, noch bei seinen Hauptleuten Rat und Weisheit, sondern beugte sich einfach und unbedingt unter den Willen und das Wort Jehovas. Er gehorchte dem Befehl des Herrn; „und sie schlugen das Heer der Philister von Gibeon bis nach Geser" (V. 16). Hier wird also durch „Glau­bensgehorsam", oder mit anderen Worten durch einfachen Glauben an das Wort des Herrn und nicht in dem Gefühl und der Weisheit des Menschen ein völliger und herrlicher Sieg über Gottes und Davids Feinde gefeiert, während früher, als David dem Geschöpf folgte und diente, nichts als Verwirrung, Hoffnungslosigkeit und Zerstörung geerntet wurde.

Wir haben hier eine ernste Warnung und ein schönes Beispiel — eine Warnung im Blick auf einen traurigen Wandel nach eigenem Ermessen und geleitet durch menschliche Gefühle und Überlieferungen, und ein Beispiel Am Blick auf den freudigen, friedlichen, mächtigen und siegreichen Wandel im Glauben geleitet durch den Geist und das Wort Gottes. Nicht nur waren alle Feinde Davids vor ihm gefallen, sondern auch „der Name Davids ging aus in alle Länder; und Jehova legte Furcht vor ihm auf alle Nationen" (V. 17). Alles ist durch die Gnade und Güte Gottes verändert. Anstatt eines widerwilligen und unge­horsamen Dieners haben wir einen willigen, glaubenden und gehorsamen Diener, und von nun an gelingt und gedeiht alles unter dem König Israels, dem Gesalbten Jehovas.

Geliebter Leser! Gleichst du dem in Kap. 15 oder dem in Kap. 14 gezeichneten Bilde Davids? Jedenfalls wandelst du ent­weder den Pfad des Glaubens, geleitet durch den Geist und das

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Wort Gottes, oder du wandelst nach eigenem Ermessen, ge­leitet durch menschliche Gefühle und Überlieferungen. Einen dritten Pfad gibt es nicht, wie geschrieben steht: „Wer nicht mit mir ist, der ist wider mich; und wer nicht mit mir sammelt, der zerstreut". Möge der Herr Seine Kinder aus den verschie­denen Systemen, oder sogenannten Kirchen unserer Tage be­freien, welche ihre Seelen mit Trauer und Dürre erfüllen wer­den! Möge Er sie die große Freude und Segnung des Gehor­sams gegen Sein Wort, sich ohne einen von Menschen erbauten „neuen Wagen" einfach als Kinder Gottes zu versammeln, genießen lassen! Sicher würden sie dann auch, wie David in Kap. 14, die kostbare Gegenwart, Macht, Führung und den endlichen Sieg des Herrn erfahren.

Wir haben also im ersten Teil die traurigen Folgen der Unter­werfung unter den Einfluß und die Leitung des Menschen so­wie des Ungehorsams gegen das Wort Gottes gesehen (Kap. 15), während wir im zweiten Teil (Kap. 14) sahen, wie Gott nach Seiner Weisheit Umstände hervor­treten ließ, welche Seinen Diener so völlig veranlaßten, von dem Menschen abzulassen, und sich auf Gott zu werfen, daß David ohne den ausdrücklichen Befehl Jehovas nicht einen einzigen Schritt tat. Als Gott Seinen Diener prüfte, indem Er an einem Tage 'sagte: „Ziehe hinauf!" und am anderen: „Du sollst nicht hinaufziehen"! So beriet sich David nicht mit Fleisch und Blut, sondern gehorchte einfach, indem er wieder­holt Gott nur fragte (V. 10—14) und nur dessen Befehlen gehorchte; und die Folge war, daß, während er in Kap. 15, dem Menschen und nicht dem Worte Gottes folgend, nichts als Elend und Schande fand, hier ein vollständiger Sieg seiner harrten, weil er nur dem Worte des Herrn und nicht dem Menschen folgte.

In Kap. 15 finden wir die große Gnade und Güte Gottes gegen Seinen Diener und die dadurch erzeugten gesegneten Wirkun­gen noch mehr entfaltet. David ist so völlig wiederhergestellt und zu Gott und Seiner Wahrheit zurückgeführt, daß er, statt sich der heidnischen Weise und eines „neuen Wagens" zur Verrichtung des Werkes Gottes zu bedienen, vielmehr be-

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stimmt und feierlich erklärt: „Die Lade Gottes soll niemand tragen, als nur die Leviten; denn sie hat Jehova erwählt, um die Lade Gottes zu tragen und seinen Dienst zu verrichten ewiglich" (V. 2).

Und nun, mein Leser, erkennst auch du nur die an, welche der Herr für Sein Werk auserwählt hat, oder hältst du, wie David zu Anfang, den halb jüdischen, halb heidnischen „neuen Wa­gen" menschlicher Erfindung für besser, als die Anordnungen Gottes für Seinen Dienst in Seinem eigenen Hause? Der Geist Gottes gibt Gaben, welchem Er will, „jeglichem insbesondere austeilend, wie er will . . . Nun aber hat Gott die Glieder gesetzt, jedes einzelne von ihnen am Leibe, wie es ihm ge­fallen hat" (1. Kor 12, -17. 18). Aber ach! dieses alles hat man aus dem Auge verloren; und die sich Kirchen oder Gemeinden nennen, richten sich nach Belieben ihre Ämter und ihr Kirchen­regiment ein, ohne in irgendeiner Weise auf das Wort Gottes Rücksicht zu nehmen.

Wie verschieden ist das Verhalten Davids in dieser Hinsicht! Er beachtet und befolgt nur den Willen, den Weg und das Wort Gottes. Wie vortrefflich er die verschiedenen Unterwei­sungen der Barmherzigkeit und des Gerichts Gottes gelernt hat, zeigen uns die Worte: „Die Lade Gottes soll niemand tragen, als die Leviten; denn sie hat Jehova erwählt, die Lade Gottes zu tragen und ihm zu dienen ewiglich". Jetzt ver­sammelte David die Kinder Aarons und die Leviten für das Werk Gottes (V. 4) statt zu seinen eigenen Plänen zurückzu­kehren, und alles nimmt einen glücklichen und harmonischen Verlauf. Dies ist stets der Fall, wenn statt der schwachen, irrenden Meinung des Menschen Gott und Sein Wort aner­kannt und befolgt werden.

Jedoch wählte der König nicht nur die rechten Personen füi den Dienst Gottes, sondern er trägt auch Sorge, daß die Priester und Leviten für ihren feierlichen Dienst praktisch und persön­lich zubereitet sind, damit nicht wieder, wie vorher, ein „Bruch" oder eine Todesszene über sie gebracht werde. „Und David rief Zadok und Abjathar, die Priester und die Levi­ten . . ., und sprach zu ihnen: Ihr seid die Häupter der Väter

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der Leviten; heiliget euch, ihr und eure Brüder und bringet die Lade Jehovas, des Gottes Israels, hinauf an den Ort, wel­chen ich für sie bereitet habe. Denn weil ihr das vorige Mal es nicht tatet, so machte Jehova unser Gott einen Bruch unter uns, weil wir ihn nicht suchten nach der Vorschrift" (V. 11—

i3). Die Ordnung im Hause Gottes ist jetzt, daß Christus die

Gläubigen „zu einem Königtum, zu Priestern seinem Gott und Vater gemacht hat" (Offb 1. 6); und auch der Apostel Petrus erklärt, daß sie ein geistliches und königliches Prie­stertum seien (1. Petr 2, 5—9). Gewisse Personen, von denen viele nicht einmal bekehrt sind, einzuführen, sie als Priester oder als Diener zu berufen und ihnen, mit Ausschluß anderer, ein bestimmtes Amt mit festem Gehalt zu verleihen, ist grobe Verleugnung dieser und anderer Stellen des Wortes Gottes und eine Beiseitesetzung des unumschränkten Vorrechts des Heiligen Geistes, Welcher, wie wir in 1. Kor 12, n gesehen, statt den Dienst eines Menschen einzurichten, „jeglichem ins­besondere austeilt, wie er will". Und in keiner Stelle des Neuen Testaments beauftragt Er die Kirche oder die einzelnen Ver­sammlungen, ein oder mehrere Personen über sich als Pre­diger, Pastoren oder Älteste zu ernennen. Und dennoch, was geschieht um uns herum? Entweder wählen die Gemeinden sich ihre Diener, oder der Staat setzt sie ein. Wo finden sie in dem Worte Gottes einen Grund für ein solches Verfahren? Nirgends. In den kleineren, von den Landeskirchen ausgeschie­denen Parteien mag sich in dieser Frage hie und da eine kleine Abweichung kundgeben; aber im allgemeinen .herrschen auch hier die gleichen Grundsätze. Aber, ich wiederhole es, wo findet sich in der Schrift etwas dergleichen? Wie wir in den Briefen sehen, setzten nur die Apostel und ihre Abgesandten, wie Timotheus und Titus, und sonst niemand Diakonen und Älteste ein, und zwar in jeder Versammlung eine Mehrzahl von ihnen und nicht eine einzelne Person; und keiner dieser wirklich ordinierten Diakonen und Ältesten empfing ein festes, regelmäßiges Gehalt. Alles, was diesem Grundsatz entgegen ist, ist der „neue Wagen" Davids und bewirkt in unseren Tagen Spaltung, Unglück und moralischen Tod zur Rechten und zur Linken. Als menschliches Machwerk ist die Einrich­tung der verschiedenen großen und kleinen religiösen Parteien

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so vollständig, daß, wenn es möglich wäre, jedes wahre Kind Gottes aus diesen Systemen zu entfernen, das Triebwerk ebenso gut und in manchen Fällen noch besser im Gange bleiben würde; denn dann würden keine Störer vorhanden sein, welche noch die Irrtümer bezeichnen. Doch auch der Plan Davids schien anfangs durchaus vollständig und harmonisch zu sein; aber was bewirkte er? Gott hatte von Anfang bis zu Ende nichts mit dieser menschlichen Erfindung Davids zu schaffen; und darum waren die Mitte und das Ende gleich beklagenswert. 0 möchten wir doch stets bedenken, daß, wenn wir uns von dem Worte Gottes abwenden und zu den „Überlieferungen der Menschen" hinwenden, dies nichts an­deres ist, wie der Herr sagt, als daß wir das Gebot Gottes ungültig machen und so in unseren eigenen Seelen erblinden und erlahmen.

David hatte dies erfahren. Aber, wie gesagt, alles ist jetzt verändert. Die bitteren Erfahrungen haben ihn, den so hoch geehrten Diener Gottes, weise gemacht, so daß er jetzt für den Dienst der Bundeslade seines Gottes völlig zubereitet ist. Er hat auf dem Weg der Trübsal erkannt und gefühlt, daß der Dienst Jehovas nicht „nach der Verordnung Gottes" gewesen ist, und darum hat er nun jedes einzelne Teilchen des Wagen-Werks nicht nur aufgegeben, sondern schmerzliche Reue dar­über getragen. Die geheiligten Priester und Leviten und nur sie allein verrichten den Dienst, welchen David noch kurz zuvor mittels einer mechanischen Einrichtung zu erfüllen ge­hofft hatte. „Und die Söhne der Leviten trugen die Lade Gottes auf ihren Schultern, indem sie die Stangen auf sich legten, so wie Mose geboten hatte nach dem Worte Jehovas" (V. 15). Alles ist völlig verändert. In Kap. 15 waren David und Israel so voll ihres eigenen Tuns, daß sie nach Kräften singen und spielen mußten; aber schon der nächste Vers stellt die ganze Szene als eine entweihte dar; und die Hand Gottes offen­bart sich im Gericht des Todes unter ihnen gerade in dem Augenblick, als sie alle sich über sich selbst, über ihre Musik und über ihr schriftwidriges Werk so sehr ergötzten. (Siehe Kap. 13, 8—14). Und findet man unter den kirchlichen Parteien unserer Tage nicht dieselbe Sache? Man singt, man spielt, man hält feierliche Ansprachen, man ist mit Stolz und Freude erfüllt

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über die Form und Einrichtung der sogenannten Gotteshäuser; und die kleineren Gemeinschaften ahmen diese Weise des Er­götzens so weit wie möglich nach. Ach! das ist kein Singen und Spielen dem Herrn in den Herzen, wovon die Schrift spricht; und der „Bruch" wird sicher einmal unerwartet stattfinden.

David hatte mit diesem allem gebrochen. Der Dienst und die Belehrung Gottes waren jetzt bei ihm gründliche und geseg­nete Wirklichkeiten. „Und David sprach zu den Obersten der Leviten, daß sie ihre Brüder, die Sänger, bestellen sollten . . . indem sie ihre Stimmen erhöben mit Freuden. Und es geschah, daß David und die Ältesten Israels und die Obersten über Tausend hingingen, die Lade des Bundes Jehovas hinaufzu­holen aus dem Hause Obed-Edoms mit Freuden . . . Und David war angetan mit einem Oberkleide von Byssus, und auch alle Leviten, welche die Lade trugen, und die Sänger und Chenanja, der Oberste über den Gesang der Sänger; und David hatte ein leinenes Ephod an. Und ganz Israel brachte die Lade des Bundes Jehovas hinauf mit Jauchzen und mit Posaunenschall und mit Trompeten und mit Zymbeln, klingend mit Harfen und Lauten" (V. 16. 25. 28). Die durch die Obersten der Levi­ten bestellten Sänger sind in der gegenwärtigen Haushaltung vorbildlich die Kinder Gottes, welche allein ermahnt sind, die Loblieder Gottes zu singen. Alle andern spotten nur Gottes, wenn sie an diesem Lobe teilzuhaben bekennen. Wie kann man jemanden preisen, den man weder kennt noch liebt? Das Lob ist ein höherer Charakter der Anbetung, als Bitte und Danksagung.

Und ist es vor allem nicht höchst verwerflich, aus diesen heiligen Dingen ein Geschäft zu machen? Man setzt Männer ein, die, mögen sie bekehrt oder unbekehrt sein, für ein bestimmtes Gehalt predigen, beten, loben und danken; man verschreibt sich bei feierlichen Gelegenheiten für bedeu­tende Summen berühmte Organisten und ausgezeichnete Sänger und dieses alles ist eine Nachahmung des Judentums in den Tagen unseres Herrn, als Er sagte: „Machet nicht das Haus meines Vaters zu einem Kaufhause". Man denkt kaum daran, daß Sünder bekehrt oder Gläubige erbaut werden, sondern man hat es hauptsächlich nur darauf abgesehen, eine große

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Menge anzuziehen und vielleicht einträgliche Kollekten abzu­halten. Erinnert uns dieses alles nicht an die Worte: „Durch Habsucht werden sie euch verhandeln mit erkünstelten Wor­ten" (2. Petr 2, 5)?

Der wahre und einfache Gottesdienst wird nimmer von der Gesinnung des Fleisches wertgeschätzt werden; denn „die Ge­sinnung des Fleisches ist Feindschaft wider Gott". Das mußte auch David bei dieser Gelegenheit erfahren. Die Tochter Sauls konnte einen so sinnlosen, geringen und reizlosen Gottesdienst dem sich David unterzog, nicht ertragen und behandelte das Werk und den Diener Jehovas mit Geringschätzung. „Und es geschah, als die Lade des Bundes Jehovas zur Stadt Davids kam, da schaute Michal, die Tochter Sauls, durchs Fenster und sah den König David springen und spielen, und sie ver­achtete ihn in ihrem Herzen" (V. 29). Ebenso ist es jetzt. Der wahre Anbeter und die wahre „Anbetung im Geiste und in der Wahrheit" sind verachtet, während das Auge die prachtvollen Gebäude, die imponierenden Gebräuche und Zeremonien und die papistischen Vermummungen mit Begierde betrachtet; aber der wahre Diener des Herrn sollte, anstatt sich stören zu lassen, in solchen Umständen einen um so größeren Mut für den Herrn zeigen. „Da sprach David zu Michal: Es war vor dem Angesicht Jehovas, der mich erwählt hat vor deinem Vater und seinem ganzen Hause, mich zum Fürsten zu ver­ordnen über das Volk Jehovas, über Israel, ja, vor Jehova habe ich gespielt. Und ich will noch geringer werden denn also, und will niedrig sein in meinen Augen" (2. Sam 6, 2l. 22). „Und sie brachten die Lade Gottes hinein und stellten sie innerhalb des Zeltes, das David für sie ausgespannt hatte. Und sie brachten Brandopfer und Friedensopfer vor Gott" (1.Chron 16, 1). Welch einen herrlichen Gegensatz bildet dieses alles zu der Szene in Kap. 15! Und warum? Einfach weil David und Israel in dem einen Falle den Weg menschlicher Überlieferung, und im anderen den Weg der Wahrheit, den Weg des Wortes Gottes wandelten. Jede der Schrift entsprechende Sache muß gelingen, wenn wir den Weg des Herrn verfolgen und uns vom äußeren Schein und Gepränge lossagen, welches nur ein übertünchtes Grab, Spott und Trug ist. Die Lade Gottes war nicht nur in den ihr gebührenden Platz, in ein einfaches Zelt gebracht,

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sondern David segnete auch das Volk im Namen Jehovas. „Er verteilte an ganz Israel, vom Manne bis zum Weibe, an jeden einen Laib Brot und eine Fleischspende und einen Trauben­kuchen. Und er stellte vor die Lade Jehovas Diener aus den Leviten, daß sie Jehova, den Gott Israels, priesen, lobten und rühmten" (V. 3. 4). Wie lieblich sind diese Klänge, gegenüber der Sprache und den Handlungen Davids, als Jehova einen Bruch wegen seines Ungehorsams an ihm machte!

Wir haben hier ferner einen äußerst herrlichen Gegenstand vor unseren Augen, nämlich das tausendjährige Reich in Herr­lichkeit. Wir schauen die Züge der majestätischen Rückkehr des Menschensohnes in Seine eigene Herrlichkeit, sowie in die Herrlichkeit des Vaters, der heiligen Engel und Seiner Kirche. Nachdem die Lade Gottes mit den sie begleitenden Feierlich­keiten zurückgebracht war, lesen wir: „Dazumal, an selbigem Tage, trug David zum ersten Male Asaph und seinen Brüdern auf, Jehova zu preisen" (V. 7). Sein erster Gedanke ist jedoch weder die Regierung, noch die Herrlichkeit, sondern Jehova Selbst. Er sagt: „Preiset Jehova, rufet an seinen Namen . . .! Singet ihm, singet ihm Psalmen . . . ! 

Rühmet euch seines heiligen Namens! Es freue sich das Herz derer, die Jehova suchen! Trachtet nach Jehova und seiner Stärke, suchet sein Angesicht beständig! Gedenket seiner Wunderwerke, die er getan hat, seiner Wunderzeichen und der Gerichte seines Mun­des" (V. 8—12). Und von der zweiten persönlichen Wiederkunft des Herrn sagt er: „Man spreche unter den Nationen: Jehova regiert! . . . Denn er kommt die Erde zu richten" (V. 31. 33). Wir haben hier also die „Erscheinung" und die Herrlichkeit des Reiches des wahren Sohnes Davids, des „Königs der Könige, des Herrn der Herren". Dann wird das niedergetretene Israel nicht länger vergessen sein, und auch die Nationen werden gesegnet sein. Erzählet unter den Nationen Seine Herrlichkeit, unter allen Völkern Seine Wundertaten! Denn groß ist Jehova und sehr zu loben, und furchtbar ist er über alle Götter; denn alle Götter der Völker sind Nichtigkeiten; aber Jehova hat die Himmel gemacht. Majestät und Pracht ist vor seinem An­gesicht. Stärke und Freude in seiner Wohnstätte. Gebet Jehova Herrlichkeit und Stärke" (V. 21-28)! Ja, dann wird die ganze Schöpfung „freigemacht sein von der Knechtschaft des Ver­derbnisses zu der Freiheit der Herrlichkeit der Kinder Gottes".

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Der Himmel, die Erde, das Meer, das Gefilde und die Bäume des Waldes sind berufen, vor Ihm zu jauchzen und zu jubeln, weil „Er kommt, zu richten die Erde". — „Und wenn deine Gerichte auf der Erde sind, werden die Bewohner Gerechtigkeit lernen".

Wir sehen also den anfangs so reichen Pfad Davids bei der Einrührung der Lade Gottes in ihren einfachen und zeit­weiligen Ruheplatz einen guten Verlauf nehmen. Möchte der Leser aus dieser Geschichte lernen, wie verwerflich es ist, ein gutes Werk auf eine verkehrte Weise zu verrichten. Alle Systeme der kirchlichen Parteien sind, gleich dem „neuen Wagen" Davids, menschliche Erfindungen, die einmal unter der Hand Gottes zusammenbrechen werden. Eine Verbindung mit ihnen muß Elend und Verderben zur Folge haben. Nur wenn wir dem Worte Gottes gehorchen, wenn wir uns, ge­trennt von der gottlosen, wie von der religiösen Welt, im Namen Jesu versammeln und uns mit den Gaben begnügen, die der Geist Gottes uns darreicht, dann wird Friede, Freude und Segnung unser Teil sein.

Das fälschlich beruhigte Gewissen

Für einen wahren Gläubigen ist nichts wünschenswerter, als ein ruhiges Gewissen — nichts köstlicher, als das Bewußtsein, den Willen Gottes getan und in Seinen Wegen gewandelt zu haben. Nur dann kann er mit Freimütigkeit zu Gott nahen, mit Freuden seinen Pilgerpfad durch diese Wüste verfolgen und mit einem glücklichen Herzen der Zukunft entgegenhar­ren. Wenn dagegen das Gewissen durch irgend etwas befleckt ist, so fühlt man sich unglücklich; man entzieht sich der Gegen­wart Gottes, man ist unfähig, im Kampf wider Sünde und Welt auszuharren, und es bedarf dann einer Demütigung vor Gott und eines aufrichtigen Bekennens der begangenen Fehler, damit die anklagende Stimme des Gewissens zum Schweigen

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gebracht und die Gemeinschaft mit Gott wiederhergestellt werde. Aber wie mancher Gläubige verschließt sein Ohr gegen die Stimme des Gewissens, oder bemüht sich, sie auf jede nur mögliche Weise zum Schweigen zu bringen! „Arglistig ist das Herz, mehr als alles", sagt die Schrift; und ach! wie wahr ist dieses Wort! Wie viele Mittel hat man nicht schon ersonnen, um die Mahnungen des Gewissens zu überhören! Wie oft schon ist das beunruhigte Gewissen durch allerlei Ausreden fälschlich beruhigt worden! Wie viele Feigenblätter hat man zusammen geheftet, um Schürzen daraus zu machen! Ach! wie traurig ist ein solcher Zustand für das eigene Herz, für das Zeugnis in der Welt und gegenüber unserem Gott, dessen Ver­herrlichung unsere Freude sein sollte!

Ein treffendes Vorbild von einem solchen Zustande finden wir in der Geschichte eines Mannes vom Gebirge Ephraim, namens Micha. Der Heilige Geist teilt uns diese Geschichte in Richter 17 mit und zwar, wie ich nicht zweifle, zu dem Zweck, uns die trügerischen Gedanken und Urteile des menschlichen Herzens vor Augen zu stellen. Verweilen wir einige Augenblicke bei dieser Geschichte. Möge der Herr die daran geknüpften Bemer­kungen für das Herz des Lesers segnen und sie dienen lassen zur Verherrlichung Seines Namens!

„Und Micha sprach zu seiner Mutter: Die tausend und hundert Silberlinge, die dir genommen worden sind, und worüber du einen Fluch getan und auch vor meinen Ohren geredet hast, siehe, das Silber ist bei mir; ich habe es genommen. Da sprach seine Mutter: Gesegnet sei mein Sohn von Jehova"! — (V. 2). Beachten wir es, daß diese Frau, wie auch ihr Sohn, den Jehova, den Gott Israels, kannten und Ihm, wie wir später sehen wer­den, zu dienen beabsichtigten; denn indem Micha der Mutter das Geld zurückgibt, sagt sie: „Das Silber hatte ich von meiner Hand Jehova geheiligt für meinen Sohn, um ein geschnitztes Bild und ein gegossenes Bild zu machen; und nun gebe ich es dir zurück. Und er gab das Silber seiner Mutter zurück; und seine Mutter nahm zweihundert Seckel Silber und gab sie dem Goldschmied, und der machte daraus ein geschnitztes Bild und ein gegossenes Bild; und es war im Hause Michas. Und der Mann Micha hatte ein Gotteshaus, und er machte ein Ephod

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und Teraphim und weihte einen von seinen Söhnen, und er ward ihm zu einem Priester" (V. 5-5).

Verweilen wir hier einen Augenblick, um die Handlung Michas und ihre praktische Anwendung beurteilen zu können. Es ist selbstredend, daß dieser von Micha eingeführte Gottesdienst ein selbstgemachter und darum ein Dienst des Fleisches war. Micha und seine Mutter kannten Jehova und wußten daher auch sicher, daß sie sich kein „geschnitztes Bild" machen durf­ten, noch irgend „ein Gleichnis dessen, was oben im Himmel und was unten auf Erden ist"; und dennoch taten sie es, und zwar unter der Form der Gottseligkeit. Das ist immer die Natur des eigenwilligen Dienstes, der zwar dem Herrn Ehre darbringt, aber nicht nach dem Willen Gottes, sondern nach eigenem Willen. Micha hatte keineswegs die Absicht, den Dienst des Herrn ganz beiseitezusetzen; aber er setzte seine Gedanken an die Stelle der Gedanken Gottes. Was hätte auch die menschliche Vernunft gegen die Einrichtung eines Gottes­hauses und gegen die Anstellung eines Priesters einwenden können? War doch die Stiftshütte Jehovas zu weit entfernt, um jedesmal dorthin gehen zu können. Es war vielleicht seine Absicht, Jehova täglich zu dienen, und zu diesem Ende, da der Weg zur Stiftshütte zu weit war, sich daheim einen Prie­ster zu weihen. Die Verehrung Jehovas war ihm keineswegs eine gleichgültige Sache; und vielleicht hat er gedacht, daß er Jehova weit besser diene, als mancher der anderen Israeliten, die nur einmal im Jahre hinaufgingen, um zu opfern. Und dennoch — wie schön dies alles auch scheinen mochte — vergaß er eine Sache, nämlich daß alle seine Handlungen vor Gott ganz verwerflich waren, weil nach dem Gebot Gottes nur da geopfert werden sollte, wo die Cherubim Seiner Herrlichkeit ihren Platz hatten. Armer Micha! Wie nutzlos waren alle deine Bemühungen und Anstrengungen! Gott nahm keines deiner Opfer an. Er konnte es nicht tun, weil du nicht Gott, sondern dir selbst dientest.

Es erging Micha ebenso wie den Kindern Israel vor dem Berge Horeb. Mose blieb ihnen zu lange auf dem Berge, und da sie endlich an seiner Rückkehr zweifelten, machten sie sich ein goldenes Kalb. Die Ursache davon war nicht, daß sie Jehova ganz und gar verworfen hatten — o nein; sie wollten vielmehr

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durch dieses Kalb Jehova verehren. Vielleicht haben sie sich einzureden gesucht, daß Gott zwar, während Mose unter ihnen war, verboten habe, fremde Götter anzubeten, daß sie aber jetzt, da Mose abwesend war, nicht wissen könnten, was ihre Aufgabe sei zu tun. „Mose wird" — haben sie sich vielleicht gesagt — „wohl nie zurückkehren, darum müssen wir doch etwas vor Augen haben; die Umstände haben sich geändert, darum müssen auch wir die Sache etwas anders anfangen."

Wie ernst aber warnt uns Paulus in Kol 2 vor Grundsätzen, die wir in der Handlungsweise Michas und der Kinder Israel erblicken! „Wenn ihr mit Christo den Elementen der Welt ge­storben seid, was unterwerft ihr euch Satzungen, als lebtet ihr noch in der Welt? Berühre nicht, koste nicht, betaste nicht, (Dinge, welche alle zum Zerstören sind durch den Gebrauch) nach den Geboten und Lehren der Menschen (welche zwar einen Schein der Weisheit haben in eigenwilligem Gottesdienst und in Niedriggesinntheit und im Nichtverschonen des Leibes, und nicht in einer gewissen Ehre), zur Befriedigung des Flei­sches".

Und wie steht es in unseren Tagen hiermit? Sind die Worte des Apostels vielleicht überflüssig? Der Herr gebe, daß dies der Fall sei! Doch, geliebte Leser, laßt uns auf uns selbst sehen und die Frage an uns richten: „Wie verhalte ich mich in dieser Sache Gott gegenüber?" — Es kommt hier auf den Grundsatz des Herzens an. Wir können uns von vielen Dingen, die wider das Wort Gottes streiten, getrennt haben, und den­noch kann unser Dienst, wenigstens in irgendeiner Hinsicht, ein fleischlicher sein. So lange unsere Anbetung nicht im Geiste und in der Wahrheit geschieht, ist sie ein selbstgemachter, eigenwilliger Dienst. Ach, wie wenig werden die Worte des Herrn: „Gott ist ein Geist, und die ihn anbeten, müssen ihn im Geist und in der Wahrheit anbeten", von den Gläubigen verstanden und angewendet! Erläutern wir uns dieses durch ein Beispiel.

Ein Heide, der durch die Verkündigung des Evangeliums gläubig geworden war, erscheint in unserer Mitte. Im Worte Gottes wenig erfahren, aber auch ohne menschliche Lehren und Er-

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findungen tritt er in die Umgebung einer christlichen Welt. Er kommt in ein Land, dessen Bewohner sich durchgehends Chri­sten nennen, und er erwartet hier selbstredend eine gesegnete Offenbarung der Versammlung Christi. Aber ach! wie sieht er sich in seiner Erwartung getäuscht! In dieser christlichen Umgebung gewahrt er die schändlichsten Laster: Schwelgerei, Hurerei und Weltlichkeit in allen Schichten der menschlichen Gesellschaft; ja, er gewahrt dieses alles unter denen, die sich Christen nennen. Er durchwandert die Straßen einer großen Stadt; doch nirgends, nirgends findet er einen Beweis, daß sich hier Christen aufhalten. Ganz dieselben Grundsätze, die er in seinem eigenen Lande gefunden hat, werden auch hier an­gewendet; auch hier hat alles den Stolz, die Eigenliebe, die fleischliche Gesinnung, mit einem Wort die Feindschaft gegen Gott zur Quelle. Er spricht mit solchen Christen, findet sie aber in betreff ihres Zustandes eben so blind und unwissend, wie seine eigenen Landsleute; sie ehren ihren Gott nicht; sie haben keine Liebe für den Heiland der Welt; sie folgen ihren eigenen Lüsten; ja er wird sogar von ihnen verhöhnt, gelästert und verfolgt. Hierdurch kommt er zu der Folgerung, daß man sich zwar des Namens eines Christen rühme, sich aber schäme, ein Christ zu sein und als solcher zu leben, und daß er sich mithin nicht unter Christen, sondern unter Weltmenschen, nicht unter Freunden, sondern unter Feinden Gottes befinde.

Wohl gewahrt er eine Form der Gottseligkeit; aber dies hatte er auch bei seinen Landsleuten gefunden. Auch Paulus fand dergleichen in Athen. Die Form ist zwar verschieden; aber im Grunde genommen ist es doch eine und dieselbe Sache. Er erblickt eine Menge kirchlicher Gebäude, wie er einst in seiner Heimat die Tempel der Götzen fand; er erblickt überall Prie­ster, wie auch daheim die Götzendiener ihre Priester besaßen; er findet hier, wie einst dort, eine Menge Menschensatzungen, die zur Befriedigung des Fleisches dienen. Der Gott der Bibel ist hier ebenso unbekannt, wie drüben im Heidenland. Er findet den heiligen und gerechten Gott in einen Gott nach eigenen Gedanken umgewandelt, den sie den Gott der Liebe nennen, und der, wie die Götter seines Landes, die Sünden unbeachtet läßt und durch Buße und gute Werke zu versöhnen ist. Er findet Jesum, den Sohn des lebendigen Gottes, in einen

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Menschen verändert, der höchstens zum Vorbild dienen kann, der aber mit unserer Versöhnung nichts zu schaffen hat; und ob er auch noch die Taufe und das Abendmahl vorfindet, so erkennt er doch gar bald darin nur noch eine Form, mit der man noch nicht so ganz brechen will.

Nach langem Suchen findet er endlich auch wahre Gläubige; aber auch bei ihnen sieht er sich getäuscht, indem er bei ihnen wenig geistliches Leben, wohl aber viel Gesetzlichkeit und Formwesen entdeckt. Wie sehr er sich anfangs darüber wun­dert, wird ihm doch bald die Ursache klar. Er sieht die Gläu­bigen in Verbindung und Übereinstimmung mit einem welt­lichen, halb heidnischen, halb jüdischen System, er sieht, daß sie sogar an einem weltlichen, ungöttlichen, sogenannten Got­tesdienst teilnehmen. Sie bringen ihre Kinder zur Taufe dort­hin, damit sie später als Glieder jener Weltkirche aufgenom­men werden, während sie selbst am Tische der Ungläubigen das Abendmahl feiern. Wie könnte es ihn daher noch wundern, ihr geistliches Leben so schwach zu sehen? Er findet vielmehr Ursache, Gott zu loben, der trotz ihres fortwährenden Unge­horsams unermüdlich fortfährt, sie zu segnen und zu bewah­ren.

Ja, wirklich, der Ungehorsam ist groß. Sagt Gott uns doch in Seinem Worte: „Seid nicht in einem ungleichen Joche mit Un­gläubigen; denn welche Genossenschaft hat Gerechtigkeit mit Gesetzlosigkeit? oder welche Gemeinschaft Licht mit Finster­nis? oder welches Teil ein Gläubiger mit einem Ungläubigen? und welchen Zusammenhang der Tempel Gottes mit Götzenbil­der? Denn ihr seid der Tempel des lebendigen Gottes, wie Gott gesagt hat: „Ich will unter ihnen wohnen und wandeln, und ich werde ihr Gott sein, und sie werden mein Volk sein. Des­halb gehet weg aus ihrer Mitte und sondert euch ab, spricht der Herr, und rühret Unreines nicht an; und ich werde euch aufnehmen, und ich werde euch zum Vater sein, und ihr werdet mir zu Söhnen und Töchtern sein, spricht der Herr, der All­mächtige". — Ach! das Herz unseres Fremdlings muß betrübt und niedergeschlagen sein, wenn er sieht, wie Gott und Sein Wort durch die Namenchristen mit Füßen getreten, verachtet und gehaßt wird, und wie die Gläubigen trotz des ausdrück­lichen Verbotes Gottes mit ihnen vereinigt sind.

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Hat er Ursache zu einer solchen Betrübnis, geliebter Leser? Gewiß, du wirst es nicht leugnen können; und wir haben uns wegen so vieler Untreue erneut zu demütigen. Ja, bekennen wir es mit Aufrichtigkeit, daß unser Zustand so und nicht anders ist: Gottes Wort Selbst hat uns verurteilt. Möchten wir es tief fühlen, daß wir das, was in den Augen Gottes böse ist, aus­geübt haben. Wir haben uns zu den Elementen der Welt zu­rückführen lassen; denn wenn unser Gottesdienst in Verbin­dung und Übereinstimmung mit der Welt ist, so ist er ein eigenwilliger Dienst; bekennen wir es ohne Zögern vor dem Herrn. „Denn wenn wir uns selbst beurteilen, so werden wir nicht gerichtet".

Es ist sicher unsere eigene Schuld, daß wir uns in diesem Zu­stande befinden. Wir haben nicht auf das Wort des Herrn geachtet, wir haben unsere Augen und Ohren verschlossen und trotz Seines bestimmten Verbots nach den Begierden unserer eigenen Herzen gewandelt. Soll dieses, geliebte Brüder, noch länger so bleiben? Soll das Wort des Apostels noch länger wider uns zeugen, wenn er sagt: „Für die Freiheit hat Christus uns freigemacht, stehet nun fest und lasset euch nicht wiederum unter einem Joche der Knechtschaft halten" (Gal 5, 1)? Sollen wir noch länger den Satzungen der Menschen gehorchen? Soll unser Herz sich noch länger mit Dingen beschäftigen, die nicht aus Gott sind? Ach, wann werden doch alle Kinder Gottes er­kennen, daß der Gottesdienst, woran sich so viele von ihnen beteiligen, nicht ein Dienst Gottes, sondern ein Dienst der Welt ist? Möchte doch der Herr allen Seinen Kindern geöffnete Ohren und willige Herzen geben, um nach Seinem Willen zu handeln und Ihm im Geist und in Wahrheit zu dienen! Das Böse, worin wir uns befinden, ist groß, sehr groß; und nur durch die Kraft Gottes können wir uns davon trennen. Das Erste, was wir zu tun haben, ist, uns vor Gott zu demütigen und dann: „Gehet aus aus ihrer Mitte und sondert euch ab", spricht der Herr, und rühret Unreines nicht an, und ich werde euch aufnehmen, und ich wende euch zum Vater sein, spricht der Herr, der Allmächtige" (2. Kor 6,17—18). Dies Ast der einfache Weg für alle, die dem Worte Gottes gemäß handeln und wan­deln wollen, und die alles für Schaden und Dreck halten wegen der Vortrefflichkeit der Erkenntnis Christi Jesu. Und jetzt, ge­

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liebter Leser, frage ich dich: Was willst du tun? Willst du Seiner Stimme gehorchen, oder willst du dein Gewissen auf fälschliche Wege zum Schweigen bringen? — Doch, kehren wir zu dem Hauptzwecke dieser Zeilen zurück, indem wir das fernere Tun Michas betrachten.

„Und es war ein Jüngling aus Bethlehem-Juda, vom Geschlecht Juda, der war ein Levit und weilte daselbst als Fremdling. Und der Mann zog aus der Stadt, aus Bethlehem-Juda, um zu weilen, wo er es treffen würde. Und er kam auf das Gebirge Ephraim bis zum Hause Micha's, um seines Weges zu ziehen. Und Micha sprach zu ihm: Woher kommst du? Und er sprach zu ihm: Ein Levit bin ich von Bethlehem-Juda und gehe hin zu weilen, wo ich es treffen werde. Und Micha sprach zu ihm: Bleibe bei mir und sei mir zu einem Vater und zu einem Priester, so will ich dir jährlich zehn Silberlinge geben und Ausrüstung an Kleidern und deinen Lebensunterhalt. Und der Levit ging hin­ein. Und der Levit willigte ein, bei dem Manne zu bleiben; und der Jüngling war ihm wie einer seiner Söhne. Und Micha weihte den Leviten, und der Jüngling ward ihm zu einem Priester und war im Hause Michas. Und Micha sprach: Nun weiß ich, daß Jehova mir wohltun wird, weil ich einen Leviten zum Priester habe" (V. 7—13).

Wir ersehen aus dieser Mitteilung, daß das Gewissen Michas unter dem selbstgemachten Gottesdienst durchaus keine Ruhe gefunden hatte. Er wußte sehr wohl, daß er nicht nach dem Willen Jehovas gehandelt habe; denn es war ihm keine unbe­kannte Sache, daß für Jehova nur in Seiner Stiftshütte Opfer dargebracht wurden, und daß es der Stamm Levi war, den Jehova sich zu diesem Zwecke auserwählt hatte. Doch anstatt sich über seine Sünde zu demütigen und so dem Gebote Jehovas nachzufolgen, sucht er sein Gewissen dadurch zu beruhigen, daß er einen Leviten zum Priester erwählt und auf diese Weise seinem Ungehorsam einen Schein von Gehorsam zu geben ver­sucht. „Nun weiß ich", — sagt er — „daß Jehova mir wohltun wird, weil ich einen Leviten zum Priester habe". — Micha war mit sich nicht ganz zufrieden, so lange die Übertretung der Gebote Gottes zu augenscheinlich und zu offenkundig war; und darum freut er sich über die sich ihm darbietende Gelegen-

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heit, einen Priester aus dem Stamme zu bekommen, welchen Jehova Sich zu Seinem Dienste auserwählt hatte. Jetzt glaubte er überzeugt zu sein, daß Jehova ihn segnen werde, jetzt glaubte er sich vollkommen beruhigen zu dürfen, da er ja alles, was er tun konnte, getan hatte und, soweit es ihm möglich war, dem Gesetz Jehovas nachgekommen war. Was konnte er noch weiter tun? Jehova sah ja seinen guten Willen und das mußte doch wohl genügen. Armer Micha! Wie sehr täuschest du dich! Wußtest du denn nicht, daß Gehorsam besser ist, als Opfer, und Aufmerken besser als das Fett der Widder? Wußtest du nicht, daß der Herr gesagt hatte: „Verflucht sei, wer nicht tun wird die Worte meines Gesetzes?" Was nützt dir dein ganzer Gottesdienst, wenn du dich darum ungehorsam gegen deinen Gott erweist? Dein Tun ist und bleibt ein eigenwilliges Tun mit einem Schein von Gottseligkeit vor den Augen eines hei­ligen und gerechten Gottes; welchen Nutzen könnte es dir bringen? Er will Aufrichtigkeit und Wahrheit in deinem Her­zen und nicht Schein.

Micha war zwar ein Hörer des Wortes Gottes; aber sein Wandel stand nicht damit im Einklang. Er kannte zwar das Gesetz Jehovas; aber er unterwarf sich seinen Forderungen nicht. Und dies ist stets beklagenswert; denn Paulus sagt: „Nicht die Hörer des Gesetzes sind gerecht vor Gott, sondern .die Täter des Gesetzes werden gerechtfertigt werden" (Röm 2, 15). Das ist sehr ernst und sollte bei uns die Frage hervorrufen: „Wie steht es bei mir in bezug auf diese Sache? Muß ich mich nicht selbst verurteilen, sehr oft der Stimme meines Gewissens nicht gehorcht zu haben? Bedarf ich nicht oft der Ermahnung des Apostels Jakobus: „Seid Täter des Wortes, und nicht allein Hörer, die sich selbst betrügen"? Ach, leider werden die mei­sten von uns dies bejahen müssen. Wir hören zwar den Mann vom Gebirge Ephraim sagen: „Nun weiß ich, daß Jehova mir wohltun wird"; aber laßt uns mit Ernst daran denken, daß das Gebilde der Gedanken des Herzens trügerisch ist, und daß der Teufel immer bemüht ist, uns durch einen Schein von Wahrheit zu täuschen, damit wir doch keineswegs zum rich­tigen Verständnis unseres Zustandes gelangen und uns vor Gott demütigen mögen. Das ist stete der Zweck und die Ab­sicht des Feindes. Jedoch auf der anderen Seite ist es ebenso

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wahr, daß die Wahrheit Gottes, wenn sie uns mit der ganzen Kraft der christlichen Liebe und mit dem vollen Ernst des Geistes vor Augen gestellt wird, unmöglich ohne Wirkung bleiben kann. Es ist dann immer eine Stimme in uns, welche uns zuflüstert: „Das ist die Wahrheit". Wohl dem Herzen, das dann nicht zu verschlossen ist, um dies zu erkennen, son­dern nach der Wahrheit hört! Wohl jedem, der nicht ein „ver­geßlicher Hörer, sondern ein Täter des Wortes ist, dieser wird glückselig .sein in seinem Tun". — Doch ach! wie oft sind wir bloß Hörer und nicht Täter des Wortes! Und dann „gleichen wir einem Mann, der sein natürliches Angesicht in einem Spiegel betrachtet; denn er hat sich selbst betrachtet und ist weggegangen und hat alsbald vergessen, wie er war". — Sollte nicht irgendeiner unserer Leser sein Bild in dem Spiegel, den wir ihm vorhielten, geschaut und sich in dem Zustand, den wir soeben beschrieben haben, entdeckt haben? Dann sind wir überzeugt, daß, was er auch dagegen einwenden mag, sein Ge­wissen nicht ganz ruhig ist. Freilich gibt es auch für ihn unend­lich viele Mittel, um das Gewissen zum Schweigen bringen zu können. Aber möge er bedenken, daß es nur „eitle Überlegun­gen des Herzens" sind.

Wenn das Herz nicht geneigt ist, den Willen Gottes zu tun, weil es an diese Erde gefesselt ist und durchaus keine Neigung hat, alle Dinge für Verlust zu achten wegen der Vortrefflich­keit der Erkenntnis Christi Jesu, dann versteht es sich fast von selbst, daß es etwas nötig hat, um sich darauf stützen zu können. Was wir eben über den eigenwilligen Gottesdienst gesagt haben, mag vielleicht — wir hoffen es sehr — das Ge­wissen des einen oder des anderen Lesers getroffen und den Ernst der Wahrheit: „Sondert euch ab"! und „seid nicht in ungleichem Joche mit Ungläubigen!" seinem Herzen nahege­bracht haben. Aber er verhehle es sich auch nicht, daß die Ab­sonderung eine nicht leichte Sache ist, daß sich Fleisch und Blut dagegen sträuben und daß ein solcher Weg ein Weg der Ver­leugnung und der Schmach ist; und um das Gewissen zu be­ruhigen, hat er vielleicht in diesem Augenblick, anstatt sich der Wahrheit zu unterwerfen, nichts Eiligeres zu tun, als sich nach Entschuldigungen aller Art umzusehen. „Ich kann" — sagt er vielleicht — „doch die Welt nicht räumen? und dahin

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würde es 'schließlich kommen müssen, wenn ich einen solchen Pfad wandeln wollte. Und wie kann ich die Herzen beurteilen? Nein, das überlasse ich Gott, der Herzen und Nieren zu prü­fen vermag. Und wo sollte ich eine vollkommene Versamm­lung auf Erden finden können?" — Vielleicht werden das seine Gedanken und Einwürfe sein, durch die er sich zu beruhigen sucht, gerade als ob er keine persönliche Verantwortlichkeit habe, dem Willen Gottes nachzufolgen. Aber ach! wieviele Einwendungen und Entschuldigungen er auch imstande sein mag vorzubringen, so werden doch die oben angeführten Worte in 2. Kor 6, 16 stets gegen ihn und sein Tun ein lautes Zeugnis ablegen. Er folgt einer Weise, durch welche der natür­liche Mensch sich in ein ewiges Elend stürzt. Er versucht das Wort, welches sein Gewissen getroffen hat, unter einer Menge menschlicher Worte und Überlegungen zu vergraben, um auf diese Weise jenes ihn verwundende Wort aus dem Wege zu schaffen. Eitle Mühe! Es wird ihm nicht gelingen; immer wieder und mit erneuerter Kraft wird der Stachel jenes Wortes zum Vorschein kommen und das Gewissen treffen, um es dem Schlafe zu entreißen. Er wird die Erfahrung machen, daß das Schwert des Geistes eine zweischneidige und eine gar lästige Waffe ist gegenüber denen, die nicht dem Worte Got­tes gehorchen wollen.

„Aber" — sagt vielleicht jemand — „ich muß doch zuerst den Weg wissen, den ich einzuschlagen habe; denn ich kann doch nicht einen Pfad betreten, ohne vorher zu wissen, wohin er führt". Aber, mein Freund, der du diesen Einwand machst, beantworte mir die Frage: Möchtest du nicht lieber diesen Weg gar nicht einschlagen und ist nicht deine Abneigung gegen diesen Weg unausbleiblicher Verleugnung die haupt­sächlichste Ursache, daß du, bevor du diesen Weg betreten willst, vorher die Folgen und den Ausgang eines solchen Schrittes prüfst? Willst du damit dein Gewissen beruhigen, oder ge­denkst du dadurch Zeit zu gewinnen? Wenn die Kinder Israel, als Mose ihnen befahl, aufzubrechen, um nach den Worten Jehovas trockenen Fußes durch das Schilfmeer zu ziehen, etwa gesagt hätten: „Wir wollen zwar deinem Befehle gehorchen; aber wohin führt unser Weg und wie wirst du uns, wenn wir das Ziel erreicht haben, weiterführen"?—was würdest du dabei

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gedacht haben? Würdest du nicht gesagt haben: „Sie haben keine Neigung, sich durch das Rote Meer führen zu lassen, und darum machen sie, um das Aufbrechen zu verzögern, alle diese Einwendungen". Sicher, das würden deine Gedanken ge­wesen sein. Aber gerade so verhält es sich mit dir, mein ge­liebter Leser. Du sträubst dich geradeheraus zu sagen: „Ich glaube wohl, daß Gott dieses will; aber ich habe keine Nei­gung, in dieser Beziehung Seinen Willen zu tun". Und darum suchst du allerhand Entschuldigungen auf. Auf die Aufforde­rung Jesu: „Folge mir nach!" hast du die Antwort: „Herr erlaube mir, daß ich zuerst hingehe und meinen Vater be­grabe". Aber sei versichert, das ist nicht die richtige Art und Weise eines Nachfolgers Christi. Du hast einfach ohne Wider­rede zu folgen; und dann erst wird der Herr dir sagen, was du weiter zu tun hast. Du kannst völlig überzeugt sein, daß wenn du einfach den Worten des Herrn folgst, dir alles leicht werden wird; denn der Herr wird dir fortwährend zur Seite stehen. Aber so lange du nicht wandelst nach dem Licht, das Er dir verliehen hat, und auf das Er dich durch diese Zeilen wieder aufmerksam machen läßt, kann Gott dir unmöglich weiter Seinen Willen offenbaren. Ach! möchtest du doch nicht nur ein Hörer, sondern auch ein Täter Seines Wortes sein!

Ein anderer möchte vielleicht vorher die Kosten überschlagen wollen, indem er sich auf das Wort des Herrn beruft: „Wer unter euch, der einen Turm bauen will, setzt sich nicht zuvor nieder und berechnet die Kosten, ob er das Nötige zur Aus­führung habe" (Lk 14, 28). Ohne Zweifel ist dieses eine gute Sache, jedoch nur, wenn die Berechnung eine richtige ist und man nichts dabei übersieht oder vergißt. Wenn es aber, wie es leider meistens der Fall ist, nur zur Entschuldigung dienen soll, um dem Willen Gottes nicht nachzufolgen, dann kann man jahraus jahrein rechnen und berechnen, ohne zu einem richtigen Resultat zu kommen, und zwar einfach aus dem Grunde, weil man immer eine Sache vergißt, nämlich die Hilfe und Unterstützung Dessen, Der gesagt hat: „Die Haare eures Hauptes sind alle gezählt"; und: „Ich bin der Gott des Him­mels und der Erde, der Gott und Vater eures Herrn Jesu Christi". — Ein guter Rechner beginnt damit, daß er an den einen Rand seiner Berechnung die Worte setzt: „Ein jeglicher

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von euch, der nicht allem absagt, was er hat, kann nicht mein Jünger sein"; und „wer nicht sein Kreuz auf sich nimmt und mir nachfolgt, kann nicht mein Jünger sein" (Lk 14, 27—35). und an die entgegengesetzte Seite: „Mein Joch ist sanft, und meine Last ist leicht; ihr werdet Ruhe finden für eure Seelen" (Mt 11, 50).

Wieder ein anderer erhebt vielleicht einen Einwand, indem er sagt: „Es mag viel Wahres an der hier vorgestellten Sache sein; aber woher kommt es doch, daß so viele fromme Christen, und unter ihnen Männer von großer Bedeutung — Christen, die wegen ihrer Gelehrsamkeit und ihrer Liebe zur Wahrheit bekannt sind, einen ganz anderen Weg .einschlagen? Und wenn sie bleiben, wo sie sind, weshalb soll ich denn anders handeln?" — Weshalb? Weil dein Gewissen und das Wort Gottes zu dir sagen: „Sei nicht in einem ungleichen Joch mit Ungläubigen". Würdest du die Gedanken und Handlungen eines Israeliten gebilligt haben, wenn er während des Aufent­halts Jesu auf dieser Erde etwa gesagt hätte: „Dieser Jesus von Nazareth tut zwar große Zeichen und Wunder; Er spricht zwar wie Einer, der Gewalt hat, und es ist augenscheinlich, daß Er ein Prophet ist, so daß ich Ihm alsbald folgen würde, wenn Ihm nur die Hohenpriester und Schriftgelehrten — diese in den Schriften erfahrenen Männer — nachfolgten. Aber weil diese nichts von Ihm wissen wollen, warum soll ich es denn tun?" — Gewiß, du würdest sehen und fühlen, daß jener Israelit eine falsche Folgerung gemacht hätte: aber ich frage dich: Tust du nicht dasselbe? Wo ist der Unterschied zwischen deinen und seinen Worten, zwischen deiner und der Entschul­digung eines solchen Juden? Ich finde keinen. 

Er klammerte sich an das Urteil der Menschen, und das tust du auch; wäh­rend doch Gott in Seinem Worte sagt, daß nur Er wahrhaftig, jeder Mensch aber Lügner sei. Du handelst, um dein Gewissen zum Schweigen zu bringen, gerade wie Micha; du versteckst dich hinter einen Leviten, hinter einen Menschen, der, wie du meinst, den Willen des Herrn doch wohl kennen müsse. Würde es nicht besser und dem Herrn wohlgefälliger sein, mit dem Blindgeborenen zu sagen: „Eins weiß ich, daß ich blind war und jetzt sehe?" Dann kann man es ruhig anderen überlassen, zu erforschen, wer uns sehend gemacht hat und wie unsere Augen geöffnet sind, und während sie nichts zu sagen wissen

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und vielleicht hoffen, daß unser Zustand nicht von langer Dauer sein wende, erfreuen wir uns selbst des uns geschenkten Lichtes und der köstlichen Gemeinschaft mit Ihm, Der gesagt hat: „Höret auf mich".

Diese und viele andere Entschuldigungen und Einwendungen werden nicht selten gegen die Wahrheit Gottes erhoben, und in allen ist der Grundsatz Michas deutlich zu erkennen. Er hatte das Bewußtsein, daß er den Willen Gottes nicht tat; und das weißt du auch von dir. Er weihte einen von seinen Söhnen zum Priester, und im Grunde tust du dasselbe. Das weltliche System willst du nicht verlassen; jedoch zur Beruhigung deines Gewissens beschäftigst du dich vielleicht so wenig wie möglich damit, weil du dir mit anderen einen zum Priester geweiht hast. Du sagst: „Ich kann doch nicht die Kirche in einen besseren Zustand bringen und muß mich daher den Umständen fügen; dazu gehe ich ja stets bei einem gläubigen Pastor zur Kirche und zum Abendmahl". — Wohlan, das ist dein Sohn, den du zum Priester geweiht hast. Ach! du vergißt, daß auch jener gläubige Prediger sich gleich dir unter die Gewalt der Ungläu­bigen gebeugt und sich mit ihnen vermengt hat, und daß er, da er sich sonst in seiner Stellung nicht behaupten kann, sich in diesem „ungleichen Joche" befindet und sich an diesem Weltdienste beteiligt. Unglückseliger Selbstbetrug! Möge doch der Herr allen Seinen Kindern die Augen öffnen, um diesen Irrtum zu erkennen!

Nichtsdestoweniger gibt es viele Christen, die sich in der Tat von den sogenannten Landeskirchen trennen, da sie ein­sehen, daß ein Kind Gottes dort nicht länger bleiben kann, ohne gegenüber den Worten: „Gehet aus ihrer Mitte"! ungehorsam zu sein. Aber — schlagen denn sie den rechten Weg ein? ach nein! denn es gibt viele, welche die Landes­kirche verlassen, um selbst wieder ein Kirchlein zu bilden. Das System, das sie aufrichten, ist völlig nach dem Muster dessen, das sie verlassen haben, vielleicht nur mit dem einen Unter­schiede, daß nur Gläubige darin zu finden sind. Ach! ihr alle, die ihr also handelt, bedenket wohl, daß euer Gottesdienst ebenso wie früher ein eigenwilliger ist. Ihr überlegt und han­delt wie Micha, der einen Priester einsetzte, indem er sagte

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„Jetzt weiß ich, daß der Herr mir wohltun wird, weil ich einen Leviten zum Priester habe". 0 laßt euch doch von der Wahr­heit überzeugen, damit der Herr nicht nur, weil ihr euch von den Ungläubigen getrennt habt, sondern auch weil ihr alle menschliche Satzungen und Überlieferungen beiseitegesetzt habt, mit Wohlgefallen auf euch herabblicken kann.

Doch kehren wir zu unserem früheren Beispiel zurück. Gesetzt der aus dem Heidenlande kommende Bruder träte in eure Ver­sammlung; und da er vernommen hat, daß hier nur Gläubige versammelt sind, so erwartet er selbstredend dort auch nicht die Verwirrung zu finden, die ihm sonst überall in der beken­nenden Kirche vor Augen getreten ist. Er setzt voraus, daß man hier dem Worte Gottes gemäß versammelt sei, wie es in 1. Kor 14, 26 geschrieben steht, wo er gelesen hat: „Wenn ihr zusammen kommt, Brüder, so hat ein jeglicher von euch einen Psalm, hat eine Lehre, hat eine Sprache, hat eine Offen­barung, hat eine Auslegung: alles geschehe zur Erbauung". Doch nein, er findet von diesem allen nichts. 

Statt eines brü­derlichen Zusammenkommens sieht er eine Versammlung von Menschen, die gekommen sind, um eine Predigt von einer damit beauftragten Person zu hören. Dieser Person ist die Leitung der ganzen Versammlung auf getragen; er spricht, er betet, kurz er tut alles, während seine Brüder, zu denen er spricht, gezwungen sind zu schweigen, selbst wenn auch je­mand in ihrer Mitte sein sollte, der in diesem Augenblick viel geeigneter gewesen wäre, ein Wort zur Erbauung zu reden. Selbstverständlich Wird die freie Wirksamkeit des Heiligen Geistes in einer solchen Versammlung nicht anerkannt; an ihre Stelle sind menschliche Satzungen und Gebräuche getre­ten. Er findet also dort keine Gemeinschaft der Heiligen; denn man geht auseinander, ohne einen Beweis, daß man zu einem Leibe gehöre, gegeben zu haben.

Freilich vernimmt unser Bruder die Behauptung, daß alles in Ordnung geschehen müsse und es daher nötig sei, jeman­dem vorher die Leitung der Versammlung zu übertragen; aber er antwortet darauf mit den Worten der Heiligen Schrift:

„Gott ist nicht ein Gott der Unordnung, sondern des Friedens, wie in allen Versammlungen der Heiligen". Er muß also nach jener Behauptung folgern, daß die Christen, indem sie es für nötig erachten, selbst eine Ordnung zu schaffen, dadurch den Beweis liefern, daß sie keine Versammlung bilden, oder daß der Heilige Geist in unseren Tagen die Ordnung nicht mehr handhabt. Wie aber könnte er das zuletzt genannte voraus­setzen, da er nach wie vor die Bibel einfach als die Offen­barung des göttlichen Willens betrachtet!

Sein Erstaunen wird indes den höchsten Grad erreichen, wenn er vernimmt, daß die hier oder dort versammelten Gläubigen einen Prediger angestellt haben, damit dieser jeden Sonntag predige, bete und danke, das Abendmahl bediene und die Taufhandlungen verrichte, weil er durch ein solches Verfahren den Standpunkt verrückt sieht, auf welchen nach der Heiligen Schrift jeder Gläubige berufen ist. Findet er doch in Offen­barung 1. 6 und 5, 10, daß alle Kinder Gottes „zu Königen und Priestern berufen sind", daß alles, was zum alten Bunde gehörte, hinweggetan ist und jeder priesterliche Dienst auf­gehört hat, daß, nach Hebr 10, 19, alle „Freimütigkeit haben zum Eintritt in das Heiligtum", und schließlich, daß Petrus in seinem ersten Briefe sagt: „Ihr aber seid ein auserwähltes Geschlecht, ein königliches Priestertum, eine heilige Nation, ein Volk zum Besitztum, damit ihr die Tugenden dessen ver­kündigt, der euch berufen hat aus der Finsternis zu seinem wunderbaren Licht". — 

Zwar liest er auch in dem Worte Got­tes, daß der Herr einigen Gliedern der Versammlung Gaben verliehen hat, welche die anderen nicht besitzen, daß Gott „etliche gegeben hat als Apostel, und etliche als Propheten, und etliche als Evangelisten, und etliche als Hirten und Lehrer zur Vollendung der Heiligen: für das Werk des Dienstes, für die Auferbauung des Leibes Christi" (Eph 4, n. 12). Allein nirgends findet er, daß solchen allein das Reden zukomme und nirgends liest er, daß sie durch menschliche Anordnung geweiht oder ordiniert werden müssen. Vielmehr gibt die Bibel, als die alleinige Richtschnur unseres Handelns, ganz entgegen­gesetzte Anweisungen. Dort findet er, daß sie Brüder unter Brüdern sein sollen, daß alle Christen eins sind und daß, da Christus allein 'der Herr Seiner Versammlung ist, keiner unter ihnen der Herr oder der Meister sein darf. Dort er­fährt er, daß die Gaben keinen Vorzug vor anderen Gläubigen

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verleihen, sondern daß eine Gabe ohne die andere nicht be­stehen und „das Auge nicht zu der Hand sagen kann: Ich bedarf deiner nicht!" sondern daß vielmehr die Glieder, die schwächer zu sein scheinen, notwendig sind. Mit Betrübnis erblickt er die Christen unserer Tage auf dem Boden der ein­stigen Galater, zu denen Paulus sagen mußte: „O unverstän­dige Galater! wer hat euch bezaubert? Seid ihr so unverstän­dig? Die ihr im Geist angefangen habt, wollt ihr nun im Fleische vollenden?"

Ja, geliebte Brüder, das ist der Zustand, worin ihr euch befin­det. Das Wort Gottes hat euch gerichtet. In eurem Tun ist durchaus keine Demütigung zu finden. Als ihr euch von dem Bösen trenntet, habt ihr keineswegs eure eigene Schuld aner­kannt; ihr habt nicht anerkannt, daß auch ihr an der allge­meinen Verirrung, an dem Abfall Anteil habt. Denn wenn dies der Fall gewesen wäre, würdet ihr sicher keine neue Ge­meinde gegründet haben. Nach der Meinung eurer Herzen habt ihr alles verbessern wollen, um zu zeigen, daß ihr, wenn ihr zur Zeit eurer Väter gelebt hättet, anders gehandelt haben würdet. Ihr stellt euch grundsätzlich auf den Boden der Phari­säer, zu denen der Herr sagte: „Ihr bauet die Gräber der Pro­pheten und schmücket die Grabmäler der Gerechten, und saget:

Wären wir in den Tagen der Propheten gewesen, so würden wir nicht ihre Teilhaber an dem Blute der Propheten gewesen sein. Also gebt ihr euch selbst Zeugnis, daß ihr Söhne derer seid, welche die Propheten ermordet haben, und ihr — machet voll das Maß eurer Väter" (Mt 25, 29—52).

Wirklich, wenn ihr euch in Wahrheit vor dem Herrn demütigt, werdet ihr sehen, daß ihr euch noch auf demselben Wege be­findet wie früher; ihr werdet dann bald zu der Überzeugung kommen, daß ihr damit beschäftigt seid, neuen Wein in alte Schläuche zu tun, oder einen Flecken von neuem Tuch auf ein altes Kleid zu setzen; denn ihr gründet ja eine neue Gemeinde auf einem alten, unbiblischen System, und deshalb wird un­ausbleiblich eure neue Gemeinde dieselben traurigen Früchte tragen, wie auch die anderen. Die kirchliche Körperschaft, die ihr verlassen habt, stützt sich ja auf demselben Grundsatz wie ihr. Sie schreibt Regeln vor, an denen man sich halten

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müsse, und das tut ihr auch, und — was das traurigste von allem ist — ihr haltet euch von jedem Gläubigen getrennt, der euer Bekenntnis, eure Regeln und Vorschriften nicht unter­schreiben will. Daher kommen die verschiedenartigen Sekten unserer Zeit; daher spricht man von Baptisten, von Metho­disten, von Herrnhutern und anderen Parteien. Sollte man sich nicht vielmehr tief schämen über die Geringschätzung und Beiseitesetzung des Wortes Gottes? Sagt doch Paulus zu den Korinthern: „Ihr seid noch fleischlich, denn da Neid und Streit unter euch ist, seid ihr nicht fleischlich und wandelt nach Menschenweise? Denn wenn einer sagt: „Ich bin des Paulus", der andere aber: „Ich des Apollos"; seid ihr nicht menschlich?" — Ja, geliebte Brüder, so lange ihr in diesem Zustande bleibt, seid ihr fleischlich, und zwar in einem weit höheren Grade, als die Korinther; denn dort war nur der Grundsatz vorhan­den, während bei euch die Trennung tatsächlich stattgefunden hat. Ach, gehorchet doch dem Worte Gottes und laßt all diese Entschuldigungen fahren! Wir sind überzeugt, daß ihr, wenn ihr das Wort Gottes mit Gebet und ohne Vorurteil leset, alle Irrtümer fahren lassen werdet. Ohne Zweifel ruft euch euer Gewissen zu, daß der Weg, den ihr wandelt, nicht der richtige ist. Darum verlaßt diesen Weg, und folgt Jesu nach, und zwar Ihm allein! Er sagt: „Wo zwei oder drei versammelt sind in meinem Namen, da bin ich in ihrer Mitte". — Genügt euch dies nicht? Müßt ihr noch andere neben Ihm in eurer Mitte haben? Verlangt ihr noch einen anderen, einen Leviten? Ach! wie viele tun dies, um dadurch ihren eigenen Ungehorsam zu­zudecken.

Und ihr, die ihr euch zwar von den Ungläubigen getrennt habt, aber mit den Gläubigen keine Gemeinschaft pflegt und euch nicht mit ihnen versammelt, seid ihr glücklich? — ist euer Gewissen befriedigt? Unmöglich; denn auch ihr seid dem Worte Gottes nicht gehorsam, indem es euch zuruft: „. . . in­dem wir unser Zusammenkommen nicht versäumen ..." (Hebr 10, 25). Der Herr will nicht allein, daß ihr das Böse lassen, sondern auch, daß ihr das Gute tun sollt. Und dies sollte uns nicht nur eine Pflicht, sondern auch ein großes Vor­recht sein. Du sagst vielleicht: „Ich weiß nicht, wohin!" — aber kann dies eine Entschuldigung für dich sein und deine

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Verantwortlichkeit beseitigen? Nein, gewiß nicht! Wenn du nicht weißt, wohin du gehen sollst, so ist das ein Beweis, daß du Jesu nicht in allem folgst; denn Er ist bereit, dir den Weg zu zeigen; Er wind die Seinigen nicht ohne Ausweg lassen. Oder ist dieses: „Ich weiß nicht, wohin!" bloß ein Vorwand, während du eigentlich den rechten Weg nicht wissen willst. Ach! das wäre sehr traurig; aber nichtsdestoweniger findet man einen solchen Zustand nicht selten bei den Gläubigen. Man bleibt lieber, wo man ist, und weshalb? Weil man recht gut weiß, daß man nach dem Worte Gottes nicht nur ver­harren soll „in der Lehre der Apostel und in der Gemeinschaft, im Brechen des Brotes und in den Gebeten", sondern auch, daß einer auf den anderen achthaben soll „zur Anreizung zur Liebe und zu guten Werken" (Hebr 10, 24). Ja, dieses ist bei vielen der Hauptgrund, weshalb sie sich anderen Gläubigen nicht anschließen wollen. „Achthaben aufeinander, das ist eine lästige Sache", denken sie. Dünkt es ihnen doch viel einfacher, daß irgendeine Person aus ihrer Mitte damit beauftragt werde, die Lässigen zu ermahnen und auf alle achtzuhaben. Und sie haben Recht; denn für das Fleisch ist es eine schwierige Auf­gabe, acht auf andere zu haben und sich selbst von anderen beurteilen zu lassen. Andererseits aber gereicht es jedem, der Gott im Geist und in Wahrheit dienen will, zur großen Freude, indem er weiß, daß es zu seinem Besten dient, um ihn bezüg­lich seines Wandels als einen vollkommenen Menschen vor Gott hinzustellen.

Wir würden imstande sein, noch eine Menge anderer Ent­schuldigungen anzuführen, die vorgebracht werden, um das Gewissen zu beruhigen und sich selbst zu betrügen, aber da wir hoffen, euer Gewissen erreicht zu haben, wollen wir davon abstehen. Wir bitten nur, einmal ernstlich darüber nachdenken zu wollen, was es heißt, vom ewigen Tode errettet zu sein und das Bewußtsein der Vergebung von allen Sünden zu haben, und dennoch Ihm, Jesu, dem Sohne Gottes, Dem wir alles zu verdanken haben, nicht zu folgen, sondern gegen Seinen Willen eigene Wege einzuschlagen. Ach, entfernt doch alle Stützen, auf die ihr euer Vertrauen setzt! Beseitigt alle Entschuldigungen, welche eure Verantwortlichkeit doch nicht wegnehmen können, und stellt euer Vertrauen doch ganz

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allein auf Jesum, damit Er euch Seinen Willen offenbaren möge! Es gibt in der Tat nichts Törichteres im geistlichen Leben, als das Gewissen zu beruhigen. Hat man den ersten Schritt auf diesem Wege getan, dann 'scheint ein Fortschreiten nicht mehr so schwierig zu sein, bis man schließlich ganz daran gewöhnt ist und die Stimme des Gewissens völlig ver­stummt ist. Wenn sich ein Christ einmal in einem solchen Zustande befindet, dann steht es sehr traurig um ihn; er bildet sich ein, nach dem Willen Gottes zu wandeln und in Seiner Gemeinschaft zu leben; aber es ist alles Selbstbetrug. Ja, man wird oft sehen, daß gerade solche Christen viel für die Sache des Herrn wirken, um auf diesem Wege die unangenehme Leere ihres Herzens auszufüllen. Doch bedenken wir es wohl, geliebte Brüder, daß wir zwar uns selbst täuschen können aber Gott nicht. Er schaut bis auf den Grund unserer Herzen, und Er weiß, ob da wahrer oder nur scheinbarer Frieden herrscht. Er kennt die verborgene Triebfeder all unse­rer Handlungen. Er Weiß, ob sie aus Liebe zu Ihm hervor­kommen, oder aus dem Wunsche, vor den Augen der Men­schen besser zu scheinen, als man ist, und zuzudecken, was im Herzen ist. „Wir sind alle bloß und aufgedeckt vor dem Auge dessen, mit dem wir es zu tun haben".

Laßt uns daher, geliebte Brüder, auf die Stimme des Geistes Gottes achten. Wie oft mag schon in unserem Inneren Seine Stimme vernommen worden sein, ohne bei uns ein offenes Ohr zu finden! Es ist eine traurige Wahrheit, daß es nament­lich in unseren Tagen viele gibt, welche die Schwierigkeit eines aufrichtigen Wandels vor Gott wohl erkennen, aber auf alle nur mögliche Weise ihr Gewissen zu beruhigen suchen. Ja, der Herr gebe uns die Gnade, nicht nur Hörer, sondern auch Täter Seines Wortes zu sein! Und Er möge auch diese Zeilen an vieler Herzen segnen, damit alle Seine Kinder Ihm in Auf­richtigkeit dienen und Ihn verherrlichen! Es war das Bedürf­nis unseres Herzens, die Christen auf ihre vielen Irrtümer hinzuweisen und sie unter dem Segen des Herrn von ihren Verkehrtheiten zu überzeugen. Ja, wir können in der Gegen­wart Gottes bezeugen, daß wir diese Zeilen nur in der Absicht geschrieben haben, um mit Nachdruck ein Übel zu bekämpfen, welches seiner Natur nach in uns allen wohnt; und wir flehen

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zu Gott, daß sich niemand von der Meinung beherrschen lasse, daß das Geschriebene nicht für ihn, sondern für seinen Nächsten bestimmt sei.

Glückselig der, welcher mit Paulus sagen kann: „Brüder, ich habe bis auf diesen Tag mit allem guten Gewissen vor Gott gewandelt" (Apg 25, 1). Glückselig, wer sich wie Paulus übt, „allezeit ein Gewissen ohne Anstoß zu haben vor Gott und den Menschen!" Ja glückselig, der mit vollem Herzen sagen kann: „Es ist mein Verlangen, allezeit in Aufrichtigkeit vor Gott zu wandeln!"

Der unausforschliche Reichtum Christi

Wenn wir, meine Freunde, an unsere gänzliche Unwürdigkeit, an unseren Zustand der Sünde und an unsere völlige Unfähig­keit bezüglich irgendwelcher Verbindung mit Gott denken, so könnten wir unmöglich eine solche Verbindung mit dem heiligen Gott voraussetzen, wenn 'dies nicht in der freien, unumschränkten Gnade Gottes in Christo seinen Grund hätte; wir würden es nicht verstehen, wie Gott solche Sünder, wie wir sind, in Seine Gegenwart einführen kann, wenn wir nicht wüßten, daß Er dadurch den überschwänglichen Reichtum Seiner Gnade ans Licht stellen wollte. Ja, im Blick auf die Sünde, die Eitelkeit und Selbstsucht in uns sind wir angesichts der Herrlichkeit Gottes versucht, auszurufen: „Ich bin nichts als Sünde!" Dieses Bewußtsein führt uns zu Gott, wenn Er in Seiner Liebe und Gnade handelt. Würden wir kein anders Bewußtsein haben, als das der Sünde, so Würden wir den Gedanken an das Gericht Gottes nicht ertragen können. Allein der Gedanke an diese Liebe und Gnade Gottes, welche sich trotz unserer Sünde und der Ver­derbtheit unseres Fleisches entfaltet, gibt uns Frieden und Freude.

Der Mensch hat ganz und gar jedes Anrecht an der Liebe Gottes verloren. Er kann sich nicht mit Gott in Verbindung

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setzen und darf nicht antasten, was Ihm angehört. Unsere Herzen sind nur glücklich in dem Bewußtsein, daß die Gnade wirksam ist, und daß — in einem gewissen Sinne — je größer unsere Schuld und je tiefer unser Elend ist, desto erhabener und herrlicher Gott in Seinen Wegen dasteht; und dieses öffnet uns den Mund, um mit Sündern, wer sie auch sein mögen, darüber zu reden. Man sieht, wie sehr das Herz des Apostels Paulus von diesem Gedanken 'erfüllt war, und wie seine Sprache die gewöhnliche Ausdrucksweise überschreitet, wenn er sich den Vornehmsten der Sünder und den Geringsten der Heiligen nennt. Wenn er an sich und an die Größe all der Gnade dachte, womit ihm Gott, indem Er Ihm nicht nur alle Sünden vergeben, sondern ihm auch die Botschaft dieser Gnade an andere anvertraut hatte, begegnet war, dann fühlte er sich vor Gott beschämt.

Petrus und Paulus sind in ihrem Werke zwei beachtenswerte Gefäße der Erwählung und Beispiele dieser Gnade. Wie wurde Petrus zubereitet, um seine Brüder stärken und die Lämmer weiden zu können? War nicht seine Verleugnung das Mittel seiner Zubereitung, seiner Erziehung, wodurch ihm begreiflich gemacht wurde, daß er mehr als böse sei? Und auf welchem Weg wurde Paulus zubereitet? War nicht sein fluchwürdiger Eifer gegen Christum, indem er die Versammlung verfolgte und verwüstete, das Mittel seiner Erziehung? — Als Petrus den Juden vorwarf: „Ihr habt den Heiligen und Gerechten ver­leugnet", hätte man ihm entgegnen können: „Das hast auch du getan". Und als Paulus sie beschuldigte, den Kelch des göttlichen Zornes durch ihre Sünden gefüllt zu haben, hätten sie ihm erwidern können; „Und was hast du getan, als du die Christen verfolgtest, sie zwangst zu lästern und sie in die Gefängnisse schlepptest? Hast du nicht dem Satan gedient?" Ja, dies waren die Wege, auf welchen die Erziehung dieser beiden Männer bewirkt wurde, und wo sie lernen mußten, was das Fleisch und was im Herzen ist. Als Paulus den Nati­onen den Glauben verkündigte, hatte er, der bis in den dritten Himmel entrückt worden, wegen der Größe dieser Offenba­rung einen Dorn im Fleische nötig. Ich bemerke dies, um zu zeigen, daß die Bosheit des Fleisches immer gleich ist. — Ein Blick auf das, was diese beiden Männer getan hatten, war sehr

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demütigend für das Fleisch, wenn Petrus sich sagen mußte:

„Ich habe den Herrn verleugnet — Ihn, Der stets so gütig gegen mich war. Der mich so sehr liebte und Dessen Warn­stimme mich vorher auf die Gefahr aufmerksam machte". Und es war für Paulus eine schmerzliche Erinnerung, die Christen verfolgt zu haben und bekennen zu müssen: „Ich habe es von ganzem Herzen getan; selbst meine Religion diente dazu, einen erbitterten Feind Gottes aus mir zu machen". — Nichts­destoweniger mußten diese Erfahrungen das Herz mit Ge­fühlen der Gnade erfüllen; denn Gott war da. „Wo die Sünde überströmend geworden ist, ist die Gnade noch überschweng­licher geworden". Und nicht dieses allein, sondern die Gefäße dieser Gnade selbst waren auch zubereitet worden, nicht etwa durch schöne Eigenschaften, sondern durch traurige Erfah­rungen. Paulus war als Mensch zubereitet worden und emp­fänglich gemacht für die Gnade, deren er bedurfte, um an sich selbst den Glaubenden den Reichtum der Gnade Gottes zeigen zu können. Er sollte der Zeuge der Güte und Gnade Christi sein; an ihm sollte man erfahren, was die Sünde gegen­über der Liebe und Gnade Gottes ist. Und nachdem in dieser Weise das Fleisch an seinen Platz gestellt worden war, konnte Paulus den 'unausforschlichen Reichtum des Christus unter den Nationen verkündigen; denn in ihm selbst hatte sich die Gnade in einer überströmenden Flut gezeigt.

In betreff der Juden bestand dieselbe Tatsache; allein sie er­warteten etwas, weil sie Verheißungen hatten. Petrus, der Apostel der Beschneidung, richtet sich an sie als solche, die ihrer äußeren Stellung nach das Volk Gottes waren, indem er sie als die Kinder der Verheißung, als die Kinder Abrahams, als die Erstlinge anredet, während die Nationen noch den an das kananäische Weib gerichteten Worten des Herrn: „Es geziemt sich nicht, das Brot der Kinder zu nehmen und den Hündlein hinzuwerfen" — als Fremdlinge und ohne Bürger­recht betrachtet werden. Paulus schöpft daher das Recht, zu den Nationen von Christo zu reden, aus der Quelle jener Gnade, die nichts anderes kennt als daß Gott das Recht zu­steht, Gnade üben zu können. Jene arme Syro-Phönizierin, die einem verfluchten Geschlecht angehörte und mithin ohne jedes Anrecht war, genoß, indem sie sich als ein Hündlein

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anerkannte, die ganze Süßigkeit der Gnade Gottes, als der Herr zu ihr sagte: „Dir geschehe, wie du willst!" — Wenn es sich um das Recht handelte, dann mußte Er ihr sagen: „du hast kein Recht; denn ich bin nur zu den verlorenen Schafen des Hauses Israel gekommen; und du bist keins von diesen Scha­fen". Aber das Weib nahm ihre Zuflucht zu der Gnade; und es war für sie Gnade genug in Gott, um sagen zu können:

„Ich werde von allem essen!" — und wie hätte der Herr sie nun abweisen können?

Die Botschaft des Heils an die Nationen stellt den ganzen Reichtum der Gnade, welche in Gott für uns ist, in das hellste Licht. Dieselben Umstände, die das Fleisch erkennen lassen, öffnen auch der in Rede stehenden Offenbarung des unaus­forschlichen Reichtums Christi den Weg — eines Reichtums, der unsere Begriffe übersteigt. Ein Jude war imstande, seinen Reichtum erforschen zu können, obwohl die Gnade die gleiche war. Er konnte sagen: „Siehe, welche Gnade mir begegnet"!' So konnte z. B. Jesajas oder irgendein anderer Prophet das Gesetz erforschen und vieles darin entdecken, was ihm ange­hörte. Er konnte darin den Messias und viele herrliche Ver­heißungen finden, die einmal für Israel in Erfüllung gehen sollten; er konnte darin vor allem die Gunst Gottes gegen Sein Volk finden. Jeder, der Einsicht in das Wort Gottes hatte, konnte dies erfassen. Es waren Verheißungen für ein Ge­schlecht, dem Gott herrliche Segnungen verkündigt hatte — Segnungen, die jedoch den Menschen mit Gott auf dem Grunde anerkannter Segnungen in Verbindung brachten. Sobald es sich indes um einen Heiden handelte, gab es von all diesem nichts; (Röm 9, 5—5; Eph 2, 12; Phil 5, 4—7) und es bedurfte eines geistlichen Zustandes, um die Gnade Christi in den Pro­pheten zu erforschen. Ein Jude konnte wissen, daß ein über alle Völker erhabener König regieren und jede Verheißung die Krone der Herrlichkeit schmücken werde. Aber für einen Hei­den war es nötig, die Segnungen zu entdecken, welche für ihn aus den ewigen Ratschlüssen Gottes hervorgingen. Nicht nur handelt es sich um ein zum Genuß der Segnungen berufenes Volk; sondern darum, daß man Christum nach den Ratschlüssen Gottes empfängt. Die Gnade beschäftigt sich mit einem armen Sünder und sucht solche, die ohne jedes Anrecht und unfähig sind, die Verheißungen erfassen und genießen zu können. Sie

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nimmt solche verlorenen Sünder, die weder eine Vorstellung noch ein Gefühl in bezug auf Gott haben, und versetzt sie in den Genuß des ganzen Reichtums der Gedanken Gottes — und zwar in Christo Selbst. Deshalb nennt der Apostel dieses den „unausforschlichen Reichtum des Christus". — Dieses war nicht allein dem Menschen, sondern auch Gott angemessen; es war — d. h. nicht in den Gedanken Gottes, sondern in betreff der Offenbarung — etwas ganz Neues, das den Ge­walten und Fürstentümern im Himmel geoffenbart werden sollte, damit die mannigfaltige Weisheit Gottes, sowohl durch die Versammlung selbst, als auch durch unsere Offenbarung in den himmlischen Örtern kundgemacht würde.

Prüfen wir indes ein wenig sorgfältiger, was diese Gnade ist, und richten wir zu ihrem besseren Verständnis unsere Blicke auf Kap. 1. 26—27, wo wir lesen: „das Geheimnis, welches von den Zeitaltern und von den Geschlechtern her verborgen war, jetzt aber Seinen Heiligen geoffenbart worden ist, denen Gott kundtun wollte, welches der Reichtum der Herrlichkeit dieses Geheimnisses ist unter den Nationen, welches ist Christus in euch, die Hoffnung der Herrlichkeit". Aus dieser Stelle sehen wir, worin dieser unausforschliche Reichtum besteht. Christus ist für die Juden nicht die Hoffnung der Herrlichkeit, sondern der Erfüller der Verheißung. Hier ist Er nicht die Herrlichkeit, sondern die Hoffnung der Herrlichkeit, weil Er, obwohl Er im Himmel wohnt, dennoch durch Seinen Geist in uns und in unserer Mitte wohnt. Dies ist eine ganz neue Sache, jedoch nach der Darstellung des Apostels nur eine Hoffnung. Wir werden sehen, wie er diesen Gedanken einleitet und uns in die herrliche Stellung der Kinder Gottes — ausgedrückt in den Worten: „Christus in euch" — einführt. Christus in uns, die Quelle der Kraft und der inneren Beziehungen, ist die Hoffnung der Herrlichkeit. Dies ist unsere Stellung und unsere Freude. In Eph 2, 12 sagt der Apostel bezüglich der Gläubigen aus den Nationen: „Ihr waret zu jener Zeit ohne Christum, entfremdet dem Bürgerrecht Israels, und Fremdlinge in betreff der Bündnisse der Verheißungen, keine Hoffnung habend, und ohne Gott in der Welt". Auf welches Fundament hat nun Gott ihre glorreiche Hoffnung gegründet? Das Wort, welches Gott gleich im Anfang zu Adam sagte: „Im Schweiße deines

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Angesichts sollst du dein Brot essen", war ebensowenig ein Verheißungswort, wie die angekündigten Dornen und Disteln; — es gab für Adam kein Verheißungswort. Aber was sagte Gott zur Schlange? indem Er sie verurteilte? „Der Same des Weibes wird dir den Kopf zermalmen". War etwa Adam der Same des Weibes? Nein; er war als das Haupt seines Ge­schlechts von dieser Verheißung ausgeschlossen, während in dem zweiten Adam alle Verheißungen Ja und Amen sind. Diese Verheißung ist nicht dem Menschen, sondern Christo, dem zweiten Adam gemacht worden, weil Gott den ersten Adam, seiner äußeren Stellung nach, bezüglich der Verheißun­gen beiseitegestellt hat. Ein anderer, der zweite Adam, der Same des Weibes, ist als der Gegenstand aller Verheißungen eingeführt. Es ist dem Menschen schwer, einen Standpunkt auf einer so niedrigen Stufe einzunehmen und zu sagen: „Ich bin ein Sünder und nichts als ein Sünder, ich habe jedes An­recht verloren; ich habe gegen Gott, gegen das Licht meines Gewissens und gegen meine Erkenntnis gesündigt; ich besitze nichts und habe nichts zu beanspruchen, als die Verdammnis".

— Dennoch aber ist dies der wahre Sachverhalt; und das Gewissen bestätigt es, selbst wenn der Wille sich nicht darunter beugen will. Oder möchtest du es wagen, mein Freund, vor Gott zu treten? Sagt dein Gewissen dir nicht, daß du auf tausend nicht eins wirst antworten können? Ist nicht auch Adam durch sein Gewissen überführt worden? Er wartete die Gegenwart Gottes nicht ab, sondern versteckte sich hinter die Bäume des Gartens, weil er es nicht wagte, vor Gott hin­zutreten. Nun wohlan, bist du bereit, dich vor Gericht zu stellen? Würdest du wünschen, daß alles, was du getan hast, vor der Welt offenbar werde? 0 nein, ich bin gewiß, daß nie­mand von den Ungläubigen es wagen möchte, mit all seinen Handlungen vor Gott hinzutreten, denn das Gewissen über­führt jeden von der Gerechtigkeit Gottes. Auch du weißt, daß du schuldig bist, selbst wenn du es nicht einräumen willst und dich lieber entschuldligen möchtest mit den Worten: „Das Weib, das du mir gegeben hast, betrog mich". — Dennoch hat Gott in Seiner Güte, wiewohl dies dein Gewissen nicht sagt, für alles Sorge getragen; will Er dich doch gewinnen durch die Gnade, die alles zu heilen vermag. Er stellt den Menschen, den Nachkommen Adams, als verurteilt beiseite und führt

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den neuen Menschen in Christo in Seine Herrlichkeit ein. Das ewige Leben befindet sich in dem neuen Menschen, in dem Samen des Weibes. Von Anfang an sind alle Verheißungen Ja und Amen in Christo, dem zweiten Adam, zur Herrlichkeit Gottes. Dieser Christus ist der Gegenstand aller Gedanken Gottes. Man begreift jetzt den Reichtum dieser Gnade, sobald man versteht, daß es sich um den Sohn Gottes, den zweiten Adam, handelt, um Ihn, Der auch der Heilige und Gerechte ist. Er ist der Mittelpunkt aller Dinge; Ihm gebührt alle Herr­lichkeit; denn die ganze Offenbarung kann nur in Ihm ent­halten sein. Der allein ihr 'Gegenstand ist. Wahrlich, die Liebe des Christus übersteigt alle Erkenntnis. Für uns, die wir glauben, hat sich dies alles erfüllt und eine solche unermeß­liche, bis ins Unendliche reichende Ausdehnung genommen, die ihren Ausdruck in Christo, dem Gegenstand der Offen­barung der Herrlichkeit Gottes findet.

Bezüglich dieser armen Welt ist jeder Unterschied zwischen Juden und Nationen verschwunden und vernichtet. Gott hat sowohl den Nationen, als auch den Juden Gnade geschenkt; denn alle sind unglückliche Sünder. Und wenn die Juden sich anmaßten, den Genuß der Verheißungen durch ihre eigene Gerechtigkeit erlangen zu wollen, so stellten sie sich, weil sie das Licht des Gesetzes hatten, unter eine um so größere Ver­antwortlichkeit. Alle sind nicht nur „gottlos", sondern auch „kraftlos". Dieser Zustand trat völlig ins Licht, als der wahre Gott in ihrer Mitte gegenwärtig und durch Zeichen und Wun­der wirksam war. Folglich war sowohl bezüglich des Men­schen, der seine ganze Unfähigkeit geoffenbart hatte, als auch in bezug auf Gott zur Erweisung Seiner unendlichen Liebe die passende Zeit gekommen, um ins Licht zu stellen, daß alles unerläßlich abhängig von dieser Liebe war. Auf diesem Punkt angekommen, findet man die ganze Fülle der Segnungen der Liebe Gottes. Jeder Unterschied zwischen Juden und Heiden ist beseitigt, indem die Juden — die Erben der Verheißung — ebensowohl Kinder des Zornes sind, wie auch die übrigen. Der Mensch hat gezeigt, was er ist; und Gott hat kundge­macht, was Er ist. Wir haben uns erwiesen als Kinder des Zorns, die nichts als das Gericht verdient hätten; aber Gott hat gezeigt, daß Er reich an Barmherzigkeit ist. Zu dieser Erkenntnis muß man gelangt sein, um in Gott alle die Hilfs-

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quellen der Gnade und Güte zu entdecken, die sich zugunsten eines von Ihm entfernten Wesens, zugunsten Seines Feindes verwenden. Man muß die Gnade Dessen verstehen. Der alle Forderungen der Herrlichkeit Gottes befriedigt hat, und Der die Absicht hat, den Sünder zu retten, ungeachtet seiner Bos­heit und alles dessen, was er ist. Gott ist ein Gott, Der in Gnade handelt gegen die, welche böse sind — gegen arme Sün­der, die jedes Anrecht verloren haben. Wer vermag es zu fassen? Das ist der unausforschliche Reichtum des Christus — der Reichtum, der den Fürstentümern und Gewalten geoffen­bart werden mußte. Christus wurde das Gefäß dieser Gnade; Seine Liebe hat sich gegenüber den elendsten Sündern, gegen­über solchen entfaltet, die ohne Anrecht waren und es nicht wagen durften, vor Gott zu erscheinen. „Gott, der da reich ist an Barmherzigkeit", ist gekommen, um den zu retten, der sich in Sünde und Elend befindet. Anstatt — wie dies hätte geschehen müssen — den Menschen zu Sich kommen zu lassen, geht Gott dem Menschen entgegen und gibt Sich ihm zu er­kennen. Er kam 'in die Mitte des Bösen, weil der Mensch seinen Platz inmitten des Guten nicht nehmen konnte und nicht nehmen wollte. Gott erschien „im Fleische", jedoch in Heiligkeit in der Mitte all dieser Ungerechtigkeit und stellte sowohl die Ungerechtigkeit, als auch die Heiligkeit ins Licht. Er kam, nicht um den Sünder auszustoßen, sondern um ihn zu suchen. Man ist glücklich in dem Bewußtsein, daß man es mit Gott, und zwar mit einem unendlich und überaus heiligen Gott zu tun hat. Wenn Er nicht vollkommen heilig wäre, so müßte man noch immer wegen der Sicherheit der Errettung in Furcht sein; aber es ist ein unendlich heiliger Gott, Der uns liebt, und Der, wiewohl Er heilig ist, Sünder, versunkene Kreaturen, sucht, um ihnen Seine Gnade zu schenken und mit Sich zu versöhnen. Gott war es in Christo, Der mit Zöllnern und Sündern verkehrte und Sich zum Gesellschafter verrufe­ner Menschen machte. Würden wir Ihn unter solchen gesucht haben? Nein, man würde dort die Ungerechtigkeit gesucht haben. Dennoch aber steht Gott, indem Er solche nichtswür­dige Geschöpfe rettet, um so mehr verherrlicht da.

Er vernichtet den menschlichen Hochmut, indem Er zeigt, daß der Mensch nicht Ihn, sondern daß Er den Menschen gesucht

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hat. Deshalb, geliebte Brüder, haben wir alles, den ganzen Reichtum des Christus, in Ihm Selbst, in Seiner Person. Chri­stus hat als Schöpfer, als Sohn Gottes, als Erbe der Verhei­ßungen und als Mensch ein Anrecht auf alles. Sein Leben war ein Zeugnis sowohl von der Liebe, als auch von der Heilig­keit; und Gott ist vollkommen in Ihm verherrlicht worden. Er konnte sagen: „Das Werk habe ich vollbracht, welches du mir gegeben hast, daß ich es tun sollte". Aber ebenso völlig hat Er auch von der Heiligkeit Gottes Zeugnis abgelegt; denn Er sagt: „Ich habe dich verherrlicht auf der Erde. . . Und nun verherrliche du, Vater, mich bei dir selbst mit der Herrlich­keit, die ich bei dir hatte, ehe die Welt war". Er hatte daher zufolge dieses Werkes gerechte Ansprüche auf diese Herr­lichkeit, wiewohl Ihm dieses Recht auch ohne das gehörte.

Welch ein Werk hat Jesus vollbracht! Wieder erblicken wir den unausforschlichen Reichtum dieser Gnade, wenn wir Ihn für uns zur Sünde gemacht sehen. Der Heilige und Gerechte wurde zur Sünde gemacht; der Sohn Gottes, der Fürst des Lebens, unterwarf Sich dem Tode; der Zorn Gottes traf den Sohn, den Vielgeliebten, für uns, die elenden Sünder, die fern von Gott waren und kein Verlangen nach Ihm hatten. Denn Er, Der unsere Sünden trug, war in den Augenblicken, wo Sein Schweiß wie Blutstropfen zur Erde fiel, und wo Er den schrecklichen Kelch des Zornes Gottes leerte, der teuerste Gegenstand der unendlichen Liebe des Vaters, weil Er Ihn vollkommen verherrlichte. Die Engel begehrten in die Tiefen dieses Geheimnisses hineinzuschauen, während sich der Mensch dieser Szene durch die Flucht entzog. Ja, unsere Vergebung ist ganz und gar eine göttliche Sache.

Im ersten Kapitel des Hebräerbriefes zeigt uns der Apostel die göttliche Herrlichkeit Christi. „Gott hat zu uns geredet im Sohne, den er gesetzt hat zum Erben aller Dinge, durch den er .auch die Welten gemacht hat; welcher, der Abglanz seiner Herrlichkeit und der Abdruck seines Wesen seiend und alle Dinge durch das Wort seiner Macht tragend, nachdem er durch sich selbst die Reinigung der Sünden gemacht, sich gesetzt hat zur Rechten der Majestät in der Höhe". Welch ein Zeugnis liefert uns hier der Apostel von der Herrlichkeit Jesu und

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Seines göttlichen Werkes! In der glorreichsten Weise aber strahlt uns Seine Gnade darin entgegen, daß Er „uns gereinigt hat von unseren Sünden". In einem noch höheren Glanz als in der Schöpfung hat Er Sich in der Liebe der Erlösung gezeigt. Er offenbarte Sich nicht nur als ein Messias, Welcher nur die einem Volke gegebenen Verheißungen zu erfüllen hatte, son­dern es bedurfte der Erledigung alles dessen, was sich in be­treff Satans und der Sünde zwischen Gott und den Menschen gedrängt hatte, wenn nicht jede Segnung in Frage gestellt sein sollte. Was könnte uns jetzt noch von Gott trennen? Etwa die Sünde oder die Macht Satans? Oder könnte überhaupt in moralischer Beziehung noch irgendeine Schranke zwischen Gott und dem 'Menschen bestehen? Unmöglich. Vielmehr ist alles, was als eine Schranke zwischen Gott und dem Menschen be­trachtet werden konnte, im Tode Christi beseitigt worden. Überall, wo 'sich die Schwierigkeiten als unübersteiglich er­wiesen, und wo das Herz des Menschen, das sich nicht bis zur Höhe der Gedanken Gottes zu erheben vermochte, keinen Ausweg sah, da zeigt sich Christus unseren Blicken, und zwar in der vollkommensten Schwachheit. „Er ist hinabgestiegen in die untersten Teile der Erde" und hat dort den unerschütter­lichen Grundstein, den Felsen der Zeitalter, gelegt, worauf die Gewißheit unseres Heils gegründet ist. Das ist der unausforschliche Reichtum des Christus. 

Was könnte uns jetzt noch verweigert werden, nachdem Gott Selbst durch alles hindurch gegangen ist? Kann es für uns noch irgendwelchen Zweifel, oder irgendeine Schwierigkeit geben, nachdem Gott allem zu­vorgekommen ist? Wenn es noch irgendeinen Mangel gäbe, so würde Er nicht alles besitzen, was Er verdient hat. Wir gehören Christo an, wie gesagt ist: „Von der Mühsal seiner Seele wird er Frucht sehen und sich sättigen" (Jes 55, 11). Wie aber könnte er die Mühsal Seiner Seele genießen, wenn wir nicht in Seinem Besitz wären? Man sieht, wie angesichts der Liebe Gottes alles geoffenbart worden und alles in Tätigkeit gewesen ist; und dennoch hat dies 'alles nur zur Offenbarung der Macht dieser Liebe gedient. Jede Schranke, die sich dem Heil des Menschen entgegenstellte, ist nicht nur weggenom­men, sondern hat vielmehr zur Erfüllung des Heils beitragen müssen. Alle meine Sünden, alle Bosheit meines Herzens, kurz, alles, was ich als ein Werkzeug Satans war, ist durch

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das Gericht beseitigt worden. Die Liebe Gottes überstieg all meinen Haß und beseitigte jedes Böse; es gibt keine Scheide­wand mehr zwischen mir und Gott; denn Christus hat diesem allem ein Ende gemacht. Gott hat bewiesen, daß Seine Liebe jede Art des Bösen überragte. Und wo entdecken wir dies? Am Kreuze. Ja, am Kreuze haben wir die Gnade gefunden, und Den, Den unsere Herzen nötig hatten; wir fanden dort Gott Selbst, Der alle unsere Sünden getilgt hat. Der alles was zu unserer Errettung nötig war, vollbracht und uns in den Besitz von allem gesetzt hat, was Ihm gehört. Christus ist in das Licht der Gegenwart Gottes eingetreten; denn Er hat das erfüllt, wodurch der Vater vollkommen verherrlicht worden ist. Wir sind die Gerechtigkeit Gottes in Ihm, Der für uns zur Sünde gemacht wurde; wir haben das Leben im Sohne, dem zweiten Adam, und haben daher auch Teil mit Ihm; denn Christus hat uns nicht allein die Gerechtigkeit, sondern auch ihren Preis gebracht. Gott hat uns in Jesu geliebt, und das Kostbarste was Er im Himmel besaß. Seinen Sohn, für uns gegeben. Wir sind die Gegenstände Seiner Liebe und befinden uns jetzt .über den finsteren Wolken, die sich zwischen uns und Gott aufgetürmt hatten, in der Gegenwart Dessen, Der uns zu der Wohnung Seiner Heiligkeit geleitet hat. Wir sind in dem Vater, weil Christus Frieden gemacht hat durch das Blut Seines Kreuzes. Dieser vollkommene Friede ist in Ihm, und wir alle, die wir glauben, besitzen ihn. Wir sind unaus­sprechlich gesegnet und können, indem wir Jesum betrachten, ausrufen: „Alles ist zu Seinem Ruhm, und Er allein ist würdig ihn zu empfangen". 

Denn man fühlt das eigene Nichts, sobald man in die Gegenwart Gottes gestellt ist. Wir wissen, daß wir die Hölle verdient hatten, aber wir wissen jetzt auch, was uns Gott in Christo gegeben hat. Und gibt es wohl etwas, das Ihm nicht gehörte — Ihm, Welcher der Gegenstand der ganzen Liebe Gottes ist? So viel ich in Gott zu entdecken und auf­zuzählen vermag, so viel kann ich mir zueignen; denn Chri­stus, „der hinabgestiegen ist in die unteren Teile der Erde, ist auch hinaufgestiegen über alle Himmel, auf daß er alles erfüllte"; und ich bin in Ihm und Er ist in nur. Ich habe die Erlösung gefunden und bin in den Besitz aller Dinge einge­treten; denn überall, wohin ich dringe, genieße ich Christum. Ja, der unglückliche Heide, der kein Anrecht auf irgendeine

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Verheißung
hatte, besitzt, gläubig geworden, Christum Selbst, den Gegenstand
der ganzen Liebe Gottes. Welch ein unausforschlicher Reichtum!

Geliebte Brüder! Prüfet, was die Liebe Gottes getan hat, statt daß ihr bei der Betrachtung dessen stehen bleibt, was der Mensch zu seinem eigenen Verderben getan hat; und die Folge davon wird sein, daß Christus der Gegenstand unseres Glau­bens und unserer Freude wird. Er wohnt in uns, damit wir die Liebe Gottes genießen können, wie Er sagt: „Auf daß die Liebe, womit du mich geliebt hast, in ihnen sei und ich in ihnen". Christus hat durch Seinen Geist Wohnung in uns gemacht; und wir sind in Ihm. Er sagt: „Ihr werdet erkennen, daß ich in euch bin, und ihr in mir seid". „Christus in uns — die Hoffnung der Herrlichkeit"; — und ich genieße von allem, was Er ist. Die Hoffnung, welche ich besitze, beschämt nicht, weil die Liebe Gottes in mein Herz ausgegossen ist, damit ich in der Schwachheit meines armen Leibes, in den Schwierigkeiten und Versuchungen, und im Kampf wider Satan stets die Treue, die Zärtlichkeit und Güte Jesu, und zwar in den einzelnen Umständen meines täglichen Lebens, kennenlerne. Ja, ich mache in der vertrautesten Weise Bekanntschaft mit Ihm; denn ich kenne Ihn als die „Hoffnung der Herrlichkeit".

 Es ist für mich kein fremder, unbekannter Christus, sondern ein Chri­stus, Den ich kenne in allen Bedürfnissen meines Lebens, ein Christus, in Welchem Gott mir in Seiner ganzen Fülle ent­gegenstrahlt, Der mich wie ein Freund begleitet und den Be­dürfnissen meines Lebens den ganzen Reichtum Seiner Gnade anzupassen weiß. Ja, ich kenne Ihn und fürchte mich nicht, kraft des Glaubens zum Himmel zu gehen; denn dort ist Er, Der mich liebt und versteht, obwohl ich noch auf Erden bin, und Der, wenn ich droben bei Ihm sein werde, die Mühsal Seiner Seele genießen und völlig befriedigt sein wird. Er hat die Gnade für die Seinen vollendet; später wird Er ihnen die Herrlichkeit, die Er jetzt besitzt, mitteilen und sie zur Befrie­digung des Vaterherzens Gottes darstellen.

Ich habe nur einige Punkte von dem unausforschlichen Reich­tum des Christus berührt. Die Engel sind die Zuschauer in allem, wovon wir die Gegenstände sind. Gott wirkt zu unse-

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rem Heil; und es ist gut, daß wir Ihn in den Wegen Seiner Gnade kennen, um diese Gnade und unendliche Liebe zu ver­stehen, deren Gegenstände wir 'sind, und ohne die wir ver­loren sein würden. Gott wollte uns durch die Macht Seines Geistes demütig machen und verstehen lassen, wie abscheu­lich die Sünde und wie unendlich die Gnade ist, die .uns in den Reichtum der Herrlichkeit einführt. Es ist nötig, daß unser armes Herz die Güte des Herrn Jesu selbst in den einzelnen Umständen des täglichen Lebens kennenlernt, sowie in Seiner Gunst und Gnade die Gunst und Gnade Gottes selbst erblickt. Wir bedürfen der Erkenntnis Gottes, um Ihn zu genießen.

Möge Gott diese Gnade, deren Fülle uns in Jesu entgegen­strahlt, durch Seinen Geist unseren Herzen tief einprägen und uns wachsen lassen in der Erkenntnis Dessen, Der der Friede unseres Herzens ist, damit wir den ganzen Reichtum Seiner Liebe und Gnade verstehen!

Eins aber ist not

(Lukas 12, 42)

Aus dieser feierlichen Bemerkung, die der Herr Jesus an Mar­tha richtet, sehen wir, wie Er, wenn wir Sein Wort anhören, dies mit großen Nachdruck als das „Eine, was not ist" be­zeichnet. Und aus diesem Grunde fand auch Maria mehr An­erkennung in Seinen Augen, als ihre Schwester Martha, wie­wohl diese, indem sie den Herrn in ihrem Hause aufnahm und Ihm diente, in einem gewissen Sinn ein gutes Werk ver­richtete. Dennoch gibt es etwas Besseres, ja, etwas durchaus Notwendigeres, wenn unser Dienst ein duftender Wohlgeruch vor dem Herrn sein soll; denn Er sagt: „Maria aber hat das gute Teil erwählt, das nicht von ihr genommen werden wird".

Es ist dem Herrn über alles andere wohlgefällig, wenn Sein Wort ein aufmerksames Ohr und ein geöffnetes Herz findet, so daß die Seele gänzlich durch die Macht Seines Wortes be­herrscht werden kann. Unstreitig hat die in unserer Zeit so

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vielfach zu Tage tretende Schlaffheit und Kraftlosigkeit der Gläubigen ihren Grund in der Vernachlässigung des „Einen, was not ist", oder, mit anderen Worten, in der Versäumnis, zu den Füßen Jesu zu sitzen und Sein Wort zu hören. Die vielen Sekten und Parteiungen und vor allem die verschieden­artigen Irrlehren unter den Christen sind davon die traurigen Folgen und verraten nur zu deutlich die mangelhafte Erkennt­nis des Wortes des Herrn.

Man kann die Person Jesu und Sein Wort nicht voneinander trennen, wenn man nicht den Wert und die Kraft von beiden für das Herz verlieren will. Denn wie kann man Gemeinschaft mit Christo genießen, wenn man es versäumt, auf Sein Wort zu achten? Er sagt: „Ihr seid meine Freunde, wenn ihr tut, was irgend ich euch gebiete" (Joh 15, 14). Und wie kann ich Sein Gebot kennen und Seinen Willen verstehen, wenn ich nicht zu Seinen Füßen sitze und auf Seine Worte lausche? Sein Wort geringzuschätzen bedeutet Geringschätzung Seiner er­habenen Person; und sicher hat Sein Wort nur dann Wert und Kraft für unsere Herzen, wenn wir verstehen, daß es Sein Wort ist. Deshalb sagt Er: „Meine Schafe hören meine Stimme" (Joh 10, 27); und wiederum: „Du hast mein Wort bewahrt" (Offb 3, 8).

Es ist daher von großer Bedeutung, Jesum zu hören, auf Sein Wort zu achten und es im Herzen wohnen zu lassen. Durch nichts anderes kann dieses ersetzt werden. Weder der eifrige Dienst, noch die große Aufmerksamkeit, welche dem Herrn durch die Liebe derjenigen gewidmet wurde, die Er liebte, fanden in Seinen Augen eine solche Anerkennung, wie das begierige Lauschen auf Sein süßes Wort von seiten derer, die zu Seinen Füßen saß. Ohne Zweifel gefiel es dem Herrn, daß Martha Ihm diente, und sicher wird ihre auf­opfernde Liebe manchen unter uns beschämen; allein ein an­spruchsloser, segensreicher und unermüdlicher Dienst für Ihn wird nur da stattfinden können, wo das „Eine, was not ist", nicht nur nicht versäumt wird, sondern den ersten Platz im Herzen einnimmt, während ein noch so bereitwilliger und eifriger Dienst, sobald man ihn zum Gegenstand Nr. l macht; nur zu bald mit Dürre, Unzufriedenheit und Mutlosigkeit

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enden wird. Die beiden Schwestern liefern uns dafür die Be­weise. Während Maria sich an den Worten des Herrn erquickte, lesen wir von ihrer so eifrig dienenden Schwester: „Martha aber war sehr beschäftigt mit vielem Dienen: und sie trat hinzu und sprach: „Herr! Kümmert es dich nicht, daß meine Schwester mich allein gelassen hat zu dienen? Sage ihr nun, daß sie mir helfe" (V. 40)! Der Eifer des Dienstes war mit einem Male gebrochen. Warum? Weil ihr Herz mit dem Dienst, aber nicht mit der Person Dessen, Dem der Dienst galt, be­schäftigt war!

Wie beachtenswert ist dieses Beispiel für uns! Der Herr sagt:

„Martha, Martha! Du bist besorgt und beunruhigt um viele Dinge. Eines aber ist not" (V. 41). Sicher bilden die „vielen Dinge", derentwillen Martha „besorgt und beunruhigt" war, einen schroffen Gegensatz zu dem von Maria erwählten „guten Teil", nämlich dem Worte Jesu, auf das sie lauschte. Während Martha durch die „vielen Dinge" beunruhigt wird, findet Maria Erquickung und Stärkung durch das erwählte „gute Teil". Während die „vielen Dinge" nur Zerstreuung, Erschlaf­fung und Kraftlosigkeit im Gefolge haben, verleiht das „gute Teil" Trost, Frische und Kraft. Während die „vielen Dinge" mit Leere, Täuschung und selbst dem Tode endigen, findet das gebrochene, zu den Füßen Jesu gebeugte Herz in Seinem Worte das ewige Leben, die unversiegbare Quelle des Lebens.

Und so ist es noch immer. Der Herr Jesus verliert nimmer Seine Schönheit, Seinen Reiz, Seinen Wert; und ebensowenig verliert Sein Wort die ihm eigentümliche Kraft. „Er ist der­selbe gestern und heute und in die Ewigkeit"! — und „Sein Wort bleibt in Ewigkeit"; es „vermag weise zu machen zur Seligkeit und ist nütze zur Lehre, zur Überführung, zur Zu­rechtweisung, zur Unterweisung in der Gerechtigkeit, daß der Mensch Gottes vollkommen sei, zu jedem guten Werke völlig geschickt". Wie köstlich und segensreich ist das Wort des Herrn, und wie wunderbar ist seine Wirkung in den Herzen derer, die darauf achten! Ja, nur das Wort vermag uns zu jedem guten Werke geschickt zu machen, und uns zu einem wahren, ausharrenden und unermüdlichen Dienst zu befähigen, zu einem Dienst, der in den Augen des Herrn völlige Aner-

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kennung findet, selbst wenn die Menschen ihn nicht zu erken­nen und zu schätzen vermögen.

Die „vielen Dinge", welche Martha so sehr beunruhigten, übten auf Maria keinen Einfluß aus, und zwar nicht bloß deshalb, weil der Zustand der Maria geistlicher war, als der der Martha, sondern weil das Wort, das sie aus dem Munde Jesu hörte, sie weit über die „vielen Dinge" erhob und ihren Gedanken und Neigungen eine andere Richtung verlieh. Hier zu den Füßen Jesu hatte Maria es gelernt, nicht einen eigen­willigen Dienst zu üben, sondern sich unter der Leitung des Geistes zu einer Handlung geschickt machen zu lassen, wozu der Herr sagte: „Sie hat ein gutes Werk an mir getan" (Mk 14, 6).

Wollen wir daher ein gutes Werk tun, ein Werk, das die An­erkennung Jesu finden soll, so müssen wir zuvor das „gute Teil" erwählen, d. h. zu Seinen Füßen sitzen und auf Sein Wort achten. Im anderen Fall beschäftigen wir uns nur mit jenen „vielen Dingen", die das Herz dürre, mutlos und un­ruhig machen. Das Wort aber, je mehr seine Autorität aner­kannt ist, wird stets seine Kraft geltend machen. Alle unsere Anstrengungen, um uns dem Einfluß der irdischen Dinge zu entziehen, werden vergeblich sein, solange wir nicht die Bedeu­tung der Worte Jesu verstehen: „Eins aber ist not. Maria aber hat das gute Teil erwählt, das nicht von ihr genommen werden wird". Ohne dieses gibt es keinen wirklichen Dienst und kein entschiedenes Zeugnis für Christum.

Bist du wiedergeboren?

„Was aus dem Fleische geboren ist, ist Fleisch, und was aus dem Geist geboren ist, ist Geist" (Joh 3, 6).

Es gibt zwei Familien auf Erden; die eine Familie besteht aus den Kindern des Zorns, die andere aus solchen, die für immer gerechtfertigt und einsgemacht sind mit dem verherrlichten Menschen Christus Jesus, Der sagen kann: „Siehe, ich und die Kinder, die Gott mir gegeben hat" (Hebr 2, 15). Jedes Kind Adams hat die gefallene und durchaus sündliche Natur Adams; und jedes Kind Gottes hat die Natur Gottes, welcher nicht sündigen kann.

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Wie deutlich indes das Wort Gottes den Unterschied zwischen diesen beiden Familien auch darstellen mag, so weiß doch die große Mehrzahl der bekennenden Christen nicht im gering­sten, was es heißt, wiedergeboren zu sein. Sie leben gedan­kenlos in den Tag hinein, indem etliche der Lüge Glauben schenken, als sei bei der Taufe eines Säuglings dessen Wieder­geburt vollzogen, oder andere in ihrer Blindheit meinen, die Natur Adams sei ebenso schlecht nicht, daß sie nicht durch Erziehung und Veredlung gut und heilig gemacht werden könnte. Doch wir wissen nur zu gut, daß der Mensch unter allen Umständen als ein gefallener, verderbter Sünder auf­wächst.

Allein es gibt noch eine andere Klasse, welche einräumt, daß Be­kehrung und Wiedergeburt notwendig sind, aber sie können dar­unter nichts anderes verstehen als eine Veränderung oder Um­wandlung der alten, verderbten Natur Adams, welche die Heilige Schrift als das „Fleisch" bezeichnet, in eine reine und heilige Natur. Wiederum sind viele von Jugend auf belehrt worden, um ein „neues Herz" zu beten; und ihre Gebete, 'um bekehrt zu werden, lassen es in aller Deutlichkeit durchblicken, daß sie die Umwandlung der alten Natur Adams in die neue Natur Christi erwarten. Augenscheinlich sind solche Beter aus ihrem Sün­denschlaf aufgewacht und haben angefangen, sich nach dem Wege des Heils umzusehen. Aber nimmer wird ihr Gebet Erhörung finden, sondern, da sie in Wahrheit ihren gänzlich verlorenen Zustand nicht erkennen, die Unruhe ihrer Seele nur vermehren. Eine solche Art von Bekehrung findet sich in der ganzen Heiligen Schrift nicht. Sie sagt uns an keiner Stelle, daß das Fleisch, d. 1. unsere gefallene Natur Adams, sich um­wandeln oder verändern werde, sondern vielmehr, daß wir erst bei der Wiederkunft Christi völlig davon befreit werden; denn Paulus sagt in Phil 5, 20 u. 21: „Denn unser Bürgertum ist in den Himmeln, von woher wir auch den Herrn Jesum Christum als Heiland erwarten, der unseren Leib der Niedrig­keit umgestalten wird zur Gleichförmigkeit mit seinem Leib der Herrlichkeit". Bevor aber dieses große und herrliche Er­eignis stattfindet, wird keine Umwandlung des Fleisches oder der alten Natur Adams zu suchen sein. Wir alle, die wir durch die Gnade wiedergeboren, die wir Kinder Gottes sind, die wir den „Geist der Sohnschaft" haben und mit Christo vereint

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sind, müssen durch den Mund des Apostels sagen: „Auch wir selbst, die wir die Erstlinge des Geistes haben, auch wir selbst seufzen in uns selbst, erwartend die Sohnschaft: die Erlösung unseres Leibes" (Röm 8, 23). Es ist daher außer allem Zweifel, daß eine durch den Heiligen Geist wirklich er­weckte Seele durch eine solche falsche Anschauung über das, was Bekehrung ist, während des ganzen Lebens in Unruhe und Knechtschaft gehalten wird. Freilich wird jeder, der an Jesum glaubt, mit allem Verlangen beten und wünschen, daß er von der bösen Natur Adams, die eine stete Plage seines Herzens ist, völlig befreit werde; und es ist ganz gewiß, daß dieses bei der Ankunft Christi stattfinden wird. „Wir wissen, daß, wenn er geoffenbart ist, wir ihm gleich sein werden; denn wir werden ihn sehen, wie er ist". Der Glaube trium­phiert in dieser gesegneten Voraussicht.

Aber jetzt ist der durch den Geist erweckten Seele gesagt worden, daß die alte schlechte Natur durch die Bekehrung umgewandelt und heilig gemacht werde. Vielleicht fühlt sie sich eine Zeitlang sehr glücklich; aber nach und nach entdeckt sie immer wieder die alte Natur mit ihren Lüsten und Leiden­schaften in sich, und, geleitet durch die oben bezeichnete falsche Anschauung von Bekehrung, wird sie gänzlich in Verwirrung gebracht und richtet schließlich alles Ernstes die Frage an sich, ob sie überhaupt wohl bekehrt sei. Es ist kaum zu beschreiben, in welcher Trostlosigkeit sich eine solche Seele befindet; denn gerade wenn wir wiedergeboren sind, erkennen wir, was die Plage und Schändlichkeit der Sünde im Fleische ist. „Denn das Fleisch gelüstet wider den Geist"; und wiederum: „Wan­delt im Geist, und ihr werdet die Lüste des Fleisches nicht vollbringen". Liefert uns dieses nicht den deutlichsten Beweis, daß der Wiedergeborene immer noch eine böse Natur oder das Fleisch in sich hat, und daß er, wenn nicht der Heilige Geist in ihm wohnte, auch jetzt noch die scheußlichsten Lüste vollbringen würde? Der Herr möge jeden Gläubigen zur Wach­samkeit leiten!

Was ist nun die Wiedergeburt? Sie ist ganz von Gott, eine neue Schöpfung. „Wenn jemand in Christo ist, da ist eine neue Schöpfung. Das Alte ist vergangen, siehe, alles ist neu geworden. Alles aber von Gott". — Beachten wir es wohl:

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Alles aber von Gott". Nichts ist hier von dem armen, gefal­lenen und verderbten Menschen; denn von den Kindern Got­tes, von denen, die an Seinen Namen glauben, lesen wir:

„Welche nicht aus Geblüt, noch aus dem Willen des Fleisches, noch aus dem Willen des Mannes, sondern aus Gott geboren sind". So wie Gott im Anfang bei der Schöpfung die Welt nicht aus alten Materialien machte oder umwandelte, so ist auch die neue Schöpfung nicht aus einer Umgestaltung oder Reinigung der alten verderbten menschlichen Natur hervor­gegangen. Wir werden dies nirgends in der Heiligen Schrift finden.

Christus ist, nachdem Er 'das Werk der Erlösung vollbracht hatte, aus den Toten auferstanden und darum das Haupt der neuen Schöpfung. Der Geist Gottes beginnt nicht mit dem, was in dem Sünder ist, sondern teilt das mit, was ganz außer­halb des Sünders ist, und zwar dasselbe Auferstehungsleben und die Natur des Christus, Der aus den Toten auferstanden ist und zur Rechten Gottes sitzt; und mithin sind wir „von oben geboren". Oh, welch ein Leben! Sicher müßte Christus noch einmal im Himmel sterben, bevor dieses Auferstehungs­leben in einem einzigen Gläubigen zu Grunde gerichtet werden könnte. Weil Er lebt, leben auch war. Es kann nicht anders sein; denn in Ihm und in uns ist ein und dasselbe Leben. Und welch eine Natur? Wir besitzen die neue Natur des aus den Toten auferstandenen Menschen Christus Jesus. „Wie er ist, so sind auch wir in dieser Welt" (1. Joh 4, 17). Wie wunder­bar ist diese Stellung gegenüber der alten Natur Adams, ge­genüber dem als „tot" betrachteten, alten Menschen! „Das Alte ist vergangen, siehe, alles ist neu geworden". Vor Gott existiert die alte Natur nicht mehr; alles ist neu in Christo, lebendig gemacht mit Christo, auferstanden mit Christo, mit­gesetzt in die himmlischen Örter in Christo (Eph 2, 6). Wir haben nicht zu warten, bis der leibliche Tod der alten Natur ein Ende macht; alles ist unser in Christo, dem auferstan­denen Haupte.

Wie mag dieses zugehen? Wie kann ein Mensch wiederge­boren werden? „Der Wind weht, wo er will, und du hörest sein Sausen, aber du weißt nicht, woher er kommt, und wohin er geht; also ist jeglicher, der aus dem Geiste geboren ist ... Und gleichwie Moses in der Wüste die Schlange erhöhte, also  muß der Sohn des Menschen erhöht werden" (Joh 5, 8. 14). 

Hier haben wir das Wie — das einzige Wie, die einzige Art und Weise, wie ein Sünder bekehrt wird. Alles andere ist Lüge und Täuschung. Das Evangelium ist den Menschen eine Torheit; aber „es ist Gottes Kraft zum Heil jedem Glauben­den" (Röm 1. 16). So wie die Schlange für die tödlich gebis­senen Israeliten in der Wüste aufgerichtet wurde,  so ist auch der gekreuzigte und wieder auferstandene Christus den ver­lorenen, durch den Biß der Sünde tödlich verwundeten Men­schensöhnen vor Augen gestellt; und jeder, der glaubt, ist vom Tode zum Leben hindurchgedrungen, ist aus Gott ge­boren und hat das ewige Leben.

Vielleicht könnte einer meiner Leser fragen: „Wie kann ich aber wissen, daß ich von Gott geboren, daß ich ein Kind Gottes bin?" Ich frage zurück: „Wie kannst du wissen, daß dein Leib je geboren worden ist?" Liefert deine menschliche Exi­stenz nicht den Beweis? Und ebenso beweist die Existenz der neuen Natur, daß du aus Gott geboren bist. Ich blicke nicht in den Spiegel, um zu prüfen, ob ich sehen kann. Ich richte vielmehr meinen Blick auf irgendeinen Gegenstand; und wenn ich den klar und deutlich sehe, so ist das der Beweis, daß ich ein gutes Auge habe. Hast du durch den Glauben Jesum am Kreuz sterben sehen um deiner Sünde willen? Hast du gesehen, wie Er 'aus dem Grabe wieder auferweckt worden ist um deiner Rechtfertigung willen? Ist Er der einzige Ge­genstand, worauf du vertrauest und auf den du dein Heil gründest? Hast du Ihn, nachdem Er das Werk der Versöhnung vollbracht und deine Sünden getragen hat, zur Rechten. Gottes gesehen? Siehst du, wie Er droben dich vertritt und für dich bittet? Schaust du Ihn, Der nicht nur herrlich und erhaben ist, sondern auch die zärtlichste Liebe für den von Natur Armen und Verlorenen, wie du einer bist, an den Tag legt? Sicher, wenn dein Auge nicht in dieser Weise auf Jesum gerichtet ist, so ist dein Auge nicht das des alten Menschen. Das alte, ver­derbte menschliche Herz vertraut nicht in solcher Weise auf Jesum. Die alte Natur blickt in sich und wünscht dort etwas Gutes für Christum zu finden. Der Glaube hingegen, der nicht aus dem Willen des Fleisches, sondern aus Gott ist, richtet seine Blicke nach außen auf Christum und schaut in Ihm Den, Der für den 'armen, verlorenen Sünder allen Forderungen des heiligen und gerechten Gottes entsprochen hat. „Was aus dem Fleische geboren ist, ist Fleisch". „Die Gesinnung des Fleisches ist Feindschaft gegen Gott". Daher kann die Gesin­nung des Fleisches oder das Fleisch selbst kein Vertrauen auf Christum setzen.

Darum, mein teurer Leser, wenn du dein Vertrauen auf Chri­stum allein setzest, hast du nicht nötig zu fragen: „Bin ich bekehrt? Bin ich wiedergeboren?" Denn nichts ist gewisser als dieses. Und wenn du sagst: „Ich finde 'aber so viel Böses in meiner alten Natur", so ist das etwas, was jedes Kind Gottes täglich bei sich findet und zu beklagen hat; denn wenn du nicht ein Kind Gottes wärest, so würdest du darunter nicht klagen. Paulus sagt: „In mir, das ist in meinem Fleische, wohnt ; nichts Gutes" (Röm 7, 18). Aber er sagt auch: „Die Sünde wird nicht über euch herrschen; denn ihr seid nicht unter Ge­setz, sondern unter Gnade" (Röm 6, 14). Welch eine kostbare Verheißung! Welch eine glückselige Stellung! Wenn ein Kind Gottes auch stets versucht werden mag, ja selbst wenn du gefehlt hast und aus Mangel an Wachsamkeit von dem Betrug der Sünde überlistet worden bist, wenn du in stets schwerem Kampfe fühlst, wie das Fleisch wider den Geist gelüstet, so bleibt es dennoch eine ewige, unumstößliche Wahrheit: „Die Sünde wird nicht über euch herrschen". Wie schlecht das Fleisch auch sein mag — und sicher, es kann nicht schlechter sein — so ist doch der Gläubige kein Schuldner des Fleisches, sondern „mehr als Überwinder durch den, der ihn geliebt hat".

0 möchten doch alle Kinder Gottes nicht mehr in sich schauen, um dort in ihrer alten Natur etwas zu suchen, das sie nie finden werden! Ach, wie viele Unruhe, wie viele fruchtlose Anstrengungen würden sie sich ersparen. Sie blicken in ein leeres Grab, worin der auferstandene Jesus nicht zu finden ist. Sie suchen Früchte an einem faulen Baume, an den längst die Axt gelegt ist. Sie suchen helle, klare Tropfen in einer durchaus unreinen Quelle, in welche sich alle Sümpfe und Kot­schleusen dieser Erde ergossen haben. Blicken wir auf Chri­stum, Der um unserer Sünde willen dahingegeben, und um unserer Rechtfertigung willen auferweckt ist. In Ihm finden wir alles, was wir nötig haben. Er ist der Weg, die Wahrheit und das Leben.

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