Knorre Heinrich von, Seelische Krankheit Heilung und Heil - Gedanken Erfahrungen Hohe Mark

05/16/2023
von Christ-und-Buch Günter Arhelger

Das Unbewußte

Da bekam ich dieser Tage ein Buch zugeschickt mit dem Titel: »Vor unseren Augen.« Hier wird mit eindrucksvollen Bildern und Texten verdeutlicht, in wieviel Not viele Menschen dieser Erde leben: Als ich in diesem Buch las, da kam mir der Gedanke: Ja, die soziale, die äußere Not kann man mit Bildern zeigen, die Not der Seele ist höchsteps an den Augen ablesbar, meistens aber unsichtbar und oft für den Betreffenden selber sogar, unbewußt. Genauer ausgedrückt müßte ich sagen: Die Not wird oft an einer falschen Stelle lokalisiert, wo sie gar nicht liegt Was zu dieser falschen Lokalisation der Not führt, das soll im folgenden verdeutlicht werden.

Zunächst möchte ich aber einiges Grundsätzliche zum Begriff des Unbewußten sagen. Daß uns nicht alles bewußt ist, was es gibt, ist eine Erkenntnis, die so alt ist wie aie Menschheit. Die magisch denkenden Menschen verehrten in Bäumen, Steinen und Gestirnen ihre angeblichen Götter, die für unerklärliche Wirkungen die Ursache seien. Später sprach man von Welträtseln und drückte damit das Unerklärliche mehr sachlich aus. Mit dem Aufkommen der Aufklärung und der modernen Wissenschaft begnügte man sich nicht mehr mit der Erklärung, daß hier etwas Unerklärbares, vorliege, sondern begab sich an die wissenschaftliche Erforschung der Zusammenhänge der Welt. Der modernen Naturwissenschaft gelang es immer mehr, Ursachen und Folgen zu unterscheiden, Naturgesetze zu formulieren und diese Erkenntnisse dann technisch zur Veränderung des menschlichen Lebens umzusetzen.
Rätselhaft blieb aber weiterhin die Psyche des Menschen, bis die moderne Tiefenpsychologie durch den Begriff des Unbewußten, den sie in die Wissenschaft einführte, einen weiteren Schrift zur Erhellung der menschlichen Erkenntnis tat. Es handelt sich hier also um einen wissenschaftlichen Begriff. Davon abzuheben wäre der Begriff der Transzendenz, der besagt, daß es etwas jenseits unserer Erkenntnis gibt, das letztlich unerreichbar bleibt.
Mit dem Begriff des Unbewußten soll u. a. zum Ausdruck gebracht werden, daß wir unsere Psyche nur dann verstehen können, wenn wir neben dem Vorhandensein bewußter auch die Wirksamkeit unbewußter Prozesse annehmen. Unsere erwachsene Psyche arbeitet also auf zwei Ebenen: auf der Ebene des Bewußten und auf der Ebene des Unbewußten. 

In der Sprache der Psychoanalyse unterscheiden wir den Primärpro-zeß vom Sekundärprozeß, wobei angenommen wird, daß im Laufe unserer psychischen Entwicklung das anfängliche Überwiegendes Primärprozesses zunehmend durch die Entwicklung des Sekundärprozesses ausbalanciert wird. Das Unbewußte arbeitet nach den Gesetzen des Primärprozesses, d. h. es funktioniert raum- und zeitlos, nur der Lust gehorchend, während das Bewußtsein dem Sekundärprozeß folgt:- Logik, Ethik, Verantwortung und die Grenzen von Raum und Zeit haben hier ihre Bedeutung. 

Ein Überwiegen des Primärprozesses, wo die grenzenlose Lust regiert, ist ebenso notvoll wie das Überwiegen des Sekundärprozesses, wo die vitalen Kräfte der Person sich nicht in natürlicher Weise entfalten können und es zu chaotischen Durchbrüchen kommen kann. So besteht die Aufgabe der Psychotherapie in einer Integration beider Funktionsweisen, in einem Ausgleich beider Systeme. Die Grenze zwischen'Bewußt und Unbewußt ist oft fließend - manche seelischen Prozesse sind dem Bewußtsein leichter, manche schwerer und manche zunächst gar nicht erreichbar.
Während die grundsätzliche Unterteilung der Psyche in Bewußt und Unbewußt eine ererbte, genetisch festgelegte Größe ist, handelt es sich bei den Inhalten des Unbewußten nicht nur um ererbte, sondern zu einem großen Teil um erworbene Inhalte. Erfahrungen, Erlebnisse und Gefühle, die mir früher einmal bewußt waren, sind aus bestimmten Gründen unbewußt geworden. Diese unbewußt gewordenen Inhalte der Seele wieder bewußt zu machen, ist eine Aufgabe der Psychotherapie, da durch das Unbewußtwerden mein gefühlsmäßiger und geistiger Horizont sich reduziert und verkleinert hat.
Was das Unbewußte alles umfassen soll, darüber streiten sich die einzelnen psychotherapeutischen Schulen. Die analytische Psychologie C. G. Jungs betont stark das kollektiv Unbewußte, d. h. das allen Menschen gemeinsame Unbewußte, während in der Freudschen Psychoanalyse die individuellen verdrängten Regungen, Strebungen und Wünsche mehr im Blickfeld sind. Ich möchte hier mehr auf das den tiefenpsychologischen Schulen Gemeinsame als auf die Unterschiede abheben und dieses weiter verdeutlichen.
Daß es so etwas wie das Unbewußte gibt, hat die Psychologie durch Experimente, wie z. B. das folgende, nachgewiesen. 

Da wird ein Mensch in Hypnose versetzt und erhält den Auftrag, sich um 16 Uhr die Hände zu waschen. Dieser Mensch geht nach Beendigung der Hypnose nach Hause, und, tatsächlich, um 16 Uhr wäscht er sich seine Hände. Fragt man ihn dann, warum er es tat, wird er alle möglichen Gründe dafür angeben, aber den eigentlichen Grund, daß er nämlich während der Hypnose dazu den Auftrag bekam, wird er sich nicht erinnern können. So tun wir unbewußt viele Dinge, für die wir ganz andere - unzutreffende - Erklärungen abgeben. Wir lokalisieren also oft die Ursachen für unser Handeln an einer falschen Stelle.
Der Inhalt des Unbewußten ist vorwiegend das, was uns nicht paßt, was wir verdrängen und nicht wissen wollen und aus diesem Grunde vor uns selber verbergen - kurz: das Uneingestandene.

Ein Beispiel: Herr Müller fährt Herrn Meyer über den Mund. '>Das habe ich nicht gewollt, ich bitte um Entschuldigung«, sagt Herr Müller. Herr Meyer ist getroffen und nimmt die Entschuldigung nicht an: »Mit einer Entschuldigung ist das nicht getan.« Daraufhin wird Herr Müller erst recht böse - er hat jetzt einen bewußten Grund für seinen Ärger: die Nichtannahme seiner Entschuldigung. So kann er seine unbewußten Aggressionen, die den ganzen Konflikt herbeiführten, zum Ausdruck bringen. Daß Herr Müller gegenüber Herrn Meyer vorher schon aggressive Gefühle hatte, wird Herr Müller bestimmt nicht »wissen«, nicht zugeben und heftig abstreiten. Ein Gefühl für das eigene Unbewußte setzt nämlich eine tiefe Selbsterkenntnis voraus, und die fehlt sehr vielen Menschen.
Außerdem ist die Tatsache, daß es ein Unbewußtes geben soll, über das ich im Augenblick nicht verfüge, eine Kränkung für das Selbstverständnis von uns Menschen. So gibt es viele Menschen - auch in frommen Kreisen -‚ die die Existenz-unbewußter Regungen und unbewußter Kräfte leugnen. Und doch spricht schon Jesus von etwas Unbewußtem, wenn er in der Bergpredigt (Matth. 7, 3) uns Menschen darauf hinweist, wie wir den Splitter im Auge des andern, nicht aber den Balken im eigenen Auge erkennen. Mit dem Balken meint Jesus in diesem Bild zunächst zwar meine Blindheit für die eigene Gottlosigkeit und für die eigene mangelnde Selbsterkenntnis. In einem weiteren - psychotherapeutischen - Sinn ist aber auch meine Neigung, eigene!unbewußte Probleme und Konflikte zunächst beim andern und nicht bei mir selbst zu erkennen, angesprochen. Gemeint ist damit, daß ich z. B. die Gottlosigkeit oder die innere Unwahrhaftigkeit des andern viel schneller erkenne als bei mir selber. Oder: Ich rege mich über die notvollen Seiten des andern viel schneller als über meine eigenen schwachen Seiten und blinden Flecke auf.
Dies Gleichnisbild Jesu weist somit auf ein sehr bedeutsames Kennzeichen des Unbewußten hin: Es gibt Dinge, auf die ich nicht gerne aufmerksam gemacht werden will. Das Unbewußte ist meist nicht das, was ich zufällig vergessen habe, sondern das, was für mich peinlich, kränkend und so unerträglich war daß ich es verdrängt habe. Das hat für mich den Vorteil, daß ich Unangenehmes aus dem Blickfeld verliere, andererseits den Nachteil, daß es vom Unbewußten her durch Fehlleistungen, Träume und auch durch eine scheuklappenförmige Einengung der Gesamtpersönlichkeit seine Wirkungen weiter ausübt, nur sind die Ursachen jetzt nicht mehr für die betreffende Person - für mich - erkennbar.
An diesem Beispiel läßt sich etwas über das Verhältnis von Psychotherapie und Seelsorge - wie ich es sehe - recht gut verdeutlichen. 

Es geht nicht darum, ein Bild wie das vom Splitter und Balken nur theologisch oder nur psychotherapeutisch zu sehen, sondern es von verschiedenen Aspekten-und jeder Gesichtspunkt hat seine besondere Bedeutung—zu betrachten. Erst diese doppelte Optik ermöglicht ein Verständnis mancher sonst unklar bleibender Zusammenhänge. Um es anders zu sagen: Es geht oft um ein Sowohl-Als-auch und nicht nur um ein Entweder-Oder.
Durch die Psychotherapie wird manchem erst deutlich, wie blind er für wesentliche Lebensfragen bisher gewesen war. Die Erkenntnis der eigenen Blindheit motiviert ihn dann zu einem weiteren Fragen und Arbeiten an sich selber. So mancher entdeckt dabei auch seine eigene Blindheit für die geistliche, die christliche Wirklichkeit, die er bisher völlig übersehen oder sogar bewußt weggeschoben hat.

Man hat einmal gesagt, die Neurose sei eine Krankheit, die ich an mir selber nicht erkenne. Dafür erleben die andern sie an mir sehr deutlich. Damit ist treffend zum Ausdruck gebracht, daß das Unbewußte Wege findet, sich in verstellter Weise kundzutun, auch wenn ich es gelber nicht wahrnehme.
Zu Beginn meiner nervenärztlichen Tätigkeit behandelte ich eine Mutter mit angstneurotischen Symptomen wie Anklammern an andere, diffuse Angstgefühle, meist Darmbeschwerden etc., alles Ausdruck der Unfähigkeit dieser Frau, ein eigenes reifes Leben zu führen. Jahre später kam eins ihrer Kinder zu mir in Behandlung. Es war von seiner Mutter seit der frühen Kindheit nicht innerlich freigegeben worden und hatte so die altersgemäßen Entwicklungsschritte nicht durchlaufen können- 

So bot es als Ausdruck der inneren Unreife dieselben Symptome wie die Mutter. Vom Bewußtsein her hatte diese Mutter seit eh und je das Beste für ihr Kind gewollt - und es auch jetzt zu mir geschickt, wo ihr geholfen wurde. Unbewußt hatte sie aber in der frühen Kindheit - ehe sie zur Therapie kam - das Kind zur Unselbständigkeit erzogen, und diese Unselbständigkeit und die begleitende Angstbereitschaft bedurfte dann ebenso wie bei der Mutter nun beim Kind der Behandlung.
Da wir auch als Psychotherapeuten den unbewußten Prozessen ausgeliefert sind, ist es in unserer Ausbildung zunächst einmal notwendig, daß wir uns einer Eigenerfahrung in Form einer Lehranalyse unterziehen, um unser eigenes Unbewußtes etwas besser kennenzulernen. Aufgrund der - Begegnung mit der eigenen Übertragungsbereitschaft und den eigenen inneren Widerständen und Abwehrmechanismen gewinnen wir dann eher einen Zugang zum Unbewußten unserer Patienten.
Unter Übertragungsbereitschaft verstehen wir die Tatsache, daß ein Mensch unbewußt einer Person, der er begegnet, Züge zuschreibt, die eine seiner prägenden Kindheits-Bezugspersonen hatte oder die er selber heute hat. So werde ich als leitender Arzt oft von den Patienten auf Station als Schuldirektor erlebt. Erst im Laufe der Behandlung lernen die Patienten, mich und die andern Personen ihrer Umgebung mehr und mehr als die Person kennen, die ich bzw. die anderen wirklich sind. Sie erwerben durch die Behandlung die Fähigkeit, Personen nicht mehr projektiv entsprechend ihren Kindheits-Bezugspersonen oder ihrer Wünsche, wie ich sein sollte, sondern realistischer zu beurteilen und zu unterscheiden.

Die inneren Widerstände entwickelten sich in der Kindheit mit dem Ziel, eine unerträgliche, in der Kindheit nicht änderbare Situation so zu gestalten, daß ein Weiterleben möglich war. Um ein grobes Beispiel zu wählen: Wie soll ein kleines Kind mit einem immer wieder betrunkenen, randalierenden Vater anders umgehen, als daß es sich ihm gefühlsmäßig entzieht. Dieses innere Auf-Distanz-Gehen setzt sich gewöhnlich fort, und so ist solch ein Mensch dann als Erwachsener z. B. unfähig, zu andern Männern oder überhaupt Menschen eine echte Gefühlsbeziehung aufzubauen. Unbewußt besteht die Angst vor dem randalierenden Vater, dem das Kind ausgeliefert war, weiter.

Bei vielen Menschen, und gerade bei gläubigen Christen, beobachte ich ein starkes Moralisieren. Es fällt ihnen schwer, Schwächen, Fehltritte und Versagen ihrer Mitmenschen als Not anzuerkennen, ohne sie gleich zu verurteilen. D(e Mahnung Jesu, nicht zu richten (Matth. 7, 1), fällt ihnen schwer, weil sie sich selber hart verurteilen. Es ist nämlich eine alte tie-fenpsychologische Erfahrung, daß wir mit andern Menschen bewußt oder unbewußt genauso umgehen wie mit uns selber. Wenn wir uns selber nicht mögen und verurteilen, dann tun wir das auch mit unsern Mitmenschen. Alexander Mitscherlich (1951) hat das in Anspielung an das bekannte Sprichwort so ausgedrückt: Wie ich mir, so ich dir. Nicht umsonst hat Jesus ja betont, daß wir unsern Nächsten wie uns selber lieben sollen (Matth. 19, 19). Es ist so, als ob das Wort Jesu: Selig sind die Barmherzigen, denn sie werden Barmherzigkeit erlangen (Matth. 5, 7), von diesen Christen überlesen wird.
Das Moralisieren kann auch von einem weiteren Gesichtspunkt betrachtet werden. Menschen, die stark moralisieren, machen zunächst einen ethisch hochstehenden Eindruck. Will man mit solch einem Menschen aber dessen seelisches Leben etwas genauer untersuchen, dann mündet dieser Versuch recht bald in Selbstanklagen und Selbstvorwürfen. Die Selbstvorwürfe haben aber, tiefenpsychologisch gesehen, die Absicht, daß nicht noch unangenehmere Zusammenhänge ans Tageslicht kommen, die auf einen tieferliegenderen Schaden hinweisen. Diese Menschen sind nicht in der Lage, sich ein zutreffendes Bild von sich selber zu machen. 

Als Psychotherapeut würde ich sagen: Unbewußt wehrt sich ein Mensch, die Wahrheit über das eigene Selbst kennenzulernen. Nicht ohne Grund wird von der Höllenfahrt der Selbsterkenntnis gesprothen. Es gehört also viel Mut dazu, dem eigenen Unbewußten zu begegnen.
Da erzählte mir ein Patient, wie er immer wieder träume, daß nachts sich ein Vietcong-Soldat in sein Schlafzimmer schleiche, und er vor Schrecken aufwache. Als ich um aufforderte, seine Assoziationen zu diesem Traum zu erzählen, da fiel ihm ein, im Bett sei er völlig wehrlos, und Jie Vietcong, das seien ja Soldaten, die aus dem Hinterhalt einen überfielen, und die ihm viel Angst machten. Im Laufe der weiteren Therapie wurde dann deutlich, wie er auf Sicherheit und Ordnung bedacht war und Spontaneität und schöpferische Einfälle abwehrte.

 Als er zu diesen Tie-Censchichten der eigenen Person zunehmend ein Verhältnis gewann, lok-kerte sich sein ganzes Wesen, er wurde umgänglicher, beweglicher und sein Leben erfüllter und befriedigender. Er hatte wieder eine Beziehung ru den kreatürlich-schöpferischen Quellen der eigenen Tiefenperson gewonnen.

Oft bringen Menschen sehr »vernünftige« Argumente gegen die Psychotherapie vor, die das Unbewußte aufdecken will: Sie koste so viel Geld und Zeit, der Erfolg sei letzten Endes so bescheiden usw. - alles Argumente, die einen Teil Wahrheit ausdrücken. Es ist aber nur die halbe Wahrheit, die andere Hälfte wird unterdrückt, und die halbe Wahrheit - als ganze Wahrheit verstanden - ist letzten Endes Lüge. Und da die Umgebung, die Familienmitglieder, die Nachbarn und Arbeitskollegen diese zweite unterdrückte Hälfte erleben und meist unter ihr leiden, lohnt der Einsatz von Energie und Geld, das eigene Unbewußte kennenzulernen. Wieviel »verkorkste« Kinder wohlmeinender Eltern gibt es doch. Die Eltern haben sich ehrlich bei der Erziehung ihrer Kinder Mühe gegeben, aber ihr Unbewußtes hat ihnen leider Streiche gespielt.

Da kam vor einiger Zeit der Vater einer knapp 20jährigen kaufmännischen Angestellten nach einem Telefonanruf zu mir. Er berichtete mir von dem Suicidversuch seiner Tochter. Dieser Selbstmordversuch hatte zur Aufnahme in ein auswärtiges Krankenhaus geführt. Dort habe man ihm empfohlen, sich um Aufnahme der Tochter in unser Haus zu bemühen. Der Vater - Akademiker - machte auf mich einen sympathischen Eindruck, und ich spürte ihm die Sorge um die Tochter ab. Da er in seiner Schwierigkeit zunächst meine Hilfe in Anspruch nahm bat ich ihn, mir einen Krankenschein zu schicken. Anstatt dessen teilte er mir in dem einige Tage später kommenden Brief mit, ich sollte ihm eine Privatliquidation schicken— wohl mit dem Gedanken, ich sollte ruhig mehr berechnen, und meine Zufriedenheit käme dann seiner Tochter in der Therapie zugute. 

Diese fürsorglich-überfürsorgliche Haltung stellte sich dann in der weiteren Therapie als das Problem heraus: Er konnte seine langsam erwachsen werdende Tochter nicht freigeben - und die Tochter genoß auf der einen Seite das Bedientwerden, quälte sich aber auf der anderen Seite mit einem Gefühl der Sinnlosigkeit, dessen Ursprung sie selber aber zunächst nicht zu deuten verstand. Der Tochter und mir wurde in der Therapie dann recht bald deutlich, daß es sich um die verhinderte Ablösung vom Eltern haus handelte. Das Selbständigwerden wurde ihr durch ihre eigene Bequemlichkeit ebenso wie durch die Überfürsorglichlceit vor allem des Va-ters verunmöglicht.
Als Psychotherapeuten sind wir nicht der Meinung, es müßte lediglich mehr der Umgang mit dem Unbewußten geübt werden, dann seien alle seelischen Übel aus der Welt zu schaffen. Ein intensiverer Umgang mit dem eigenen Unbewußten ist also kein Allheilmittel. Die stärkere Berücksichtigung des Unbewußten würde aber unser Leben menschlicher und wahrhaftiger machen.
Immer wieder staune ich, was Menschen als »selbstverständlich« ansehen: Man verlangt von andern Menschen, sie müßten nach genau denselben Lebensmaximen feben, denselben Verhaltenscodex beachten etc. Konfrontiere ich sie mit der Tatsache, daß die Bedürfnisse nach »Ordnung«, nach Zeitgestaltung, nach musischer Entfaltung— um nur einige zu nennen -verschieden sind, dann höre ich sehr schnell Urteile wie Banausentum, geistige Kleinkrämerei- alles Hinweise für die Verabsolutierung der eigenen Maßstäbe und die Unfähigkeit dieser Menschen, sich in eine andere psychische Welt als die eigene zu versetzen.

Wenn wir uns mehr mit dem Unbewußten beschäftigen, dann erkennen wir, nach was für harten, grausamen Gesetzen wir unbewußt handeln, die ganz vom Lust-Unlust-Prinzip bestimmt sind. In der Tiefenpsychologie verstehen wir unter dem Lust-Unlust-Prinzip das grenzenlose Streben nach Lust ohne Rücksicht auf den andern und das Verweigern unlustbe-tonter Lebensanforderungen. Ein Beispiel: Da ist ein Student vor dem Examen. Er: schafft es aber nicht, sich an die Bücher zu setzen und zu lernen. Statt dessen räumt er sein Zimmer immer wieder auf, betreibt Sport, um sich für das Examen fit zu machen etc.

Weitere Kennzeichen des Unbewußten sind die Zeit- und Grenzenlosigkeit. Da spart und spart ein Mensch, häuft Güter auf Güter und stirbt schließlich. Zum Leben ist erin den 60-80 Jahren, die sein Leben umfaßte, kaum gekommen. Sein Leben führte er ausschließlich in der ständigen Spannung von Habenmüssen und Angst vor dem Nichthaben. Dieser Mensch ist vor der Bewältigung der verschiedenen Stufen des Lebens: Kind— Schulkind— Berufsfindung— Partnerfindung oder bewußte Ehelosigkeit - Alter, um nur einige zu nennen, mit den sich in jedem Alter ändernden und jedem Menschen gesteckten Möglichkeiten und Grenzen ausgewichen. 

Dieses Ausweichen vor dem bewußten Annehmen der eigenen Grenzen finden wir bei vielen Menschen. Denken Sie doch beispielsweise an den Alkoholrausch, aus dem manche nicht in die Wirklichkeit zurückfinden und schließlich der Sucht verfallen. In der Psychotherapie erleben wir häufig viel verborgenere, subtilere Weisen, die Grenzen des eigenen Lebens zu verleugnen, deren Betrachtung hier aber zu weit führen würde.

Mit einem Leben in Zeit- und Grenzenlosigkeit mißbrauchen wir auch unsere Mitmenschen und unsere Umwelt. Wie oft begegne ich in der Therapie der Formulierung: Das müßte doch möglich sein. Menschen verlangen von anderen Zuwendung, Interesse an ihrer Person und an ihrem Ergehen, ohne daß sie bereit sind, ähnliche Maßstäbe für ihren Umgang mit den Mitmenschen anzulegen. Die Rentenneurotiker fordern vom Vater Staat Versorgung und sind nicht bereit, eigene Schritte und Initiativen aufzubringen, um mit der Unbill des Lebens realistischer umzugehen.
So ein Leben in Zeit- und Grenzenlosigkeit geht auch einher mit einer erhöhten Ansprüchlichkeit an das eigene Leben. Solche Menschen weigern sich, einen Teil der seelischen Wirklichkeit, nämlich das Unbewußte, anzuerkennen. Das Sich-Öffnen für das eigene Unbewußte würde nämlich uns demütiger werden lassen. Wer nämlich die eigenen unbewußten Größen- und Allmachtsphantasien ins Blickfeld bekommen hat, der wird mit sich und anderen geduldiger umgehen, weil er weiß, wieviel Zeit er selber zum Wachsen und Reifen braucht.

Mit dem Begriff des Unbewußten wird also zum Ausdruck gebracht, daß es neben dem, was ich bewußt will— und auch als Christ bewußt will—noch eine Vielzahl von mir zunächst nicht bewußten Strebungen gibt, die zum Teil das Gegenteil des bewußt Gewollten zu erreichen suchen. Die Psychotherapie kann und will diese unbewußten Strebungen nicht beisei-tigen (»Herr Doktor, was soll ich dagegen tun?«), wohl aber helfen, diese Tendenzen ins Blickfeld zu bekommen, sich für diese »Schattenseite« der Persönlichkeit zu öffnen und offen zu bleiben und damit diese zunehmend zu integrieren, damit das Resultat aus bewußtem Wollen und unbewußten Strebungen, d. h. unser Handeln und unser Verhalten, dem mehr und mehr entspricht, was wir im Grunde anstreben und eigentlich sind. Jeder von uns ist ja ein Schöpfungsgedanke Gottes, und diesen, nicht ein Zerrbild davon, zu leben ist ja unsere tiefste Bestimmung.

Gott will, daß wir leben (Andacht zu Lukas 15, 1-7)
In unserem Gleichnis versucht Jesus, den Pharisäern zu deuten, warum er mit Sündern ißt und mit ihnen Gemeinschaft hat. Für ihn sind die Zöllner und Sünder ein Teil des Volkes Israel und damit nicht abgeschrieben. Sie gehören zum Volk. Sie sind ein nicht zu vernachlässigender Prozentsatz. Dieses versucht Jesus den Pharisäern zu verdeutlichen.
Es ist überhaupt erstaunlich, wie sehr sich Jesus gerade den Frommen der damaligen Zeit annahm. In Lukas 14 läßt er sich zu einem Gastmahl bei einem der Oberen der Pharisäer einladen, die sein Handeln nicht verstehen, ja mißverstehen.
ERSTENS
So meint Jesus uns Fromme heute morgen, die wir ihn kennen und irgendwo doch nicht kennen. Uns erzählt er dieses Gleichnis. Daß wir moralisierende Fromme damit gemeint sind, läßt sich u. a. an einer Entwicklung dieses Gleichnisses gut verdeutlichen. In unserem Sprachgebrauch benutzen wir den Ausdruck: schwarzes Schaf. Er stammt ursprünglich aus unserm Gleichnis. Ein schwarzes Schaf ist ja ein Familienglied, das eine von der Familienräson abweichende Entwicklung durchmacht, seine eigenen Wege geht und auf das die andern herablassend, mitleidig und moralisierend schauen. Dieses Moralisieren, das im Laufe der Jahrhunderte mit dem Gleichnis verbunden ist, wollte Jesus mit diesem Gleichnis aber gerade abwehren. Denn gegen das Moralisieren der Pharisäer erzählt Jesus die Geschichte vom verlorenen Schaf. Die Pharisäer haben die Sünder aufgrund moralischer Maßstäbe ausgeschlossen - Jesus bietet ihnen den Weg zur lebendigen Gottesbeziehung wieder an.
Ist das nicht auch unser Problem heute? Ich verurteile Menschen, die sich so verhalten, wie ich es nicht für gut halte. Wie kann er das bloß tun? Und umgekehrt verurteilen andere mich: Wieso bist du psychisch krank, nimm dich doch bloß etwas zusammen! Ich verurteile mich wegen meiner Schwäche und möchte mich ändern und gerate dadurch immer mehr in die Verkrampfung. Ich möchte andere ändern, die Umwelt ändern, und die Sache wird noch schlimmer. Denn im Grunde möchte ich etwas Unmögliches erreichen.

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