Nie tiefer als in Gottes Hand, Edith Schaeffer

03/20/2023
von Christ-und-Buch Günter Arhelger

Warum? Warum? BN2498-2.jpg?1679268693145
Aufgeweckte blaue Augen, ein dicker blonder Haarschopf, rosige Wangen - alles sprach dafür, daß der dreijährige Philip ein robuster, gesunder Junge war. Zusammen mit seiner Schwester und den anderen Kindern hatte er oft seinen Apfelsaft getrunken und Kuchen gegessen, während seine Mutter Claire-Lise und die anderen Frauen vor meiner Bibelstunde am Donnerstagmorgen ihren Kaffee oder Tee tranken. 

Dann kam eine scheinbar leichte Erkrankung - Kehlkopfdiphterie. Eines Tages spielte seine fünfjährige Schwester neben seinem Bett. Auf einmal schluckte und würgte er, und dann war alles still. »Mama, Mama! Philip ist weg!« Gwen spürte instinktiv, daß ihr Bruder nicht mehr mit ihr im Zimmer war. Sein Körper lag noch da, aber Philip war fort. Wie konnte das geschehen? Warum?
Im Musikkonservatorium in Lausanne. Ein ständiges Kommen und Gehen. Die Musiker üben auf ihren Instrumenten, lernen, korrigieren Fehler. Freude, Eifer, Kultur. An einem Nachmittag im April 1972 wartet die neunjährige Anne-Franoise im Foyer des Konservatoriums auf ihre Mutter, die noch oben ist und mit dem Lehrer spricht. Plötzlich rennt ein junger Geistesgestörter, dem die Klinik für einen Tag Urlaub gegeben hat, die Straße hinunter, in der Hand ein Küchenmesser. In sieben Minuten verletzt er sechs Passanten. Kurz bevor man ihn fassen kann, stürmt er in die Musikschule und tötet das Mädchen. Wie ist das möglich? Warum?
Der 20jährige David Koop wurde bei einer Frühjahrsklettertour von einem herabfallenden Felsbrocken getroffen, fiel aus der steilen Wand und hing nur noch leblos am Seil seines Kameraden. Bloß ein Fall für die Unfallstatistik dieses Jahres? Nein. Dieser 20jährige war, wie die anderen auch, ein geliebtes Kind seiner Eltern, hier Dr. und Mrs. C. Everett Koop. Dr. Koop ist ein bekannter amerikanischer Kinderchirurg, der schon vielen Neugeborenen das Leben gerettet hat. Und David war auch ein Sohn des himmlischen Vaters; er stand im aktiven Dienst für Gott, entschlossen, seinen nach Sinn suchenden Altersgenossen die Wahr-
heit zu zeigen. In der Bibel, die er zurückließ, war ein Lesezeichen. Er hatte am Morgen vor der Klettertour im Judasbrief gelesen, und der 24. Vers war angestrichen: »Dem aber, der euch vor dem Straucheln behüten kann und euch untadelig stellen vor das Angesicht seiner Herrlichkeit mit Freuden. . .« Gott war fähig, ihn vor dem Sturz zu bewahren. Wie konnte er trotzdem abstürzen? Warum?
Gerade schrieb ich an die Eltern eines Neunzehnjährigen, der Krebs im Endstadium hat. Einige Zeit schien die Krankheit überwunden, aber dann flammte sie erneut auf, und es besteht keine Hoffnung mehr. Warum dieser Rückfall? Warum?
Warum? Der Brief davor ging an eine junge Frau, die aus dem Fenster gesprungen war, um ihrem Leben ein Ende zu machen. Warum brach sie sich nur den Rücken und die Knöchel? Warum starb sie nicht? Warum?

John und Betty Stam waren jahrelang zur Bibelschule gegangen. Dann waren sie aufs Missionsfeld nach China gefahren, hatten die Sprache erlernt und waren nun bestens vorbereitet für ihren Dienst. Sie waren das ideale Missionarsehepaar, und lange, fruchtbare Jahre schienen vor ihnen zu liegen. Aber dann - es war Mitte der dreißiger Jahre - wurden sie von einer kommunistischen Teenagerbande überfallen. Die Kommunisten fesselten ihnen die Hände auf den Rücken, schleiften sie in ihrer Unterwäsche durch die Straßen und schlugen ihnen den Kopf ab.
Betty hatte dieses Gedicht geschrieben:
Angst - wovor?
Zu fühlen, wie der Geist wird frei,
wie Schmerz zu tiefer Ruhe wird,
des Lebens Müh und Last hört auf?
Angst - davor?
Angst - wovor?
Das Antlitz des Erlösers sehn,
die ausgestreckte Hand, den Glanz
der Wunden seiner Herrlichkeit?
Angst - davor?
Angst - wovor?
Ein Blick, ein Krach, ein Stoß durchs Herz,
Dunkel - dann Licht und himmelwärts!
Durch seine Wunden völlig heil!
Angst - davor?
Angst - wovor?
Des Lebens Same sein imTod,
ein Blut, das Steine fruchtbar macht,
daß Seelen wachsen hin zu Gott?

Angst - davor?
Ein Gedicht voll tiefer Wahrheit. Aber warum mußte es im Leben dieses jungen Paares, für das doch so viele Menschen gebetet hatten, so früh Realität werden? Warum? Ihr Baby hatten sie in dem Raum zurücklassen müssen, wo man sie für die Nacht gefangenhielt. Wie kam es, daß ein alter chinesischer Christ bereitwillig seinen Kopf hinhielt, damit das Kind am Leben blieb? Ein Leben für ein Leben - und zwei andere abgeschnitten. Warum?
Baronin Christa von Mirbach summte eine Melodie vor sich hin, während sie sich zum Ausgehen fertigmachte. Sie wollte ein paar Besorgungen erledigen und sich dann mit ihrem Mann zum Mittagessen treffen. Ihr Summen war nicht leichtsinnig, denn sie kannte sehr wohl die Gefahren, die das Leben in einer Botschaft in unserer so haßerfüllten und gewalttätigen Zeit mit sich bringt, und betete jedenTag treu darum, daß Gott ihren Mann bewahren möge. Baron von Mirbach war Mi1itärattach in der Deutschen Botschaft in Stockholm. Auch er war Christ, und er hatte Gott gebeten, ihm und seiner Frau zu zeigen, ob sie ihm vielleicht nicht an einem anderen Platz dienen sollten. Sie hatten lange auf Gottes Führung gewartet.
Nun, an jenem Morgen wurde die Botschaft von BaaderMeinhof-Terroristen überfallen. Mit vorgehaltener Pistole nahmen sie Sekretärinnen und andere Mitarbeiter gefangen. Ihre Forderung: »Laßt unsere gefangenen Genossen frei, dann lassen wir diese Leute frei; sonst erschießen wir alle 15 Minuten eine Geisel.« Warum mußte der Baron als erster sterben? 

Vielleicht wegen seiner militärischen und edlen Haltung, seiner ruhigen, natürlichenAutorftät? Oder war es seinAdelstjtel? Was immer der Grund war, wenig später wurde sein Körper, von sieben Kugeln durchbohrt, die'fteppe hinuntergewörfen.

Baronin von Mirbach war zu diesem Zeitpunkt möglicherweise die einzige, die nicht vor dem Radio oder Fernseher saß. Sie wartete an dem vereinbarten Treifpunkt auf ihren Mann. Er hatte
gesagt: »Wenn ich nach 20 Minuten noch nicht da bin, habe ich eine andere Verabredung.« Als er nicht kam, war sie daher nicht
beunruhigt, sondern ging weiter ihren Besorgungen nach. Wie Christa und ihre Zwillinge, ein zwölfjähriger Junge und seine Schwester, einige Zeit später die Kraft bekamen, die Todesnachricht zu hören und trotzdem an ihremVertrauen und ihrer Liebe zu Gott festzuhalten, ist ein Geheimnis, das sich in der Geschichte der Familie Gottes immer wieder wiederholt. Es ist Gnade in größten Krisen. Was nicht bedeutet; daß Baronin von Mirbach und ihre Kinder, die Eltern des ermordeten Mädchens in Lausanne oder die anderen, über die ich gesprochen habe, nicht auch immer wieder Wellen der Trauer und Depression erleben. Wir sind Menschen, wir dürfen nicht erwarten, daß wir ungerührt über der Frage »Warum?« stehen.

Und die Frage ist groß und furchtbar. Es schreit in dieser Welt: Warum diesesTöten und Morden, warum all dieserTerror? Warum können ausgerechnet Leute, die sich Pazifisten nennen, die perversesten Mörder sein? Was ist los mit dieserWelt? Woher kommt das alles?
Wir waren nach Philadelphia gerufen worden, weil meine Schwiegermutter einen Schlaganfall erlitten hatte, den sie nach Meinung des Arztes nicht überleben würde. Aber es gelang uns, sie ins Leben zurückzupflegen, und nach sieben Wochen war sie gesund genug, um zu uns in die Schweiz zu kommen, wo wir sie im Chalet les MM&es noch sieben Jahre betreut haben. Mit 89 stürzte sie im Chalet und brach sich den Oberschenkel und die Hüfte. 

Aber die lange Operation in dem kleinen Krankenhaus in Aigle war erfolgreich, und einige Zeit konnte Großmutter sich sogar mit einer Gehhilfe selbständig fortbewegen. Nach dem nächsten Schlaganfall konnte sie nicht mehr sprechen, und nach und nach mußten wir sie in ihrem Krankenhausbett, das wir in einem
Zimmer im Obergeschoß aufgestellt hatten, rund um die Uhr betreuen. Monatelang flößten wir ihr mit einem Löffel Nahrung ein, die sie mochte und schlucken konnte. Dann kamen lange Wochen, in denen sie nicht mehr schlucken konnte; Atmung und Herz waren aber noch stark. Dann wurde aus dem Atmen ein Keuchen, aber das Herz schlug immer noch stark. Ja, dieTrennungvön Geist und Körper erfolgt nicht immer schnell, und der »natürliche Tod« ist nicht immer so natürlich. Wie kann das sein? Warum?
Mein eigener Vater wurde 101 Jahre alt. An seinem 100. Geburtstag versetzte er die Verwandten, die anwesend sein. konnten - Kinder, Enkel, Urenkel - mit seinen Wortspielen und treffenden Bemerkungen, die ein großes Wissen in Politik, Sport, Familienangelegenheiten und anderen Dingen verrieten, in nicht geringes Erstaunen. Sein Geist war alles andere als verkalkt - aber er war in einem Körper gefangen, der ihm immer mehr zum Ärgernis wurde. Man merkte es an demWiderwillen, mit dem er auf seine Fingergelenke schaute, die er fast nicht mehr bewegen konnte; man merkte es daran, daß er mit einem Stock gehen mußte oder plötzlich einschlief, wenn er eigentlich weiterreden wollte.

Sein »Ich habe immer davon geträumt, 100 Jahre alt zu werden, aber ich glaube, das war ein Fehler! « klang recht amüsant, aber in Wirklichkeit war es sehr ernst. Er wußte jetzt, was es hieß, »lebendig zu sterben« - so ganz allmählich seine Beweglichkeit, Kreativität, Kontrolle zu verlieren. An die Stelle der Angst vor demTod war die Angst vor dem abbröckelnden Leben getreten.
Wann ist der Tod überhaupt »natürlich«? Wann ist er passend?. Wann kommt er zur, rechten Zeit für den Sterbenden, für seine Familie, für seine Freunde? Wann ist der Tod nicht ein Schock? Wann ist er »normal«? Was ist derTod?

Die Geschichte bewegt sich nur in eine Richtung. Auf die - Ursache folgt dieWirkung. Wenn ich etwas bereue und am liebsten wieder ungeschehen machen würde, kann ich nicht einfach die Zeit (ob es nun Minuten,Tage oder Jahre sind) zurückdrehen und die anstößige Situation noch einmal neu durchleben. Die Worte »Hätte ich nur .. .« oder »Hätte ich nur nicht ... !« können immer nur Wunschträume bleiben. Nun, auch das Eintreten des Todes in dieseWelt ist die Wirkung einer Ursache— das Ergebnis einer ganz bestimmten Handlung, die wiederum auf eine ganz bestimmte Entscheidung folgte. 

Seit dieser Handlung ist derTod für alle Menschen ein Muß - bis zu jenem wunderbaren Augenblick in der Zukunft, wo die verheißenewiederkunft Christi Wirklichkeit wird und dem Tode die Macht nimmt.

Der erste Tod war eine »Wirkung«. Die Ursache kam nicht von irgendwo her, sondern war eine bewußte Entscheidung eines bestimmten Menschen, den Gott ausdrücklich davor gewarnt hatte, von den Früchten eines bestimmten Baumes im Garten zu essen, denn sobald er davon äße, würde derTod folgen. Gott hatte den Menschen, Mann und Frau, nicht dafür geschaffen, zu sterben. Körper und Geist waren als Einheit gedacht und nicht dazu, auseinandergerissen zu werden. 

Der Körper des Menschen - diese wunderbare Schöpfung, komplizierter als alles andere im Universum - ist etwas ungeheuerWertvolles, und das nicht nur für uns, sondern auch für Gott. Wir haben ihn bekommen, um uns voll als Menschen entfalten zu können. Mit ihm können wir schmecken, riechen, fühlen, hören, sehen, denken, lieben, sprechen, Entscheidungen treffen und kreativ sein. Der Körper ist keine bloße Hülle, kein minderwertiges Anhängsel. Er gehört zur Ganzheit der Persönlichkeit, er ist ein fester Teil des Ichs mit all seinem gewaltigen Potential in Arbeit und Freizeit, Wissenschaft und Literatur, Kunst und Musik und in allen anderen Bereichen unseres Lebens, das Gott uns geschenkt hat. 

Die Augen können Liebe und Zorn, Zustimmung und Abscheu ausdrücken. Die Stimmbänder, Zunge und Lippen können eine fantastische Skala von Gedanken, Bildern, Gefühlen kommunizieren. Die Hände könnenWerkeuge und Kunstwerke herstellen und die Hand eines Kindes führen. Und doch - durch den Tod wird all dies zunichte gemacht. Wir stehen neben der leblosen Form, und obwohl alle Teile rein äußerlich noch intakt aussehen mögen, wissen wir doch, daß dieser Mensch nicht mehr da ist, wie es selbst jene Fünährige so schnell begriff. Die Person ist fort, vor uns liegt ein Leichnam. Obwohl Kain noch nie zuvor einen toten Menschenkörper gesehen hatte, wußte er doch sofort, als er seinen toten Bruder vor sich liegen sah, daß er nicht mehr da war. 

Er konnte Abel nichts mehr sagen, und Abel konnte ihm nichts mehr antworten. Und Kam sah, welche furchtbaren Folgen die Rebellion seiner Eltern gegen Gott hatte. Jetzt wußte ein Mensch zum ersten Mal, was die Trennung. des Geistes vom Körper bedeutete: Tod.
Doch schon vor diesem ersten körperlichenTod hatten die Menschen einen anderen Tod kennengelernt: die Vertreibung aus Gottes Gegenwart. Adam und Eva waren ausgewiesen worden aus dem Ort, wo sie mit Gott in der Kühle des Abends spazierengehen und mit ihm sprechen konnten. Sie hatten den Fall der Schöpfung erlebt, den Übergang von einer vollkommenen in eine verdorbene Welt. Sie waren die einzigen, die auf Grund persönlicher Erfahrung den Unterschied zwischen einem »normalen« und einem »unnormalen« Menschen, zwischen einer »normalen« und einer »unnormalen« Welt kannten. 

Weil sie der Lüge Satans mehr geglaubt hatten als den Worten Gottes, wurde die Welt unnormal, verdreht, gefallen. Wir leben in einer verdorbenenWelt; hinter uns liegt eine vieltausendjährige Kette von bösen Ursachen und bösen Wirkungen. Wenn heute derTod als etwas Normales oder Natürliches angesehen wird, dann nur, weil es ihn schon so lange gibt. Alle, selbst Adam und Methusalem, sind gestorben; nur Elia und Henoch wurden direkt vom Herrn aufgenommen.
Satans Verführungsworte an Eva waren einVernichtungsangriff auf die gute Schöpfung Gottes. Dieser Angriff war Teil eines Kampfes, der schon seit einiger Zeit (wie lange, wissen wir nicht) tobte. 

Der Kampf hatte begonnen, als Satan noch Luzifer hieß und der höchste und schönste der Engel war (vgl. Jesaja 14). Wie alle anderen geschaffenen Engel auch, hatte er einen freien Willen. Die Probezeit war noch nicht vorüber, da verlangte er danach, Gott gleich zu sein, und startete zusammen mit anderen Engeln eine Revolte im Himmel. Es war ein realer Kampf, und er hatte Folgen nach dem Prinzip von Ursache und Wirkung: Luzifer und die mit ihm verbündeten Engel wurden aus dem Himmel gestoßen; sie waren nun keine Engel mehr, sondern wurden zu Satan und seinen Dämonen.
DerWunsch, Gott gleich zu sein, war damit aber offenbar nicht zu Ende, und der Kampf ging weiter. Luzifer sagte Eva, daß sie
nicht sterben würde, wenn sie von dem Baum äße; aber er wußte nur zu gut, daß nicht nur sie und ihr Mann, sondern auch ihre Söhne und Töchter und Enkel ‚und alle weiteren Generationen sterben würden. Satans falsche Versprechungen enden in Zerstö-