Dani Pettrey Dü n n e s Ei s
Piper fuhr auf. Trotz der Dezemberkälte war ihr Schlafanzug vom Schweiß ganz feucht.
Was war das?
Ihr verschlafener Blick fiel auf die Uhr – 1:30 Uhr – und dann auf Aurora, die wie eine Wache an der Schlafzimmertür stand. Das weiße Fell des Huskys zuckte auf seinem Rücken, die Ohren waren aufgestellt.
Piper zog die verknoteten, mit Schneeflocken bedruckten FlanellBetttücher fort, in denen ihre Beine sich verfangen hatten, und lauschte.
Da war es wieder. Ein Knarren der Bodendielen im Stockwerk unter ihr. Schwere Schritte. Nicht die von Kayden. Aurora sprang an der Tür hoch und legte die Pfoten an den ramponierten Türrahmen. Ein tiefes Knurren kam aus ihrer Kehle.
Piper stieg aus dem Bett, wobei sie den Kälteschock an den Füßen ignorierte, und durchquerte das Zimmer. Sie zog die Tür einen Spaltbreit auf und spähte in die Dunkelheit hinaus. Wieder drang ein Knarren vom Flur im Erdgeschoss herauf. Die Schritte blieben am Fuß der Treppe stehen.
Aurora winselte und schob ihre Schnauze in die Türöffnung. Piper wollte Auroras Halsband packen, war aber nicht schnell genug. Aurora stieß die Tür auf und lief auf den Gang hinaus.
Piper folgte ihr, aber ihre Schwester hielt sie zurück – mit einem Gewehr in der Hand. Kayden ließ Piper los und hob dann warnend den Zeigefinger an ihre Lippen.
Sie schlichen den Gang entlang, während Aurora knurrend die Treppe hinunterjagte.
Eine männliche Stimme ertönte unter ihnen, eine Art Grunzen.
Dann fiel etwas Schweres zu Boden. Kayden richtete den Gewehrlauf auf das Durcheinander im Untergeschoss. „Mach das Licht an“, flüsterte sie.
Piper betätigte den Schalter.
Aurora stand in Habachtstellung etwa dreißig Zentimeter von
dem Mann auf dem Boden entfernt. Er zog den Arm von seinem
Gesicht und blickte auf.
„Reef?“ Piper starrte ihren Bruder entsetzt an. „Ist das Blut?“
Landon Grainger leerte das Glas mit Rum in einem Schluck und spürte, wie die Flüssigkeit heiß wie Feuer durch seine Brust sickerte. „Sieht aus, als müsstest du Kummer runterspülen, Officer.“ Becky Malone drehte sich auf ihrem Barhocker und beugte sich vor, bis der würzige Duft ihres Parfüms ihn in der Nase kitzelte.
Er stellte das leere Glas auf den Tresen und gab dem Barkeeper ein Zeichen, es wieder aufzufüllen. „Hast du eine Ahnung.“
Sie fuhr mit dem Finger über den Rand ihres Glases. „Oh, du wärest überrascht, was ich alles weiß.“ Ihr selbstbewusster Tonfall erschreckte ihn. War er so leicht zu
durchschauen?
„Liebeskummer ist mir nicht fremd.“
Landon zog eine Grimasse. Offenbar war er so leicht zu durchschauen. „Noch einen?“, fragte der Barkeeper und hielt die Flasche über Landons leeres Glas.
Er zögerte, obwohl er vergessen wollte. Vergessen musste … Aber dieser Drang war es, der ihn mit einem Mal vorsichtig werden ließ. Er wollte einen Absturz vermeiden. „Lieber ein Bier.“ Er musste gehen. Er musste nach Hause fahren. Nur noch ein Bier, dann war
es genug. Er hätte die Bar überhaupt nicht betreten sollen.
„Weißt du“ – Becky rutschte näher, bis ihr Oberschenkel seinen berührte – „ich finde immer, Gesellschaft ist die beste Medizin gegen Liebeskummer.“
Er hätte gerne gefragt, warum sie so sicher war, dass sein Drang zu vergessen von Liebeskummer herrührte. Doch er wus ste, dass die Frage ihn nur noch angreifbarer machen würde. Wenn Becky den Namen von Piper erwähnen würde …
Piper. Landon hielt den Hals der Bierflasche mit zwei Fingern und setzte sie an seine Lippen. Merkwürdig, wie schnell alte Gewohnheiten zurückkehrten. Wenn er nicht aufpasste, würde er sich irgendwann am Fuß des rutschigen Abhangs wiederfinden, an dessen Rand er sich gerade bewegte. Er war zu lange vernünftig gewesen,
um sich nun von seinem Kummer so weit zurückwerfen zu lassen.
„Was meinst du?“ Becky fuhr mit ihrem Finger seinen Brustkorb hinunter und verursachte ein ebensolches Brennen wie der Rum. „Ich bin richtig gut darin, Gesellschaft zu leisten.“
„Da bin ich mir sicher, aber …“ „Immer dieses Aber …“ Sie schüttelte den Kopf. „Das ist ein Teil
deines Problems.“
Er trank einen schnellen Schluck von seinem Bier, warf einen Zehner auf den Tresen und erhob sich. Becky legte den Kopf schief und lächelte. „Ist das eine Einladung?“
Sie drehte sich ihm ganz zu. Sein Blick wurde unwillkürlich von ihren langen Beinen zwischen dem Rand ihres schwarzen Mini-Jeansrocks und dem Schaft ihrer roten Krokodillederstiefel angezogen.
„Bist du für unser Alaskawetter nicht ein bisschen zu dünn angezogen?“ Thanksgiving lag gerade hinter ihnen, und sie hatten schon minus zehn Grad und Schnee. Sie kam aus Yancey und müsste es eigentlich besser wissen.
„Ach, Süßer.“ Sie stand auf und strich ihren Rock glatt. „Ich weiß schon, wie ich mich warm halten kann.“
Wärme klang gut. Er hatte genug von seiner inneren Kälte und Einsamkeit und es war ihm schmerzlich bewusst geworden, dass aus Piper und ihm wohl nie etwas werden würde. Er verdrängte die Erinnerung an die Ereignisse des Abends.
Beckys Finger schoben sich zwischen seine. „Warum feiern wir diese Party nicht irgendwo weiter, wo wir ungestört sind?“
„… es könnte wie Weisheit erscheinen, wäre da nicht die Warnung meines Herzens.“
Warum hatte er den Herrn der Ringe als Jugendlicher so oft gelesen? Es gab so viele Zeilen, die in sein Gedächtnis eingegraben waren.
„Nur ein paar Drinks unter Freunden“, sagte sie und führte ihn zur Tür.
„Und dann?“ Er wusste genau, was sie danach wollte.
„Und dann …“ Sie nahm ihren Mantel von der Garderobe, stieß
die mit kitschigem roten Lametta geschmückte Tür auf und zog ihn
auf den Parkplatz hinaus.
Tariuks eisige Seeluft traf mit beißender Kälte seine wettergegerbten Wangen und holte ihn in die Realität zurück.
Becky schlüpfte in ihren Mantel und zog ihn fest um sich. „Und dann … sehen wir einfach, was sich richtig anfühlt.“ Nichts von all dem hier fühlt sich richtig an. „Ich weiß das Angebot
zu schätzen …“
„Aber?“
„Aber …“ Er seufzte und blickte zu der Weihnachtsbeleuchtung hinüber, die der Wind an einem Ende losgerissen hatte und die in regelmäßigen Abständen gegen die Dachrinne von Hawkings
Pub schlug. Es war nicht gerade eine der feineren Lokalitäten von Yancey, aber auf einer Insel, die so klein war wie Tariuk, hatte er kaum einen anderen Ort finden können, um Abstand zu gewinnen. Sie lächelte. „Ich habe dir doch gesagt, dass dieses Aber ein Spielverderber ist.“
Sein Handy klingelte und ihr Blick wanderte zu seiner Hosentasche. „Ich muss drangehen.“
Sie machte keine Anstalten, ihn loszulassen.
„Grainger.“
„Tom hier.“
Becky schmiegte sich an ihn.
Er versuchte, sich aus ihrem Griff zu befreien. „Das ist jetzt kein guter Zeitpunkt.“
„Das kann man wohl sagen.“
„Was ist los?“
„Wir haben einen Mordfall.“
Landon schluckte zwei Schmerztabletten, um sich gegen die Kopfschmerzen zu wappnen, die der Alkohol mit Sicherheit verursachen
würde. Er fuhr mit einer Hand am Steuer, während er den Rest
seines Energydrinks in sich hineinschüttete. Er hatte versucht, die
Erinnerung an den frühen Abend auszulöschen oder wenigstens zu
ertränken, aber nach ein paar Drinks und einer Beinahe-Katastrophe mit Becky schien alles nur noch fester in sein Gedächtnis gegraben zu sein. Was früher eine wirksame Form der Flucht gewesen
war, fesselte ihn jetzt und betonierte in seiner Erinnerung alles ein,
was er zu vergessen versuchte.
Er zerquetschte die leere Getränkedose in seiner Faust.
Was war nötig, um Piper zu vergessen? Um zu verhindern, dass
der Schmerz quälend langsam seine Eingeweide verzehrte?
Er warf die zerknautschte Dose auf den Boden unter dem Beifahrersitz und beschleunigte.
Abgesehen von seinem eigenen Auto war die Straße wie leergefegt. Sie erschien ihm wie ein langer, dunkler Abgrund, der sich vor
ihm auftat. Eine Zeit lang war er am Rand des Abgrunds entlanggewankt, aber heute Abend … Er umklammerte das Lenkrad, und
der Schmerz zog durch seine Arme bis in sein Herz. Der heutige
Abend hatte ihn über die Klippe getrieben. Die Wirklichkeit hatte
ihn getroffen wie ein Blitzschlag.
Als er Piper zusammen mit Denny Foster bei Coles und Baileys
Verlobungsfeier gesehen hatte, war es ihm schmerzlich klar geworden: Irgendwann würde es Pipers Verlobung sein, dann ihre Hochzeit. Und er würde am Rand stehen und mit ansehen müssen, wie
die Frau, die er liebte, ihr Leben einem anderen versprach.
Vor ihm tanzte der schwache Schein roter Lichter in der gleißenden Helligkeit einer Flutlichtanlage. Landon blinzelte geblendet
und hielt neben einem Streifenwagen mit Blaulicht. Er holte tief Luft und stieg aus seinem Pick-up. Innerlich wappnete er sich für das, was ihn erwartete.
Der gefrorene Boden knirschte unter seinen Stiefeln, als er an dem provisorischen Lagerplatz der Midnight Sun Extreme-Sportveranstaltung – bestehend aus einer Reihe Wohnwagen und Zelte
– vorbeiging. Er steuerte auf die Trailside Lodge zu, das Hotel, in dem die Sportler untergebracht waren. Der sonst so urige und friedliche Ort wimmelte nur so vor Geschäftigkeit. Das Flutlicht schien die Verwirrung noch zu vergrößern und die Hektik zu verstärken.
Eine Menschentraube stand draußen und beobachtete den Sheriff und seine Mitarbeiter, während diese den Bereich vor dem Hotel absperrten. Die etwas mehr als fünfzig Gäste, überwiegend Snowboarder und Skiläufer – Konkurrenten in der Sportveranstaltung
–, wurden so mehr oder weniger durch das Absperrband in einem Streifen neben dem Haupteingang eingepfercht.
Deputy Tom Murphy entdeckte ihn in der Menge und kam auf ihn zu.
„Wer hatte denn die schlaue Idee mit dem Flutlicht?“
Tom räusperte sich und deutete mit dem Kopf auf Sheriff Slidell.
Landon seufzte. Natürlich. Landons Boss war ein gewählter Beamter ohne vorherige Polizeierfahrung und schwankte zwischen
beinahe völliger Tatenlosigkeit bei einem Fall und blindem Aktionismus beim nächsten.
Trotz seines Amtes hatte Bill Slidell nicht die geringste Ahnung
davon, wie man einen Tatort zu behandeln hatte. Das wurde nun
wieder mehr als deutlich.
„Wenn der Bereich gesichert ist, können wir vielleicht die Scheinwerfer ausmachen. Wir brauchen den Leuten schließlich nicht noch
mehr Angst einzujagen, als sie ohnehin schon haben.“
Tom tippte an seine Mütze. „Alles klar.“
Landon betrat die Hotellobby und stellte erstaunt fest, dass das
Feuer in dem großen gemauerten Kamin brannte und auch die Beleuchtung am Weihnachtsbaum noch eingeschaltet war. Die riesige, über drei Meter hohe Fichte berührte fast die Holzdecke. Die Flammen, die sich in den silbernen Christbaumkugeln spiegelten, ließen das Feuer in dem ansonsten leeren Eingangsbereich noch heller erscheinen. Andy Miner, der Eigentümer und Manager des Hauses aus dem neunzehnten Jahrhundert, kam aus dem Hinterzimmer. „Bin ich
froh, dass du hier bist, Landon. Slidell hat alle meine Gäste aus dem
Bett geworfen und in die Kälte rausgescheucht. Und dabei ist es
beinahe zwei Uhr morgens.“
Landon warf Tom einen Blick zu.
Tom zuckte mit den Schultern. „Befehl vom Boss.“
Er zog eine Grimasse. „Du kannst Slidell sagen, wenn der Tatort abgesperrt ist, gibt es keinen Grund, die Leute nicht wieder ins Haus zu lassen. Sag ihm, sie werden kooperativer und einfacher zu befragen sein, wenn sie sich nicht zu Tode frieren.“ Ganz zu schweigen davon, dass man sie besser im Auge behalten kann.
„Alles klar. Willst du auf mich warten oder allein raufgehen?“
„Wo ist sie?“
„Damenumkleide, oberster Stock.“
„Wer ist oben?“
Tom räusperte sich. „Slidell wollte, dass wir hier unten suchen.“
„Und ihr habt den Tatort eines Mordes unbewacht gelassen?“
„Wir haben den Eingang mit Band abgesperrt und da alle Gäste
hier draußen sind …“
Landon ging zum Treppenhaus und nahm zwei Stufen auf einmal, während er in den siebten Stock hinauflief. Sein Herz hämmerte im Rhythmus mit dem Geräusch seiner Stiefel auf den Betonstufen. Es half ihm, wenn das Blut in seinen Adern pulsierte und das Adrenalin strömte, bevor er einen Tatort betrat, so als wollte er das Herz hochfahren, damit es den Schock besser verkraften konnte, den es erwartete. Seiner Erfahrung nach traf es ihn dann nicht so hart –
jedenfalls nicht körperlich.
Er verließ das Treppenhaus, als Tom gerade aus dem Aufzug trat. „Ich dachte, du redest mit Slidell darüber, das Flutlicht auszuschalten“, warf er Tom entgegen. Slidell würde den Vorschlag, die Gäste ins Haus zu lassen, von Tom wesentlich eher annehmen als von ihm. Nach dem letzten Mordfall, in dem sie gemeinsam ermittelt hatten, war es Landon so erschienen, als hätten er und sein Chef endlich einen gemeinsamen Nenner gefunden. Doch jetzt, wo Slidells Wahlkampf für die Wiederwahl in vollem Gange war, wurde
sein Boss mit jedem Tag mehr Politiker und weniger Polizist.
„Das werde ich auch, aber ich muss dir erst noch was sagen.“
„Was denn?“
„Ich wollte vor Andy nicht davon sprechen, obwohl ich sicher bin, dass er es weiß. Wahrscheinlich wissen es inzwischen alle.“
„Was wissen alle?“
Tom rieb sich den Nacken. „Die Zeugen … sie sagen …“
„Zeugen?“ Konnten sie so viel Glück haben? „Sie haben den
Mord mit angesehen?“
„So gut wie. Sie haben den Killer dabei ertappt, als er gerade fertig war. Er hatte das Blut des Opfers überall an sich.“ Es kam nicht oft vor, dass es bei einem Fall gleich einen solchen
Durchbruch gab. „Erzähl mir der Reihe nach, was passiert ist.“ „Eine der Sportlerinnen sagte, sie hätte vorhin etwas hier oben vergessen.“
„Hast du ihren Namen?“ Bitte sag, dass du sie nach ihrem Namen gefragt hast.
„Moment.“ Tom zog einen kleinen Notizblock aus seiner Hemdtasche. Er schlug ihn auf und überflog die Seite. „Ashley Clark.“
Landon notierte sich den Namen. „Gut. Und weiter?“
„Also ist sie mit ihrem Freund hier heraufgekommen, um es zu holen.“
„Der Name des Freundes?“
„Tug Williams, auch ein Teilnehmer bei dem Wettkampf.“
„Okay.“ Landon schrieb den Namen auf.
„Sie steigen aus dem Aufzug und gehen den Flur hinunter. Sie hören Geräusche aus der Damenumkleide, also streckt Ashley den Kopf rein. Da sieht sie das Opfer tot in den Armen des Killers, die Mordwaffe hat er noch in der Hand.“ „Wir haben den Täter in Gewahrsam?“ Warum hatte Tom das nicht gesagt?
„Ich fürchte nicht. Er hat mit Tug gestritten, bevor er an ihm und
Ashley vorbeigestürmt und abgehauen ist.“
Gestritten? „Die Zeugen kannten den Verdächtigen?“
„Das ist richtig.“
„Und, wer ist es?“ Warum druckste Tom so herum?
„Es wird dir nicht gefallen …“
Ein mulmiges Gefühl machte sich in Landons Magen breit. „Eine Frau ist ermordet worden. Daran gefällt mir gar nichts.“ „Der Mörder ist Reef McKenna.“
Landon wurde es schwarz vor Augen. „Reef?“ Das konnte nicht sein. „Beide Zeugen haben ihn identifiziert.“ Das wird Piper umbringen. „Hat Slidell schon die Fahndung ausgeschrieben?“
„Nein. Er hat uns nur beauftragt, die Gäste zusammenzutrommeln und den Umkreis abzusperren.“
Er bezweifelte, dass Reef auf dem Gelände geblieben war. „Irgendeine Ahnung, wo er ist?“
„Keinen Schimmer. Sollen wir jemand zu seiner Familie schicken?“ „Das mache ich selbst.“ Wenn jemand es ihnen beibrachte, dann würde er es sein.