„Bis bald, Mutti, ich muß jetzt gehen." Jennifer nahm ihre Handschuhe und ihre Handtasche und blieb einen Augenblick in der Tür stehen. „Ich muß mich um sieben mit Doreen treffen."
Frau Deane legte ihren Wandteppich hin und wandte sich ihrer achtzehnjährigen Tochter zu, die in diesem Augenblick ungeduldig mit dem Fuß an die Wohnzimmertür stieß. „Ein reizendes Mädchen", dachte sie in mütterlichem Stolz.
Ja, Jennifer sah wirklich sehr hübsch aus in, ihrem gut-sitzenden Tweedmantel, während das helle Seidenkopftuch, das sie lässig um ihr dunkles Lockenhaar gebunden hatte, die feinen Konturen ihres Gesichtes besonders klar betonte.
„Komm nicht so spät nach Hause, Jennifer", sagte sie laut, „du bist in letzter Zeit sehr oft recht spät gewesen - und dazu ist heute Sonntag."
Jennifer warf den Kopf hoch. ‚Und seit wann machst du dir etwas aus dem Sonntag?" entgegnete sie schlagfertig. „Es ist ein Wunder, daß du nicht wieder anfängst, zur Kirche zu gehen."
Anton Deane legte das Buch, in dem er gelesen hatte, beiseite und langte nach einem Holzscheit. „Na ja, junge Dame", mahnte er, „du brauchst dich nicht so aufzuspielen. Deine Mutter hat ganz recht: du bist schon zu viele Abende bis spät ausgewesen. Wenn du nicht achtgibst, werde ich dir den Ball im nächsten Monat streichen."
„Ach nein", lachte Jennifer trotzig, „ich möchte doch sehen, ob ihr oder sonst irgendwer mich aufhalten kann! Ich lebe nur noch für diesen Ball. Und es sind noch drei Wochen! Na ja", fügte sie lebhaft hinzu, „ich muß jetzt weg. Erwartet mich, wenn ich wieder da bin. Wiedersehen."
Sie warf ihnen eine Kußhand zu, und wenig später hörten sie die Haustür hinter ihr zuschlagen.
„Hm", Anton Deane machte es sich in seinem Sessel wieder bequem und stützte seine Füße auf das Gitter vor dem offenen Kamin, „das Mächen wird langsam ein Problem für uns, Julia."
„Es wird schon noch alles gut mit ihr werden, mein Lieber", sagte seine Frau beschwichtigend. „Sie ist doch noch so jung und möchte ihr Leben genießen. Sie hat später noch Zeit genug, um sich häuslich niederzulassen."
Herr Deane schien von dieser Feststellung nicht sonderlich beeindruckt. „Wo geht sie eigentlich heute Abend hin? " wollte er wissen.
„Ach, ich denke, da ist eine Party, die einer der Jungens gibt. Einer aus ihrem Bekanntenkreis, weißt du."
„Nun, sie täte besser daran, zu einer anständigen Zeit nach Hause zu kommen, sonst wird es Ärger geben", murmelte er, mehr zu sich selbst, als er sah, daß Julia sich wieder ganz ihrer Näharbeit zuwandte.
Anton Deane war ein merkwürdiger Mann. Er pflegte nicht viel zu sagen, und es war schwierig, zu erfahren, was er wirklich dachte. Seine Kollegen kannten ihn als einen erfolgreichen Geschäftsmann, der rücksichtslos seinen Vorteil zu wahren wusste; seine Familie kannte ihn als einen ruhigen, aber pflichtbewussten Gatten und Vater. Er sorgte großzügig für ihr äußeres Wohl, doch gelegentlich zeigte er eine unerwartete Besorgnis über ihr Benehmen und ihre Lebensweise; es schien, als verberge sich hinter seinem verschlossenen Äußeren die leise Ahnung, daß sich seine Pflicht gegenüber der Familie nicht in der Sorge für ein gutes Heim, gute Kleider, gute Erziehung und freizügiges Taschengeld erschöpfte.
Aber Julia war sehr zufrieden. Sie hatte ein schönes Heim; sie konnte sich elegante Kleidung leisten, und jetzt, da ihre Kinder heranwuchsen, hatte sie viel Zeit für gesellschaftliche Verpflichtungen. Sie war wirklich eine stolze Mutter. Rodger, der Älteste, folgte den Spuren seines Vaters und war mit seinen einundzwanzig Jahren ein vielversprechender junger Buchhalter. Philip, der Jüngste, war erst sechzehn, aber er hatte so viele Schulfreunde, daß sie ihn selten sah, außer zu den Mahlzeiten. Und dann Jennifer! Julia setzte große Hoffnungen auf Jennifer. Sie war fest entschlossen, sie in die besten Kreise einzuführen. Jennifer war ein reizendes Mädchen und allseits sehr beliebt.
Eines Tages würde sie sich gut verheiraten - mit einem, der standesgemäß gut zu ihr paßte - und Julia hatte schon Pläne, die sich als sehr weitreichend erweisen sollten. Der große Ball in drei Wochen stand bevor! Alles, was Rang und Namen hat, würde dort vertreten sein, und sicherlich sollte nicht Julia Deane daran schuld sein, wenn ihre Tochter nicht alle Sympathien im Sturm eroberte! Und Jennifer...
- Jennifer eilte die Straße hinab zu der Ecke, au der sie sich mit Doreen Jackson verabredet hatte. Es war schon sieben Uhr durch, und sie hasste es, unpünktlich zu sein.
Doreen kam gerade die Straße herunter. „Nicht so eilig, Jenn!" rief sie. „Die Jungens sind noch gar nicht hier." Als Doreen ihre Freundin eingeholt hatte, fuhr sie fort: „Es scheint so, als seien sie uns entwischt."
Doreen und Jennifer waren schon seit ihrer gemeinsamen Schulzeit befreundet. Eigentlich gleichaltrig, sah Doreen mit ihrem blonden Haar und dem auffälligen Make-up um Jahre älter aus, und sie übernahm gewöhnlich die Führung, wenn es galt, ein neues gesellschaftliches Abenteuer, zu wagen.
„Puh, ist das ein kalter Abend!" Jennifer schlug gegen den rauen Wind ihren Mantelkragen hoch. „Nicht länger als zehn Minuten bleibe ich hier frierend stehen!"
„Sie können ja noch kommen", sagte Doreen hoffnungsvoll, „ich weiß es - komm, wir warten hier - da stehen wir nicht so im Wind." Sie stellten sich dicht beieinander in den Eingang einer kleinen wettergeschützten Vorhalle, die nicht weit von der Straßenecke entfernt war. Die inneren Türen waren geschlossen, aber der Klang von Musik war deutlich zu hören.
„Klingt so, als sollten wir hier beim Warten Unterhaltung bekommen", bemerkte Jennifer trocken, „hör mal"
„Vielleicht ist es Gemeinschaftssingen", meinte Doreen heiter, „wenn sie nicht bald kommen, könnten wir ja hineingehen."
„Warum eigentlich nicht", unterbrach, sie eine angenehme, freundliche Stimme, „drinnen ist es nämlich wärmer!" Sie waren so völlig überrascht durch das Erscheinen eines jungen Mannes mit einem Gesangbuch in der Hand, daß sie gar keine Worte fanden, um Einwände zu erheben; sie ließen sich durch die grünen Türen hineinfuhren und fanden sich auf der hintersten Bank im Saal einer Missionsgemeinde wieder.
„Wir sind jetzt richtig drin", flüsterte Doreen, „es ist eine Kirche."
Es war so etwas wie ein Gottesdienst, zweifellos. Jennifer reizte es zum Lachen. Was würden die zu Hause wohl sagen, wenn sie sie hier sehen könnten? Hier war nichts von der reichen, prunkvollen Kathedrale, an die sie sich aus Kindheitstagen erinnerte, aber über dem Podest war in großen, deutlichen Lettern zu lesen: „CHRISTUS STARB FÜR UNS".
Der Saal war nahezu besetzt, meistens junge Leute, wie Jennifer bei einem kurzen Blick in die Runde bemerkte.
Vorne erhob sich gerade ein Mann; offensichtlich wollte er eine Predigt halten. Seine suchenden Augen glitten in einem Augenblick über seine Zuhörer, und Jennifer fühlte plötzlich, daß sein fester Blick auf sie gerichtet war. In dem Augenblick kam ihr die Gewißheit, daß alles, was er jetzt sagen würde, für sie persönlich bestimmt war.
„Wir könnten geradesogut hierbleiben", flüsterte sie ihrer Begleiterin zu. Da begann der Mann vorn auch schon zu sprechen.
„Ich habe nicht die Absicht, euch heute Abend eine Predigt zu halten, Freunde", begann er in einer schlichten, ernsten Art, die Jennifer sofort ergriff und sie zu aufmerksamem Zuhören zwang, „ich möchte nur einige Minuten lang über einige der herrlichsten Worte in der Bibel zu euch sprechen. Der Apostel Johannes hat sie vor vielen, vielen Jahren geschrieben, aber sie sind heute genauso wahr wie damals: ‚Wir lieben ihn, weil er uns zuerst geliebt hat'. Und heute Abend möchte ich diese Worte zu meinem ganz persönlichen Zeugnis machen und euch sagen: Ich liebe ihn, weil er mich zuerst geliebt hat."
Jennifer hörte wie gebannt zu, wie er kurz die Geschichte seines früheren Lebens erzählte; wie er sich immer weiter von Gott entfernt hatte und in ein selbstsüchtiges Trachten geriet. Dann hatte er eines Tages in einer ähnlichen Versammlung wie dieser hier erfahren, daß er trotz aller seiner Sünden von dem Herrn Jesus Christus, dem Sohn Gottes, geliebt wurde. Aus Liebe habe Jesus sich selbst am Kreuz auf Golgatha für die Sünden des jungen Mannes dahingegeben.
Jennifer vergaß alle Verabredungen für diesen Abend, ja, sie vergaß auch das Mädchen neben sich, so hörte sie diesem Mann zu, der den wahren Sinn des Kreuzes zu erklären versuchte.
Natürlich hatte sie von Christus gehört - sie glaubte sogar, daß er auf Erden gelebt hatte und von denen, die ihn haßten, hingerichtet wurde. Aber niemals hatte sie bisher gehört, daß er bei seiner Kreuzigung die Sünde der Welt auf sich nahm, und daß er tatsächlich sein Leben dahingab, um die Welt zu retten, weil er die Welt liebte •... weil er diesen Mann liebte, der da vorn sprach . . . diese Leute, die in dieser Halle saßen . . . weil er sie, Jennifer Deane, liebte!
„Nun frage ich euch: Liebt ihr ihn?" fuhr der Prediger fort. „Selbst wenn ihr auf diese Frage mit Nein antworten müßtet, ändert das nichts an der Tatsache, daß er euch liebt und daß er auch eurer Sünden wegen ans Kreuz ging.
Bisher habt ihr für die Freuden der Sünde gelebt; ihr habt ihm in seiner Liebe und Barmherzigkeit den Rücken gekehrt Vielleicht habt ihr es wirklich nicht besser gewußt und es bisher niemals erfahren, daß der Herr Jesus euch so sehr geliebt hat."
Jennifer mußte hart schlucken. Das war die Wahrheit, was er gesagt hatte, jedes Wort. Sie hatte sich manchmal gefragt, was sie wohl tun würde, wenn sie Gott Auge in Auge begegnen müßte, aber sie hatte es im betäubenden Wirbel der Vergnügungen zu vergessen gesucht. Sie war bis zu ihrer Schulentlassung regelmäßig zur Kirche und Sonntagsschule gegangen, aber niemals hatte sie etwas Derartiges gehört. Dies war für sie etwas völlig Neues.
Und während der Prediger versuchte, das Leiden des Heilandes am Kreuz, das makellose Lamm Gottes, „zur Sünde gemacht", um eine sündige Welt zu erlösen, seinen Hörern bildhaft deutlich zu machen, wurden Jennifer die Augen geöffnet. Sie sah sich entblößt von all ihrem Glanz, den sie bei Menschen genoß, als ein durch und durch schuldiger Mensch im Angesichte Gottes. Dort am • Kreuz streckten sich zwei Arme nach ihr aus, um sie zu retten. Jennifer verlor jeden Sinn für Zeit und Raum; ihr Herz pochte rasend, und die Gedanken jagten sich in ihrem Hirn.
Der Prediger war zum Schluß gekommen, und eine junge Frau stand auf, um zu singen. Jennifer hatte noch nie eine Stimme gehört, die sie so tief angerührt hätte, und diese Worte - diese Worte:
„Da war eine; der wollte für mich sterben,
daß ich Unwürdiger sollte Leben erben,
den Pfad des Kreuzes wollte er beschreiten,
alle Schulden meines Lebens zu begleichen."
Die Versammlung war zu Ende. Der Prediger ging zum Ausgang, um den Leuten beim Hinausgehen noch die Hand zu geben.
„Komm schon, Jennifer", sagte Doreen ungeduldig, „daß wir nur bald hier rauskommen!"
Jennifer erhob sich und folgte ihrer Freundin in dem Strom der Menge, die sich langsam zur Tür hin bewegte.
„Guten Abend." Der Prediger nahm ihre Hand und drückte sie freundlich. „Sie sind fremd hier?"
Seine leuchtenden Augen schauten sie durchdringend an. Ihr Blick wurde unsicher.
„J-ja", stammelte sie, „aber Sie müssen gewußt haben, daß ich heute hierherkomme; denn alles, was Sie in Ihrer Predigt sagten, war auf mich gemünzt."
Er zog sie beiseite. „Ich wußte nicht, daß Sie kommen", sagte er schlicht, aber bestimmt, „der Herr aber wußte es; er gab mir diese Botschaft für Sie. Der Herr hat heute abend zu Ihnen geredet. Sagen Sie, haben Sie ihn als Ihren Heiland angenommen?"
Jennifer schaute blaß und gequält zu ihm auf und begegnete seinen forschenden Augen.
„Das ist mir alles so neu", sagte sie unsicher. „Ich habe es vorher nie gehört. Ich wußte nie, daß Jesus für mich starb. Ich möchte wissen - ich möchte Sie fragen, ob Sie eine Bibel für mich hätten, so daß ich das alles für mich selbst noch einmal lesen kann? Natürlich haben wir zu Hause irgendwo eine", fügte sie hastig hinzu, „aber ich glaube, ich weiß nicht, wo ich sie finden könnte."
Er lächelte, als er ein Neues Testament, mit einer besonderen Aufschrift versehen, vom Bücherregal nahm. „Dieses hier können Sie gern haben. Die Verse, die Sie suchen, sind alle besonders gekennzeichnet Wenn Sie über all diese Fragen irgendwann einmal mit mir sprechen wollen; würde ich mich freuen, Ihnen helfen zu dürfen. Ich heiße Ransome, Pastor Ransome."
„Danke"; sagte Jennifer und griff hastig nach dem Buch.
„Morgen Abend findet hier wieder eine Versammlung statt, wenn Ihnen daran liegt, zu kommen", fuhr er fort. „Ich werde für Sie beten. Leben Sie wohl. Gute Nacht, und Gott segne Sie!"
„Ich danke Ihnen!" sagte Jennifer noch einmal
Draußen auf der Straße, eilte sie zu Doreen hinüber, die ungeduldig am Bordstein stand. „Komm doch endlich, Jennifer", sagte sie schroff. „Diese Bude geht mir auf die Nerven. Was in aller Welt hast du dort noch zu tun gehabt?"
„0, ich habe ihn um eine Bibel gebeten, daß ich das alles noch einmal für mich lesen kann. Doreen, war es nicht wunderbar, was er uns heute Abend gesagt hat?"
Doreen zuckte mit den Schultern. „Das hat mich nicht getroffen" sagte sie leichthin. „Komm, wir trinken ein Glas Malzmilch und vergessen das alles. Und wenn ich diese Jungens das nächste Mal sehe - - !"
Sie gingen in die Milchbar und Doreen bestellte. Aber Jennifer machte keinen Versuch, ihr Glas auch nur anzurühren; so sehr war sie in ihr aufgeblättertes Testament vertieft.
„Doreen, hier ist es - schau her!" rief sie plötzlich aus. „Hier steht es schwarz auf weiß: ‚Christus Jesus kam in die Welt, Sünder zu retten, unter denen ich der erste bin'. Doreen, das gilt mir!"
Doreen stellte ihr Glas hin und schaute ihre Freundin fragend an. Auf deren Gesicht lag ein Glanz, den sie noch nie gesehen hatte, und ihre Stimme klang ungewohnt heftig. Doreen war plötzlich beunruhigt.
„Jennifer, du denkst doch nicht ernstlich daran, fromm zu werden? " fragte sie bestürzt.
Nach einer Pause antwortete Jennifer. „Nein, Doreen", sagte sie langsam, „es ist mehr als das. Es geht darum, daß ich Jesus Christus als meinen Retter annehme."
„Jennifer, sei doch nicht dumm!" rief die andere erregt. „Das kannst du doch nicht machen. Was werden die Leute sagen? Was werden deine Freunde von dir denken? Und was werden deine Eltern sagen? Wenn du wirklich tust, was dieser Prediger da sagt, wirst du noch eine richtige alte ‚Betschwester' werden. Ein Mädchen wie du kann doch gar nicht leben ohne Tanz und Partys und andere schöne Dinge!"
Jennifer stand auf und sah der anderen offen ins Gesicht.
„Ja", sagte sie ruhig, „bisher meinte ich auch immer, ich könnte ohne meine Vergnügungen nicht leben, aber das scheint mir jetzt gar nicht wesentlich zu sein. Doreen, ich habe es mir gründlich überlegt. Ich werde jetzt heimgehen."
Doreen sah, daß hier jeder Einwand zwecklos war; verärgert begleitete sie ihre Freundin an die Tür.
„Vielleicht ist es das beste, was du tun kannst", wagte sie noch zu äußern, „schlaf erst mal drüber, morgen läßt es sich wahrscheinlich vernünftiger mit dir reden."
Schweigend gingen sie zur Haltestelle.
„Ich warte noch, bis deine Bahn kommt, Doreen", begann Jennifer. aber ihre Begleiterin schnitt ihr mit einer ungeduldigen Handbewegung das Wort ab.
„Laß mich in Ruhe" sagte sie kühl, „geh lieber nach Hause und lies deine Bibel."
Jennifer zuckte unter dieser spöttischen Bemerkung zusammen, aber im Augenblick hatte sie keine Antwort darauf. Ihr Herz war zu voll. Ein unangenehmes Schweigen stand zwischen ihnen.
„Na schön", sagte sie schließlich, „gute Nacht!" Sie wandte sich rasch um und eilte nach Hause.
2
Als Jennifer die Pforte öffnete, bemerkte sie, daß das Licht im Wohnzimmer noch brannte. Die Familie mußte noch
auf sein. Aber natürlich, es war noch früh - etwas nach
neun Uhr. Rodger und Philip waren wohl zu Hause und unterhielten sich mit ihren Freunden. Sie fühlte sich nicht
imstande, ihnen gerade jetzt zu begegnen. Allein wollte sie sein. Vielleicht konnte sie leise hinaufgehen, ohne gesehen zu' werden; denn niemand würde sie jetzt erwarten. Sie öffnete leise die Haustür und trat in den Flur. Die Tür zum Wohnzimmer stand offen; nun wußte sie, daß sie die Ihrigen nun doch begrüßen mußte; denn es war unmöglich, die Treppe ungesehen zu erreichen.
„Wer ist da? " hörte sie ihren Vater rufen.
‚Ach, ich bin es nur", antwortete Jennifer und kam näher. Alle waren da - Rodger und seine Freundin, Philip und einer von seinen Klassenkameraden, und Vater und Mutter.
„Jennifer, was ist denn los?" rief Frau Deane erstaunt. „Fehlt dir etwas?"
Jennifer versuchte zu lachen. „Ach was, natürlich nichts. Du hast doch selbst gesagt, ich sollte früh zurück sein, nicht wahr, Mutter?
Frau Deane lehnte sich in die Polster zurück. „Na ja, aber—"
„Wohl zuviel für dich, Mutti? "meinte Rodger, in einem Tonfall, der dem seines Vaters sehr ähnlich war. Er drehte sich in der gönnerhaften Art des „großen Bruders", die Jennifer immer in Wut brachte, zu ihr um. „Was ist denn passiert, Schwesterlein? Wolltest du heute ein braves, kleines Mädchen sein - oder ist die Party ins Wasser gefallen?" Bei diesen Worten zwinkerte er dem Mädchen, das neben ihm auf dem Sofa saß, bedeutungsvoll zu.
Jennifer merkte, wie sie rot wurde. „Ach nein," - sie suchte einen gleichgültigen Tonfall zu heucheln - „es hat überhaupt keine Party stattgefunden."
„Wo bist du denn dann gewesen? " fragte ihr Vater neugierig dazwischen.
Jennifer ging hinüber zum Kimin und wärmte ihre Hände am offenen Feuer; sie wollte es sich gut überlegen, ehe sie zu antworten versuchte. Sie sah, wie Glaire Neilson hinter der vorgehaltenen Hand Rodger eine Bemerkung zuflüsterte, während die Eltern vielsagende Blicke tauschten. Philip und Peter Thompson erwarteten mit jungenhafter Begeisterung das lustige Schauspiel, das nun folgen würde.
„Nun, um ehrlich zu sein, ich bin in der Kirche gewesen." Jennifer wandte sich wn und blickte sie bei diesen Worten fest an.
„Kirche?"
Das Wort kam unwillkürlich von allen, die im Zimmer waren, als wollten sie es nicht glauben, während Rodger lauthals lachte.
„Hoffentlich hast du auch für mich gebetet, meine Liebe", sagte er in gespielter Demut.
„Nein, ich habe noch nicht einmal an dich gedacht, Rodger", antwortete sie ruhig, „ich war zu sehr damit beschäftigt, für mich selbst zu beten." Es lag etwas- Ungewöhnliches in ihrem Tonfall; darum richteten sich jetzt wieder alle Blicke mit besonderem Interesse auf sie. Philip, der Jüngste, brach als erster das Schweigen.
„Das Gebetbuch hast du dir wohl als Andenken mitgenommen", sagte er erheitert und wies dabei auf das Buch in-ihrer Hand. -
Jennifer hielt es hoch, daß es alle sehen konnten.
„Es ist eine Bibel, ein Neues Testament", erklärte sie. „Ich habe es -bekommen, um einiges für mich nachzulesen. Ihr könnt euch gar nicht denken, was da alles drinsteht. Bis..
Die englische Ausgabe erschien unter dem Titel
"In all these things" im Verlag Oliphants Ltd., London
© 1953 by Marjorie Buckingham
© der deutschen Ausgabe 1969 beim
Verlag Hermann Schulte Wetzlar
Aus dem Englischen von Joachim Hoene
ISBN 3-87739-206-7