Kann man Gott entfliehen? Viggo Olsen; Jeanette Lockerbie

04/09/2023
von Christ-und-Buch Günter Arhelger

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Zu meinem fünften Geburtstag bekam ich das Taschenmesser, das ich mir schon wochenlang gewünscht hatte. Die Schnitzerei, die ich am nächsten Tag sogleich in Angriff nahm, wurde jedoch nie fertig. Das Messer rutschte aus und bohrte sich in das untere Glied meines linken Daumens. Die Wunde blutete heftig. Noch heute vermerke ich auf Ausweisformularen unter „Besondere Kennzeichen": „Narbe am unteren Glied des linken Daumens."
„Ich glaube, ich habe mich ziemlich schlimmgeschiEiit-ten", flüsterte ich meiner schlafenden Mutter ins Ohr. Vermutlich hatte ich zu ruhig gesprochen, denn sie war nicht im geringsten erschrocken. Noch ganz verschlafen richtete sie sich auf und schlüpfte gemächlich aus dem Bett, während ich in die Küche eilte. Der Anblick der Blutspur, die zur Küche führte, beschleunigte jedoch Mutters Schritt. Die Fahrzeit von unserer Wohnung ins Krankenhaus kann nur wenig unter dem derzeitigen Weltrekord gelegen haben. An jenem Tag machte mich mein Onkel - er war nämlich der behandelnde Arzt - erstmals mit der Chirurgie bekannt, als er die Schnittwunde sorgfältig nähte.
Mit sieben Jahren waren Cowboys und Indianer meine große Leidenschaft. „Wenn doch nur auf meinem Geburtstagstisch ein Paar perlmuttbesetzte Pistolen komplett mit Halfter und Gürtel liegen würden! Ich wäre der glücklichste Junge der Welt!" sagte ich mir. Wie selig war ich, als mein Traum tatsächlich in Erfüllung ging. 

Ich konnte gar nicht verstehen, weshalb meine Eltern lächelnde Blicke austauschten, als ich diese neuen Kostbarkeiten unter meinem Kopfkissen verstaute und zwischen den Klumpen und Beulen dann einen Platz für meinen Kopf suchte. Am anderen Morgen war ich bereits in aller Frühe mit Schießübungen beschäftigt, wollte ich doch der schnellste Schütze in ganz Omaha, Nebraska, werden.
Als ich neun Jahre alt war, hielt ein zweites Kind, um, seinen Einzug in unsere Familie. Mit drei Jahren gab er uns bereits eine Kostprobe seiner Vorliebe für Mechanik, als er um einen „Schraubenzieher, um Schrauben zu schrauben" bat. Vor meinem dreizehnten Geburtstag kam der letzte Sprößling an und machte das Jungentrio vollzählig. Charles, zu allen Streichen aufgelegt, nahm seine Aufgaben stets mit Elan in Angriff.


Mein Vater meinte, ich solle ein Musikinstrument erlernen. Ich entschied mich (warum weiß ich heute nicht mehr) für Geige, und damit fing die leidige Überei an. Ich habe niemals erfahren, wem sie mehr auf die Nerven gegangen ist, meinen Eltern oder mir. Sie haben ihre Empfindungen erfolgreich unterdrückt und mir immer neu Mut gemacht. Ich übte im „Trainingszimmer", eine allzu liebreiche Bezeichnung für die Folterkammer, in der ich mich verbissen mit den Stahl- und Katzendarmsaiten auseinandersetzte. Ich machte Fortschritte. Nach einigen Monaten war ich startklar für den ersten großen Auftritt in einem Musical der fünften Klasse.
Als am Tage der Vorstellung mein Name aufgerufen wurde, trat ich auf die Bühne und blickte auf die Gesichter meiner Mitschüler hinab. Plötzlich war die lebenswichtige Verbindung zwischen meinem Gehirn und meinen Fingen unterbrochen, mit dem Ergebnis, daß mein Musikvortrag allen Absichten des Komponisten hohnsprach. Als anderntags die Todesursache des Musicals geklärt wurde, wartete ich gefaßt auf die Diagnose unserer Lehrerin. Sie nahm kein Blatt vor den Mund. „Viggo, das war so sauer wie eine saure Gurke." Mein Kopf sackte auf: meine Arme herab, und der Tisch erzitterte unter
meinem heftigen Schluchzen. „Zurück mit dir ins Trainingszimmer, Olsen!' sagte ich mir schweren Herzens.

Als mein Vater dann eines Tages an unserer Garage ein Zielbrett und einen Basketballkorb befestigt hatte, setzte eine Invasion von Kindern aus der Nachbarschaft auf unser Grundstück ein. Eigenartigerweise ergab sich im Zusammenhang mit dem Basketballzubehör die erste Gelegenheit für mich, eine „Operation" durchzuführen. Das Weihnachtsfest stand vor der Tür, und hie und da ließ ich ein paar Andeutungen fallen, daß ich mich über einen Basketball unter dem Weihnachtsbaum sehr freuen würde. Eines Tages entdeckte ich ein geheimnisvolles viereckiges Paket im Abstellraum. Nach Form und Größe zu urteilen, konnte es ohne weiteres einen Basketball beinhalten; wiederholtes Schütteln deutete ebenfalls auf die Anwesenheit eines Basketballs hin. Wie konnte ein Junge aber sicher sein, ohne ihn tatsächlich gesehen und betastet zu haben? Es waren noch etliche Tage bis Weihnachten, und meine Eltern waren für den Abend ausgegangen. Mein Gewissen zwickte mich zwar unaufhörlich. Trotzdem suchte ich mir eine Rasierklinge und machte mit zitternden Fingern meinen ersten Einschnitt - in das braune Umschlagpapier. Sorgfältig ritzte ich die verdeckte Fläche unterhalb des Überschlags ein (klassisches Vorgehen in der Chirurgie) und nahm behutsam den Ball heraus. Dieser Ball war der größte „Tumor", den ich jemals entfernt habe, und der, einzige, den ich wieder hineingelegt habe!
Zur Schulabschlußfeier erhielt ich einen nagelneuen
Anzug, zweifarbene Schuhe und die Bewunderung meiner zwei kleinen Brüder, die mich mit großen Augen an-
starrten. Das Trainingszimmer hatte seine Aufgabe er-
füllt und mir größere Gelassenheit und Fingerfertigkeit als Violinspieler vermittelt. Als ich mein Solo vortrug und das Orchester in einer Nummer dirigierte, mußte ich im stillen denken, wenn mich nur die „Sauer-wie-eine-saure-Gurke"Lehrerin sehen könnte! Solch ein eingebildeter Bengel war ich!
Die Unterschrift meines Vaters lautete „Viggo C. 0lsen". Logisch - wie wäre ich sonst zu einem Namen wie Viggo gekommen! Vater war Ingenieur und hatte es mit seinem großen Fleiß schließlich zu einem eigenen Betrieb gebracht. Seine dynamische, warmherzige Persönlichkeit veranlaßte nicht selten Clubs und andere Vereine dazu, ihn zum Vorsitzenden zu ernennen. An seine Söhne stellte er hohe Anforderungen. Vater war immer ein wunderbar großzügiger Mensch und hat uns niemals seine finanflefle Hilfe versagt, wenn es darum ging, unser Gedankengut zu erweitern, Talente zu entwickeln oder unseren Reifeprozeß zu fördern. Weil er mein Leben entscheidend und dauerhaft geprägt hat, denke ich mit großer Liebe und Dankbarkeit an ihn zurück.
Mutter war zweifellos eine sehr gute Krankenschwester. Sie umsorgte uns vorbildlich. Damit sind jedoch nicht nur ihre hausfraulichen Fähigkeiten gemeint, sondern vor allem auch ihre unvergeßliche Liebe und Herzenswärme mit denen sie uns umgab. Mag Schönheit auch nur etwas Oberflächliches sein, so fand ich es dennoch herrlich, eine schöne Mutter zu haben. Auch sie war eine dynamische Persönlichkeit, und ich kann mich noch gut an ihre leuchtend braunen Augen erinnern. Trotz ihrer liebevollen Art schrak sie nicht davor zurück, uns, wenn nötig, zu strafen. Meinen ersten Tanz hüpfte ich im Takt zu der Gertenri.jt
in ihrer Hand Mutter war die treibende Kraft hinter dem Erfolg des Trainingszimmers Wie mein Vater lehrte sie
uns Idealismus, hohe moralische Maßstäbe und hielt uns stets an, das Rechte zu tun. Sei rechtschaffen, mein Junge, du wirst es nie bereuen!" Diese Worte beherrschten unser Gewissen. „Wenn sich etwas zu tun lohnt, muß man es gut machen", lautete ihre Mahnung, mit der sie uns zu verstehen gab, daß halbe Arbeit nichts taugt. Auch meine Mutter hat mein Leben sehr beeinflußt.

LEHR- UND WANDERJAHRE
Als Teenager hat mein Herz mehr als einmal wild und unkontrolliert geklopft, Eines Nachts forderte mich ein Freund dazu heraus, mit ihm den Getreideaufzug hinaufzuklettern. Es war ein riesiger Betonklotz, der bis in den Himmel hineinzuragen schien. „0. K.", sagte ich großspurig. Abgeblätterte Farbe und orangenfarbener Rost bedeckten die schmale Stahlleiter, die an der Betonwand des Aufzugs befestigt war. Sie ragte so hoch hinauf, daß man trotz des hellen Mondlichts ihre Spitze nicht erkennen konnte. Auf die erste Sprosse, die sich etwa zweieinhalb Meter über dem Erdboden befand und somit für uns unerreichbar war, gelangten wir, indem einer den anderen hochbugsierte und von ihm nachgezogen wurde. Während wir höher und höher kletterten, heulte uns der Wind um die Ohren und zerrte an unserer Kleidung. Auf einmal kam ich an eine Stelle, an der eine Sprosse fehlte. Ich überlegte kurz, ob ich nicht doch lieber umkehren sollte. Doch dann reckte ich mich nach oben und drängte weiter, fünfzehn Stockwerke in den Himmel hinein. Kurz vor dem Ziel, dem Dach des Aufzugs, rüttelte und schüttelte uns der Wind wie eine Vogelscheuche. Ich klammerte mich verzweifelt an die Sprossen. Mein Leben hing von ihnen ab. Und genauso war es! Endlich krabbelte ich über den Rand und erreichte das flache Dach und festen Grund unter den Füßen. Dabei bummerte mein Herz in meiner keuchenden Brust wie ein Preßlufthammer. Als wir eine Stunde später den gefährlichen Rand vor dem Abstieg noch einmal untersuchten, ging der Preßlufthammer wieder in Betrieb. Die Leiter endete genau am Dachrand. Mit dem Geländer hatte man ebenfalls gespart; es ragte keinen Zentimeter über den Dachrand hinaus. Rückwärts ließ ich mich in die dunkle, gähnende Tiefe hinabgleiten. Wie von einem Strudel wurde ich von den heulenden Sturmböen gepackt,
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während ich hilflos über dem Abgrund hing, bis endlich meine suchenden Hände und Füße die rettenden Sprossen fanden und sich daran festkrallen konnten. Der Preßluft-hammer hämmerte die ganzen fünfzehn Stockwerke hinunter und noch geraume Zeit danach. Nie wieder habe ich mich auf solch eine leichtsinnige und gefährliche Herausforderung eingelassen.
Als ich wenige Jahre später in den frühen Morgenstunden schwankend nach Hause kam und unsere Haustür aufschloß, war das innere Pochen wieder da. Meine Mutter saß im Sessel und wartete auf mich - und ich war betrunken. Diesmal war es die Scham, die den Preßluft-hammer in Gang gesetzt hatte. „Junge", fragte sie, „wo bist du gewesen?" Dann erkannte sie meinen Zustand, und augenblicklich breitete sich ein•Ausdruck des Schmerzes über ihr Gesicht. Obgleich sie nichts weiter sagte, während ich die Treppe in mein Zimmer hinaufstolperte, schien es mir, als hörte ich das Echo ihrer Stimme aus der Vergangenheit; „Sei rechtschaffen, mein Junge - du wirst es nie bereuen!"
Während meines ersten Semesters an der Oberschule lernte ich die Einsamkeit kennen. Meine Klassenkameraden aus der Grundschule waren alle in die nahegelegene North High School hinübergewechselt. Ich hingegen hatte mich für die Central High Scheel in der Innenstadt entschieden, weil mein Geigenlehrer dort das Orchester leitete. Zudem betrachtete ich Central High als akademisch stärker, auf alle Fälle aber kultivierter. Kultiviert-heit war jedoch kein Heilmittel für meine Einsamkeit, und das strenge akademische Pensum forderte seinen Tribut.
Gegen Mitte des Semesters hatte ich zum erstenmal in einem Fach eine glatte sechs, und auch in der darauf-
folgenden Prüfung erzielte ich kein besseres Ergebnis. Latein hieß die Nemesis*, die mir verdeutlichte, daß ich * strafende Gerechtigkeit.
mich in der Grundschule niemals in der Disziplin des Lernens geübt hatte. Bis zum Eintritt in die Oberschule hatten die einzelnen Fächer wenig oder gar kein Lernen erfordert. Ich war am Boden zerstört und wußte mir keinen Rat. Mutter hatte die Antwort bereit. „Ab mit dir in das Trainingszimmer, mein Junge. Vor dir liegen zwei Wochen Weihnachtsferien. Wenn du in diesen zwei Wochen Tag und Nacht arbeitest, schaffst du's!" Wie üblich, hatte sie wieder einmal richtig diagnostiziert. Einsen für die letzten paar Hausaufgaben und in der Abschlußprüfung brachten meine sechs auf eine wunderschöne, herzerfrischende zwei minus. Bis zum heutigen Tag sind mir einige jener damals gepaukten lateinischen Wörter im Gedächtnis haften geblieben. Wieder war das Trainingszimmer die Rettung gewesen. Vater stellte es zur Verfügung, .Mutter sorgte dafür, daß ich drin blieb, und ich erntete den Nutzen.
Einmal arbeitete ich während der Sommerferien in der Speckabteilung einer Konservenfabrik. Die schwere körperliche Arbeit gefiel mir, legte ich doch Wert darauf, Muskelkraft zu entwickeln. Hier gewann ich neue Freunde,' viele von ihnen mit polnischen, böhmischen und slawischen Namen. Sie arbeiteten schwer, tranken viel und verfügten über einen entsprechend kräftigen Wortschatz, von dem sie regen Gebrauch machten. Sie nannten mich „Slim". Ich kam prächtig mit ihnen aus, denn meine Klassenkameraden hatten ähnliche Fähigkeiten aufzuweisen.•
Diese Schulfreunde waren weltklug; einige von ihnen stammten aus angesehenen Familien. Wir führten ein flottes Leben, besuchten Parties und Tanzveranstaltungen, Bars und dunkle Spielhallen. Wir tranken, spielten und fluchten, als seien dies Zeichen besonderer Leistung.
Vom musikalischen Standpunkt aus betrachtet, war mein Entschluß, in die Central High Scheel zu gehen, weise gewesen. Das ständige Üben hat zwangsläufig dazu

© 1973 by The Moody Bible Institute of Chicago
ISBN 3-87739-542-2 1, Auflage 1973 Z.. durchgesehene Auflage 1974 ;Umschlaggestaltung: Egon Schwanz tjmschlagfoto dpa Satz: W. Bechstein KG, Wetzlar erstellung K H Benatzky, Hannover rhifed In Germany