Erzählungen

09/28/2022
von Christ-und-Buch Günter Arhelger

Ich will den HERRN preisen mit meinem ganzen Herzen, will erzählen alle seine Wundertaten.BN3119-20.jpg?1673866299558
Psalm 9,1
Groß sind die Taten des HERRN,sie werden erforscht, von allen, die Lust an ihnen haben.
Psalm 111,2
Es werden dich loben, HERR, alle deine Werke,und deine Frommen dich preisen.
Psalm 145,10
Die ganze Erde ist voll seiner Herrlichkeit.
Jesaja 6,3
Die Werke des Herrn sind unbeschreiblich schön. Jedes einzelne Seiner Geschöpfe ist ein Wunder. Eine winzige Zelle erregt mit ihrem sinnvollen Aufbau und ihrer Komplexität genauso unser Staunen wie der gestirnte Himmel über uns. Der große englische Prediger Charles Haddon Spurgeon hat das so gesagt:
»Gottes Werke sind allesamt großartig, betrachtet man ihre Planung, ihre Ausdehnung, ihre Anzahl oder die Vortrefflichkeit ihres Baus. Auf irgendeine Weise wird sich jedes Werk Seiner Macht, Seiner Schöpfung oder Seiner Weisheit dem weisen Herzen als großartig erweisen. Alle, die den Schöpfer lieben, freuen sich über Seiner Hinde Werk; sie verstehen, daß sie mehr beinhalten, als was man oberflächlich erkennt, und darum wenden sie alle Kraft daran, sie zu studieren und verstehen zu lernen. Der ehrfürchtige Naturwissenschaftler durchforscht die Natur.., und bewahrt jedes Körnchen ihrer goldenen Wahrheiten.«'

cLv Ein Gott der Wunder tut ISBN 3893973761

Die Antwort aus dem Sturm, Willi Morsbach

04/15/2024
von Christ-und-Buch Günter Arhelger

Die orthopädische Klinik in Wiehlstein war vollbelegt, als ein junger Mann von etwa einundzwanzig Jahren eingeliefert wurde.

»Es tut mir leid«, sagte die alte Johanniterschwester bedauernd, »daß ich kein anderes Zimmer für Sie habe.«
Der junge Mann sah sich schweigend um. Das Zimmer war kahl. Außer den acht Metallbetten und den Nachtschränkchen neben jedem Bett stand nur noch ein Schrank an der Stirnseite des rechteckigen Raumes. Von den acht Betten war noch eines frei, darauf steuerte er zu. Er hatte sich längst damit abgefunden, daß er keine Ansprüche stellen durfte. Drei Jahre Krankenhausaufenthalt in seiner Vaterstadt hatten ihn darüber belehrt.
Als die Schwester das Zimmer verlassen hatte, begann das große Fragen. Aber es war nur einer, der den Mund auftat. Die andern schienen zu schlafen.
»Hast du auch Motten?« fragte ihn der etwa Sechzehnjährige. Mit Motten meinte er Tuberkel. Ohne die Antwort abzuwarten, begann er zu erzählen:
»Ich heiße Theo, bin schon sechs Jahre hier und werde wohl nicht mehr hier rauskommen. Wunder geschehen ja nicht mehr. Der Jesus, von dem sie uns jeden Sonntag erzählen, ist entweder tot oder es liegt ihm nichts an uns.

Hier neben mir liegt der Fritz, er ist noch länger hier als ich. Er hat noch Hoffnung, aber die redet ihm sein Vater ein. Er ist schlimmer dran als ich. Der macht nicht mehr lang.
Da rechts von mir liegt der Nagel. Er liest den halben Tag Karl May und fühlt sich stark wie Winnetou. Dabei wiegt er mit seinen sechzehn Jahren kaum sechzig Pfund. Der geht bald. Der Rote hinten in der Ecke heißt Willi. Er ist von einem Auto überfahren worden. Motten hat er nicht, aber er ist gelähmt und braucht immer Hilfe. Wenn er nicht schläft, raucht er eine alte Pfeife. Wenn du Geld hast, dann schenk ihm etwas Tabak. Uber Tabak freut er sich wie ein Kind. Der Helmut hier neben mir ist der Ärmste unter uns. Er hat sieben Fisteln. Der Eiter stinkt wie die Pest, aber ich bin nicht so, wenn er immer neben mir liegen will. Lange dauert das sowieso nicht mehr. Wenn er in den Verbandsraum gebracht wird, macht ihn der Dicke fertig, weil er angeblich nicht still genug gelegen hat, deshalb eitere das so.«
Wäre die Schwester nicht gekommen, hätte Theo wohl noch lange geredet. Dem Neuen, er hieß Emil Bach, surrte der Kopf. Die Schwester nickte ihm zu, und kaum war sie aus dem Zimmer, fing Theo wieder am
»Um diese Zeit schlafen die alle. Die können immer schlafen.«
»Und du, schläfst du mittags nicht?« fragte Emil.
»Doch, sonst schon«, sagte Theo. »Aber ich spreche auch mal gern. Möchtest du, daß ich still bin?«
»Nein, nein, sprich nur«, sagte Emil und bereute es sogleich, denn nun legte Theo erst richtig los:
»Weißt du«, sagte er, »wenn man so lange hier liegt, dann lernt
- man es, halb wach und halb weg zu sein. Die meisten hier machen sich nicht viel Gedanken. Sie dämmern immer so dahin. Essen, schlafen, essen, schlafen. Das ist alles. Nur der kleine Helmut und ich werden morgens in die Schule gefahren. Das ist nämlich freiwillig. Und wir sind auch die einzigen, die etwas arbeiten. Manchmal machen wir auch Scherenschnitte, die der Helmut entwirft und aufzeichnet. Er ist ein kleiner Künstler.«
»Und was machen die anderen den ganzen Tag?«
Theo zuckte mit den Schultern.
»Der Nagel liest wenigstens noch. Die anderen dösen so dahin. Wie sollen sie da gesund werden?«
»Ja, wie sollen sie da gesund werden«, wiederholte Emil.
Theo sah auf. Der Neue war müde, das konnte man ihm ansehen. »Mach dir's bequem«, sagte er und legte sich zurück.
Für Emil begannen wieder einmal die Untersuchungen. Nach einer der ersten Untersuchungen mußte er Tag und Nacht auf dem Bauch liegen
»Wie lange muß das sein?« fragte er den Arzt.
Dr. Dicke zuckte die Achseln. »Zwei bis drei Wochen«, sagte er, »dann können wir dir ein Gipsbett verpassen.«
Emil sah den Arzt verärgert an. Nicht, weil er ihm soeben eröffnet hatte, daß er zunächst zwei bis drei Wochen auf dem Bauch liegen müßte. Er ärgerte sich darüber, daß der Arzt ihn duzte. Wenn es ein alter Mann gewesen wäre, hätte er vielleicht geschwiegen, aber jetzt, da der junge Arzt vor ihm stand, fragte er:
»Duzt du alle Patienten so schnell?«
Der Arzt drehte sich ruckartig um und verließ still das Zimmer. »Donnerwetter!« schrie Theo begeistert. »Du hast Mut. Dem habe ich sowas schon lange gegönnt, aber keiner hat's gewagt. 

Der Doktor Dicke ist ein Biest. Den lernst du noch kennen. Irgendwann erwischt er dich, und dann gibt er's dir, verlaß dich drauf. Uns alle hat er schon reingelegt.«
»Und habt ihr euch nicht gewehrt?«
Theo hob resignierend die Hände. »Wir sind doch alle lebenslänglich! Nach den ersten Wochen, die du hier bist, kräht kein Hahn mehr nach dir, kommt kaum noch Besuch. Wenn sich dann einer beschwert, wird's nur noch schlimmer. Mit uns kann man doch keinen Blumentopf mehr gewinnen. Glaubst du, da könnte man 'ne große Lippe riskieren?«
Also auch hier, dachte Emil
»Trotzdem kann man was machen, wenn man klug ist.«
»Und das bist du ja?«
»Hör zu«, sagte Theo eifrig. »Auf mich hat's der Dicke besonders abgesehen. Aber ich hab's ihm einmal gegeben.«
»So, wie denn?« fragte Emil gespannt.
»Das war vor zwei Wochen«, sagte Theo. »Ich wollte schreiben, da fiel mir der Federhalter aus der Hand. Gerade, als ich versuchte, die Tinte von der Bettdecke abzulöschen, kam der Dicke. 'So dämlich kannst auch nur du sein<, sagte er und gab mir einen Schlag Her auf die Backe.«
»Und was dann?« fragte Emil gespannt. -
»Und dann«, sagte Theo stolz, »habe ich ihm das Gesicht hingehalten und gesagt: >Wenn dir jemand einen Schlag auf die rechte Wange gibt, so biete ihm auch die linke an<.«
»Und was hat er getan?«
»Er hat mir in seiner Wut noch eine geklebt. Aber das habe ich zuerst gar nicht gespürt. Ob du's glaubst oder nicht - ich fühlte mich plötzlich so überlegen. Ich habe hier 'nen Spiegel. Als ich die Ohrfeigen bekommen hatte, habe ich besonders lange in den Spiegel gesehen. Ich glaube, an dem Tag war ich ein ganz besonderer Kerl. 'Theo<, habe ich in den Spiegel gesagt, >so müßtest du immer aussehen.<«
»Und der Doktor?« fragte Emil.
»Ich habe mich seitdem vorbildlich benommen. Aber wenn er mich eines Tages noch einmal schlägt, mach' ich es wieder so. Als mir abends noch die Backen weh taten, habe ich wieder in den Spiegel gesehen und feierlich gelobt: 'Wenn du gesund wirst, Theo, wenn du einmal nicht mehr hier sein mußt, dann lauerst du dem Dicke auf und gibst ihm mindestens zehn Ohrfeigen.<«

»Dabei dürftest du dann aber nicht mehr so gut ausgesehen haben, denke ich.«
»Ich habe viele Gesichter«, antwortete Theo weise. »Aber du hast recht. Als ich die Stelle sah, wo sein Ring abgebildet war, geriet ich so in Wut, daß ich den Dicke am liebsten sofort verprügelt hätte. Warum müssen wir hier so wehrlos liegen!«
Am nächsten Sonntag hatten sich Emil und Theo schon früh in die Kirche fahren lassen. Es war ein schlichter Raum im oberen Stockwerk der Klinik.
»Der Pastor wiegt bestimmt zwei Zentner«, sagte Theo. »Im Talar wirkt er schlank. Aber mittwochs, wenn er unten im Flur die Bibelstunde hält, siehst du, wie dick er ist.«
»Ist er krank?« fragte Emil.
»Ich weiß nicht. Aber vielleicht müßte er einmal unser Essen haben. Nur für ein Jahr. Beim Predigen hebt er den Bauch immer auf die Stuhllehne, sonst kann er nicht so lange stehen.«
»Predigt er heute?«
»Ja, heute ist er dran. Er kommt alle vierzehn Tage und mittwochs.«
Der Organist begann zu spielen. Emil nahm das Gesangbuch und schlug das angegebene Lied auf, als Theo krampfhaft das Taschentuch vor den Mund preßte. Emil folgte Theos Zeigefinger und sah ein kleines schwächliches Männlein im Mittelgang feierlich und gemessenen Schrittes auf den Altar zugehen. Da er absolut nicht zu der Beschreibung des Pastors paßte, im übrigen aber pastoral und würdig daher schritt, glaubte Emil, Theo habe ihn angeschmiert und sei deshalb so heiter. Als dann aber im letzten Moment zwei Krankenpfleger aufsprangen und den »Pastor« vor dem Altar abfingen, war er für einen Moment verwirrt.
»Wer ist das?« flüsterte er.
»Das ist der Petri«, stammelte Theo mühsam. »Der hat zu viel studiert. Jetzt liest er wie verrückt in der Bibel und meint manchmal, er müsse den Leuten was vor predigen.«
»Ist das denn ein Kranker, ein Patient, Theo?«
»Ja, einer aus einem anderen Haus. Ein Psychopath oder wie man das nennt. Den lernst du noch kennen! «
Inzwischen war der richtige Pastor an den Altar getreten. Er mußte den Vorgang beobachtet haben. Denn er rief den Petri wieder nach vorn und begrüßte ihn mit fröhlicher Herzlichkeit. Der Mann hatte
Humor, stellte Emil befriedigt fest. Von der Predigt bekam er nicht soviel mit. 

Es War alles zu neu für ihn. -
In den folgenden Wochen hatte Emil Gelegenheit, den >inneren Betrieb< der Anstalten zu studieren. Er lernte nicht nur Theo kennen, sondern auch die anderen Jungen, vor allem den Meinen Helmut.
Der Junge war kaum größer als ein achtjähriges Kind. Er war sehr scheu und ängstlich. Anfangs sagte er kaum ein Wort. Als er aber einmal Kontakt gefunden hatte, ließ er sich immer in die Nähe von Emil schieben. Weil die Kranken nach Möglichkeit auf dem Balkon liegen sollten, waren alle Betten mit Rädern versehen. So verursachte das wenig Mühe. Wenn gerade kein Pfleger da war, schoben die Kranken, die teilweise noch aufstehen durften, die Betten; Emil war sehr lufthungrig, so stand er morgens immer zuerst draußen. Und als es auf die Mitte des Jahres zuging, blieb er auch nachts auf der Terrasse.
Helmut war erst fünfzehn und lag schon zehn Jahre imGipsver-band. Obwohl er täglich neu verbunden wurde, drang der Eiter doch manchmal durch die Verbände. Er klagte nie, aber er fragte unaufhörlich, weil ihn beinahe alles interessierte.
»Was meinst du, Emil, werde ich wohl wieder gesund?«
»Das will ich doch hoffen!«
»Wir haben hier auch Lehrwerkstätten. Ich möchte gern etwas lernen. In der Schule komme ich gut voran. Ob ich wohl eine Stelle bekomme, wenn ich hier gelernt habe?«
»Warum denn nicht?«
»Ja, jetzt soll es ja wieder Arbeit geben. Aber sicher nur für ganz Gesunde. Was meinst du?«
»Ich denke, daß man fleißige und tüchtige Menschen immer gebrauchen kann, Helmut. Wir werden eines Tages sicher wieder gesund sein und arbeiten können.«
»Ach Mensch, das wäre schön!«
Emil sah den Wolken nach, die dunkel und schwer heraufzogen. War es richtig, dem kleinen Helmut noch Hoffnung zu machen, wo doch jeder wußte, daß er nach menschlichem Ermessen nicht mehr gesund werden konnte? Ja, wenn er reiche Eltern gehabt hätte, wenn er irgendwo in der Schweiz liegen könnte, wer weiß, ob er dann nicht noch eine Chance gehabt hätte. Aber er war das Kind armer Leute, die kaum in der Lage waren, ihren Sohn und Bruder zu besuchen.

Wie immer, wenn Emil solche Gedanken hatte, kam ein bitterer Zug in sein Gesicht. Er hatte in den vergangenen drei Jahren viel gegrübelt, warum es gerade ihn getroffen hatte, daß er so liegen mußte, während andere in seinem Alter gesund und frisch herumliefen.
Hier in der orthopädischen Klinik wurden seine Gedanken abgelenkt; das Elend seiner Bettnachbarn quälte ihn. Bei ihrem Anblick wurde ihm bewußt, daß auch sie alle nach menschlichem Ermessen nichts mehr vom Leben zu erwarten hatten. Und wenn er es schon nicht über's Herz brachte, dem Meinen Jungen die Wahrheit zu sagen, dann wollte er wenigstens sich selbst nichts vormachen. Seit einigen Tagen hatte er das Gipsbett, die Schale, wie man das hier nannte. Er durfte also wieder auf dem Rücken liegen. Es ging viel besser, als er gedacht hatte. Er fühlte noch einige Druckstellen, aber das war anfangs wohl immer so.
Da ihm der Arzt nur ausweichende Antworten gab, wandte er sich mit seinen Fragen an die alte Jöhanniterschwester. Schwester Erna war für ihn der ruhende Pol hier im Hause. Anscheinend schätzte sie auch Emil richtig ein, denn sie sagte:
»Ich möchte Ihnen keine falschen Hoffnungen machen, Herr Bach. Ihr Leiden ist schwer. Aber wie Sie die Hüftgelenkentzündung überwunden haben, könnte Ihr Körper auch mit der Wirbelsäulen-Tb fertig werden. Sie müssen auf Gott vertrauen und hoffen! Nach meinen Erfahrungen werden Sie aber wenigstens ein Jahr in der Schale liegen müssen.«
An diese Worte dachte Emil jetzt. Merkwürdig, daß er so ruhig daran denken konnte!
»Ist dir nicht gut?« fragte Helmut.
»Ja, doch.« Wie scharf der Kleine beobachtete!
»Aber du siehst so traurig aus.«
»Ach, das sieht nur so aus, Helmut.«
Der Junge wollte noch etwas sagen, als im Garten unter ihnen plötzlich jemand laut brüllte: »Halunken ihr, was fällt euch ein!«
Ehe Emil ahnte, was da vorging, war der Mann auf ihrem Balkon. »Wer von euch hat mir Wasser auf den Buckel geschüttet?« fragte er erbost. »Immer, wenn ich da unten arbeite, schüttet einer Wasser
wnter. Wer war es?«
»Der Petri«,-flüsterte Helmut seinem Nachbarn zu.
Während alle beteuerten, kein Wasser geschüttet zu haben, stellte sich Theo schlafend. Das schien dem Erbosten verdächtig. Wie ein Pfeil sauste er an Theos Bett und versetzte ihm eine Ohrfeige.

»Was fällt dir ein? Hast du das dem Doktor abgesehen?«
»Ich wette, du warst es. Sieh hier, mein Rücken ist ganz naß. Und am hellen Tag schläfst du .. «
»Unsinn«, fiel ihm Theo ins Wort. »Warum soll ich nicht schlafen? Ich hab' doch gar kein Glas. Woher soll ich denn das Wasser haben? Frag doch mal auf der Frauenstation. Vielleicht ist das Wasser von da oben gekommen. -Außerdem - du solltest dich schämen, einen Freund zu schlagen. Ja, staune nur. Ich habe dich immer für meinen Freund gehalten, auch wenn du das nicht gemerkt haben solltest.«
Petri stand einen Augenblick wie versteinert da. Er hielt viel von schönen Worten. Das wußte niemand besser als der listige Theo, der das Wasserglas sorgfältig versteckt hielt.
- »Theo«, sagte Petri kleinlaut, »ich schäme mich wirklich. Ich hätte mich nicht so aufregen sollen.«
»Ich wußte, daß du es bereuen würdest«, sagte Theo gnädig. »Es ist schon wieder gut. Vergiß das Tröpfchen Wasser. Es wird dir keinen Schaden bringen.«
»Tröpfchen?! « fuhr Petri herum.
»Na ja, so viel wird's schon nicht gewesen sein. Tu mir einen Gefallen und mach jetzt nicht auch noch bei den Frauen Krach. Wann zeigst du mir übrigens deine neuen Bilder?«
»Heute abend«, sagte Petri erfreut. »Aber jetzt muß ich schnell noch das letzte Beet umgraben.«
Als er gegangen war, herrschte ein paar Sekunden Stille, bis Petris Schritte verhallt waren. Als erster platzte Emil heraus. Er hustete vor Lachen.
»Wer ist eigentlich dieser Petri?« fragte er.
»Der macht hier die Gärtner arbeiten und sonst alles, was kein anderer tun will. Sein Vater ist Professor seine Brüder sollen Pfarrer sein. Er war auch auf der höheren Schule- Er soll zuviel gelernt haben. Jetzt kann er nicht mehr studieren, aber er ist sehr klug«, sagte Helmut-
»Etwas zu klug ist der«, warf Theo clii. »Er hat einen Tick oder zwei. Immer denkt er an Eisenbahnen und alte Gebäude. Wenn er frei hat, sitzt er irgendwo unten im Bahnhof, studiert die Fahrpläne und besieht sich die Züge. Er kennt alle Züge und hat den ganzen Fahrplan im Kopf.«
»Ja«, ergänzte Helmut, »wenn jemand mit dem Zug fahren will, braucht er keine Auskunft einzuholen. Er braucht nur den Petri zu fragen. Wenn er nicht krank geworden wäre, hätte er sicher auch schon einen Titel wie sein Vater und seine Brüder. Jetzt ist er hier so was wie ein Hilfsgärtner und Laufbursche mit ein paar Mark Taschengeld.«

»Schrecklich!« entschlüpfte es Emil.
»Oh«, sagte Theo, »ich wäre froh, wenn ich Gärtner sein könnte. Du nicht auch, Helmut?«
Der Kleine nickte begeistert. »Ja«, sagte er, »laufen können, draußen sein können in der frischen Luft, arbeiten, richtig laufen und arbeiten können. .
Wochen und Monate vergingen. Emil hatte längst gelernt, auch an ganz kleinen Dingen Freude zu haben.
Während die Jungen kaum Besuch bekamen, wurde er fast jeden Sonntag besucht. Und wenn er dann Obst, Schokolade oder andere Süßigkeiten verteilte, hatten die anderen auch ein bißchen Besuch gehabt. Emil wurde eine Art großer Bruder für sie, dem sie vertrauten. Er konnte stundenlang zuhören, er unterbrach sie nicht. Er wußte, wie eng der Denkkreis wird, wenn man viele Jahre zwischen vier Wänden liegt. Vermutlich war auch seine Vorstellungswelt schon kleiner geworden, obwohl er viel las und schrieb. Besonders wenn ihn die Not und der Jammer hier erdrücken wollten, nahm er seine Kladde und schrieb und schrieb.
»Emil«, sagte Theo eines Tages, »morgen findet hier eine Besichtigung statt.«
»Was wird denn besichtigt?«
»Das kennst du noch nicht. Hier die Anstalten sind auf milde Gaben angewiesen. Sie kriegen viele Spenden. Manche Spender wollen die Anstalten besichtigen. Solch eine Besichtigung findet morgen statt.«
»Woher weißt du das?« wollte Helmut wissen.
»Ich halte meine Ohren offen.«
»Wie willst du die großen Lappen auch zumachen?« grinste Helmut.
»Ein Frauenverein aus Düsseldorf soll morgen nachmittag durch die Anstalten geführt werden«, berichtete Theo weiter. »Er kommt auch zu uns.
Diese Besichtigungen waren den Kranken ein Greuel.
»Stell dir vor«, fuhr Theo fort, »da kommen so ein Dutzend Frauen und gaffen dich an wie 'nen Affen im Zoo. Die andern stellen sich dann immer schlafend, um nicht auf die dummen Fragen antworten zu müssen. Aber ich bin immer hellwach und berste. vor Zorn Kannst du das verstehen' Emil« -
»Und ob ich das verstehen kann! Aber sagtest du nicht, daß die Anstalten auf Gaben angewiesen sind? Was soll der Pastor denn tun, wenn die Spender kommen wollen? Er kann sie ja nicht abweisen.«
»Aber ich bin kein Affe«, sagte Theo, »und ich habe nicht umsonst meinen Verstand im Kopf.«
Die Besichtigungen oder auch Führungen, wie man das hier nannte, fanden in der Regel unter der Leitung des Anstalts-Direktors statt. Der Pastor ließ es sich nicht nehmen, die Herrschaften höchstpersönlich durch die Häuser zu führen.
Dabei kam die orthopädische Klinik meistens zuletzt dran. Nur die Lehrwerkstätten folgten noch hinterher. Das war logisch, denn dann nahmen die Besucher den Eindruck mit, daß viele dieser behinderten Menschen am Ende doch noch einer angemessenen Tätigkeit zugeführt werden könnten.
Es war gegen 14 Uhr, als die Besucher das Zimmer betraten.
Wie Theo es vorausgesagt hatte, stellten sich außer ihm und Emil alle schlafend. Das war ihr stummer Protest.
Der Pastor glaubte allen Ernstes, die Jungen schliefen, als er die Damen durch das Zimmer führte.
»Sie müssen bitte entschuldigen, meine Damen«, sagte er, »die Jungen sind alle schwerkrank.«
Da man von diesem Zimmer über die Terrasse in das anliegende gelangen konnte, machte es der Pastor hier kurz. Nach wenigen Minuten war er mit den meisten Frauen schon im nächsten Zimmer.
Nur zwei Frauen, die anscheinend alles recht gründlich sehen und erfahren wollten, waren hier im Zimmer geblieben. Eine von ihnen schien nach Art und Auftreten eine reiche Frau zu sein. Wenn Theo etwas von gutem Schmuck verstanden hätte, wäre er leicht darauf gekommen, daß diese Frau wahrscheinlich reich genug war, um den Anstalten mit kräftigen Spenden unter die Arme zu greifen. Und da für ihn arm und zugleich krank sein das denkbar Schlimmste war, ist leicht zu folgern, welche Bedeutung für ihn Gesundheit und Reichtum hatten.
Die reiche Dame ging von Bett zu Bett, um jeden einzelnen genau zu betrachten.
Als sie jetzt an Theos Bett kam und sah, daß er nicht schlief, reichte sie ihm die Hand und fragte:


ISBN-13: 9783417121704
Autor: Willi Morsbach 
Titel: Die Antwort aus dem Sturm 
Verlag: Brockhaus R. Verlag Gmbh 
Jahr: 1979 
Einband: Taschenbuch 
Seitenzahl: 231 
Format: 13,5 x 20,5 cm


Mina, die wahre Geschichte einer kleinen Frau, Maza gut

03/06/2024
von Christ-und-Buch Günter Arhelger

SELBSTVERSTÄNDLICH EIN BUB

Frühling war's, herzerfreuender Frühling. Die Sonne gab sich jede Mühe, mit ihren wärmendenBN2980-2.jpg?1709715126726 Strahlen die allerletzten Schneerestchen schmelzen zu lassen. Die Vögel probten eifrig ihr. Osterlied. Doch der werdende Vater merkte nicht viel von diesen Herrlichkeiten. Besorgt und leicht benommen drehte er immerzu seine Runden um den rechteckigen Wohnzimmer-Tisch. Manchmal starrte er gedankenverloren auf den Boden, hie und da schweifte sein Blick durch die kleinen Fenster mit den weißen Vorhängchen hinaus ins Weite.
Eigentlich war diese Wohnung wirklich sehr klein, aber dennoch besaß sie einen recht großen Vorteil: Von hier oben konnte man nämlich das ganze Tal bestens überblicken. Unten lag das Dorf mit seinem übermütigen Dorfbach. Allerdings plätscherte er meist brav, sanft und .einschläfernd in seinem Bett dahin. Aber nach einem langen Regen etwa, da stürmte und brauste er daher wie ein Großer. Und wenn es gar zu schlimm war mit den Wassermassen, die vom Himmel fielen, dann, ja dann verließ er einfach sein gewohntes Bett und suchte sich egoistisch einen eigenen Weg - so wie es ihm gerade gefiel.


Drüben, auf einem kleinen Hügel, thronte die kleine Kirche. Mit ihrem spitzen, gen Himmel weisenden Turm, war sie nicht zu übersehen. Auf der anderen Talseite fiel der Blick auf einen Höhenzug mit jenen dunklen Tannen, die dem Schwarzwald zu seinem berühmten Namen verhalfen.
Plötzlich ertönte der lang ersehnte erste Schrei des neuen Erdenbürgers. Der nagelneue Vater strahlte über das ganze Gesicht. Sein Sohn entwickelte ja eine auffallende Lautstärke. Und schon hörte man die fröhliche Stimme der Hebamme vom Nebenzimmer her:
7
„Heü Huber, kommen Sie. Ich darf Ihnen Ihr erstes Kindlein zeigen.”
Mit dem gebührenden Ernst, den der wichtige Augenblick erforderte, betrat er langsam das Schlafzimmer. Er war sehr bewegt, denn soeben würde er seinen erstgeborenen Sohn erblicken! Der sollte später ein tüchtiger Soldat werden und dem über alles bewunderten Kaiser siegen helfen. Aber nicht nur er allein; sein Erstgeborener sollte noch sechs weitere Brüder erhalten. So hatten sie, die beiden jungen Leutchen, sich immer wieder die Zukunft vorgestellt und damit ganz den Alltag vergessen. Und das war eigentlich gut so.
Karl hatte die unerhörte Frechheit besessen, sich ein Jüngferchen vom Nachbardorf anzulachen.
„Was fällt dir eigentlich ein? Du willst die Mami vom Nachbardorf heiraten? Je schneller du dir diese Idee- aus dem Kopf treibst, desto besser", entschied die früh verwitwete Mutter mit scharfer und bestimmter Stimme.
„Das ist für uns eine Fremde, die hier nichts zu suchen hat!"
Doch das war nur ein Vorwand. Denn insgeheim hatte sie ihre Fäden schon zu einer hablichen Familie mit einer heiratsfähigen Tochter vom Dorf gesponnen. Das Geld, das diese als Hochzeitsgabe einbringen würde, könnte man gut zum Ausbau des Hauses und des Lebensmittelladens brauchen! Doch beide, Mutter und Sohn, hatten harte Schwabenschädel. Keines gab nach.
„Wenn du diese Erbschleicherin heiraten willst, werde ich euch beiden die Suppe gründlich versalzen, da kannst du sicher sein", schrie die Mutter ihren trotzig dastehenden Sohn an. „Sucht euch eine Wohnung zur Miete. Hier in diesem Haus ist kein Platz für solche Leute." Und damit war das Gespräch beendet. Die Mutter antwortete nichts mehr auf die beschwichtigenden Worte des angehenden Ehemannes.
Karl heiratete sein Mareili trotzdem. Sie fanden eine winzige Wohnung, etwas oberhalb des Dorfes. Nun hatten die
8 Dorfweiber wieder einmal genug Stoff zum Klatschen:
„Denkt euch, diese Schande! Sie wohnen als Untermieter bei den alten Kleins!"
Die Dörfler teilten sich rasch in zwei Lager. Die einen fanden es außerordentlich hartherzig von Frau Huber, ihrem einzigen Sohn das Dach über dem Kopf zu verwehren - die andern rügten den Starrsinn und die Unnachsichtigkeit von iCeri:
--,‚Welch bösen Zeiten würden wir entgegengehen, wenn die Eltern in solchen Sachen nicht mehr bestimmen könn-n, sondern die Jungen ihre eigene Meinung einfach nur so durchsetzen wollten!"
Die beiden Liebenden ließen sich aber durch das dumme Gerede nicht stören.. Auch den Spott der Leute, daß die Braut ja einen ganzen Kopf größer sei als der Bräutigam, Ubersahen sie beinahe amüsiert. Sie wußten es besser, oder meinten es wenigstens.
- Der klein gewachsene Karl hatte seinem geliebten Mareili oft genug ins Ohr geflüstert:
„Mein herziges, mein herzallerliebstes Mareili, wie schön du doch bist! Die Allerschönste auf Erden! Und so kräftig und gut gebaut! Ich wünsche mir von dir sieben Söhne, alles tapfere und tüchtige Soldaten für meinen verehrten Kaiser. Was meinst du dazu?"
„Ja, mein lieber Schatz, mein Goldiger. Ich werde dir die gewünschten und ersehnten sieben Söhne schenken", flüsterte Mareili mit roten Backen zurück, und vor ihrem inneren Auge erstand eine wunderschöne Zukunftsvision: Sie in dem großen, geräumigen Hause unten im Dorf, Platz genug für die Kinder, genug Geld -und genug zu essen dank des gut rentierenden Geschäftes! Dem von Haus aus armen Mareili glänzten die Augen vor Freude, und Karl fand seine zukünftige Ehefrau hinreißend schön. -


Wir kennen jedoch bereits die Reaktion von Karls Mutter. Das ganze, schöne Zukunftsgebäude stürzte damit krachend  ein. Aber Karl hielt auch als armer Untermieter an seinem Wunsche fest, dem Kaiser sieben Soldaten zu liefern.
Nun also war der große Augenblick gekommen. Die Hebamme legte ihm sein erstgeborenes Kind in den Arm und meinte anerkennend: „Für ein Mädelchen hat es eine ausgesprochen kräftige Stimme. Das wird bestimmt ein gesundes, starkes Kind."
Der Vater ließ die Kleine beinahe fallen und stotterte enttäuscht:  „Ein Mädel? Haben Sie ‚ein Mädel' gesagt? Das kann doch nicht wahr sein!"
Fassungslos starrte er zu seiner blassen Frau in den Kissen: „Mareii, sag, daß es nicht wahr ist!"
Aber seine Frau erwiderte kein Wörtchen; sie brach vielmehr in ein trostloses Schluchzen aus, so daß die tapfere Hebamme erschrocken vom einen zum andern schaute. Daß Bauersleute sich unbedingt einen Erben wünschten, das hatte sie schon oft erlebt. Aber daß arme Schlucker .. nein, das war ihr neu.
Sie besaß jedoch ein warmes Herz und wußte, wie fragen. Schnell hatte sie herar'gefunden, wo hier der Schuh drückte.
„Ihr kennt doch das Sprichwort, daß Gott zuerst ein Mädchen als Kinderbetreuerin schickt, wem Er nachher einige Buben schenken will?"
Mit diesem Argument brachte sie die enttäuschten Eltern endlich doch noch zum Schmunzeln. Sie nannten die Kleine einfach Wilhelmine, anstatt Wilhelm wie vorgesehen.
Die Kunde flog auf unsichtbaren Flügeln durch das Dorf, gaßauf und gaßab. Jedermann lächelte spöttisch. Leider hatte Karl seinen Wunsch nach sieben strammen Söhnen eben nicht nur dem Mareii ins Ohr geflüstert! Die Nachricht drang auch zur frischgebackenen Großmutter im Dorf unten. Sie grollte immer noch, vor allem der Schwiegertochter. Als fromme Frau, als die sie überall bekannt war, wußte sie
was sich gehörte. Sie schickte die Ladentochter mit einem Korb voll Lebensmittel in die kleine Wohnung hinauf. - Aber gratulieren? Im neuen Haushalt nach dem Rechen sehen? Nein, dazu konnte sie sich nicht überwinden.
Die Schadenfreude im Dorf über den Wilhelm, der eine Wilhelmine wurde, war groß. Noch größer wurde sie, als beim nächsten Mal eine Albertine statt ein Albert anrückte, ,später eine Pauline statt ein Paul, und statt einem Otto gab aea gar eine Ottilie. Aber endlich konnte die Dorfchronik
doch noch die Geburt eines Wilhelm Huber melden. Die Phantasie von Vater Karl, hatte durch all die Mädchen-Ankunften einen argen Knacks erlitten. Aber jetzt schoß sie wieder kräftig ins Kraut. Vor seinen inneren Augen sah er seinen Sohn als strammen Soldaten. Er würde Heldentaten am laufenden Band vollbringen, und der Kaiser würde seinen Sohn - und natürlich auch den Vater - vor allen Leuten ehren. Der Meine hielt sich aber nicht an dieses Wunschbild. Er war und blieb als rachitisches Asthma-Bub-lein ein Sorgenkind.
Nach einigen Jahren erblickten zwar noch drei weitere Söhne das Licht der Welt. Sie schlugen aber allesamt dem Vater nach; sie blieben kleingewachsen.
Und doch vollbrachte Albert, der zweite Sohn, als 14jähriger eine Heldentat, aber auf eine andere Weise, als die Phantasie von Vater Karl sie sich ausgedacht hatte.
Der erste Weltkrieg neigte sich dem Ende zu. Verzweifelt übersah 4r Kaiser seine schlimme militärische Lage. Als letzte Reserve mußten eiligst auch noch die Jüngsten einrücken und ein bißchen ausgebildet werden. Dann wurden sie an die Front abkommandiert. Albert war auch dabei.
Laut Befehl mußten die jungen Soldaten einen Unterstand bewachen; keine schwere, dafür eher langweilige Aufgabe. Da wurde eines Tages Albert Huber durch eine verirrte Kugel tödlich getroffen. Er hätte eigentlich Urlaub gehabt, war aber auf das instäl)dige Bitten eines brandneuen Vaters eingesprungen. - Nie vernahm der Kaiser etwas von dieser stillen Heldentat. Er hatte genug damit zu tun, seinen Kopf und einige Mark ins Ausland zu retten.


 WALDGEISTER

Wilhelmine wurde überall nur „Hubers Minchen" genannt rund Albertine das „Tmchen" Die beiden brachten mit ihrer uhbeschwerten Fröhlichkeit und ihrem sonnigen Lachen viel reude m den schweren Alltag der Eltern Die Kinderzahl wuchs, nicht aber das Einkommen. Im Gegenteil Im Stadt )hen, etwa eine halbe Stunde Fußmarsch vom Dorf entfernt, 'Satte die Neuzeit Einzug gehalten. Eine Schuhfabrik wurde eröffnet. Damit konnte der arme, geplagte Familienvater nicht mehr Schritt halten. Er war gelernter Schuhmacher. Nach dem Krach mit seiner Mutter mußte er seine Werkstatt im Elternhaus räumen. Im gleichen Haus, in dem sie nun wohnten, wurde ein Nebenraum als Arbeitszimmer eingerichtet. Wohl stellte Karl von Hand und mit viel Einfühlungsvermögen gutpassende Schuhe her. 
Aber die wollte niemand mehr kaufen. Die Fabrikschuhe kamen billiger. Nur noch zum Sohlen. und Absätzeflicken war er gut genug. Schweren Herzens gab Karl schließlich seine Werkstatt auf. Sie wurde zum Kinderzimmer umfunktioniert. Das bißchen Geld, das er beim Verkauf des Handwerkzeugs erhielt, stopfte ein Loch im Haushaltbudget. Vater Karl hatte jedoch keine Mühe, eine Stelle als Arbeiter in der Schuhfabrik zu erhalten. Aber sein Stolz! Nun war er nicht mehr Selbständigerwerbender, sondern nur noch Lohnempfänger. Wie oft kam er mißmutig und niedergeschlagen heim! Seine Frau verstand ihn und versuchte zu trösten. Sie wollte so wenig als möglich jammern. Sie streckte deshalb ihr Haushaltgeld mit allen Tricks, die ihr zur Verfügung standen. Noch im hohen Alter erzählte Minchen aus ihrer Jugend- 
 ISBN: 3727100737 Verlag: Trachsel Verlag  Jahr: 1982  Einband: Paperback  Seitenzahl: 158  Format: 13,5 x 20,5 cm

Denn die Liebe hört niemals auf, Heinz-Lothar Worm

03/05/2024
von Christ-und-Buch Günter Arhelger

HELMA ESSELBORN

Urgroßtantens Raritätenschrank
Der Raritätenschrank
„Ruhig, die Urgroßtante zankt sonst!" Das war der Zauberspruch meiner Mutter, wenn sie mich still halten wollte und das nimmermüde Plappermäulchen auf Minuten wenigstens aufhören sollte, alle möglichen und unmöglichen Fragen zu stellen. Urgroßtante Luise wohnte bei uns im Hinterstübchen. Mit sicherem Gefühl empfanden wir Kinder, dass sie uns nicht leiden konnte; denn sie war jedem kindlichen Spiel abhold und mäkelte griesgrämig an uns herum.
Gleichwohl hatte Großtantens Persönlichkeit eine gewisse Anziehungskraft für mich; hauptsächlich deshalb, weil sie so ganz anders war als andere Leute. Unbewusst zog mich das Originelle ihrer ganzen Persönlichkeit mehr an, als sich das weiche Kindergemüt von der rauen Schale abgestoßen fühlte.
Schon ihr Gesicht hatte etwas männlich Herbes. Eine kurze Hakennase, zwei stahlblaue Augen, ein zahnloser großer Mund machten es nicht gerade sehr anziehend. Zwei schneeweiße Locken waren kunstvoll über die Ohren gelegt und pendelten bald leise, bald heftiger, hin und her, je nach der Gemütsbewegung, worin sich ihre Besitzerin befand. Die Gestalt war groß und stark. Die Last der Jahre hatte die Haltung etwas gebeugt. Die Beine wollten nicht mehr so recht ihren Dienst tun, und der Krückstock gab

der ganzen Erscheinung etwas Schwerfälliges. Das waren aber auch die einzigen Gebrechen, worüber „Tante Luise"—so wurde sie allgemein genannt - mit ihren einundachtzig Jahren zu klagen hatte. Sonst war sie kerngesund.



Wenn sie gut gelaunt war, so erzählte sie gern aus vergangenen Tagen. Sie wusste noch, was die Eile Kattun vor fünfzig Jahren gekostet hatte, und die Jungen mussten oft das gute Gedächtnis der Alten bewundern. Ihre Stube betraten wir Kinder stets mit gemischten Gefühlen: Neugierde, Angst und eine gewisse Bewunderung hielten sich die Waagschale. Liebe haben wir ihr eigentlich nicht entgegengebracht, die hatte sie sich zu oft selbst verscherzt durch ihr leicht keifendes, mürrisches Wesen, das einer gewissen Eifersucht entsprungen sein mochte.
Sie hätte gern in dem Leben meiner Mutter, die sie mit großgezogen hatte und abgöttisch liebte und verehrte, die Hauptrolle gespielt, und das machten wir Kinder ihr
unmöglich. Auch meiner Mutter hat sie diese Anhänglichkeit nie gezeigt. Im Haus übte sie an uns allen unbarmherzig Kritik, kam aber jemand Fremdes und erlaubte sich ein abfälliges Urteil, dann sah sie uns mit einem Male mit ganz anderen Augen an. Dann waren wir die aufgewecktesten, artigsten, fleißigsten Kinder der Welt und unsere Mutter die beste und bedeutendste Frau, die überhaupt auf Erden wandelte. Diese Widersprüche konnten wir Kinder nicht rund bfingen, und deshalb standen wir innerlich der alten Tante fremd gegenüber.
Zum Mittags- und Abendtisch kam sie täglich zu uns. Ihren Kaffs dagegen kochte sie sich selbst in ihrem Zimmer auf einem Spiritusflämmchen und bestrich ihre Brötchen mit selbst eingekochtem Gelee, da ihr der unsrige, nach dem selben Rezept bereitete, nicht gut genug war. Das wurde auch jede Woche ein paarmal besonders betont und von meiner Mutter stets nur mit nachsichtigem Lächeln quittiert. Kam es einmal vor, dass meine Mutter nachmittags ausgegangen war und vergessen hatte, uns unsre Brote, mit Mus oder Butter bestrichen, bereitzulegen, dann zogen wir brüllend zur Urgroßtante und klagten ihr unser Leid. Sie war dann ganz entrüstet über diese Unpünktlichkeit einer Mutter, die die armen „Bälge" hungern ließ, und holte triumphierend ein Glas ihres extrafeinen Eingemachten. Wir feierten dann bei ihr eine Orgie in Geleebroten erster Güte.
Ihr Wohnzimmer, das sie mit einem grauen Kater und einem Kanarienvogel teilte, war urgemütlich eingerichtet. Über dem großen, breiten, mit grünem Rips bezogenen Sofa hingen einige Silhouetten, umkränzt von Efeu, der in zwei links und rechts auf Konsolen stehenden Töpfen gepflanzt war. Eine wundervolle alte eingelegte Kommode, ein kleiner Nähtisch, davor ein bequemer aus Rohr geflochtener Sorgenstuhl, ein gemütlicher runder Tisch, woran man in unglaublicher Anzahl sitzen konnte - das alles bildete ein harmonisches Ganzes und passte zu der Erscheinung, die dazwischen hauste. Der Glanzpunkt war jedoch der Glasschrank in der Ecke. Bekrönt von einer alten Standuhr und zwei großen Chinesinnen aus Porzellan, war er eine Fundgrube für die Kinderphantasie, wie man sie besser nicht finden konnte.
Um dieses Glasschranks willen gingen wir alle gern zur alten Tante, und wenn sie wollte, so konnte sie prachtvolle Geschichten über die dort verwahrten Schätze erzählen; denn jedes Ding darin hatte seine Geschichte. Wir wollen einmal sehen, ob die Tante heute gut gelaunt ist.


„Tante Luise, wie war doch die Geschichte von der alten Standuhr?”
Die alte Standuhr
Liebevoll blickt die Urgroßtante zu der alten Pendule empor, die auf vier zierlichen Alabastersäulchen auf dem alten Glasschrank steht und ihr trauliches eintöniges Ticktack gar heimlich durch die Stube tönen lässt.
‚ja, die Urgroßmutter, so nannten wir zu Hause scherzhaft die Uhr, die hat schon viel gesehen. Sie hing schon in meinem Elternhaus und hat dort Freud und Leid miterlebt", so erzählt uns die heute gut aufgelegte Tante Luise. „Aber eine Merkwürdigkeit hatte die Uhr damals schon wie heute: Im Herbst beginnt ihr Schlagen immer heiserer und leiser zu werden, bis es im Winter gar nicht mehr hörbar ist; und wenn das Frühjahr kommt, dann beginnt die Urgroßmutter wieder lauter und kräftiger die abgelaufenen Stunden zu verkünden. Wir haben oft über sie gelacht, aber einmal, da haben wir nicht gelacht, da war die Sache bitter ernst, und die Urgroßmutter war es, die meinem Vater das Leben gerettet hat."
„Erzähle, Tante Luise, erzähle! Ja, das musst du uns erzählen!", so schrien wir alle durcheinander.
Es war dämmerig geworden. Nur im gemütlichen Kachelofen glühten noch ein paar Scheite, und das schön geschliffene Pendel der Urgroßmutter warf seinen Widerschein zurück, wenn es ticktack, ticktack langsam hin- und herging. Die Ofenglut beleuchtete der Tante strenges Gesicht und milderte die Züge, so dass sie fast weich wurden.
Oder war es der Schein der Erinnerung, der sie so glücklich veränderte? Sie setzte sich in ihren bequemen Lehnstuhl zurecht, band die Haubenhänder fester - das war immer ein Zeichen, dass sie sich nicht vergeblich bitten ließ - und begann.
‚ja, das mag kurios klingen, aber es ist so: Ohne unsre alte Standuhr daheim wäre euer Urgroßvater nicht alt geworden, sondern in jungen Jahren von einem Malefiz-buben umgebracht worden. Es war im Jahre 1848. Da wollten die Leute Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit haben, gerade wie in dem sauberen Frankreich drüben. In der Schule habt ihr doch von der Französischen Revolution gehört? Na, die hatte in Deutschland die Leute ein bisschen angesteckt, und unsre Bauern hatten die Köpfe voll Ideen: Es sollte keine reichen und keine armen Leute mehr geben, sondern alle Güter sollten gleichmäßig verteilt werden und die Reichen den Armen alles abgeben. Das wäre ja auch ganz schön, wenn's nur immer so bliebe. Da aber der eine doch schneller als der andre sein Geld ausgibt, auch nicht alle gleich sparsam sind, so müsste man nach ein paar Wochen schon wieder teilen, gerade wie wenn eins von euch, das sein Stück Kuchen langsamer isst als das andre, den Rest mit dem teilen müsste, der das seinige auf einen Satz verschlungen hatte. Aber daran dachten die unzufriedenen Leute nicht; sie wollten vor allen Dingen Geld haben, das Recht besitzen, alles zu tun, was ihnen genehm war. 

Und deshalb hegten sie auch Groll gegen alle Beamten, die ihnen seither so manches verboten hatten.
Da war nun mein Vater, der Revierförster, am schlimmsten daran. Denn vor allem wollten sie in dem Wald jagen und Holz holen dürfen, kurz alles tun, was ihnen seither überaus geschmackvolles Stück, und der, der es geschenkt hatte, musste ein Mann von auserlesenem Geschmack gewesen sein.
„Denn ein Er war es doch, gelt Tante?" Damit brachten wir die schon schmunzelnde Alte zum Reden. Die Geschichte erzählte sie gern, die war ja aus der eigenen Jugend, da sie achtzehn Jahre alt war ... Und von dieser Zeit erzählen alle Frauen gern.
Ja damals, da hing einem der Himmel noch voller Bassgeigen! Die sind einstweilen heruntergekommen und haben gebrummt, tüchtig gebrummt. Aber das glaubt man nicht, wenn man jung ist und tüchtig anzuschauen, so wie wir beide waren, die Base Lina und ich.
An jenem Morgen, da wir mit der Postkutsche nach Gießen zur Tante Christine fahren sollten, da war uns der Himmel blauer als blau. Und wer uns gesagt hätte, dass er einmal anders sein könnte, den hätten wir hell ausgelacht. 

Wir sahen aber auch niedlich aus in unsern braunen Baregekleidern mit den grasgrünen Mänteln und rosa Seidenkapuzen, ganz wie Schwestern, eine wie die andere. So hatten wir es uns gewünscht. Linas Mutter war es gewesen, die die Herrlichkeiten besorgt hatte für ganze vierzig Gulden.
„Eine teure Ausstaffierung", brummte zwar mein guter Vater darüber, aber es war auch für die Reise nach der Stadt, und seine Schwester hatte geschrieben, dass sie mit den Nichten Staat machen wolle. Da musste schon ein Übriges geschehen.
Es war noch früh im Jahr, ein frischer Morgen, als wir erwartungsvoll vorm Löwen standen und auf die Post warteten. Vater war mit uns gegangen, ebenso die Magd, beladen mit den fein gestickten Reisetaschen, die sich nur dadurch voneinander unterschieden, dass die meine eine Miezekatze, die der Base Lina aber einen Dackel im Dessin hatte. Außerdem noch Hutschachteln, Fußsäcke und Umschlagtücher; denn es war kalt in der Postkutsche, und unsre vorsorglichen Mütter hatten Angst, wir würden uns erkälten.
Endlich tönt das Posthorn, der alte Kasten humpelt langsam heran. In den melodischsten Misstönen bläst der Schwager das Lied von dem ungetreuen Müller und dem zersprungenen Ringlein.
„Das ist ein schlechtes Omen, Fräulein", meinte die alte Babette, die trotz ihrer Schwerhörigkeit das Lied erkannt hatte. „Aber wie rührend, wie schön er das bläst, gerade wie mein Sel'ger." Sie hatte einen Postillion als Liebsten gehabt; er war ihr irgendwie abhanden gekommen. Sie bildete sich aber im Laufe der Jahre ein, er sei gestorben, und sprach von ihm als von ihrem Sel'gen.
Inzwischen waren die Postsachen abgegeben worden. Der Schwager hatte sich mit einem Schnäpslein gestärkt. Vater, der leutselig ein paar Worte mit ihm gewechselt hatte, empfahl uns noch besondere Vorsicht. Die mannigfachen Gepäckstücke wurden verstaut, zuletzt wir beide noch, von der Babette selber mit Tüchern und Fußsäcken vollständig zu Mumien eingewickelt. Ein letztes Winken, und holterdipolter setzte sich die Kutsche in Bewegung Fort ging's ins Leben hinaus, zum ersten Mal los von Mutters Schürzenbändel. Zwei Kiek-in-die-Welt, die sich unbändig wichtig vorkamen - und im Grund genommen doch das Herzklopfen hatten vor allem, was da kommen sollte.


Als die Postkutsche langsam ins nächste Dorf hinein-rumpelte, da zog schon vor den ersten Häusern eine umgestürzte Reisekalesche unsre Aufmerksamkeit auf sich. Das eine Rad schien gebrochen, und die herrliche Extrapost lag halb im Graben, halb auf der Chaussee und wartete geduldig, dass man ihr aufhülfe. Das schien aber nicht so einfach, denn sie war mutterseelenallein. Sowohl Fahrgäste wie auch Postillion und Pferde hatten sich davongemacht.
Mit Hörnerklang fuhren wir beim Gasthaus »Zum Rappen" vor, und siehe, da fand sich alles, was zu der verunglückten Kalesche gehörte: Zwei Gäule taten sich gütlich am vorgebundenen Hafersack. Ein Postillion saß schimpfend, aber trotzdem gemütlich kauend vor der Haustür. Soweit schien sich alles ins Unabänderliche gefunden zu haben und mit einem längeren Aufenthalt im „Rappen" ganz zufrieden zu sein.
Da wurde mit Heftigkeit die Tür des Gasthofs aufgerissen, und heraus stürzte ein junger Mann, der beim Anblick unserer Kutsche in den hellsten Freudenjubel ausbrach. Er beschwor in einem Atemzug unseren Postillion, ihn doch ja mitzunehmen, und im nächsten die beiden jungen Damen mit tausend Komplimenten, die Hand aufs Herz gedrückt, die Störung zu exküsieren.
»Aber Sie werden verstehen, ich bin Auteur des neuen Stückes, man spielt es heute Abend, ich will zugegen sein, man wird Beifall klatschen, und nun dieses Unglück! Ich müsste hier warten, eine, zwei, viele Stunden, wenn die verehrten-Damen nicht Erbarmen haben und mich mitnehmen."
Nun, wir ließen uns erweichen, und zwar nicht ungern. Lina seufzte sogar: »Wie interessant, er schreibt sicher auch Gedichte. Ob ich ihm mein Stammbuch gebe?" Aber ich verwies ihr das. Lina war immer ein bisschen leicht und

schnell begeistert. Solch wildfremden Menschen gegenüber hieß es Haltung bewahren, aber interessant fand ich ihn auch.
Sein Äußeres war sehr honett, obgleich die Kleidung durch das Malheur mit der Kutsche ein bisschen ramponiert war. Der feine graue Kragenmantel wies Spuren der Straße auf, und auch der weiche Kalabreserhut, der ihm einen etwas künstlerischen Anstrich gab, schien die Bekanntschaft des gewöhnlichen Erdenstaubes gemacht zu haben.
Das Gesicht war wohl gebildet; zwei feurige dunkle Augen, brünettes Haar und eine fahle Gesichtsfarbe gaben ihm einen etwas fremdländischen Ausdruck. Man hätte ihn für einen Italiener oder Spanier halten können. Um so enttäuschter waren wir, als er sich mit „Bastian Meyer aus Kinzig" vorstellte. „Schnitt und Kurzwaren, erstes Geschäft am Orte, aber die Seele lebt nur der Kunst, meine Damen, nur der Kunst."
Bastian Meyer stieg also zu uns ein Lina und ich, obwohl schon etwas abgekühlt durch das Schnitt- und Kurz-warengeschäft, waren doch voll hochgespannter Erwartung, was die Reise zu dreien jetzt bringen werde. Lina, das kokette Ding, fing natürlich sofort an, sich des hässlichen großen Umschlagtuches zu entledigen, damit ihr neuer grüner Damastmantel und die rote Haube besser zur Geltung kämen. Sie behauptete, es sei ihr zu heiß. Auch der Fußsack musste abgestreift werden, damit man die neuen Saffian-stiefel nur ja sähe, die ihr solch kleinen Fuß machten, dass meine Füße wie Elefantenpratzen daneben aussahen.

Der, dem diese Manöver galten, schien aber gar keine Notiz davon zu nehmen. Nachdem er sich hereinkompli-mentiert hatte und endlich uns gegenübersaß, kramte er in seinen Taschen eifrig nach irgendetwas, was er sehr nötig zu haben schien, denn sein Gesicht wurde zusehends enttäuschter, röter und erregter.
Er untersucht die rechte Tasche, dann die linke; er greift in die innere Manteltasche, kurz, er untersucht alle nur denkbaren Behälter im Mantel, Jackett und Hose, dreht und wendet sich und die Taschen und befördert alles Mög-licke und Unmögliche zu Tag, nur allem Anschein nach nicht das, was er sucht. Da, bei einer erneuten, fast spiralförmigen Drehung des Oberkörpers ein Krach, und schreckensbleich mit dem schmerzlichen Ausruf:,, Auch das noch!" sinkt Bastian Meyer ganz erschöpft auf die fadenscheinigen Polster der Postkutsche zurück. Die dicken Schweißtropfen geben Zeugnis von der gehabten Anstrengung und Alteration. Er wischt sich die Stirn und starrt ganz erschöpft in eine Ecke, bis er plötzlich unseren erstaunten Gesichtern begegnet, die das unterdrückte Lachen jedenfalls nicht gerade geistreich erscheinen lässt.
Da endlich scheint er zu sich zu kommen, und mit verzweiflungsvoller Geste ruft er klagend: „Meine Damen, mein Manuskript, mein Prolog - er ist weg, er ist verschwunden! Ich hatte ihn übernommen, ich bin der schmeichelhaften Aufforderung des Gesangvereins „Hu-manitas" gefolgt und habe ein Stück verfasst, ein Stück, meine Damen, es hat mich einen Teil meiner Seele gekostet. Sie finden darin die Gefühlsskala eines Künstlers, der verurteilt ist, in der Prosa des Lebens zu stehen und .
Hier stockte er.


»Kurz- und Schnittwaren", warf ich trocken dazwischen, wofür mich ein strafender Blick traf. Ach, Sie - verstehen mich!" Damit wendete er sich zu Lina, die ihn mit ihren blauen Vergissmeinnicht-Augen anhimmelte, dass es nicht mehr schön war.
„Ich bin unglücklich, unglücklich. Den Musen habe ich meine innerste Seele geweiht, aber anstatt Apollos Leier zu rühren, bin ich dazu verurteilt, zeitlebens die verdammte Elle zu schwingen. Und jetzt dieses Unglück!" Hastig fuhr er mit beiden Händen in die Taschen: „Ich habe es übernommen, den Prolog zu sprechen, und nun ... Wo ist er, wo? Er muss mir bei dem Unfall abhanden gekommen sein, vielleicht liegt er gar im Schmutz der Straße. Ich bin verzweifelt, einfach verzweifelt."
Bei diesen Worten hopste er auf den Polstern hin und her, als sei es mit Nadeln gespickt. Plötzlich ein verdächtiges Krachen, und ein ganz gemeiner beinerner Hosenknopf lag poesielos vor unseren Füßen. Allgemeines Schweigen. Starr vor Entsetzen stierte unser Gegenüber vor sich hin. Sein Gesicht wurde bald purpurrot, bald leichenblass. Wir hatten Mühe, nicht vor Lachen loszuprusten, was denn auch in dem Augenblick nicht mehr zu halten war, da er, hilflos und verlegen uns ansehend, die geistreiche Feststellung machte: „Meine Damen, es ist nur ein Hornknopf!"
Die verzweiflungsvolle Ratlosigkeit unseres Mitreisenden kam ihm aber erst zum vollen Bewusstsein, als er nach ängstlichem Tasten bemerkte, dass sich bei dem ersten Krach wohl schon der Zwillingsbruder des Hornknopfs empfohlen hatte, dem jetzt der letzte Stützpfeiler gefolgt war.

Bastian Meyer, der Musensohn, konnte sich trotz Kurz-und Schnittwaren auf die Dauerhaftigkeit seiner Beinbekleidung nicht mehr verlassen. Ohne Prolog, ohne Hosenknöpfe, was nun? Es war eine höchst peinliche aber zugleich verteufelt komische Lage, wir bissen in unsere Taschentücher, während das Opfer sich drehte und wendete und nicht aus noch ein wusste.
Er tat mir Leid. Ohne mir dabei etwas zu denken, holte ich aus meiner Handtasche Nadel und Faden und sagte, indem ich mich zu der Arbeit anschickte, ganz ruhig: „Wir nähen die Knöpfe wieder an." Lina sah mich an, als ob ich verrückt geworden wäre. Bastian Meyer aber warf mir einen Blick zu wie ein großer treuer Hund, der erst Schläge und dann einen Wurstzipfel bekommen hat.
Aber die Schwierigkeit begann jetzt erst. Zunächst galt es, den langen Taillenrock vorsichtig auszuziehen. Lina lüpfte dann das Jackett sorgsam und diskret, und nun konnte ich energisch darangehen, die beiden Ausreißer wieder dingfest zu machen. Es war allerdings ein sonderbares Beginnen!
Wenn uns meine gute Mutter dabei gesehen hätte, ein Unwetter des Zorns hätte sich über uns nichtsnutzige Mädchen ergossen, die so ohne weiteres in der Postkutsche fremden Mannsbildern Hosenknöpfe annähten. So etwas schickte sich durchaus nicht! Wir sollten überhaupt nicht wissen, dass es Knöpfe an andern Hosen als denen des gestrengen Herrn Vaters gab.
Als nach einer Weile das Werk vollbracht war und die Knöpfe saßen, war Bastian Meyer glücklich, rein glücklich.
Dass ein Mensch so leicht zu beglücken ist, hätte ich nie gedacht. Er küsste mir galant die Hand, aber der Lina mach-
te er dabei schmachtende Augen, obgleich sie ihn doch ausgelacht hatte und er bis zum jüngsten Tag in der Postkutsche hätte sitzen bleiben können, wenn er hätte warten wollen, bis sie ihm die Knöpfe angenäht hätte; denn aufzustehen war ihm doch schlechterdings unmöglich.
Es war aber höchste Zeit, denn eben fuhren wir in Gießen ein, und unser Postillion blies gefühlvoll „Nach Sevilla, nach Sevilla". Tante Christine nahm uns gleich bei dem Posthaus in Empfang, so dass der Abschied von Bastian Meyer kurz und schmerzlos verlief. Nachdem er uns noch feierlich beschworen hatte, doch ja am Abend der Aufführung seines Musenkindes beizuwohnen.
Dazu kam es aber nicht. Tante Christine machte einen Strich durch die Rechnung; denn sie hielt den Gesangverein Humanitas nicht für standesgemäß. Wie erstaunte sie aber, als jede von uns am folgenden Sonntag ein kleines Paket erhielt und der Inhalt sich als ein Nähkästchen entpuppte, so elegant und fein, wie man es damals selten zu sehen bekam. Die beigelegten Gedichte ließen wir beide wohlweislich verschwinden; denn die darin angesprochene Dankbarkeit, die von „Rosen" und „Hosen", von „Kopf" und „Knopf" durchsetzt war, hätte ja zu mancherlei unbequemen Fragen Veranlassung gegeben. Tante Christine war so schon entsetzt. „Bastian Meyer, Kurz- und Schnittwaren" - das war keine Partie für ihre Nichten.


Die alte Kaffeekanne
Heute ist Geburtstagsfest bei Tante Luise. Ein großer Tag, einundachtzig Jahre, das ist kein Pappenstiel. Staunend blicken die Kinder auf diese Zahl, und Karlchen meint: „Einundachtzig Lichter, das geht nicht, das ist ja wie hundert Weihnachtsbäume auf einmal."
Nein, einundachtzig Lichter waren nicht angesteckt. Aber der runde gemütliche Tisch war schon festlich...


ISBN: 9783765541469
Format: 18,5 x 12 cm
Seiten: 270
Verlag: Brunnen
Erschienen: 2011
Einband: Paperback

Mutterstress einmal nur die Sonne Küssen, Sylvia Renz

03/03/2024
von Christ-und-Buch Günter Arhelger

Mutterstress

Jamila beugte sich mit einer Tasse über mich „Trink das, das ist gut."

Nach drei Schlucken schüttelte es mich. „Was ist das für ein fürchterliches Gebräu? Schmeckt ja - widerlich brachte ich heraus.
..„Milchbildungstee. Der Doktor hat ihn bei mir bestellt. Du musst sechs Tassen davon trinken, damit die Milch einschießt." ‚ -
„Aber mir graust davor .....‚ wandte ich ein.'
es Spielt keine Rolle, runter damit, der Doktor hat es angeordnet."
»Du führst dich auf wie ein Oberhäuptling", fand ich,, aber sie lachte nur. Mit energischen Bürstenstrichen striegelte sie mein Haar und holte einen frischen Sarong aus dem Einbauschrank. Bevor ich mich wehren konnte, hatte, sie mich gewaschen und in das neue Tuch gehüllt. Sie schüttelte die Decke frisch auf und räumte alle Spuren der Geburt weg: die Schüsseln und Tücher und was so alles noch herumlag. Die ganze Zeit über trällerte sie vor sich hin. Aus dem Badezimmer hörte ich lautes Protestgeschrei.
„Ich frage mich, was David da drinnen mit ihm anstellt,, dass der Kleine so weint - ach, ich hätte ihn so gern noch eine Weile im Arm gehalten", flüsterte ich.
J amila warf mir einen strengen Blick zu. „Aber Jati, er muss doch untersucht werden! Vielleicht hat er eine Krankheit und
wenn man sie gleich entdeckt -" -
‚Jaja, ist schon gut!", warf ich ein. Ich wollte jetzt nicht über die möglichen Krankheiten und Behinderungen meines Kindes nachdenken. Ich sehnte mich nach David, nach seiner zärtlichen Berührung, ich wollte von ihm hören, dass er glücklich war und unser Kind lieb hatte - auch wenn ihm eine „Tochter, doppelt so schön wie Bagus", vorerst nicht vergönnt war.
„Warum dauert es denn so lange .....‚jammerte ich.
„Der Doktor weiß schon, was er tut", sagte Jamila Seit neustem war David für 'sie „der Doktor" - ein höheres Wesen, an dessen Entscheidungen nicht zu rütteln war. 'Seufzend legte ich mich in die Kissen zurück.
Es klopfte an der Tür. Mutter 'steckte den Kopf durch den Spalt.
‚ja, ist es denn wahr? Ich bin schon Großmama?", fragte sie und schielte verstohlen auf meinen Bauch Es war- so schön, ihr Gesicht zu sehen —voller Spannung und Vorfreude. Hinter ihr stand Vater und wagte aus lauter Taktgefühl nicht, Sich anzuschauen - wahrscheinlich sah ich grauenhaft aus!


„Kommt herein, liebe Eltern", sagte ich, und ich spürte eine neue Wärme in' mir aufsteigen gegenüber diesen Menschen, 'die mich so selbstverständlich in ihre Familie aufgenommen hatten - von Anfang an.
In diesem Augenblick flog die Tür zum' Badezimmer auf und David stand da, von Kopf bis Fuß stolzer' Vater, seinen Sohn im Arm. Er machte ein Gesicht, als hoffte er, eine Musikkapelle 'würde zu seiner Ehre einen Tusch anstimmen oder ein heller Scheinwerfer würde seinen Strahl auf ihn richten. Vielleicht erwartete er auch, dass wir alle „Ah" und „Oh" rufen, in einen tiefen Hofknicks versinken und ihm huldigen würden. Doch die Eltern schenkten ihm nur einen kurzen Blick, dann setzte sich Mutter an meine Bettkante. 'Ohne' ihren Sohn und ihren Enkel zu beachten, nahm sie meine Hand und legte ihre Wange hinein.
„Ich bin so glücklich, Jati! Ich danke dir für dieses Kind
Du machst uns alle sehr froh", sagte sie. '
Vater nickte: „Wir sind heilfroh, dass du eine so leichte Geburt hattest. Wir haben Wen Tag dafür gebetet!"
'Ich war sprachlos und die Augen wurden mir feucht: ' so viel Liebe, so viel Wärme! Ich war ihnen wichtig!
David war inzwischen zu uns gestoßen und legte flur das Baby in die Arme. Jetzt konnte ich es zum ersten Mal richtig
betrachten, Unser Sohn hatte ein Büschel kohlschwarzes Haar auf seinem runden Kopf. Er war kaum zerknautscht, der Mund hatte schon eine Nuckelbiase, und der kleine Daumen eine dicke Schwiele. Der Kleine öffnete ein Auge und schmatzte genießerisch.
Alle lachten.
Jamila sagte: „Er riecht wohl schon die Milch!"
„Komm, leg ihn gleich an', drängte David. „Damit die Milch einschießt."
„Das höre ich heute schon zum zweiten Mal. Bin ich eine Kuh oder was?", sagte ich.
Wieder lachten alle.
„Ich möchte ihn erst ein bisschen anschauen", sagte ich. „Ich muss doch seine Finger nachzählen, am Ende fehlt einer."
„Das ist schon erledigt', sagte David und ließ sich am Fußende nieder. Er strich sich die feuchten Haare aus der Stirn, und erst jetzt sah ich, wie erschöpft er war. Ich streckte die Arme nach ihm aus, und er rutschte ein Stück näher, doch er wich meinem Blick aus.
„Ist irgendetwas mit dem Kind nicht in Ordnung, David?", schaltete sich der Vater ein.
„Der Kleine ist gesund und normal entwickelt, aber.
„Was aber?", bohrte Mutter.
„Ich hatte ja eigentlich mit einem Mädchen gerechnet."
‚jetzt mach dich aber nicht lächerlich!", tadelte der Vater. „Du weißt genau, dass man darüber keine Kontrolle hat, und das ist auch sehr gut so. Wir haben um ein gesundes Kind gebetet, und Gott hat uns erhört."
„Wir würden es auch lieben, wenn es krank oder behindert wäre", widersprach die Mutter. „Kind ist Kind!"
David kaute auf seinem Fingerknöchel. „Vielleicht muss ich mich erst an den Gedanken gewöhnen — ich habe mir das alles etwas anders vorgestellt." Er seufzte und ging mit schweren Schritten hinaus.
Vater hob die Schultern und meinte: „Wahrscheinlich sind ihm die Nerven durchgegangen. Bei vielen frisch gebackenen Vätern setzt der Verstand aus. Ich gehe mal nachsehen, vielleicht kann ich mit ihm reden."
Mutter verdrehte die Augen.,, Männer!", sagte sie mit Nachdruck,
Als Vater hinausgegangen war, wandte sich Mutter dem Meinen zu, und ihr Gesicht verklärte sich.
„Komm, Jati, pack ihn noch mal aus, wir wollen ihn anschauen!", sagte sie, und Jamila machte einen langen Hals.
„Schwester, komm her, du siehst ja kaum etwas!", rief ich ihr zu, und sie lächelte und setzte sich auf einen niedrigen Hocker, den sie ans Bett geschoben hatte.
Vorsichtig wickelten wir das Baby aus den Tüchern. Es hatte einen hübschen Meinen Trommelbauch und schon zwei Speckfalten an den Beinchen. Da sah ich es: Der Kleine hatte an Brust und Bauch helle und dunkle Flecken, als wäre er schmutzig und nur teilweise gewaschen worden. Ich feuchtete einen Tuchzipfel mit der Zunge an und rieb ein wenig, doch die Farbe war echt. Am Rücken waren die dunklen Stellen noch deutlicher zu sehen als vorne, und auch die Beine hatten helle und dunkle Zonen.
»Pigmentflecken", sagte Mutter und zuckte die Achseln. „Na und?"
Sie drückte dem Baby einen herzhaften Kuss auf die Nase, worauf es niesen musste. Jamila half mir beim Einpacken; sie hat durch Muncak viel Übung im Wickeln, dann legte ich meinen Sohn an die Brust. Er wusste sofort, was er zu tun hatte und saugte kräftig. Mir wurde dabei schwindelig, aber nach einer Weile konnte ich es aushalten. Noch einmal schmatzte der Kleine, dann schmiegte er sich enger an mich und schlief ein. Auch mir fielen die Augen zu. Mutter erhob sich und schlich hinaus, Jamila rückte hier und dort noch etwas zurecht, dann löschte sie das Licht, und ich sank in einen wohligen Dämmerschlaf.
Am nächsten Morgen erwachte ich zeitig. David saß auf dem Boden neben meinem Bett und untersuchte das Baby, das• nackt auf einer Decke lag und wimmerte.
„Der Meine friert', gähnte ich. „Deck ihn wenigstens zu." David nickte und wickelte das Kind in Tücher. „Es - es ist nicht so arg, wie ich gestern dachte", murmelte er.
„Was macht dir Unruhe, mein Liebster?"
„Ich weiß nicht - ich dachte, es wird so aussehen wie du, oder auch ein bisschen wie ich, aber.
„Es ist eben ein Mischlingskind, was hast du denn erwartet?", fragte ich.
Er schwieg.
„Wolltest du lieber ein Kind mit goldenen Haaren und meerblauen Augen?", stichelte ich. ‚;Darm hättest du Irene heiraten sollen."
Er warf mir einen gekränkten Blick zu und brummte: „Aber Jati.,."
„Also? Was ist jetzt? Krieg ich einen Kuss oder nicht? Ich weiß schon gar nicht mehr, wie du schmeckst!"
Er seufzte und beugte sich über mich. Seine Wangen waren feucht. Hatte er etwa geweint? Aus Zorn oder Enttäuschung?
„David???"
Da nahm er mich in die Arme und sagte: „Ich bin so froh, dass du alles gut überstanden hast. Was meinst du, wie viel Angst ich hatte!"
„Aber dafür gab es doch keinen Anlass! Es ging alles so leicht und
‚ja .... Er holte tief Luft. „Dafür bin ich unendlich dankbar. Trotzdem, du glaubst nicht, wie aufgeregt ich war, als das Kind dann kam."
Ich rückte ein Stück von ihm ab. „Du? Aufgeregt? Du hast doch schon mehr Kinder geholt, als ich Finger und Zehen habe!"
„Weißt du, bei fremden Frauen ist es anders. Total anders. Ich hatte solche Angst, dass ich etwas falsch mache und du und das Kind. . . aber jetzt ist alles gut."
„Und deshalb hast du so ein Theater gemacht wegen der Pigmentflecken?"
„Ach, die Flecken. .. das spielt keine Rolle. Ich war einfach nur durcheinander. Ich wusste selbst nicht, was in mir abläuft. Freude und Erleichterung und Angst und Sorge Ich bin ja so glücklich 
Ich schloss die Augen und lehnte mich an meinen dummen, klugen Mann. Wunderdoktor oder nicht, von Gefühlen hatte er keine Ahnung.

Aus dem inneren Lebensgang eines Christen BdH 1853

01/23/2024
von Christ-und-Buch Günter Arhelger

Aus dem inneren Lebensgang eines Christen

Botschafter des Heils in Christo 1853, S. 24ff

(Von ihm selbst erzählt)

Es ist jetzt schon eine Reihe von Jahren, als ich zuerst auf den Zustand meiner Seele aufmerksam wurde. Bis dahin hatte ich mir nie so viel Zeit genommen, um einmal mit Ruhe dar­über nachzudenken; es genügte mir, dass ich vor den Augen der Welt unsträflich war. Jetzt aber erkannte ich, dass der heilige und gerechte Gott dereinst mein Richter sein würde, und wie wollte ich dann bestehen? Ich nahm mir vor, gewisse Sünden, die mir besonders offenbar geworden waren, zu lassen und recht viel Gutes zu tun. Ich bemühte mich in meinem Vor­nehmen, aber die Gerechtigkeit Gottes trat mir immer greller entgegen. 

Die Sünde wurde durchaus sündig durchs Gebot und selbst das vermeintliche Gute sank vor der Majestät Gottes in den Staub. Ich zerarbeitete mich sehr und betete viel; doch ich lernte nur, dass das Gesetz geistlich ist, ich aber fleischlich, unter die Sünde verkauft. Ich erkannte das Gute an, war ernstlich beflissen, dasselbe zu tun, aber alles wurde durch die Sünde befleckt; ich blieb nach allen Seiten ein Knecht der Sünde und lag unter deren Herrschaft gefangen. Dieser Zustand dauerte eine lange Zeit und ich suchte vergebens alle Mittel zu meiner Erlösung auf, bis ich endlich den rechten Erlöser fand. 

Ich kannte Ihn bis dahin nicht und dennoch sehnte ich mich nach Ihm unbewusst; Ich hungerte und dürstete nach Seiner Gerechtigkeit. Es war der Zug des Vaters zum Sühne. Es wurde mir auch bald das Herz aufgetan und ich glaubte an Seinen Namen. Ich erkannte in Wahrheit, dass das Lamm Gottes auf Golgatha alles bezahlt, mich erlöst und innig mit Gott versöhnt hatte. Meine Sünden waren mir vergeben, weil Jesus die Schuld entrichtet; von ihrem Dienste war ich befreit, weil der Sohn Gottes mich frei gemacht hatte. 

Die Not war verschwunden und stiller Friede wohnte in meinem Herzen. Ich lebte in der innigsten Gemeinschaft mit meinem Jesu und ging unter stetem Gebet einher. Er war nun meine Gerechtigkeit, Weisheit, Heiligung und Erlösung geworden; in Ihm wohnte ja die ganze Fülle der Gottheit leibhaftig; in Ihm lag meine Kraft, mein Sieg wider Welt, Sünde, Tod und Teufel. Ihn zu lieben, mich selbst zum Opfer Ihm darzubringen, vor Ihm in kindlicher Einfalt zu wandeln, war meine Lust und Freude. Dieser selige Zustand dauerte viele Monate.

Mein Herz war noch unbefestigt; ich kannte nicht die ge­heimen Schlingen des Satans, der sich sogar zu einem Engel des Lichts verstellt, um uns das Ziel zu verrücken. Ein väter­licher Freund und Führer in christlichen Dingen fehlte mir. Mein Umgang mit andern Brüdern war unbedeutend, weil in meiner nächsten Umgebung keine wohnten. Traf ich aber hie und da mit etlichen zusammen, die schon länger auf diesem Wege waren, so freute ich mich; doch konnte ich es anfangs nicht begreifen, wenn jene Brüder klagten, wie sie so sehr unter der Last gewisser Sünden lägen; wenn ich sah, wie sie oft noch so im Feinen mit der Welt buhlten und sich so gern mit den Dingen dieser Welt beschäftigten. Meine Kraft wider alle Sünde und Unreinigkeit, mein Freund, meine Lust und Freude war Jesus allein.

 Alles andere war mir fremd geworden. Wenn ich nun oft der Brüder Missmut, Unruhe und Verzagtheit mit meinem Frieden verglich, so glaubte ich, sie müssten nicht so entschieden zum Durchbruch gekommen sein. Versicherten sie mir aber dann, dass ich in der ersten Liebe stehe, worin auch sie einst gestanden, dass dies jedoch haupt­sächlich ein Gefühlschristentum sei, worin man sich noch nicht recht kenne, und das müsse man nachher erfahren, dass Alles Sünde sei, was man tue und lasse, selbst Beten und Singen, Loben und Danken, Reden und Schweigen, Alles würde durch Sünde befleckt. 

Die Brüder vergaßen den Unterschied zu machen, zwischen dem natürlichen Menschen, der sein Leben nur in sich sucht und hat, und einem Gläubigen, der in Christo lebt und nur Dessen Gerechtigkeit will. Ich fing an, über ihre Reden nachzudenken; ich konnte bald meinem Glauben so recht nicht mehr trauen, und nicht Lange dauerte es, da verließ ich meine sichere und feste Burg in Christo Jesu und kehrte mehr oder weniger in die so entschieden verlassene frühere Art und Weise zurück. Mein gläubiges Aufsehen auf Jesum verwandelte sich in ein ungläubiges Herabsehen auf mich selbst und auf die Welt. Mein Gewissen war dabei sehr unruhig und nur das tröstete mich, dass ich jetzt Erfahrungen machte wie andere Brüder, dass jene sich mit mir freuten, wenn ich von der furchtbaren Last und Kraft der Sünde und von der Ohnmacht des Fleisches sprach. Beides wusste ich aber schon, ehe ich zum Glauben an Christo Jesu kam. Das Ziel war mir also verrückt, und zwar durch die Unwissenheit der Brüder, die selbst nicht anders be­lehrt waren; darum zürne ich ihnen keinen Augenblick.

Eine neue Periode in meinem Lebensgange hatte begonnen. In meinem Innern lag viel Unruhe und Kampf. Mancherlei Sünden, besonders solche, unter denen ich früher gelegen, drängten mit Macht auf mich ein; ich suchte eine Zeitlang zu widerstehen; aber bald unterlag ich. Meine Waffen waren fleischlich und nicht geistlich; ich kämpfte nicht in der Waffen­rüstung Gottes, hatte nicht den Brustharnisch der Gerechtigkeit und den Helm des Heils angelegt; hatte nicht den Schild des Glaubens und das Schwert des Geistes ergriffen, darum unter­lag ich bei allem Bitten und Flehen. Nur in Jesu sind wir stark, außer Ihm ohnmächtig; nur in Ihm werden unsere Gebete erhört, außer Ihm kennt der Vater keine Kinder. 

So wie ich nun wieder unter der Gewalt und Herrschaft der Sünde lag, kam ich auch wieder unter den Fluch und das verdammende Gesetz, Als ich nun sah, dass all mein Arbeiten, Kämpfen und Beten, womit ich es ernstlich meinte, vergeblich war, kam ich der Verzweiflung nahe; eine lange Zeit gab ich alles dran und ging mit dem sichern Bewusstsein einher, dass ich trotz all meiner Erkenntnis für die Verdammnis bestimmt sei. Ach, es war nur das unergründliche Erbarmen Gottes, was mich in jener Zeit und später gehalten hat. Welchen Einfluss Andere in die­sen Jahren auf mich gehabt haben, will ich unerwähnt lassen; es entschuldigt dies mich nicht, denn ich. hatte Gottes Wort, hatte Zeit und Gelegenheit darin zu forschen und wusste auch, dass uns darin der göttliche Ratschluss und Wille geoffenbart war. Allein die Nüchternheit, der Ernst und die Einfalt dieses Wortes sprachen mich nicht sehr an. Was mich zunächst be­ruhigte, war, dass viele alte Christen ähnliche Erfahrungen von der Gewalt und dem Betrug der Sünde machten. Ich hielt dafür, dass eine tiefere Sünden- und Selbsterkenntnis die alleinige Aufgabe und das Ziel eines Christen sei, damit er am Ende zu der gewissen Überzeugung komme, dass er nur aus Gnaden selig werden könne. Mehrere Ausdrücke und Redensarten, die sich schon lange unter den Gläubigen eingebürgert hatten, wur­den auch bei mir in dieser Zeit das geheime Mittel, um das anklagende Gewissen zu beruhigen und den mahnenden und strafenden Geist zu dämpfen. Da hieß es unter dem Joche der Sünde: „Der Mensch ist hier in der Warteschule. Man muss alle Tage Buße tun. Ich kann nichts; ich kann mir keinen Glauben geben; wenn mir aber der Herr Glauben schenkt, will ich glauben, dass es eine Art hat. Ich will vom Tun nichts wissen; Christus hat alles getan; an Ihm soll man meine Frucht sehen. 

Man muss sich kennen lernen, muss immer kleiner werden. Der neue Mensch tut keine Sünde, der alte Mensch sündigt immer. Der Apostel selbst sagt: „Ich bin fleischlich, unter die Sünde ver­kauft. Das Gute, das ich will, tue ich nicht, sondern das Böse, das ich hasse, tue ich. Ich sehe ein anderes Gesetz in meinen Gliedern, das da widerstreitet dem Gesetz meines Gemüts und nimmt mich gefangen in der Sünde Gesetz, welches ist in mei­nen Gliedern (Röm. 7, 14. 19. 23). Dem Apostel ward ja auch ein Pfahl ins Fleisch gegeben (2. Kor. 12. 7), und er bekennt: Ich sterbe täglich (1. Kor. 15. 31); und: nicht, dass ich es schon er­griffen hätte, oder schon vollkommen (vollendet) sei usw. (Phil. 3. 12). 

Denn das Fleisch gelüstet wider den Geist und den Geist wider das Fleisch. Diese aber sind einander entgegen­gesetzt, auf dass ihr nicht das tut, was ihr wollt (Gal. 5. 17). Wer einmal erwählt ist, kann nicht verloren gehen. Alle Heilige sind große Sünder gewesen. Der Gerechte fällt täglich sieben­mal" (Spr. Sal. 24. 16) usw. Mit diesen und noch vielen andern Ausdrücken wusste ich mein selbstgemachtes System zu ver­teidigen; war auch sehr geschickt, die Worte der Heiligen Schrift so Zange zu drehen und zu wenden und so zu vergeistigen, bis sie zu meinen Erfahrungen passten.. O der treue Herr hat große Geduld und Langmut ah mir bewiesen und meine Unwissenheit lange Zeit übersehen.

Ehe ich mit meinen Erlebnissen weiter fortfahre, will ich etwas näher auf die oben erwähnten Ausdrücke eingehen und mit wenigen Worten dartun, wie ich sie später nach anhalten­dem Gebet und Forschen in der Heiligen Schrift erkannt habe.

Es ist wahr, wir sind hier recht in der Warteschule; es geht durch viel Trübsal ins Reich Gottes und ausharrende Geduld tut uns not, auf dass unser bewährter Glaube viel köstlicher erfunden werde, denn das vergängliche Gold, das durch's Feuer bewährt wird, zu Lob, Preis und Ehre, bei der Offenbarung Jesu Christi. Doch dem, der unter der Sünde liegt, heißt es nicht: Warte noch; bleib noch ein wenig liegen; sondern: „Heute, heute, so du Seine Stimme hörst, verstocke dein Herz nicht, und wache auf, der du schläfst und stehe auf von den Toten, so wird dich Christus erleuchten" (Eph. 5. 14). — 

Unter dem Wort Buße versteht die Heilige Schrift nicht das katholische Büßen, eine Schuld selbst abtragen, nicht durch Schmerz und Reue über seine Sünden. Jesus allein hat unsere Schuld gebüßt. „T u e Buße" ist die einfache Aufforderung Gottes an jeden Men­schen und heißt: Ändere deinen Sinn! Bekehre dich? Diese Sinnesänderung und Bekehrung ist aber bei einem jeden wahr­haft wiedergeborenen Menschen geschehen; er hat seine frühere Gemeinschaft in jeder Beziehung verlassen und lebt nun ganz in der Gemeinschaft Jesu Christi; wozu er auch berufen ist. — Der Mensch ist zu allem Guten untüchtig; er kann nichts. Das ist das Bekenntnis eines jeden Gläubigen. Dies muss er wahrhaftig erkannt haben, ehe er seine Hoffnung auf den leben­digen Gott setzt.

Als Kind des Glaubens hat er auf sich verzichtet. Wollte aber Jemand dieses Nichtskönnen auch auf den von Gott in ihm gewirkten Glauben ausdehnen, so würde er damit beweisen, dass er das Wesen des Glaubens nicht verstehe. „Alles ist mög­lich, dem, der da glaubt. „Der Glaube ist der Sieg, der die Welt überwunden hat" (1. Joh. 5, 4). „In dem Allen überwinden wir weit, durch Den, Der uns geliebt hat" (Röm. 8, 37). W i r können uns diesen Glauben selber nicht geben, darum hat Gott ihn in uns gewirkt (1. Kor. 2, 12) und unter uns den Gehorsam des Glaubens aufrichten lassen zur Verherr­lichung Seines Namens (Röm. 1, 5). Wo aber kein Glaube ist, da ist Unglaube; da stehen wir nicht in der Gemeinschaft mit Christo, sondern mit dem Sichtbaren; wo sich dieser Glaube nicht im Leben und Wandel offenbart, wo er die Gesinnung Jesu Christi nicht beweist, ist er eitel und tot. Wir werden überall. zum Glauben aufgefordert und ermahnt, aber nirgends steht, dass er uns für eine Zeitlang entzogen werden soll. Gott ist es aber, der uns so ernstlich ermahnen lässt.

Weiter: Ich will vom Tun nichts wissen; Chri­stus hat alles getan; an Ihm soll ich meine Frucht sehe n. Wir unterscheiden so wenig, was wir früher waren und was wir in Christo Jesu geworden sind. Früher Knechte der Sünde und jetzt Knechte der Gerechtigkeit; früher Verfluchte, unter die Sünde Verkaufte, Feinde Gottes; jetzt be­freite, versöhnte und erlöste Kinder Gottes; früher tot in Sün­den und Übertretungen, jetzt lebendig gemacht durch die Auf­erstehung Jesu Christi. 

Als Gläubige dürfen wir bekennen, dass wir mit Christo gestorben, begraben und zu einem neuen Leben auferstanden sind; dafür dürfen und sollen wir uns stets halten, auf dass wir Gott leben; wir sollen Gutes tun und nicht müde werden; wir sind geschaffen in Christo Jesu zu guten Werken, und sollen reich daran sein. Dazu werden wir im ganzen Evan­gelium ermahnt; denn das ist die Liebe zu Gott, dass wir Seine Gebote halten und Seine Gebote sind nicht schwer (1. Joh. 5, 3). In Christo Jesu wohnt die ganze Fülle der Gottheit leibhaftig. Er ist uns gemacht zur Weisheit, zur Gerechtigkeit, zur Heili­gung und zur Erlösung; und darum eben, weil wir in Ihm alles haben, weil Er unser Leben ist, weil Er in uns wohnt, leben wir Gott. Er ist in uns und wir in Ihm, darum soll sein Inne­wohnen, die Frucht Seiner Liebe und Gnade sich auch durch uns offenbaren, denn dadurch wird der Vater geehrt, dass wir viel Frucht bringen (Joh. 15. 8).

Man muss sich immer mehr kennen lernen und immer kleiner werden. Wer sich als verlorener Sünder in Wahrheit erkannt hat, gibt sich ganz auf und ergreift Jesum Christum im lebendigen Glauben. So lange er Ihn fest­hält, bekennt er, dass er außer Ihm kein Heil zu finden weiß und unsere Aufgabe, ja unser steter Kampf ist, in diesem Glau­ben zu beharren. Gewahren wir neue Bosheit und List des Satans, der Welt und unseres natürlichen Lebens, so ermahnt uns dies um so viel mehr zum Wachen und Beten. 

Wer auf sich selbst verzichtet hat, der hat sich kennen gelernt, der hält sich für gering, ja für nichts. Das Leben in Christo befestigt ihn in dieser Erkenntnis. Man glaubt oft, dass man in der Selbster­kenntnis und in dem Kleinerwerden Fortschritte mache, wäh­rend man doch nicht einmal dahin kommt, sich ganz aufzugeben und sich für nichts mehr zu achten, wozu wir doch ermahnt sind, und lernt also das köstliche Werk der Erlösung in Christo Jesu nie recht verstehen. —

Der neue Mensch sündigt nicht; der alte kann nicht anders. Der alte und der neue Mensch werden auch in der Heiligen Schrift streng geschie­den. Sie haben keine Gemeinschaft untereinander. Bei dem wahrhaft Gläubigen lebte der alte Mensch einst, der neue jetzt; jener ist mit Christo gekreuzigt, auf dass der sündliche Leib aufhöre, damit wir hinfort der Sünde nicht dienen. Wo der neue Mensch lebt, muss jener abgelegt sein; wo aber bald dieser, bald jener lebt und regiert, da ist ein krankhafter Zu­stand, da ist der Glaube schwach und die Erkenntnis Jesu Christi und Seines Erlösungswerkes gering. Wer sich aber von dem Satan, der Welt und der Sünde, von seinem früheren Leben und der Gemeinschaft, der er jetzt abgestorben und mit Christo entschieden gegenüber steht, überrumpeln lässt, soll sich dadurch zu größerem Ernst und Anhalten im Wachen und Beten ermahnen lassen. Meine Kindlein, solches schrei­be ich euch, auf dass ihr nicht sündigt. 

Und wenn jemand gesündigt hat, so haben wir einen Fürsprecher bei dem Vater, Jesum Christum, den Gerechten (1. Joh. 2, 1). In Röm. 7. 14 heißt es: „Ich bin fleischlich, unter die Sünde verkauft." Kapitel 8, 8. 9: „Die aber fleischlich sind, mögen Gott nicht ge­fallen. Ihr aber seid nicht fleischlich, sondern geistlich, so anders Gottes Geist in euch wohnt. Wer aber Christi Geist nicht hat, der ist nicht Sein." — Hatte Gott keinen Gefallen an Paulus? Hatte dieser den Geist Gottes nicht? War er nicht Sein? In Kapitel 7, 15. 19 usw. lesen wir: das Gute, das ich will, tue ich nicht, sondern das Böse, das ich hasse, das tue ich usw. Kapitel 6, 2. 12. 14: „Wie sollten wir in der Sünde leben wollen, der wir abgestorben sind. So lasst nun die Sünde nicht herrschen in eurem sterblichen Leibe, ihr Gehorsam zu leisten in seinen Lüsten. 

Denn die Sünde wird nicht herrschen können über euch, sintemal ihr nicht unter Gesetz seid, sondern unter der Gnad e". Predigte der Apostel Andern und war selbst verwerflich? Weiter in Kapitel 7, 23: „Ich sehe aber ein anderes Gesetz in meinen Gliedern, das da widerstreitet dem Gesetz meines Gemüts, und nimmt mich gefangen in der Sünde Gesetz usw." In Kapitel 8, 2 sagt der Apostel: „Das Gesetz des Geistes, der da lebendig macht in Christo Jesu, h a t mich frei gemacht vom Gesetz der Sünde und des Tode s" (Kapitel 6, 17.18):

 „Gott aber sei Dank, dass ihr Knechte der Sünde gewesen seid usw. Nun ihr aber frei geworden seid von der Sünde; seid ihr Knechte der Gerechtigkeit geworden". (Kapitel 7, 6): „Nun aber sind wir von dem Gesetze los, und ihm abgestor­ben, das uns gefangen hielt usw." Sobald man in Nüchternheit und ohne Vorurteil die drei angeführten Kapitel prüft, so wird man finden, dass der Apostel im siebenten Kapitel durchschnittlich nur von dem Menschen gegenüber dem gött­lichen Gesetze redet und nicht von sich oder überhaupt von einem wahrhaft Gläubigen.

Mit dem Pfahl im Fleische des Apostels habe ich mich oft getröstet, und dachte, es müsse darunter wohl die Sünde verstanden sein, unter welcher ich am meisten seufzte. Es fiel mir aber nicht einmal ein, dass ich zu dieser Erklärung gar keinen Grund in der Schrift hatte, um so weniger, da mir so hohe, außerordentliche Offenbarungen nicht geworden waren, deren ich mich überheben konnte; ich dachte auch nicht daran, dass so viele ihre Hauptsünden mit diesem Pfahl entschuldigten. Doch so viel weiß ich jetzt, dass alle Worte des Apostels keinen Raum geben für die Auffassung dieser Stelle, als habe er unter irgend einer Sünde noch gefangen gelegen.

Das Wörtchen: „Ich sterbe täglich"; was ich oft verkehrt anwandte und vergeistigte, hat beim genauem Durch­lesen keinen andern Sinn, als wie es (Röm. 8, 36) ausgedrückt ist: „Um deinetwillen werden wir getötet den ganzen Tag; wir sind geachtet wie Schlachtschafe." —

Im dritten Kapitel des Briefes an die Philipper, wo der Apostel im 12. und 13. Verse bekennt, dass er es noch nicht er­griffen habe oder schon vollkommen (vollendet) sei, müssen wir vor allen Dingen wissen, was er denn zu ergreifen suchte. Dies drückt der Apostel in Vers 11 und 12 aus: „Ob ich möchte ent­gegen kommen zur Ausauferstehung der Toten". „Und jage nach dem vorgesteckten Ziel, nach dem Kleinod der himmlischen Berufung Gottes in Christo Jesu". An der ersten Auferstehung, an der Auferstehung der Gerechten, wünscht der Apostel Teil zu haben, dazu er auch von Christo ergriffen ist. 

Das ist das Ziel seiner Wünsche und Hoffnungen; dort findet er das Kleinod seiner Berufung, die Krone der Gerechtigkeit; da den Lohn seiner Mühe und Arbeit; an dem Tage verwandelt sich der kämpfende Glaube in ein seliges Schauen. Dies Ziel hat er noch nicht erreicht, den Lauf bis dahin noch nicht vollendet; aber er arbeitet mit allem Ernst, es zu erreichen; er vergisst Alles und wirft Alles von sich, um nur dahin zu gelangen; er gibt sich ganz ihm hin und ermahnt auch die Philipper zu gleichem Ernste mit den Worten Vers 15: „Wie viele unser nun vollkom­men sind, lasst uns also gesinnt sein. —"

Was nun die Stelle betrifft, die der Apostel an die Galater, die zum Teil Christum verloren hatten und von der Gnade ab­gefallen waren, schreibt: „Denn das Fleisch gelüstet wider den Geist und den Geist wider das Fleisch. Dieselbigen sind wider einander, dass ihr nicht tun könnt, was ihr auch wollt" (Gal. 5. 17), so braucht man zur rechten Anwendung und Auffassung nur Vers 16 und 18 zu lesen: „Ich sage aber: Wandelt im Geist, so werdet ihr die Lüste des Fleisches nicht vollbringe n. Regiert euch aber der Geist, so seid ihr nicht unter Gesetz." Wer in Christo lebt, ist frei; wer ohne Ihn kämpft, bleibt gefangen und ein Knecht der Sünde. —

Die Erwählung in Christo Jesu vor Grundlegung der Welt ist eine Wahrheit, die niemand antasten darf. Wenn wir sie recht verstehen, so beugt sie uns in den Staub und drängt uns zu]. Ehre und Anbetung unseres Gottes; aber nie darf sie zu einem Ruhekissen unseres Fleisches werden; und uns taub gegen alle Ermahnungen des Geistes machen.

Alle Heilige sind große Sünder gewesen. Das ist wahr; sie sind nur als Gottlose gerecht geworden. Es ist auch wahr, dass einige Männer Gottes tief gefallen sind. Lesen wir aber solche Mitteilungen in der rechten Weise, so bemerken wir überall die große Barmherzigkeit und den Ernst Gottes. Es ist uns solches zum Trost und zur Warnung geschrieben; aber sehr oft habe ich mich leichtsinniger Weise dadurch beruhigt und. meine Sünden entschuldigt. „Sollten wir aber, die da suchten, durch Christum gerecht zu werden, auch noch selbst als Sünder erfunden zu werden, so wäre Christus ein Sünden­diener. Das sei ferne?" (Gal. 2, 17). Diese Worte sind wohl zu beherzigen. —

Der Spruch Salomos: „Der Gerechte fällt täglich siebenmal", hat mir auch oft einen falschen Trost bereitet, bis ich endlich diese Stelle einmal selbst las; sie heißt: „der Gerechte fällt siebenmal und steht wieder auf; aber die Gottlosen versinken im Unglück." Da fand ich denn, dass da nicht vom Sündigen, sondern vom Unglück die Rede war und dass das Wörtchen täglich gar nicht da stand. —

Jetzt will ich zu der Mitteilung meiner weiteren Erfahrungen zurückkehren.

Es verflossen mehrere Jahre und es fiel mir nicht einmal ein, zu denken,' dass ich in meinem Glauben nicht recht gesund Und fest stände. Ich hatte einen tiefen Blick in mein Verderben getan und täglich gewahrte ich neue Seiten der Bosheit meines Herzens. Ich wusste, dass allein in Jesu Heil und außer Ihm nur Sünde und Ohnmacht war. Und wenn oft, niedergeworfen durch Betrug und Macht der Sünde, meine selbstgemachten und von anderen gehörten Trostgründe nicht mehr haften wollten, so warf ich mich zu den Füßen Jesu, und trotz meines unwürdigen Wandels vor Ihm, hat Er Seine Gnade nicht von mir genommen. 

Ich preise jetzt Seine große Liebe und Geduld, welche die Zeit meiner Unwissenheit übersehen hat; die Zeit, wo ich so wenig mit Ernst in Seinem uns geoffenbarten Worte forschte, wo ich so oft Seinen Geist betrübte und Dessen Er­mahnungen kein Gehör gab. Was mir zunächst die Augen öffnete, waren die Worte: „Du hast noch nicht mit der Sünde in Wahrheit gebrochen; du hast dich noch nicht selbst aufgegeben." Das schrieb der Geist tief in mein Herz, so dass es mich immer verfolgte. Ich fühlte, welch einen Hass ich gegen die Sünde und mich selbst hatte, welch furchtbare Kämpfe ich durchgemacht und nun sollte ich noch nicht gebrochen und mich noch nicht selbst aufgegeben haben? Ich will hier nicht weiter darauf eingehen, in welch ein Meer von Anklagen und Entschuldigungen ich geriet; nur will ich das Resultat meiner Betrachtungen und Gebete in wenigen Worten mitteilen. 

Ich entdeckte bei allem Kampf wider die Sünde doch noch eine verborgene Lust zu derselben und eine geheime Liebe zu ihrer Gemeinschaft; ich sprach von meiner Verderbtheit und Ohnmacht des Fleisches, ich wußte dies bei Andern, besonders wenn diese so etwas gern zu ihrem eigenen Troste hörten, ins grellste Licht zu stellen und dennoch war ich nicht bereit, mich selbst zu verleugnen und von mir abzu­lassen; ich erkannte, dass die Welt verging mit all ihrer Lust, und dennoch wollte ich nicht allem absagen und alles verlassen, woran das Herz von Natur gehangen; ich bekannte, dass in Jesu die Reinigung, die Kraft und der Sieg wider alle Unreinigkeit und alle Feinde liege, und doch hatte ich nicht Lust, durch Glauben und Geduld in Seiner Gemeinschaft zu beharren. 

Diese und ähnliche Wahrheiten waren mir auch früher oft durch den Geist vorgehalten worden, aber immer wieder hatte ich sie durch allerlei Scheingründe, wie die oben angeführten, zu dämpfen gesucht; wozu ich auch ein volles Recht zu haben glaubte. Doch jetzt konnte ich dies nicht mehr, denn ich er­kannte, dass ich zu teuer erkauft war. Ich fing an, fleißig in der Schrift zu forschen; lange konnte ich über das 6. und 8. Kapitel des Briefes an die Römer nicht wegkommen. Ich las sie immer wieder und unter viel Gebet; meine Vorurteile schwanden nach und nach und dieser Abschnitt war es, der großes Licht auf mein bisheriges geistliches Leben verbreitete. Ich suchte und forschte dann immer weiter und am längsten verweilte ich bei der 1. Epistel Johannes. 

Es war mir in diesem Briefe alles so neu und fremd, dass ich bei jedem einzelnen Verse stehen bleiben und um Erleuchtung und Aufschluss durch den Heiligen Geist bitten musste. Bald konnte ich diesen, wie auch den Römerbrief auswendig; es war mir, als sei ich zu einem neuen Leben erwacht. Jetzt erst konnte ich mit dem Psalmisten singen: „Herr, dein Wort ist meines Fußes Leuchte und ein Licht auf meinem Wege; dein Wort ist köstlicher denn Gold und viel feines Gold und süßer denn Honig und Honigseim!" Nun erst verstand ich, dass Jesus Christus nicht allein um unserer Sünden willen dahin gegeben, sondern auch um unserer Gerechtigkeit willen auferweckt ist. 

Er wurde um meinetwillen angesehen als der Übeltäter und musste sterben, und ich werde nun um Seinet­willen als der Gerechte betrachtet und lebe. Denn Gott hat Den, der von keiner Sünde wusste, für uns zur Sünde gemacht, auf dass wir würden in Ihm die Gerechtigkeit, die vor Gott gilt (1. Kor. 5. 21). „Der selbst unsere Sünden an seinem Leibe getragen hat an das Holz; auf dass wir, den Sünden abgestorben, der Gerechtigkeit leben sollen; durch dessen Wunden ihr heil geworden seid" (1. Petri 2. 24). Es ist mein Trost, meine Kraft und die Freude meines Glaubens, dass Jesus auferweckt ist und sitzet zur Rechten Gottes und vertritt mich. 

Mein Leben ist mit Ihm in Gott verborgen; durch den Glauben stehe ich mit Ihm in der innigsten Gemeinschaft, verbunden durch das Band des Geistes und der Liebe. Er lebet in mir, und wenn Er wieder­kommt, werde ich Ihn sehen, wie Er ist und Ihm gleich sein. Mit großem Verlangen harre ich auf den Tag Seiner Ankunft, auf das Ziel meiner Hoffnung, auf das Kleinod meiner Be­rufung in Christo Jesu. Preis aber und Ehre und Anbetung sei dem Gott, der Sich meiner so herzlich angenommen, der uns eine so vollkommene Erlösung geschenkt hat in Seinem einge­borenen Sohn, unserm Herrn und Heiland.

Saatkörner Dezember 1955

01/12/2024
von Christ-und-Buch Günter Arhelger

Eine gesegnete Unterhaltung

Vor einer Reihe von Jahren ging ich eines abends in ein Dorf, um daselbst Gottes frohe Botschaft zu verkündigen. Da ich noch ein Stündchen Zeit hatte bis zur Versammlung, machte ich bei einer mir bekannten Familie einen Besuch. Kaum hatte ich dort Platz genommen, als der etwa siebzehnjährige Sohn des Hauses von seiner Arbeit aus der Fabrik zurückkehrte. Ich kannte ihn, dass er Gottes Wort nicht liebte und darum auch nicht das Volk Gottes, deshalb auch nicht sonderlich erbaut sein konnte, mich zu sehen. Nachdem er sich Hände und Gesicht gewaschen, setzte er sich an sein Abendbrot, an ein einfaches Mahl aus Kartoffeln und «Dickmilch», das ihm trefflich mundete, ohne dass er jedoch das Bedürfnis gefühlt hätte, Gott für die Gaben zu danken. Es war indessen ein wahres Vergnügen zu sehen, mit welch regem Appetit der kräftige Bursche zugriff; und ich dachte bei mir, welch köstliche Gabe Gottes doch die Gesundheit sei und wie wenig doch Gott dafür gedankt wird.

«Es schmeckt Ihnen wohl recht gut?» sagte ich nun nach einigen Minuten zu dem wackren Esser. «0 ja!» entgegnete dieser lebhaft, «wenn man den ganzen Tag tüchtig gearbeitet hat, dann schmeckt's am Abend ganz vortrefflich.» Er sagte dies mit einem besonderen Ton» woraus ich schliessen konnte, dass er den mühevollen Beruf eines Evangelisten für eitlen Müssiggang hielt; doch entgegnete ich nichts darauf, tat vielmehr einige Fragen über seine Arbeit in der Fabrik, auf die er mir auch ordentlich Bescheid gab.

Alsdann fragte ich ihn weiter: «Haben Sie nun auch heute schon einmal an Gott gedacht?» Ich bemerkte, er schlug die Augen nieder, als er mir zögernd antwortete: «Nein!» «0», sagte ich, «wie gut, dass aber Gott an Sie gedacht hat. Denken Sie einmal» Gott hätte Sie heute vergessen, wo würden Sie jetzt sein? Er ist es, der Sie in Ihrer gefahrvollen Arbeit bewahrt hat, hat Ihnen Leben und Odem erhalten und die Gesundheit. Ohne Seine Güte würde es Ihnen auch jetzt nicht so gut schmecken. Und was haben Sie getan? Für alle Seine Güte haben Sie Gott noch nicht einmal gedankt. Schon aus dieser Undankbarkeit müssen Sie erkennen, dass es wahr ist, was Sie von früher Jugend an gehört haben, dass Sie ein Sünder sind vor Gott.

 Und nicht allein ist Ihr Herz bis heute undankbar gewesen; wie viel Böses mag der gütige Gott an dem einen Tag allein bei Ihnen wahrgenommen haben! Auch hat Er alle Ihre Sünden gesehen, die Sie je bei Tag und Nacht getan. Nun denken Sie sich doch nur, wo wird das Ende Ihres Weges sein, wenn Sie so vorangehen? Ich bitte Sie, erwägen Sie dies doch!» Dann reichte ich ihm die Hand und verabschiedete mich, um in die Versammlung zu gehen.
Nach ungefähr vier Wochen führte mich der gleiche Zweck, das Evangelium zu verkündigen, in das Dorf. Als ich in die Nähe der ersten Häuser kam, kam ein junger Mann auf mich zu, um mich abzuholen. Da es schon etwas dunkel war, erkannte ich ihn nicht. Er aber sagte: «Sie kennen mich wohl nicht mehr? Ich bin jener junge Mann, dem heute vor vier Wochen bei Ihrem letzten Hiersein die Kartoffeln so gut schmeckten; und ich kann Ihnen zu Ihrer Freude mitteilen, dass Gott Ihre Worte von jenem Abend gesegnet hat; ich habe Frieden mit Gott».

Dann erzählte er mir, welchen Eindruck die Worte auf ihn gemacht, wie er mir im Innern hätte recht geben müssen, wie er sich gesagt hätte: «Ja, so böse und undankbar bist du wirklich!» Er habe sieh aber gleich vorgenommen, sieh zu bessern. Seine guten Vorsätze habe er indessen bald wieder vergessen; nur wenn er am Abend nach Hause gegangen, sei ihm alles wieder eingefallen, und er habe sich dann immer recht elend gefühlt und sich dann jedesmal neu sagen müssen: «Heute, wie immer, böse und undankbar!» So seien mehrere Tage vergangen mit immer neuen guten Vorsätzen, aber ohne Erfolg. Seine Unruhe sei darum immer grösser geworden, sodass er den Tag über mit Furcht an den Abend gedacht hätte. 

Ja, er hätte sieh schliesslich lieber hungrig zu Bett legen wollen, als wieder seinen gewohnten Platz am Tisch einzunehmen, um sein Abendbrot zu essen; denn dann sei ihm besonders sein sündhafter Zustand vor die Augen getreten. Zuletzt sei er wegen der Undankbarkeit und Bosheit seines Herzens an sich verzweifelt und habe sich um Gnade und Erbarmen zum Heiland gewandt, der für Gottlose gestorben ist; so sei er glücklich geworden, ja er sei gewiss, dass Jesu Blut auch alle seine Sünden abgewaschen habe und ihm nun gewisslich auch die Kraft geben würde, für Gott zu leben.
Jahre sind seitdem verflossen, und aus dem einstmaligen undankbaren und bösen Jüngling ist ein Mann geworden, der bis heute noch ein Zeugnis für die Gnade und Wahrheit des Herrn ist. Durch Gottes Gnade hat er nun schon viele Jahre mit denen gewandelt, die die Erscheinung des Herrn lieb haben.

Eine Lebenserinnerung
Der berühmte Maler Ludwig Richter teilt folgenden Fall mit, den er als junger Mann auf seiner Reise nach Rom im Jahre 1823 in Salzburg erlebt hat: «Bei schlechtem Wetter sass ich eines abends in meinem Stübchen; mein Wunsch, einen Reisegefährten zu finden und all mein Suchen darnach war vergebens gewesen, und verstimmt darüber war mein Entschluss gefasst, am andern Morgen allein weiter zu reisen; da klopfte es an meine Türe. Auf mein «Herein» trat ein Mann ein, der bereits in den Fünfzigen sein mochte, eine gedrungene, breite Gestalt, sehr sauber in seiner Kleidung und mit einem Gesicht, auf welchem Tüchtigkeit und ehrenhaftes Wesen geschrieben stand. Er erzählte, er komme von Triest und wolle nach Holland zu Frau und Kind. Er sei Steuermann auf einem holländischen Fahrzeuge, welches Schiffbruch gelitten habe; und zur Bestätigung des esag-teil legte er mehrere Zeugnisse von dcxi betreffenden Behörden vor. 

Der Mann hatte für mich etwas Anziehendes in seiner festen, ruhigen und bescheidenen Weise, und so gab ich ihm auch gern ein paar Zwanziger, was in Betracht meiner schwachen Kasse viel genannt werden konnte. Er dankte, nahm seine Papiere wieder zusammen, sah mich mit einem dankbaren Blick an, als möchte er mir auch etwas Liebes erzeigen, und sagte: «Ich habe einen laugen Weg vor mir, aber ich habe einen guten Reisegefährten t» - «0, das ist ja ein Gluckt» erwiderte ich lebhaft, im Gefühl, dass ich einen solchen schmerzlich entbehrte «Wer, ist es denn?» -

 «Es ist unser Gott und Herrselber; und hier» - er zog ein kleines Neues Testament aus der Brusttasche - «hier habe ich Seine Worte, wenn ich mit Ihm rede, so ant-wortet Er mir daraus. So wandere ich getrost, lieber junger Herr -,Nochmals dankte er und ging. Mich aber hatte die Rede wie ein Pfeil getroffen, und ein Stachel davon blieb in meinem Herzen sitzen. Ich hatte an Gott nicht ge-. dacht, für mich war Er eine ferne, unbestimmte Macht, und dieser arme Mann sprach so, als keime er Ihn recht wohl, als stehe er in lebendigem Verkehr mit Ihm, woraus ihm ein so getroster Mut, eine so freudige Zuversicht erwuchs. Sein kleiner Schatz, das Bächlein von unnennbarem Werte war mir völlig fremd; •ich hatte ja nie eine Bibel gelesen«»

Welche unendliche Bedeutung diese kleine Begebenheit auf die Entwicklung des innern Lebens von Ludwig Richter gehabt, das teilt uns der Künstler selber, mit Er wurde vom Tod zum Leben geführt durch die Wiedergeburt Gottes Wort und-Heiliger Geist haben ihn zu Jesu gezogen; und «ist jemand in Jesus Christus, da ist eine neue Schöpfung; das Alte ist vergangen, siehe, alles ist neu' geworden.

'Der reiche Kombauer Lukas 12,13-21
Eines Tages kam ein Mensch zum Herrn Jesus mit der Bitte, ihm in einem Erbteilungssti eit zu hellen, aber der
- Herr bedeutete ihm, dass Er damit nichts zu tun haben wolle. Mit. Recht, denn Er erkannte, dass Habsucht der Beweggrund der Bitte war; aber der Herr hatte mit den mate-riellenDingen dieser Welt und Zeit nichts zu tun Es sind in Wahrheit nur Fesseln, womit Satan die Menschen gefangen halt Vielmehr war der Herr gekommen, um die Seelen von diesen Fesseln -zu befreien und ihnen den Weg zum. Himmel zu zeigen und zu bahnen Deshalb antwortet der Herr dem Fragenden mit einem Gleichnis, welches den wahren Wert der irdischen Dinge, vor allem des Mammons, treffend dartut. ‚Er schildert 'einen Grundbesitzer, welcher 'eine Rekord-Ernte gemacht hatte, aber nichts anderes damit zu tun weiss, als sie f il r sieh aufzuhäufen,' seine Speicher damit füllend..
Dieser Mann dachte nicht im geringsten 'daran, dass Gott im Himmel ihm diese reiche Ernte geschenkt und dass er Ihm deshalb zu danken hätte und auch als Zeugnis seiner Dankbarkeit 'einen gefällten Korb hätte darbringen sollen. Er dachte auch nicht daran, von seinem Ueberfluss denen zu geben, die Mangel hatten Nein, er hamstert nur für sich selber. Auch denkt er nicht an 'die Möglichkeit, dass er plötzlich abgerufen werden konnte und alles zurücklassen müsste, da' er ja nichts ‚mitnehmen konnte 'und leer und bloss vor dem Richterstuhl des Christus erscheinen musste Eben diesen Fall setzt der Herr voraus,' um darzutun, was ‚irdische Güter, nach dem unfehlbaren Mass Gottes gemessen, wert sind - nur vergängliche Guter, ohne Ewigkeitswert. Würde er von seinem Ueberfluss Gott gegeben, d. h. zum Besten seiner Mitmenschen verwendet haben, so wurde ihm dies zum himmlischen Lohn angerechnet worden
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sein. Auch lili- seine Seele hatte er nicht vorgesorgt, so stand er vor dem Richterstuhl Gottes mit - fl i c h t s
Ach, wie viele gleichen diesem reichen Narren auch in der Christenheit, und dies gerade kurz vor dem Kommen des Herrn, da Er erscheinen wird in den Wolken des Himmels! Jakobus schildert diese Tatsache, die er ausdrücklich auf das Ende der Tage bezieht, recht anschaulich und mit tiefem Ernst, sowohl die selbstsüchtige Gesinnung dieser Reichen, als auch ihr Gericht (Jakobus 5, 1-6). In der Tat, heute erleben wir es immer wieder, nicht nur was Jesus hier andeutet, sondern, dass tatsächlich «Gold und Silber verfault und verrostet», d. h. durch politische Ereignisse, Kriege, Spekulation und Katastrophen ihren Wert verlieren. Es bleiben nur noch wertlose Papiere übrig, auf denen wie zum Hohn der nominelle Wert weiter prangt. Dies meint ohne Frage Jakobus, darum fügt er bei, dass dies in der Seele brenne wie ein Feuer. Vom Reichtum, auf den man sein ganzes Sinnen und Rechnen gesetzt hat, bleibt nichts mehr. übrig, als der leere Name.
Darum hat derjenige recht, der sich sagt: «Das, was ich dem Herrn gebe, sei es direkt für Sein Werk, oder an bedürftige Mitmenschen in Seinem Namen, dies ist allein wirklicher Besitz, denn er bleibt zum ewigen Gewinn». Auch bleibt Gott niemanden etwas schuldig. Was man Ihm gibt, vergilt Er reichlich. Wir werden dabei niemals Mangel haben und dazu ungemessenen Segen in geistlichem Sinn empfangen.
Gott lässt sich nichtspotten!
Ein gottesfürchtiger Kohlengräber in E. glaubte dem heiligen Worte Gottes, . so auch der Bibelstelle: «Denen, die Gott lieben, müssen alle Dinge zum Besten dienen». So kam es auch, dass man diese Worte öfters hören konnte in Kampf und den Mühen des wechselvollen Lebens, Seine Arbeitskollegen hatten es auch schon öfters aus seinem Munde vernommen, aber sie verachteten Gottes Wort.
Eines Tages, als er im Begriff stand, mit seinen Kameraden in die über fünfhundert Meter tiefe Grube zu fahren. ergriff ein Hund sein wohleingewickeltes Frühstück, und er musste, wollte er nach saurer Arbeit nicht hungern, hinter dem Hunde herlaufen, um es ihm abzujagen. Der Obersteiger konnte aber nicht mehr warten, und hinunter ging es lii die Tiefe, wobei di& Bergarbeiter dem hinter dem Hunde Herlaufenden im Spott zuriefen: «Alle Dinge müssen zum Resten dienen!»
Ja, der Vorfall hat ihm zum Besten . gedient, denn die ganze Mannschaft .kam nicht mehr lebend aus der Grube; das Seil des Förderkorbes riss und sie stürzten in ihm hinab in die Tiefe. Ja, Gott lässt sich nicht spotten.
Feurige Kohlen
Als ein pommerscher Bauer an einem dunklen Abend, in seine Scheune kam; um zu sehen, ob alles in Ordnung sei, früf er hier einen Mann, der damit beschäftigt war, einen Sack mit Korn zu fällen. Als der Mann mit seinem vollen Sack die Scheune verlassen wollte; trat er ihm entgegen. Der Mann liess vor Schreck seinen Sack fallen. Der Bauer aber bedeutete ihm, den Sack wieder auf den Rücken zu nehmen und ihm zu folgen. Stumm und verlegen folgte er dem Bauer, nichts anderes denkend, als dass der Bauer mit ihm

Saatkörner Oktober 1953

01/12/2024
von Christ-und-Buch Günter Arhelger

Christus in China

Es ist schon längere Zeit her, als eine alte Chinesin müde und gebückt nach der Stadt Huang-yen wanderte Sie wohnte ungefähr dreißig Kilometer von der Stadt entfernt in einem kleinen Dorfe, wo ihr Mann Polizeidiener war. Als fromme Buddhistin hatte sie alles versucht, um für ihre Seele Frieden zu finden, aber vergeblich. Sie hatte manche Wallfahrt nach berühmten Heiligtümern gemacht und sich redlich mit tausenderlei religiösen Verrichtungen abgeplagt, aber' ihr Herz war unglücklicher denn je. Nun kam das Alter, und wenn all ihre Kasteiungen und Bußübungen nichts fruchteten, was soll dann mit ihr geschehen)

Heute nun war Markttag in Huang-yen, da hatte sie manches zu besorgen Als sie mitten unter den Leuten auf dem Markte stand, horte sie auf einmal von den «Jesus-Leuten» reden und von Missionaren, welche diese neue Lehre verkündigten. Die Missionare hatten vor kurzem in der Stadt eine Station gegründet. Sie lauschte dem Gespräch eine geraume Weile und wurde bestärkt in dem Gefühl: «Ich muß zu diesen Jesus-Leuten gehen.

» Sie fragt nach deren Station und eilte so schnell sie konnte und ihre alten Fuße sie zu tragen vermochten, in die bezeichnete Straße. Dort wurde sie von dem eingeborenen Missionar Tschu Sienjeng freundlich aufgenommen Er merkte bald, daß er es mit einer tiefbetrübten. Seele zu tun hatte und machte sie mit der wunderbaren Liebe Gottes bekannt und dem vollbrachten Erlösungswerk des Herrn. Jesu. «Du brauchst nichts mehr für deine Errettung zu tun, Lao-Nai-Nai, der Herr Jesus hat schon alles für dich getan. Im Kreuze findest du volle Erlösung und. Frieden für deine Seele«, erklärte ihr Tschu Sienjen. Das war wirklich Balsam für ihre heilsverlangende Seele Wie verwundert und wie beglückt war die arme Alte, als . sie hier zum erstenmal in ihrem Leben hörte, daß man ohne Geld und ohne Kaufpreis, ohne schwere Werke und ohne Mar-
tyrium, frei und umsonst Vergebung der Sünden .und das ewige Leben erlangen kann. Voll Glück und Frieden kehrte Lao-Nai-Nai in ihr Dorf zurück.
Bald darauf durfte sie eine wunderbare Erfahrung davon machen, wie der große Gott, den sie kennengelernt, mächtig ist zu helfen. In dem Landbezirk, für den ihr Mann verantwortlich war, wurde ein Mord verübt. Der Verbrecher entkam und konnte nicht ausfindig gemacht werden. Der Mandarin wurde deshalb sehr erzürnt und verhängte über den Polizeibeamten, den Gatten unserer Lao-Nai-Nai, eine Strafe, weil derselbe, wie er meinte, den Verbrecher hatte laufen lassen. <'Laßt ihn den Mörder suchen», rief er wütend, <'und verhaftet unterdessen seinen Sohn, bis der Uebeltäter selbst gefunden ist!»

 So wurde der einzige Sohn des armen, alten Elternpaares, ein hoffnungsvoller, braver junger Mensch ins Gefängnis geliefert und ihm sogar die Todesstrafe angedroht, wenn der eigentliche Uebcltäter nicht bald zum Vorschein käme. Zu diesem letzteren war nun gar keine Aussicht, und so brach den armen alten Leuten fast das Herz. Tief betrübt wanderte die Mutter nach Huang-yen, um sich bei dem Missionar Trost zu holen. Als er ihre Sache hörte, sagte er: «Liebe Frau, es steht uns kein anderes Mittel zu Gebote, als uns mit dieser Not an den großen Gott und Vater im Himmel zu wenden; Er hat die Herzen aller Menschen in Seiner allmächtigen Hand; Er kann auch das Herz des Mandarins lenken, daß er deinen Sohn los gibt.

'> Dann betete er in aller Einfalt und Zuversicht mit ihr uni die Freilassung des Sohnes. '<So, Lao-Nai-Nai», sagte er dann, «jetzt haben wir die Sache in Gottes Hand gelegt. Geh' nun nach Hause, gehe in Frieden! Deinen Kummer, dein Anliegn hast du jetzt dem Herrn übergeben, da mußt du es nun auch lassen.>' Völlig getröstet ging Lao-Nai-Nai davon, und als sie in ihrem Dorfe ankam, erzählte sie voll Freude, ihr Sohn werde bald aus dem Gefängnis befreit werden. Die Nachbarn, die den harten und ungerechten Mandarin kannten, glaubten ihr das natürlich nicht, warteten, aber doch neugierig den Ausgang der Sache ab. 

Als jedoch nach wenigen Tagen wirklich der Mandarin den jungen Mann, nachdem er ihn fast zu Tode geprügelt, freiließ, kannte ihre Verwunderung keine Grenzen. Die dankbare Mutter indessen kniete inmitten der aufgeregten Bekannten mit ihrem Schrie nieder und dankte dem großen Gott, ihrem guten Gott und Vater, öffentlich für Seine wunderbare Erhörung und Rettung. Die Nachbarn bekamen nun auch Verlangen, das Evangelium zu hören, und Gott segnete es. -
Aus <'Geschichte der China-Inland-Mission».

Ein Gewitter im Gebirge
Zwei Kinder spielten am Abhang eines Berges, als ein schreckliches Gewitter losbrach. Bald darauf begann es auch zu schneien und tiefer Schnee bedeckte in kurzer 'Zeit die Erde, so daß die Kinder die Wegrichtung verloren und sich verirrten. Schließlich wurde es derart kalt, daß sie nicht weitergehen konnten. Durchnäßt und vom Schlaf überwältigt legten sie sich an einen Felsblock geschmiegt nieder, der ihnen ein wenig Schutz bot. Vor dem Einschlafen sagte der jüngere zu seinem Bruder:
«Beten wir, so wie wir es bisher jeden Abend getan haben!»
Beide knieten nieder und begannen zu beten. In demselben Augenblick ging nahe an der Stelle, wo sich die Kinder befanden, ein Mann vorüber. Da er fürchtete, sich in der Nacht zu verirren, beschleunigte er seine Schritte, um bald sein Haus zu erreichen, hatte aber heftig gegen Wind und Schnee zu kämpfen; da hörte er in nächster Nähe eine sanfte Stimme sprechen. Er blieb stehen, horchte und folgte der Richtung, aus welcher die Stimme herkam. Und gleich darauf entdeckte er die vor Kälte fast erstarrten Kinder.

 Er nahm sofort das, kleinere der beiden Kinder auf seinen Arm und führte das andere an der Hand. Nach kurzer Zeit mußte er aber beide Kinder tragen, weil auch das ältere vor Kälte nicht mehr zu gehen imstande war.
Unter einer solchen Last konnte er nur ganz langsam vorwärts kommen, begegnete aber glücklicherweise dem Vater der Kinder, der sich mit einer Laterne versehen hatte und sie zu suchen ausgegangen war. Welch eine glückliche Begegnung! Alle dankten Gott an diesem Abend, daß der Retter die Stimme des kleineren Knaben gehört hatte, als er vor dem Einschlafen betete.

Aus der Dunkelheit zum Licht
«Begraben im Schutt der Augenlust und Eitelkeit», so erzählt uns eine Freundin, «lag immer ein stiller Zug zu Gott in meinem Herzen, denn treue Muttergebete hauen meine Kindheit umhegt, und sie war mir ein Vorbild gewesen, diese gute Mutter, der ich treuer hätte nachfolgen sollen. Abe'r zunächst war ich darauf aus, die Welt zu sehen und zu geniessen. Ich ging als Erzieherin nach England und fand sehr angenehme Stellung und viel freie Zeit, lernte die Großstadt kennen mit all ihrem bunten Leben und Treiben, vertiefte mich in Kunst und Wissenschaft, fatid aber auch liebe, ernste Freunde, die einen tiefgreifenden Einfluß auf mich ausübten. Eine liebe Dame besonders war's, eine entschiedene freundliche Christin, die mich oft
einlud und mir viel erwies.
«Kind», sagte sie einmal und schaute mich so ernst und eindringlich an, «Kind, ich möchte es dir doch so gerne wün$hen, daß du eine wahre Christin würdest!»
«Wie? Sie meinen, das sei ich nicht? Ich gehe doch oft zur Kirche und tue doch wirklich nichts Böses?»
«Wohl, aber wenn ich deine Eitelkeit sehe, dein ganzes Wesen und Leben betrachte. .
Ich war ihr erMtlich böse und wollte sie nicht wieder besuchen, wenn sie nur nicht so gut, so herzensgut gewesen wäre! Sie brachte mich doch zum Nachdenken. ich wollte gerne fromm und gut werden und brachte es aber nicht fertig. Oft nahm ich mir morgens vor, während ich mir die Locken brannte und ausgedehnte Toilette machte: «Heute willst du einmal ganz für Gott leben», und wenn ich dann abends mein Tagewerk überblickte, war wieder mit allem nichts geworden und ich fühlte mich sündig, unrein und unglücklich.
Da wechselte ich meine Stellung und wurde Reisebegleiterin bei einer anderen Dame. Sie war vornehm, klug und liebenswürdig, an Mitteln fehlte es nicht, nichts brauchte sie sich zu versagen. An Gott und den Himmel glaubte sie nicht, sie wollte sich den Himmel auf Erden schaffen. Wir reisten durch Frankreich, die Schweiz und Italien und ich sah ein herrlich Stück Gottesnatur. Dann gings nach Spanien. Mir aber wuchs trotz allen Lebensgenusses still und tief im Herzen die Sehnsucht nach Gott. Ich liebte die grossen spanischen Kathedralen und flüchtete mich gerne in ihr geheimnisvolles Halbdunkel; all die bunten Sehenswürdigkeiten liessen mich unberührt ich versuchte zu beten - o, hätte ich's nur gekonnt! 

Aber «Gott wohnt nicht in Tempeln mit Menschenhänden gemacht«. Dann fuhren wir von Gibraltar hinüber nach Marokko. Es war ein zauberhaftes land und jeder Tag brachte neue Eindrücke. Aber was ich suchte, fand ich nicht. Eines Abends vor Sonnenuntergang stand ich allein auf der Veranda unseres Hotels; in purpurner Glut sank die Sonne im Westen ins Meer und beleuchtete tausendfarbig den stillen Hafen mit seinen vielmastigen Schiffen, die Stadt mit ihen vielen Türmen, die Felsen, die weite feierliche See. 

Es war mir so wunderbar, so heimwehvoll zu Mut und meine Seele spannte ihre Flügel aus, der unbekannten Ewigkeit entgegen. Da trat aus einem Hause ein Araberjunge heraus in langem weißen Gewand, der Ausdruck seines Gesichtes war ernst und voll echter Andacht, und er warf sich in dem kleinen Hofraum zum Gebet nieder, das Antlitz nach C*ten gewandt. Die letzten Sonnenstrahlen vergoldeten seine jugendliche Gestalt. ich wußte, er betete wirklich zu seinem unbekannten Gott, und ich eine «Chri-

stin», die soviel vom wahren Gott wußte, von Jugend an auf Jesus hingewiesen war, konnte nicht beten Ein bitterer Schmerz durchdrang meine Seele, ein Strom von Tranen brach mir aus dem Auge - die Sonne war gesunken, schnell folgte die Dunkelheit. Ich aber schlüpfte allein hinauf in mein Stübchen; ich horte nicht die lärmende Tanzmusik, die von unten heraufdrang; ich warf mich vor Gott nieder wie jener Araberjunge und versuchte zu beten Ich meinte Ihn finden zu müssen, meine Seele schrie nach Ihm.

Aber ich fand keinen Durchbruch! Ich litt und schwieg
Wir reisten zurück nach England und verbrachten den Winter in den Vergnügungen der Hauptstadt Von da an las ich aber viel in der Bibel, ging von einer Kirche zur anderen und wartete vergeblich auf das erlösende Wort. Wie leer schienen mir jetzt all die Dinge, die mich früher so angezogen haften. Nur aus Pflicht begleitete ich meine Dame an all die Orte des Glanzes und der Pracht Sie mußte wohl viel Geduld mit mir haben in jener Zeit.

 Aber Gott war nahe und suchte meine Seele. Ein Herr, der viel in unserem Hause verkehrte, schlug mir einmal vor, ihn doch in eine Versammlung zu begleiten, die nicht weit von unserer Wohnung gehalten wurde und der am Sonntag Tausende zuströmten. Ich hielt diesen Vorschlag erst für Scherz und wies ihn ab. Es schien mir nicht schicklich und fein für eine Dame, an einen Ort zu gehen, wo die Masse des Volks sich drängte! Aber mein Begleiter war ein so freundlicher und geachteter Mann, daß ich schließlich meine Zustimmung gab Eine Freundin schloß sich uns an und er verschaffte uns Plätze in der vordersten Reihe. 

Tief traf mich der Blick des Redners, eines würdigen älteren Mannes; es ging Kraft und Geist von ihm aus und eine brennende Jesusliebe sprach aus all seinen Worten. Schon als er das Lied ausgab: «Du gnadenreicher Gott, Du Zuflucht aller Armen», erzitterte ich im tiefsten Herzen; ich wußte, er redete ftir mich, und das Bild des Gekreuzigten stand mir vor der Seele wie nie zuvor; der Feuerfunke des Heiligen Geistes fiel auch in mein Herz in jener Stunde.

Daheim habe ich lange gekämpft und gerungen, ehe ich Frieden fand, es war eine Nacht, in der Satans Macht auf dem Plan war, um mich zurückzuhalten und irre zu machen. Endlich aber schrie ich aus tiefster Not: «Herr, erbarme Dich meiner! Rette mich, denn Du starbst für Sünder!»
Da endlich wurde es licht in meinem Herzen und göttliche Freude überflutete mich, Freude, die mich nie mehr verlassen hat. Es war, wie wenn in einer lauen Nacht die grüne Frühlingsknospe am Baum die braune Schale sprengt und mit Macht hervorbricht. Ich war gerettet, und in mir erklang ein Dankespsalm Seither hat es mich immer wieder zur Arbeit an den Gefallenen und Verlorenen gezogen, mein Leben genießen, das war nicht mehr meines Daseins Zweck, nein, leben mit Gott und 9hm dienen und arbeiten zur Ehre meines Herrn, das wurde meine höchste Freude.»

Der Landpfleger Pontius Pilatus
In Bezug auf die Stellungnahme zu der Person des Herrn gibt es keine Neutralität. Entweder bekennt man sich zu Jesus Christus, oder man tut es nicht Das mußte auch der romische Landpfleger, Pontius Pilatus, erfahren Er hafte zu entscheiden, ob Christus schuldig oder nicht schuldig war. Vergeblich versuchte er durch allerhand Ranke dieser Entscheidung auszuweichen Wenn auch der ganze Leidensweg des Herrn nach der göttlichen Vorausschau diesen Weg nehmen mußte, so war doch Pilatus für alles, was er tat, voll verantwortlich. Aus den Berichten der Evangelien geht klar hervor, dass der Landpfleger die wahre Absicht der Juden, Jesus zu töten, wohl erkannte, und daß sie also einen gemeinen Justizmord von ihm verlangten. Cceirnal bestätigte Pilatus die Unschuld des Herrn. Aber warum gab er denn den Herrn dennoch nicht. frei! Einerseits mußten die Gedanken Gottes der
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Saatkörner Februar 1954

01/12/2024
von Christ-und-Buch Günter Arhelger

Wie eine Blinde sehend wurde


Wie meine Eltern mir erzählt haben, bin ich nicht blind von Geburt, sondern habe erst einige Tage nach meiner Geburt das Augenlicht verloren. Ich war sieben Jahre alt, als man mich nach Hannover brachte, üm tirt, wo im Jahre 1840 König Georg erblindete und operiert werden sollte, auch operiert zu werden. Der Professor, der die Operation vollziehen sollte, war aus Berlin; ihm wurde ich vorgestellt. Er nahm mich auf die Knie und bedauerte mich, dass ich so lange blind gewesen sei. Bald sollte ich wieder sehen können; er wolle mich glücklich machen, nur müsste ich nach Berlin kommen in seine Anstalt.
Meine Eltern, obwohl nicht bemittelt, brachten das Opfer und führen mit mir nach Berlin. Dort wurde ich bald operiert; doch als man mich nach einigen Tagen untersuchte, wurde meinen betrübten Eltern mitgeteilt, dass meine Blindheit unheilbar sei. Es war dies eine Mitteilung, die uns tief niederbeugte.
Mehrere Jahre nachher starben meine lieben Eltern, und so stand ich als blinde Waise allein in der Welt. Verwandte brachten mich nach Hannover in die Blindenanstalt. Dort schloss sich ein blinder Knabe von neun Jahren innig an mich. Wir teilten Leid und Freud miteinander wie Bruder und Schwester.

Eines Sonntags sprach der Prediger in der Anstalt sehr ernst über den Richterstuhl Jesu Christi, vor welchem alle einst erscheinen müssten (2. Kor. 5, 10). Mich hatte die Predigt nicht berührt. Anders aber war es mit meinem kleinen Freunde. Er kam nachher an meine Seite und sagte: «Liebe Gesina, wie ist mir so bange vor dem Richterstuhl! Wie wird's uns gehen, wenn wir einmal dahin kommen? 0, liebe Gesinü, ich bin ein böser Junge. Ich gehe verloren.

» In diesen und ähnlichen Worten klagte der Kleine noch lange vor mir, bis ich's müde und ärgerlich wurde. «Ach!» sagte ich, «nun hör' auf damit. Für uns Blinde ist das Gericht nicht schlimm. Wir können nicht viel böses tun. Und wenn wir arme Blinde auch noch in die Hölle kommen sollten, das wäre ungerecht. Nein, wir kommen in den Himmel.» - Dies schien meinen Freund zu beruhigen. Er schwieg und ging seines Weges.
Am andern Morgen aber schon kam der Knabe wieder und sagte: «Liebe Gesina, ich habe die Nacht nicht schlafen können vor Angst. Ich bin ein böser Junge und komme gewiss nicht in den Himmel. Sage mir, was ich anfangen soll. Mir ist so bange vor dem Gericht.»
Nun wurde ich zornig und stiess den Kleinen von mir weg. «Fort!» rief ich, «belästige mich nicht mehr mit deinem Kram, sonst sind wir Freunde gewesen!» Aber der Knabe liess nicht nach, er kam immer wieder und wollte wissen, was er anfangen müsse, um dereinst vor dem Richterstuhl Christi bestehen zu können.
Das ging so mehrere Tage weiter. Allmählich aber merkte ich, dass er ruhiger wurde, obwohl er immer noch viele Fragen hatte, die ich nicht beantworten konnte. Eines Morgens nun kam er voller Freude zu mir und sagte: €0, liebe Gesina, wie glücklich bin ich jetzt! Jetzt habe ich keine Furcht mehr. Du kennst doch den Spruch; «Also hat Gott die Welt gelidbt, dass Er Seinen eingeborenen Sohn gab, auf dass alle, die an Ihn glauben, nicht verloren werden, sondern ewiges Leben haben.» Verstehst du das?. Man geht nicht verloren, man hat ewiges Leben, wenn man an den Herrn Jesus glaubt. Ich glaube an Ihn. Darum gehe ich nicht verloren. Nun ist mir nicht mehr Angst vor dem Richterstuhl. Der Herr Jesus hat sich für mich strafen lassen. 0, wie glücklich bin ich! Gesina, bist du nicht auch glücklich? Glaube doch auch all den Herrn Jesus, der rettet dich, und dann bist du auch glücklich.»

So war ich neunzehn Jahre alt geworden, ohne einmal ernstlich um das Heil meiner Seele bekümmert gewesen zu sein. Aber das wurde jetzt anders. Ich musste von da ab viel an die Ewigkeit denken und an meine Begegnung mit Gott. Niemand hatte mich je persönlich auf die Notwendigkeit der Errettung meiner Seele hingewiesen; aber Gott hatte sich meines kleinen Freundes dazu bedient, mich aus meiner Gleichgültigkeit und aus meinem Todesschlaf aufzuwecken. Nun gingmir's wie zuvor ihm, ich musste mir sagen, dass ich nicht im Gericht bestehen könne. 

Der Gedanke an den Richterstuhl war mir jetzt furchtbar. Ich betete zu Gott, fasste gute Vorsätze, aber meine Not wurde nur grösser. Je länger ich mein Leben betrachtete, desto unglücklicher wurde ich. Ich strengte mich an, «b e s s e r z u wer d e n», indem ich das offenbar Böse vermied. Aber dabei hin noch immer keine Ruhe und kein Frieden in meine Seele. Ich weinte oft ganze Nächte lang und sagte alle Gebete her; die ich daheim oder in der Anstalt gelernt hatte. Und ;in meiner Not wandte ich mich bald an diesen, bald an jenen in der Anstalt, aber sie waren alle schlechte Berater. 

Der eine sagte mir: «Man muss tun was San kann und das ist genug», und der andere lachte mich aus. Mein kleiner Freund aber war nicht mehr in der Anstalt; er war bald, nachdem er den Herrn Jesum als seinen Heiland erkannt hatte, heimgeholt worden. Ach, wie sehr fehlte er mir jetzt!
«Ach!» seufzte ich oft, «dass ich doch sehen und lesen könnte!» Denn, dass die Bibel Gottes Wort sei, hatte ich oft gehört. Und es war mir gesagt worden, dass man in den Himmel komme, wenn man tue, was darin geschrieben sei. Aber ich armes Mädchen war blind. Was sollte ich tun? 

Ja, je mehr ich mich anstrengte, um in meinem Herzen heilig zu werden und mir dadurch den Himmel zu verdienen, um so elender und erbärmlicher kam ich mir vor, sündhaft und verderbt. Zuletzt wurde ich überzeugt, dass ich den Himmel nicht verdiene, dass ich verloren gehen müsse. Doch hörte ich trotzdem nicht auf, zu ringen und zu kämpfen, wenn auch keine Aussicht zu sein schien, dass ich je selig werden
würde. -
In diesem uuglüskllchen Zustande verbrachte ich zehn lange Jahre. Da fiel meinem armen kampfesmüden Herzen eines Tages der kostbare Spruch aus -Gottes Wort ein:

«Also hat Gott die Welt geliebt, dass ErSeinen eingeborenen Sohn gab, auf dass alle, die an Ihn glauben, nicht verloren gehen, sondern ewiges Leben haben.» Es war derselbe Spruch, der einst meinem kleinen Freunde Ruhe und Frieden gebracht hatte. 0, wie wurde mir dieses herrliche Wort nun auf einmal so klar und kostbar. Also Gott lieb t e mich, die Unwürdige, die Verlorene! Er liebte mich, so wie ich war! Und was hatte Er für mich zu tun vermocht? 0, Er hatte Seinen eingeborenen Sohn für mich dahingegeben, um mich zu retten; ich sollte nicht verloren geben, sondern ewiges Leben haben. Ich Torin aber, hatte zehn Jahre lang gekämpft, um mich selbst zu retten. Kein Wunder, dass es nicht gelang. Wozu wäre der Sohn Gottes gestorben, wenn es für irgend jemand auf
- der Erde möglich wäre, sich selbst zu retten? Ich wollte mir den Himmel verdienen und- der Herr Jesus hatte mir ihn verdienen müssen und langst verdient. Er hatte meine Schuld auf sich genommen und am Kreuze bezahlt Er litt und starb -dort als der Gerechte für mich, die Ungerechte. Und durch den Glauben an Ihn, indem ich auf Ihn und auf Sein Werk mein ganzes Vertrauen setzte, sollte ich gerettet werden! Ja, und ich vertraute auf Ihn. Eine andere Hoffnung hatte ich ja nicht mehr. 

Auf Ihn, auf J h n allein,  musste ich mein Heil gründen, wenn ich gerettet werden sollte. Weil ich aber auf Ihn vertraute, konnte ich - nicht verloren gehen, sondern war gerettet und hatte Teil am Himmel. Dies machte Gott meinem Herzen klar.
0, welch ein Friede zog da ein in mein Herz! Es wallte über vor Freude und Glück mi Blick auf das unendliche Meer der Liebe Gottes für die verlorenen Menschenkinder' Ein Strom von Freudentränen floss über meine Wangen, und meine Seele nute Gott preisen und erheben, der Seinen eingeborenen Sohn dahingegeben und mich, die Sünderin,
errettet hatte-! -. - - -
Nach nicht langer Zeit verliess ich die Anstalt, indem Verwandte mich zu sich holten. Dort besuchte mich nach Jahren ein gläubiger Christ, der mir die freudige Mitteilung machte, dass- für blinde das Wort Gottes auf erhabener Schrift -gedruckt worden sei, so dass diese -es mit den Fingern lesen könnten. -

Einige Tage später schon schickte mir der Freund das Evangelium Johannes zu m Blindenschrift Ich druckte das Büchlein an mein Herz und küsste es vor Freude. Nachdem ich dann auf den Knieen um Seinen Beistand angerufen, dass ich lesen -lernen möchte, machte ich mich - mit Eifer ans Buchstabieren. Oft blieb ich nachts auf und las bis morgens 2-3 Uhr und länger noch und lernte. 0, wie glücklich war ich, als ich dann das 3 Kapitel im Evangelium Johannes lesen durfte und - den kostbaren Spruch fand:
«Also hat Gottdie Welt geliebt!» -
Jetzt besitze ich das ganze Neue Testament und das 1. Buch Mose und den Propheten Daniel in Blindenschrift. Kann ich nachts nicht schlafen, dann nehme ich mir das teure Gotteswort zur Hand und lese -- ohne dass ich erst Licht anzünden müsste - was Gott uns in Seinem ewigen Wort hat schreiben lassen. So hat Gott mir Licht geschenkt, das da leuchtet in's ewige Leben. Ja, ich bin es inne geworden: «Gott ist Licht» und «Gott ist Liebe». -

Wiedergeboren oder- nicht?
Missionar Wilkinson reiste, von einigen seiner bekehrten Hindus begleitet, in den Vierzigerjahren durch die wilden Gegenden Orissa's, einer ostindischen Provinz. Nachdem er lange durch eine Einöde gewandert war, in welcher mir Raubtiere und gefährliche Schlangenarten hausten, stiess er eines Tages zu seiner -grossen Freude - auf eine - englische - Militärstation und wurde vom kommandierenden Offizier freundlich in sein Zelt geführt und zum- Essen eingeladen. Als nun der Missionar im Laufe des Gesprächs seinen Gastwirt mit dem Zwecke sjner Reise bekannt -machte, sagte dieser: «Sie sind also desa1h den weiten Weg von England hergekommen, um die -Hindus zu bekehren?»-

Kein Job für eine Lady, Cathy Marie Hake

01/11/2024
von Christ-und-Buch Günter Arhelger

Kapitel 1 New York, 1890
Rexall Hume stützte seine Hände auf den Schreibtisch und beugte sich mit wutverzerrtem Gesicht331139.jpg?1704990922372 nach vorne. „Sie haben meine Geduld lange genug strapaziert, Lady Hathwell. Ein Jahr und einen Tag warte ich nun schon.“
Sydney Hathwell erwiderte unerschrocken seinen Blick. „Sie wollen damit sicher nicht andeuten, dass mein Vater nicht das angemessene Trauerjahr verdient hätte?“
„Welches vor zehn Tagen vorbei war.“ Hume schritt über den aufwendig gewebten Teppich und blieb am anderen Ende des Raumes stehen. Dann drehte er sich wieder zu Sydney um. Mit zusammengekniffenen Augen musterte er sie, als sehe er sie gerade zum ersten Mal.
Sydney stand ruhig da und erwiderte seinen Blick mit Selbstbewusstsein und Offenheit. In der Woche, die sie nun schon hier war, hatten sie gerade einmal drei steife Mahlzeiten miteinander eingenommen. 

Nachdem er die Anordnung gegeben hatte, dass seine Angestellten Sydney und ihrer Tante jederzeit zur Verfügung stehen sollten, hatte er die meiste Zeit mit Geschäften außer Haus zu tun gehabt. Kein Wunder, dass er sie nun anstarrte, als kenne er sie gar nicht.

Was wussten sie schon voneinander? Rein gar nichts. Im vergangenen 
Jahr hatte er sich nicht darum gekümmert, mit ihr Kontakt aufzunehmen. Oh, natürlich hatte er nach dem Tod ihres Vaters eine Beileidsbekundung per Telegramm geschickt. Sie hatte ihm, wie es sich gehörte, mit einer kleinen Dankeskarte geantwortet. Danach hatte jedoch wieder absolute Funkstille zwischen ihnen geherrscht. Sie selbst hatte dieses Schweigen natürlich nicht brechen dürfen. Eine Frau knüpfte nicht von sich aus Kontakt zu einem Mann. Das gehörte sich einfach nicht. 



Ein ganzes Jahr ohne jegliche Begegnung oder Kontaktaufnahme – und dann hatte er ihr plötzlich telegrafiert, dass sie zu ihm kommen sollte. Sie war mehr als überrascht darüber gewesen, aber sie hatte auch gewusst, dass sie dazu verpflichtet war, Hume um sich werben zu lassen. 
Sydney war es allerdings schwergefallen, ihm auf seine Aufforderung hin mehr als nur ihre Ankunftsdaten zu schreiben. Sie hatte niemals ein Bild von ihm gesehen, kannte den Klang seiner Stimme nicht und hatte nicht einmal seine Handschrift gesehen – trotzdem war sie ihrer 
Verpflichtung nachgekommen. Jetzt, wo sie den weiten Ozean überquert und zu ihm nach Amerika gekommen war, sogar unter seinem Dach wohnte, hatte er keinen Versuch mehr unternommen, um sie zu werben. Wie konnte er nur erwarten, dass sie ihre Herzen für immer 
miteinander verbinden würden?
Hume stolzierte mit einem steifen Lächeln im Gesicht auf sie zu. Seine Hände waren genauso kalt wie die ihren, als er sie ergriff. „Sie müssen sich doch nicht aufregen, meine liebe Cindy.“
Cindy! Er will mich heiraten und kennt nicht einmal meinen Namen!
„Ruhig. Ich sehe ja, Sie sind … verstört.“ Er drückte ihre Hand. 
„Manchmal ergeben sich für jemanden wie mich eben unerwartete Geschäftsreisen. So ist das nun einmal, wenn man erfolgreich sein will. Ich hatte gehofft, Sie würden es als Flitterwochen ansehen.“
Vielleicht hatte ich Unrecht. Vielleicht schätzt Hume mich als Beraterin. Vater hat Mutters Meinung immer respektiert und geschätzt. „Soll ich Ihnen etwa bei Ihren Verhandlungen helfen?“„Sie?“ Hume lachte kurz und hart auf. „Natürlich nicht. Wir können 
morgen auf dem Weg zum Bahnhof an der Kirche anhalten. Da Sie 
hier ja niemanden kennen und gerade die Trauerzeit hinter sich haben, 
tut Ihnen eine ruhige Hochzeit sicher gut. In Boston und Philadelphia können Sie dann Museen und dergleichen besuchen, während ich 
mich um meine Geschäfte kümmere. Wäre das nicht wundervoll?“
Sydney befreite sich aus Humes Griff. „Mr Hume, ich habe Ihnen schon einmal gesagt, dass ich befürchte, dass wir nicht zusammenpassen.“
Er stieß einen langen Seufzer aus. „Vielleicht sollten wir das mit der Geschäftsreise vergessen.“
Stellt er mich doch über seine Geschäftsinteressen?
„Wenn ich von der Reise zurückkomme, werden wir heiraten. Das wird Ihnen genug Zeit geben, sich einzuleben und sich um all die unwichtigen Dinge zu kümmern, mit denen Frauen sich eben beschäftigen.“ Er wirkte unendlich zufrieden mit seiner großartigen Idee.
Sydney hatte nicht zum ersten Mal das Gefühl, dass sie hier einem kaltherzigen Mann gegenüberstand. „Mr Hume, es tut mir wirklich leid –“
„Nein, nein.“ Er hob abwehrend seine Hände. „Sie brauchen sich 
nicht bei mir zu bedanken, liebe Cindy.“
Der Butler trat leise ein und räusperte sich. „Entschuldigen Sie, Sir. 
Mr Boland wäre jetzt hier.“
„Ah ja.“ Hume warf Sydney noch einen abwesenden Blick zu. „Sie entschuldigen mich jetzt bitte. Ich muss mich um wichtigere Dinge kümmern.“
Abgewimmelt, als sei sie ein kleines Kind, das um eine Süßigkeit 
gebeten hatte, nickte Sydney kurz und ging die Treppe zu ihren Zimmern hinauf. Sie hatte nun schon zweimal versucht, Mr Hume zu erklären, dass sie ihn nicht heiraten konnte. Er hatte ihre Einwände beide Male ignoriert und sie beiseitegeschoben, als seien sie lediglich lästige 
Nebensächlichkeiten. Sie hatte versucht, ihre Verbindung ehrenhaft zu lösen – jetzt musste sie zu wirksameren Mitteln greifen.
* * *
Fünf Tage später wollte Sydney endlich ihren Plan in die Tat umsetzen. Mitten in der Nacht hörte sie ein leises Klopfen an ihrer Tür und gleich darauf betrat Serena Hathwell das Zimmer. „Tante Serena! Warum bist du um diese Uhrzeit noch wach?“
Serena starrte auf die Hutschachteln, den großen Schrankkoffer und die kleineren Taschen, die im ganzen Raum verstreut waren. „Das Telegramm, das du gestern erhalten hast! Genauso hat es dein Vater mit deiner Mutter gemacht! Hume will seinen Anspruch auf dich geltend 
machen. Wie romantisch! Ich hätte niemals gedacht, dass er der Typ Mann ist, der mit seiner Verlobten durchbrennt. Aber du weißt ja, was man sagt: Stille Wasser sind tief.“
„Romantisch und Hume sollte man nicht im gleichen Atemzug verwenden. Ich kann ihn nicht heiraten.“ Sydney nahm das Kleid, das eigentlich ihr Hochzeitskleid hätte sein sollen, und stopfte es in den großen Schrankkoffer.

„Du reagierst über!“ Tante Serena nahm das mit Spitze besetzte wunderschöne Seidenkleid wieder aus dem Koffer. „Mr Hume ist natürlich nicht der perfekte Traummann, aber welcher 
Mann ist das schon?“ Serena wandte sich zu Sydney und tätschelte ihr die Wangen. „Du bist nur nervös vor der Hochzeit. Das ist alles.“
„Nein!“ Sydney ergriff die Hände ihrer Tante. „Am Montagabend bin ich noch einmal zu ihm gegangen, um einen letzten Versuch zu wagen, mich ihm zu erklären. Ich wusste nicht, dass Mr Jameson noch da war. Zufällig habe ich gehört –“
„Du hast sie belauscht? Sydney!“ Serenas vorwurfsvoller Unterton wich schnell einer gewissen Neugierde. „Was hast du erfahren?“
Hitze stieg Sydney in die Wangen. „Hume hat seinem Freund erzählt, dass ich nur seinen Zwecken diene. Alles, was er will, ist Zugang zum Adelsstand und einen legitimen Erben.“
„Natürlich will er einen Sohn. Das wollen doch alle Männer.“ Serenas Gesicht wurde plötzlich so rot wie das Kleid, das sie trug. „Oh Liebes, ist es das, wovor du dich fürchtest? Deine ehelichen Pflichten?“
Immer noch schockiert von dem, was sie ansonsten gehört hatte, flüsterte Sydney weiter: „Er hat eine Geliebte und will sie behalten.“
„Er ist ein Mann, Liebes. Alle Männer sind Streuner. Das wird dir nichts ausmachen. Du hast seinen guten Namen, seine Kinder und sein Geld. Tu das, was andere Ehefrauen auch tun: Ignoriere seine Taktlosigkeiten.“
Sydney schüttelte ihren Kopf so vehement, dass sich einige Strähnen aus ihren sorgfältig frisierten Haaren lösten. „Ich werde keinen Mann heiraten, der sein Eheversprechen nicht hält. Ich kann es einfach nicht. Außerdem wollte er mir weder eine schöne Hochzeit noch eine 
Hochzeitsreise gönnen. Er wollte auf dem Weg zu einer Geschäftsreise schnell nebenher in einer Kirche heiraten. Während er dann mit seinen Partnern verhandelt hätte, hätte ich mir allein Boston und Philadelphia anschauen müssen. Ist das nicht schrecklich?“
„Dieser Schuft!“ Die stets anständige Serena musste sich zusammenreißen, nicht üblere Schimpfwörter zu verwenden. „Dieser schreckliche Mann verweigert dir eine angemessene Hochzeit? Jede einzelne meiner Verkupplungen hat bisher in einem rauschenden Fest geendet! 
Was für ein Mann würde seiner Frau den wichtigsten Tag ihres Lebens verderben? Du armes Kind! Kein Wunder, dass du das Hochzeitskleid zuerst eingepackt hast. Ich werde dich hier herausholen.“ Eine Sekunde später hatte sie das elegante Kleid in den Tiefen des Schrankkoffers verschwinden lassen.Erleichterung durchflutete Sydney.
„Wie konntest du etwas so Schreckliches so lange für dich behalten?“
„Ich habe so lange nichts gesagt, bis ich Maßnahmen getroffen hatte, 
die uns beiden weiterhelfen werden. Du erinnerst dich doch daran, 
dass Mutter einen älteren Bruder hat, nicht wahr? Ich habe Kontakt zu 
ihm aufgenommen. Onkel Fuller erwartet mich bereits.“
Serena seufzte. „Das kann ich nicht zulassen. Ich bin für dich verantwortlich und ich sage, du kommst mit mir nach Hause. Das ist das einzig Richtige.“
„Immer das einzig Richtige zu tun hat mich doch überhaupt erst in 
diese Situation gebracht. Wäre es nicht an der Zeit, endlich einmal 
etwas Unvernünftiges zu tun?“, warf Sydney ein. 
Serena hörte auf, Sydneys Kleidung zu verstauen. „Oh nein, ich kenne diesen Blick. Du siehst genauso aus wie deine Mutter, wenn sie eine 
ihrer haarsträubenden Ideen hatte. Also, was hast du vor?“
Ihre Tante war wirklich nicht hinters Licht zu führen. Sydney war 
klar, dass sie nun offenbaren musste, was sie eigentlich geheim zu halten gehofft hatte. „Es gab nur ein kleines Missverständnis, das ist alles.“ 
„Was für ein Missverständnis?“
Sydney zuckte mit den Schultern. „Onkel Fuller dachte, dass ich ein 
Mann bin. Wahrscheinlich wegen meines Namens.“
„Aber du hast ihn natürlich aufgeklärt –“ Serena schnappte nach 
Luft. „Sydney!“
„Warte bitte einen Moment. Hör mir zu.“ Sydney ließ ihrer Tante 
keine Zeit zum Nachdenken. „Als Frau alleine zu reisen wäre schwierig. 
Als mein Onkel mich jedoch verwechselte, wusste ich sofort, was zu 
tun ist, um dieses Problem zu lösen.“
Entsetzen breitete sich auf dem Gesicht ihrer Tante aus. „Du kannst 
doch nicht … du würdest doch nicht … Eine Frau aus gutem Hause 
würde niemals Männersachen tragen. Wenn sich das zu Hause herumspricht, wird nie wieder jemand etwas mit dir zu tun haben wollen. 
Dein guter Ruf –“
„Tante Serena, so einem Gerücht würde zu Hause niemals jemand Glauben schenken. Ich muss diese Maskerade doch nur für kurze Zeit aufrechterhalten. Du musst zugeben, dass es mich schützen wird, in Verkleidung zu reisen.“
„Liebling, wie wirst du das nur anstellen? Du hast doch keine Ahnung von Männern und der Welt, in der sie leben.“
Sydney wandte sich ab, um ihr Lächeln zu verbergen. Tante Serena schwankte schon. Noch ein bisschen Überzeugungsarbeit und sie würde nachgeben. „Es kann nicht so schwierig sein. Niemand wird von 
einem Gentleman aus der britischen Aristokratie erwarten, dass er sein 
Gepäck selber trägt oder irgendeine andere schwere Arbeit verrichtet.“
„Selbst wenn du mit diesem skandalösen Plan durchkommst, was 
wirst du dann tun?“
„Ich habe alles schon geplant. Onkel Fuller hat versprochen, dass er 
sich um mein Wohlergehen kümmern wird. Du musst zugeben, dass 
er näher mit mir verwandt ist als Harold. Wenn sich jemand aus meiner Familie um mich kümmern sollte, dann doch wohl er. Ich werde 
im Januar volljährig. Bis dahin werde ich wissen, ob ich wirklich nach 
England gehöre oder nach Amerika, und egal, wie ich mich dann entscheide, werde ich auf jeden Fall endlich finanziell unabhängig sein.“
„Es dauert noch Monate, bis es Januar ist.“
Die ältere Frau schüttelte den Kopf. „Selbst wenn ich deinem Plan zustimmen sollte, würde dir doch nie jemand Hosen verkaufen.“
Wieder musste Sydney lächeln. „Es muss mir auch niemand mehr 
welche verkaufen.“ Sie öffnete eine Schublade und zog drei Hosen und 
doppelt so viele Hemden heraus. „Diese seltsamen Amerikaner haben 
sich nicht einmal gewundert, als ich Männerkleidung gekauft habe.“
Sydney packte die Kleidungsstücke ordentlich in eine Reisetasche, 
die sie unter dem Bett hervorzog. Männerkleidung ist so viel einfacher zu 
handhaben. „Wie schwer kann es schon werden? Männer müssen sich 
nicht der Mode und Etikette unterwerfen. Sie machen, was sie wollen, 
und gehen dahin, wo sie es wünschen. Sicher kann ich die Rolle des 
reichen Neffen eines Gentlemans aus dem Landadel übernehmen.“
Serena starrte die Hemden an. „Was ist mit deinen … äh … hm.“
Sydney sah ihre Tante einen Moment lang an und wartete darauf, 
dass sie zu Ende sprach. Serena tippte sich schnell auf die Brust. Sydney 
ignorierte die Hitze, die ihr in die Wangen stieg. „Ich werde meinen 
Brustkorb mit einer Bandage umwickeln“, sagte sie schnell. „Es kann nicht unbequemer sein, als ein Korsett zu tragen.“

Serena sah sie schockiert an, ließ sich in einen Stuhl fallen und fächelte sich mit der Hand Luft zu. „Es ist schlimm genug, dass du dich wie 
ein Mann kleiden wirst. Aber dann nicht einmal Damenunterwäsche?“
„Ich schaffe das schon. Schau dir nur einmal diesen Mantel an. Er ist perfekt.“ Sydney zog einen hellgrünen Mantel aus den Tiefen der 
Schublade hervor. „Der sieht genauso aus wie der, den Billy Daniels am letzten Weihnachtsfest getragen hat. Also werde ich darin aussehen wie ein Mitglied des Landadels. Die Amerikaner werden bestimmt sogar erwarten, das ich einen solchen Mantel trage.“
„Kind, du rennst in dein Unglück!“
„Tante, ich weiß, was ich tue. Jetzt ist es genug. Wir müssen uns beeilen. Ich habe die Überfahrt für dich schon gebucht. Das Schiff legt erst 
morgen ab, aber das muss ja hier keiner wissen. Wir lassen dich nach 
dem Mittagessen mit der Kutsche zum Hafen bringen.“
„Ich werde bis zum letzten Augenblick bei dir bleiben.“Sydney legte den Mantel zusammen und legte ihn auf die anderen Kleidungsstücke in ihrer Reisetasche. „Ich danke dir, dass du immer 
für mich da bist. Aber dieses Mal wäre es besser, wenn du mir helfen würdest, sie in die Irre zu führen. Stell dir das doch einmal vor – wenn sie merken, dass ich nicht mehr da bin, denken sie, ich bin mit dir nach England zurückgefahren!“
Serena massierte ihre Schläfen. „Irgendetwas stimmt nicht mit mir. 
Ich denke mittlerweile, dass dein Plan nicht verrückt ist – er ist brillant.“
„Ich werde nicht schauspielern müssen, wenn ich morgen früh vor den Angestellten so tue, als würde ich dich bald ganz schrecklich vermissen. Nach deiner Abreise gehe ich in mein Zimmer zurück und warte bis Sonnenuntergang. Dann mache ich mich auf zum Bahnhof. 
Hume wird erst am nächsten Tag von seiner Geschäftsreise zurückkommen. Dann sind wir beide längst auf und davon.“
* * *
Sydney behielt recht. Sie musste ihre Traurigkeit nicht vortäuschen, als sie ihrer Tante Lebewohl sagte. Da sie Angst hatte, dass eines der Zimmermädchen den leeren Schrank bemerken und seine Schlüsse ziehen könnte, konnte Sydney ihre Tante nicht zum Hafen begleiten. 

Sie aß kaum etwas vom Mittag- und Abendessen, das der Koch auf ihr Zimmer schicken ließ. Um Mitternacht klingelte sie dann nach einem Zimmermädchen, das sie sehr befremdet ansah, als Sydney ein Frühstück bestellte. Doch das Mädchen weckte den Koch und der ließ 
ihr das Tablett schicken. Sydney aß den Kompott und die Eier auf, den gebratenen Schinken legte sie zwischen die Brotscheiben und wickelte sie in eine Serviette. Das würde ihre erste Mahlzeit im Zug sein. 
Kurz vor Sonnenaufgang las Sydney noch einmal Onkel Fullers Telegramm. Geld anbei. Erfreut, einen Neffen zu haben. Kein Bedarf an Frauen hier. 
Bring Stiefel, Hosen und Hemden mit. Um den Rest kümmere ich mich. Grüße, Fuller Johnson.
Serena erwartete, dass Sydneys Maskerade auf der Forsaken-Ranch ein Ende haben würde. Sydney wusste es allerdings besser.
Nur ein einziges Detail musste noch geändert werden. Sydney fuhr sich mit der Hand durch ihr Haar. Das ihrer Mutter hatte den gleichen kastanienbraunen Ton gehabt. Sydney war immer mit ihren Haaren 
zufrieden gewesen, obwohl in England blonde Haare der Renner waren. In einem kurzen Anflug von Eitelkeit starrte sie ihr Spiegelbild an. 
Gentlemen trugen ihr Haar ungefähr bis zum Kinn und strichen es 
dann mit Pomade zurück, aber sie konnte es nicht übers Herz bringen, 
ihre Haare derart zu kürzen. Als Kompromiss könnte sie ihr Haar bis 
kurz unterhalb der Schulter schneiden. Das wäre gerade kurz genug für 
einen Mann und zu kurz für eine Frau. Ja, so würde sie es machen. Immerhin hatten Männer wie George Washington, Napoleon und Custard – nein, Custer – ihr Haar auch zurückgebunden getragen. Sydney atmete noch einmal tief durch und fing an zu schneiden.
Nichts.
Sie hatte nicht eine einzige Strähne abgeschnitten. Zumindest dachte 
sie das, als sie ihre leere Hand sah. Vorsichtig öffnete sie die Schere wieder. Da rutschte eine lange Strähne an ihrem Arm entlang und landete sanft auf dem Boden. Sydney starrte sie an, dann blickte sie wieder in den Spiegel. Jetzt gibt es kein Zurück mehr. Sie streckte ihr Kinn vor 
und schnitt weiter. Als sie die Hälfte ihrer Haare abgeschnitten hatte, 
betrachtete sie sich erneut im Spiegel. Lange, lockige Haare auf der linken, kurze, zottig geschnittene auf der rechten Seite. So war ich – und so werde ich sein. Ich schneide mich selbst frei.

Das Feuer sprühte Funken, als Sydney ihre langen Haarsträhnen verbrannte. Nachdem sie die verbliebenen Haare zu einem Pferdeschwanz 
gebunden hatte, zog sie sich eine Hose an. Sofort zog sie sie wieder herunter. Ihre lange Unterwäsche schob sich unter der Hose zusammen und bildete einen dicken Knubbel. Hastige Schnitte mit der Schere lösten dieses Problem. Nachdem der Stoff entfernt war, ließ sich die 
Hose ohne Probleme hochziehen und saß richtig.
Mit kritischem Blick musterte Sydney sich. „Ich sehe immer noch aus wie eine Frau.“ Da das Hemd länger war, als sie gedacht hatte, rollte sie es hoch und stopfte es in den Hosenbund. Das verdeckte ihre weibliche Figur gut genug. Socken und Stiefel vervollständigten ihre 
Verkleidung.
Der dicke, flauschige Teppich dämpfte das Stampfen ihrer etwas zu großen Stiefel, als sie nach unten in die Halle ging. Die schwere Reisetasche legte sie dabei auf das Geländer. Leise rutschte sie neben Sydney entlang.
Zufrieden damit, wie gut ihr Plan funktionierte, erreichte Sydney die Haustür. Der große, eiserne Türknauf fühlte sich kalt an und die Tür wirkte unnachgiebig und schwer. Noch nie hatte Sydney eine andere Tür als die zu ihrem Zimmer öffnen müssen. Überrascht von der 
Schwere der Tür, lehnte sich Sydney mit aller Kraft dagegen. Mit einem plötzlichen Ruck öffnete sie sich. Sydney war völlig überrascht und stolperte mit einer sehr uneleganten Bewegung über ihre Tasche. 
Ein Laut der Überraschung entfuhr ihr.
Besorgt darüber, dass vielleicht jemand die seltsamen Geräusche in 
der Halle gehört haben könnte, rappelte Sydney sich schnellstens wieder auf, packte ihre Tasche und hastete aus der Tür. 
Als Sydney schließlich die Zufahrt zu Humes Haus hinuntereilte, war sie nicht mehr alleine. Oscar, Humes Windhund, wich ihr nicht von der Seite. „Geh nach Hause“, befahl sie.
Oscar gehorchte ihr nicht. Er lief weiter neben Sydney her, als habe sie ihn an der Leine. Vielleicht wäre es gar nicht so schlecht, wenn er sie begleitete. Immerhin war es noch dunkel. „Ich laufe davon. Ich könnte verstehen, wenn du das auch tun würdest. Er ignoriert dich genauso, wie er es bei mir getan hat.“
Nach einer Weile gesellte sich ein Terrier zu ihnen. „Kusch, kusch! Verschwinde!“ Er ignorierte Sydneys Befehl und bellte sie freundlich an. Dann schloss sich ihnen ein dritter Hund an. Sydney bog um eine Häuserecke, ging noch ein paar Schritte und blieb dann stehen. Wo 
der vierte Kläffer plötzlich hergekommen war, konnte sie nicht sagen. 
Verärgert murmelte sie: „Ich versuche, möglichst unauffällig zu sein.“
Vier haarige Hundeschwänze wedelten ihr – unbeeindruckt von ihrem Protest – freudig zu. Der Terrier setzte sich auf ihren Fuß.
„Also ehrlich.“ Sydney beugte sich herab, um ihn zur Seite zu schubsen, kraulte ihn aber schließlich zwischen den Ohren. „Guter Hund. 
Jetzt musst du mich aber in Ruhe lassen.“
Er bewegte sich nicht.
Oscar beschnupperte Sydneys Tasche. 
„Ach das wollt ihr! Ihr seid nicht mehr als eine Bande Bettler.“ Sie 
hörte sich selbst sprechen und zuckte zusammen. Ich höre mich an wie 
ein Mädchen. Mit tieferer Stimme sagte sie: „Jetzt reicht es.“
Als sie ihr mit Schinken belegtes Brot aus der Tasche zog, umringten sie die Hunde. Sie verschlangen den gesamten Schinken und einen Großteil des Brotes. Als sie fertig waren, verschwanden alle Hunde bis auf Oscar. „Geh nach Hause, mein Guter.“ Er blickte sie traurig an. 
Plötzlich war das Geklapper von Hufen und einer Kutsche auf der Straße zu hören. Als das Gefährt vorbeirollte, rief der Insasse plötzlich seinem Fahrer zu, er solle anhalten. 
Sydney gefror das Blut in den Adern. 

Kapitel 2
Er ist es! Das darf nicht sein – er ist viel zu früh! Sydney bekämpfte den Wunsch zu fliehen. Sie konnte Hume nicht entkommen – vor allem nicht in diesen Stiefeln. Ihr einstiger Verlobter öffnete die Tür der Kutsche und kam auf sie zu. „Das ist mein Hund.“
Sydney zuckte nur mit den Schultern. Sie konnte sich nicht auf ihre Stimme verlassen. 
Hume kam näher. Der Geruch von Zigarren und Brandy strömte ihr entgegen – zusammen mit dem Duft eines blumigen Damenparfums. 
„Oscar. Geh nach Hause!“
Oscar trottete mit dem Schwanz zwischen den Beinen von dannen.
„Kenne ich Sie?“ Hume blinzelte sie an.
„Sir“, rief der Fahrer der Kutsche, „kommen Sie?“
„In fünfzig Metern bin ich zu Hause. Das Stück kann ich auch laufen“, rief Hume böse.
„Sie schulden mir einen Dollar.“
Während Hume seine Taschen abklopfte, wagte Sydney einen Blick auf die Kutsche. Sie bemühte sich, barsch zu klingen. „Ich brauche eine Kutsche.“
„Jameson Winthrop! Ich wusste, dass ich Sie kenne. Sie sind Prestons Neffe. Verlassen Sie uns schon wieder?“ Hume klopfte ihr väterlich auf die Schulter. „Bringen Sie den Jungen zum Zug. Hier, nehmen Sie, das wird ja wohl genug sein.“ Mit diesen Worten überreichte Hume dem 
Fahrer einen Geldschein.
Sydney tippte sich an den Hut und murmelte: „Danke sehr.“
Für eine Sekunde wartete sie darauf, dass Hume ihr die Tür öffnen 
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und beim Einsteigen helfen würde. Sofort fiel ihr ihr Fehler auf. Sie 
öffnete die Tür und kletterte plump in die Kutsche. Für die nächsten 
sechs Monate würde sie auf die gewohnten Annehmlichkeiten verzichten müssen, aber diese Erkenntnis entfachte ihre Abenteuerlust nur 
umso mehr.
Während sie sich zurücklehnte, warf Sydney noch einen letzten 
langen Blick auf das, was sie hinter sich ließ. Hume entfernte sich in 
der anbrechenden Dämmerung. Eine Hochzeit mit ihm hätte für sie 
lebenslanges Unglück bedeutet. Es wäre wie ein Gefängnis gewesen. 
Erleichterung durchströmte sie. Sie war entkommen.
* * *
Drei Tage später stand Sydney vor dem Schalter des Chicagoer Bahnhofes und hoffte, ihr Verhalten wäre mittlerweile männlich genug. „Einmal erste Klasse nach Austin. Dann weiter nach Gooding, Texas.“„Wollen Sie einen Schlafplatz?“
Sie nickte.
„Das macht dann einhundertachtzehn Dollar und neunundzwanzig 
Cent.“
Sydney kramte in ihrer Hosentasche. Männer hatten ja keine Ahnung, wie praktisch ihre Kleidung war. Man konnte alles in diese Hosentaschen hineinstopfen. Sie zog sieben Banknoten hervor.
Der Mann am Schalter inspizierte jeden Geldschein genauestens. 
„Die sind alle in Ordnung. Sie würden nicht glauben, wie viele Menschen mir hier Falschgeld andrehen wollen.“ Er sah ihr direkt in die 
Augen. „Mich kann niemand zum Narren halten. Ich erkenne jeden 
Betrug.“
Sydney hielt den Atem an. Weiß er es?
„Hier ist Ihr Wechselgeld, junger Mann. Es dauert noch eine gute Stunde, bis Ihr Zug abfährt.“
„Vielen Dank.“ Sie sah sich im Bahnhofsgebäude um, konnte allerdings keinen Kaugummiautomaten erspähen. Obwohl sie der Meinung war, dass Männer, die Tabak oder Kaugummi kauten, aussahen 
wie Vieh, das sein Futter verzehrte, schien ein Mann scheinbar dennoch immer etwas kauen zu müssen. Vielleicht würde es sie männlicher 
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wirken lassen, wenn sie auch auf etwas kaute. Sie räusperte sich. „Entschuldigung. Gibt es hier keinen Kaugummiautomaten?“
Der Mann am Schalter schüttelte den Kopf. „Dieses neumodische 
Zeug haben wir hier nicht. Der Laden auf der anderen Straßenseite 
führt Kaugummi.“
Sydney hastete über die Straße und beeilte sich, einer Dame, die 
den Laden gerade betreten wollte, die Tür aufzuhalten. „Erlauben 
Sie, Ma’am.“
„Vielen Dank, Sir.“ Die Dame stolzierte in den Laden. Während 
der Angestellte der Dame bei ihrem Einkauf behilflich war, schlenderte Sydney durch das Geschäft. In London war sie in Boutiquen und 
Schneidereien gewesen, aber sie hatte nie die Erlaubnis gehabt, alleine 
einkaufen zu gehen. Dieser Ort war voll von wunderbaren, unbekannten Dingen. Sydney blieb einen Moment stehen, um ihre neu gewonnene Freiheit zu genießen. 
„Ihre Reisetasche können Sie hier bei mir abstellen.“ Der Ladenbesitzer hielt einen Korb hoch. „Hier können Sie Ihre Waren einräumen.“
„Wunderbar.“ Sydney merkte, dass sie ihre Stimme nicht verstellt 
hatte und hustete. „Entschuldigung.“
„Hinter Ihnen steht Dr. Pepper. Das wird Ihnen helfen.“
Sydney griff nach einer Flasche des Getränkes und legte sie in ihren Einkaufskorb. Außerdem erschienen ihr gepökeltes Rindfleisch und Kaugummi als angemessene Dinge für einen echten Mann. Sydney versuchte, nur Nahrungsmittel auszuwählen, die sich auf ihrer Reise 
möglichst lange halten würden. Die Erdbeeren, die sie am liebsten gekauft hätte, ließ sie stehen, aber Plätzchen wären eine gute Alternative. Fünf Tage im Zug bedeuteten, dass sie auf jeden Fall auch in den 
Speisewagen gehen müsste, aber sie hoffte, einige Mahlzeiten umgehen 
zu können, indem sie jetzt klug einkaufte. Die Preise im Zug waren 
überhöht und Sydney wollte Geld sparen, wo es nur ging.
Bis jetzt hatte sie nur wenig geredet. Was Frauen sagen konnten und 
durften, kam immer darauf an, wer anwesend war. Seit dem ersten Tag, 
an dem sie sich verkleidet hatte, war ihr eine Tatsache ins Auge gestochen, die sie so nicht erwartet hätte: Männer änderten ihre Gesprächsthemen und die Art, wie sie redeten, wenn eine Frau anwesend war. 
Onkel Fullers Telegramm ließ sie vermuten, dass sie es auf der Farm 
ausschließlich mit Männern zu tun haben würde. Wenn ihre Maskerade funktionieren sollte, würde sie lernen müssen, sich wie ein Mann zu unterhalten.
Den Männergesprächen um sie herum zuzuhören erschreckte Sydney. Und was sie für Ausdrücke benutzten! Irgendwie hatte Sydney immer gedacht, Männer würden über Familie, Arbeit und Politik reden. 
Sie redeten allerdings kaum über ihre Familien. Männer identifizierten sich nur mit ihrem Handwerk oder Beruf und was die Politik anging – Sydney musste die Zeitung lesen, um überhaupt zu verstehen, worüber die Männer in ihrer Umgebung sprachen. Bis jetzt hatte sie immer nur mit den Schultern gezuckt, wenn man sie nach ihrer Meinung gefragt hatte und geantwortet: „Ich komme aus England.“
Sie ging auf die Kasse zu. „Haben Sie auch Zeitungen?“
„Der Junge an der Ecke verkauft sie.“ Der Ladenbesitzer zeigte in die entsprechende Richtung. „Ich habe aber eine Auswahl an bester Unterhaltungslektüre.“
Sydney wagte das zu bezweifeln. „Das sind doch bestimmt Groschenromane.“
„In der Tat. Sie gehen weg wie heiße Semmeln. Sie sind doch aus England, nicht wahr? Dann werden Sie Westerngeschichten lieben. Buffalo Bill ist ein wahrer Mann.“
„Danke für den Tipp.“ Sydney nahm sich zwei der dünnen Heftchen und legte sie zu ihrem Einkauf in den Korb. Dann räusperte sie sich. 
„Was schulde ich Ihnen?“
„Der Tabak ist heute im Angebot, junger Mann.“ Eine hochgezogene 
Augenbraue ließ diese Aussage wie eine Frage erscheinen.
„Das Kaugummi reicht, danke.“ Nachdem sie ihren Einkauf in ihre 
Tasche gepackt hatte, bestieg Sydney den Zug nach Texas. Eine Meile 
nach der anderen flog vorbei, während Sydney von einem kecken Mann 
namens Buffalo Bill und seinen haarsträubenden Abenteuern las. 
Tapfer erduldete sie den Gestank, der ihre Mitreisenden umgab. 
Die Männer achteten nicht sonderlich auf ihre Körperpflege. Trotzdem wunderte sich Sydney, dass es ihr so leicht fiel, die Rolle des 
jungen englischen Adligen zu spielen. Fast war es zu einem Spiel geworden. Durch das Beobachten und Imitieren der anderen hatte sie 
gelernt, wie sie sich zu verhalten hatte. Allerdings zog sie eine Grenze, 
wenn es darum ging, auf den Boden zu spucken oder den Mund am 
Ärmel abzuwischen.
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Je weiter der Zug fuhr, desto weiter schienen sie sich auch von der Zivilisation zu entfernen. Sie hatte die Amerikaner immer für unkultiviert und undiszipliniert gehalten, aber als die Meilen an ihr vorbeiflogen, fand sie ihr Verhalten und ihre seltsamen Ausdrücke immer 
faszinierender. Wo auch immer sie war – jedes Mal, wenn ihr etwas Seltsames passierte, was sie eigentlich als Frau hätte verraten müssen, schoben die Männer es darauf, dass sie aus England kam. 
Sydney wusste noch nicht, was sie von dieser wilden Umgebung halten sollte. Die Landschaft war wunderschön, offen und unberechenbar. 
Als die Tage vergingen und Sydney nur noch in der Ferne kleine Inseln der Zivilisation erblickte, verstand sie allmählich, dass Texas eine völlig andere Welt war als die, die sie bisher kannte. Ihre Maskerade würde schwieriger aufrechtzuerhalten sein, als sie gedacht hatte.
* * *
Gooding, Texas
Kopfschüttelnd beobachtete Timothy Creighton von dem Rücken seines Pferdes aus, wie der Junge langsam näher kam. Er streckte sich, nahm seinen Hut ab und schüttelte sein kurzes Haar, um sich ein wenig Abkühlung zu verschaffen. Der Junge ging so langsam, dass er immer noch fast an genau der gleichen Stelle zu sein schien wie vor fünf Minuten. Tim lehnte sich weiter nach vorne und kniff seine Augen zusammen, um den Jungen genauer betrachten zu können. 
Das, was er sah, hielt er zuerst für das Ergebnis eines zu arbeitsreichen Tages. Vielleicht hatte Tim zu lange im Sattel gesessen und die Sonne hatte seine Augen geschädigt. Doch auch ein tiefer Schluck aus seiner Wasserflasche änderte nichts an dem Bild, das sich ihm bot.

Fullers Neffe war genau so, wie Tim befürchtet hatte. Schlimmer, wenn das überhaupt noch möglich war. Dieses Kind schien keinen einzigen Muskel am Körper zu haben. Er konnte nicht einmal seine Tasche vernünftig tragen. Er zog seine Füße über die staubige Straße 
wie ein lustloser Schuljunge. Und dann diese Aufmachung – die bunte 
Kleidung. Wo hatte er nur die gelbe Hose her? Und dieser grüne Mantel! Welcher Mann würde freiwillig so etwas anziehen? 
Der Knilch würde es nicht mal innerhalb der nächsten Stunde zur Ranch schaffen, wenn er so weiterschlurfte. Nicht gewillt, dem Jungen den Weg auch nur ein wenig zu erleichtern, zog Tim sanft an den Zügeln seines Palomino und führte ihn so in die entgegengesetzte Richtung. Er hatte noch genug Zeit, um den Wasserstand im Teich zu überprüfen, bevor er nach Hause zurückkehren und den Jungen begrüßen 
müsste. 
„Herr, wenn es dir nichts ausmacht“, betete Tim und erhob seinen 
Kopf gen Himmel, „schick Fuller möglichst schnell hierher zurück. Ich 
habe kein gutes Gefühl, was diesen Jungen betrifft.“
* * *
„Was ist das denn für ein Weichei?“, ächzte Bert, als er den neuen 
Mann die Straße heraufkommen sah.
Tim blieb im Schatten des Stalles stehen und beobachtete die Szene. 
Er war zu dem Entschluss gelangt, dass sein vorschnelles Urteil ungerecht gewesen war. Der Junge verdiente die Chance, sich selbst zu 
beweisen. Wenn Tim sah, wie er mit den Farmarbeitern umging, würde 
er wissen, wie er Fullers Neffen einzuschätzen hatte.
Die Männer schauten auf und starrten in die Richtung, in die Bert 
wies. Anschließend warfen sie sich verstohlene Blicke zu. Dann richteten sie ihre Aufmerksamkeit wieder auf den Jungen. Ungläubigkeit 
machte sich unter ihnen breit, dann fingen sie an zu murmeln. Fuller 
hatte sie zwar gewarnt, dass sein Neffe in Londons besserer Gesellschaft 
aufgewachsen war und nichts über das harte Leben eines Rancharbeiters wusste, aber auf diesen Anblick waren sie doch nicht gefasst gewesen.
„Hab mal einen Leierkastenmann gesehen.“ Pancake spuckte einen 
Klumpen Tabak auf den Boden. „Sein Affe hatte genau so ’ne Jacke 
an.“
Alle Männer mussten bei dieser Äußerung grinsen. Das sagte mehr 
als tausend Worte. Doch Pancake hatte recht. Kein Mann würde freiwillig eine weihnachtsbaumgrüne Jacke mit goldenen Fransen und 
Knöpfen tragen. Tim würde jeden erschießen, der ihm dieses Kleidungsstück anböte, und dann das beleidigende Stück verbrennen ... 
natürlich nachdem er die goldenen Knöpfe abgetrennt hätte.

„Der Affe hat ziemlich gut getanzt. Und mit ’ner Tasse in der Hand gebettelt. Sonst konnte er nix.“ Pancake kratzte seinen üppigen Bauch und murmelte leise: „Könnten Brüder sein.“ 
„Der Affe war bestimmt nützlicher, als der hier sein wird.“ Juan starrte immer noch auf den seltsamen Anblick, der sich ihm bot. 
„Darauf hat Fuller uns wirklich nich’ vorbereitet, oder?“
Gulp fuhr sich mit der Hand über seinen Dreitagebart. Sein großer Adamsapfel hüpfte, als er schluckte, was ihm auch seinen Spitznamen „Gulp“ – schlucken – eingebracht hatte. „Er konnte ja nich’ ahnen, dass es so schlimm sein würde. Heiliger Strohsack, das konnte niemand ahnen.“
Merle unterbrach ihn. „Ich hab auch schon mal so was Ähnliches 
gesehen. Ich bin umgekippt, weil ich ’n bisschen was getrunken hatte, 
und als ich wieder aufgewacht bin, hat sich die Witwe O’Toole über 
mich gebeugt. Das war ’n Schock!“
Spöttisches Gelächter folgte dieser Äußerung. Es gab nur wenige 
Dinge, die schlimmer waren, als von der Witwe O’Toole unter die 
Fittiche genommen zu werden. Die Zunge dieser Frau war schärfer 
als eine Rasierklinge und sie machte keinen Hehl daraus, was sie vom 
Alkoholgenuss hielt.
„Ich sag euch, diese Frau tickt nich’ mehr ganz richtig. Welcher 
Mann kann zu ’n paar Bier schon Nein sagen?“ Noch mehr Gelächter 
feuerte Merle an weiterzuerzählen. Er schwankte vor und zurück wie 
ein Matrose auf Landgang. „Ich sag euch die Wahrheit, Leute. Jeder 
Mann, der in den Armen der Witwe O’Toole aufwacht, betet automatisch um Erlösung!“
Der Fremde kam näher. „Ho!“
„Ho!“, riefen die Männer zögernd.
Fullers Neffe schien ihre Erwiderung für Enthusiasmus zu halten, 
denn er strahlte vor Stolz. „Was für eine überaus freundliche Begrüßung! Ich bin Lord Sydney Hathwell. Mein Onkel erwartet mich.“
„O Lord, hilf ihm“, murmelte einer der Farmarbeiter in die plötzliche Stille hinein.
„Es ist nicht nötig, meinen Titel zu verwenden. Das machen Amerikaner nicht so häufig, wissen Sie?“ Der Junge lächelte. „Aber ja, ich hoffe tatsächlich, meinem Onkel eine Hilfe zu sein. Wie ich schon sagte, er erwartet mich, meine Herren.“

Einen Moment lang schwiegen alle, verblüfft darüber, dass der Junge die Beleidigung nicht verstanden hatte. „Ich wette, dass er dich nicht erwartet“, murmelte jemand anderes. „Auf manche Dinge kann man 
einfach nich’ gefasst sein.“
Mit vorgerecktem Kinn fragte der Junge: „Ist mein Onkel ausgeritten 
oder finde ich ihn im Haus?“
„Er is’ in Abilene. Für ’n paar Wochen oder so.“ Pancake kratzte sich 
wieder gedankenverloren am Bauch. 
„Dann vielleicht meine Tante –“
„Söhnchen, Fuller hatte nie ’ne Frau.“
„Ich verstehe.“ Nachdem er seine Tasche auf den Boden fallen gelassen hatte, musterte der Junge die Männer um sich herum mit hochmütigem Blick. „Hätten die Herren wohl die Güte, wenigstens so höflich 
zu sein und sich vorzustellen?“
Immerhin blickten die Männer ein bisschen beschämt drein. Sie drucksten herum. Schließlich zeigte Merle mit dem Daumen auf jeden der Männer und stellte sie vor: „Bert, Pancake, Juan, Boaz, Gulp. Ich bin Merle.“
Anstatt ihnen die Hand zu schütteln, nickte Hathwell den Männern der Reihe nach zu. „Ich bin erfreut, die Angestellten kennenzulernen.“Angestellte?! Tim unterdrückte ein Stöhnen. Der Junge hatte wirklich keine Ahnung vom wahren Leben. Das hatte er in den letzten Minuten 
zur Genüge bewiesen.
Die Männer starrten Hathwell an. Endlich brach Merle das Schweigen. „Velma is’ zu Etta Sanders gegangen, um ihr mit dem Baby zu 
helfen. Sie is’ seit gestern weg. Wahrscheinlich hatte sie noch keine 
Zeit, dein Zimmer vorzubereiten. Aber geh ruhig rein. Creighton muss 
jeden Augenblick wiederkommen.“
„Creighton?“
Pancake nickte. „Tim Creighton. Er und Fuller sin’ Geschäftspartner. 
Er leitet den Laden hier, wenn der alte Fuller nich’ da is’. Ihm gehört 
ein Viertel von dem Land hier.“
„Ich verstehe.“
Das nahm Tim zum Anlass, endlich aus dem Schatten des Stalles 
hervorzutreten. „Das ist hier kein Kaffeekränzchen. Geht zurück an 
die Arbeit, Männer.“
Sydney Hathwell drehte sich um und starrte ihn an. 

Um nicht zu grinsen, wiederholte Tim seine Aufforderung. „Los, an die Arbeit! Ihr werdet nicht fürs Herumstehen bezahlt.“
Die Männer gingen murmelnd davon. Tim zog langsam seine Lederhandschuhe aus, schlug sie gegen seinen Oberschenkel und wischte sich dann mit dem Ärmel den Schweiß von der Stirn. Auch nachdem er das getan hatte, änderte sich der Anblick, der sich ihm bot, nicht. Wenn überhaupt, sah der Junge noch alberner aus als vorher. Bevor Tim etwas sagen konnte, was er später bereute, erklärte er: „Du hast gehört, was die Männer gesagt haben. Geh zum Haus. Velma ist schon wieder da.“
Der Junge streckte sich, sein inn hob sich etwas. Daran gewöhnt, Männern Befehle zu erteilen, starrte Tim ungerührt zurück. 
Hathwell sah zur Seite. Er zögerte, nahm seine Tasche und nickte. „Also gut.“
Obwohl er sich dazu entschlossen hatte zu gehorchen, musste der 
Junge anscheinend doch das letzte Wort haben. Hathwells Mangel an 
Körpergröße, Kraft und Erfahrung in der Landwirtschaft waren große Nachteile. Aber seine Einstellung – Tim schüttelte den Kopf. Ein 
Knilch wie er konnte alles durcheinanderbringen. Das Erste, was Tim 
tun musste, war, diesem Bürschchen einen Platz und eine Aufgabe zuzuweisen.
Tim Creighton beobachtete den Jungen, wie er zum Haus schlurfte.
Pancake kam zu Tim herüber. „Was war ’n das?“
„Das“, sagte Tim mit Grabesstimme, „ist Fullers Verwandtschaft.“
„Wie zum Henker konnte Fuller sich nur so ’nen Neffen anlachen?“ 
Der Farmhelfer schüttelte den Kopf. „Der is’ ja zimperlicher als die sechs Richardsonmädchen.“
Tim verzog das Gesicht.„Sein Gesicht is’ immer noch so weich wie ’n Babypopo.“„Habe ich gesehen, Pancake.“Der Arbeiter stichelte weiter: „Wenn der Wind hier mal ’n bisschen 
kräftiger weht, haut er das Bürschchen doch um. Hast du seine Hände gesehen, Boss? Weich wie Seide, keine einzige Schwiele zu seh’n. Ich wette, der hat noch nie gearbeitet.“
Tim merkte, dass er diesen Sticheleien ein Ende machen musste. „Er 
ist noch jung.“

„Ja. Seine Stimme kiekst noch. Wenn der überhaupt jemals was in seinem Leben erreicht, wird er wohl Pfarrer. Die feinen Ausdrücke hat er jedenfalls schon drauf.“
Tim warf Pancake einen schiefen Blick zu und behielt seine Gedanken für sich. So gerne er auch einen Kommentar zu diesem extravaganten Bürschchen abgegeben hätte, wusste er, dass es nicht richtig wäre. 
Immerhin war er der Neffe seines Partners. Tim musste also loyal und diskret sein. „Ich kann nicht riskieren, dass Fuller nach Hause kommt und dann dieses Bürschchen hier vorfindet. Wir müssen uns um den Jungen kümmern und etwas aus ihm machen.“
„Da brauchen wir aber ’n Wunder, sonst wird das nix.“
„Mit Wundern kenne ich mich nicht aus, aber mit Männern schon.“
„Boss, du wirst ziemlich genau hinschauen müssen, wenn du an dem Jungen was finden willst, was man in Form bringen kann. Ich hab schon Frauen gesehen, die männlicher war’n als er!“ Pancake lachte kurz. „Die Witwe O’Toole zum Beispiel.“
Tim konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen. Dann sah er wieder bedrückt in Richtung Haus.
„Wenn Fuller nach Hause kommt und diesen Witz von ’nem Mann 
sieht, wird seine Kur umsonst gewesen sein. Er fällt auf der Stelle tot 
um“, warnte Pancake.
„Das wird nicht passieren.“ Tim straffte sich. „Ich werde etwas unternehmen.“
„Was willst du tun?“
Tims Gesichtsausdruck wurde entschlossen. „Was auch immer getan werden muss. Für das Bürschchen wird es aber bestimmt mehr als unangenehm.“
„Das kann ich mir denken, Boss.“ Pancake schüttelte wieder fassungslos den Kopf. „Oh Mann, was denkt der sich nur dabei, solche Klamotten zu tragen?“
„Kleidung kann man ablegen.“
Pancake spuckte seinen Kautabak in Richtung eines Löwenzahnes 
und bewies erstaunliche Treffsicherheit. „Ich glaub nicht, dass aus dem 
noch was wird.“
Tim presste seine Lippen aufeinander. Es gab eben Zeiten, da bot einem das Leben nichts anderes als Gesäßschmerzen, wenn man den ganzen Tag reiten musste. Er hatte zwar keinerlei Lust darauf, aber er war kein Mann, der vor seiner Verantwortung davonlief. Er seufzte tief bei dem Gedanken daran, was ihm die nächsten Tage bringen würden. „Morgen fangen wir damit an, den Jungen zu einem Mann zu machen.“
„Oh nein, Boss!“
„Die Bibel sagt uns, dass wir die Last unseres Nächsten mittragen 
sollen.“
Das Gesicht des Farmarbeiters verdüsterte sich. „Das is’ ein Grund 
dafür, warum ich mich nich’ in der Kirche blicken lasse. Aber wenn 
du schon anfängst, die Bibel zu zitieren, dann denk dran, dass es einen 
Unterschied zwischen der Last deines Nächsten und einer ausgewachsenen Katastrophe gibt.“ Pancake deutete mit der Hand in Richtung 
Haus. „Dieser Junge is’ eindeutig ’ne Katastrophe.“
„Es liegt jetzt an mir, etwas aus dem Jungen zu machen, bis Fuller 
zurückkommt.“
Pancake konnte sich ein Lachen nicht verkneifen. „Soll ich Wetten darüber annehmen, wen von euch wir zuerst beerdigen müssen?“
„Versuch das und du bist der Erste, der hier einen Sarg braucht.“„Is’ ja schon gut, Boss.“
„Hast du nichts mehr zu tun, Pancake? An die Arbeit mit dir.“
Pancake machte sich langsam wieder auf den Weg zur Koppel, doch über seine Schulter hinweg rief er: „Und du hast auch noch was zu tun, Boss. Ich beneide dich nicht um deine Aufgabe. Der Junge wird ’n harter Brocken, denke ich.“
* * *
Sydney ging auf das zweistöckige, mit Schindeln gedeckte Farmhaus zu. Ihr Verstand sagte ihr, dass sie die rauen Kerle hinter sich lassen und sich auf die Aufgaben im Haushalt beschränken sollte, doch ihr Stolz verlangte das Gegenteil von ihr. Sie weigerte sich, den selbst ernannten 
Boss dieser Farm zu ernst zu nehmen. Er würde ihr dieses Abenteuer nicht kaputt machen.
Und was würde das für ein Abenteuer werden! Sydney sah sich um 
und lächelte. Die Ranch war meilenweit von duftenden Wiesen umgeben, auf denen zahllose Kühe grasten. Einige Kälber drängten sich an 
ihre Mütter. Die Luft war vom Gesang der Vögel erfüllt und Tausende 
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wilder Blumen zauberten bunte Tupfen in die Landschaft. In so einer 
Umgebung zu leben konnte weder Mühsal noch Entbehrung bedeuten.
Das Gewicht ihrer Reisetasche zerrte an ihrem Arm und ihrer Schulter. Den Angestellten hier musste mal jemand Manieren beibringen. 
Nicht nur, dass sie sich nicht vorgestellt hatten – sie hatten auch ihr Gepäck geflissentlich übersehen. Und dann dieser letzte Mann, dieser Tim sowieso, dem würde sie schon noch ihre Meinung sagen.
Mama hat immer gesagt, dass selbst die besten Angestellten machen, was sie wollen, wenn der Herr nicht im Haus ist. Dem Aussehen der Ställe und Weiden nach zu urteilen wurde diese Farm vorbildlich geführt. 
Doch jetzt war Onkel Fuller nicht da. Vielleicht war das der Grund für das Desinteresse der Angestellten an seinem Neffen. Nun – es würde sich alles regeln.
Sydney bekämpfte den Impuls, sich noch einmal zu dem schwarzhaarigen Mann umzudrehen. Sie hatte sich fast den Hals verrenkt, um 
zu ihm aufzusehen. Der Staub auf seinen Hosen ließ darauf schließen, 
dass er ein Mann war, der hart arbeitete. Er hatte auch so gerochen, 
als habe er gearbeitet – nach Leder und Schweiß. Aber auch er hatte 
ihr nicht seine Hand zum Gruß angeboten. Sydney konnte nicht beurteilen, ob es daran lag, dass er schüchtern war, oder ob er sich wegen seiner schmutzigen Kleidung unwohl gefühlt hatte. 
Plötzlich traf sie eine Erkenntnis: Der Mann war nicht schüchtern. 
Er hatte sich wegen seines Aufzuges auch nicht geschämt. Er war sogar stolz darauf gewesen. Sein Auftreten brachte ihm den Respekt und den Gehorsam der anderen Männer ein. Ein Lächeln umspielte Sydneys Lippen. Ein Mann zu sein war ... einmalig. Und auch ein bisschen 
lustig.
Sydney ging weiter auf das Haus zu und schaffte es, noch einen Blick auf diesen Tim zu erhaschen. Sogar aus dieser Entfernung sah er so aus, als könnte er alles schaffen, was Buffalo Bill in den Westerngeschichten tat. 
Ihre Stiefel stapften laut über die hölzerne Veranda des Farmhauses. Zu ihrer Linken hing eine gemütliche Schaukel von der Decke. Sydney stellte sich vor, wie es sein würde, dort zu sitzen und ein Glas Limonade zu genießen. Nach der langen Reise konnte sie jetzt endlich ihre schrecklichen Stiefel loswerden, dieser Velma sagen, sie solle ihr einen kühlen Trunk bringen und –

Eine Freundschaft in Atlanta, Elizabeth Musser

01/11/2024
von Christ-und-Buch Günter Arhelger

Perri Ich lernte Dobbs an dem Tag'kennen, an dem meine Welt zusammenbrach. Es war das Jahr 1933. Für die meisten von uns im guten alten Amerika war die Welt schon vor Jahren zusammengebrochen. Aber ich hatte die letzten vier Jahre nahezu unversehrt überstanden. Ich war davon überzeugt, dass mir die Weltwirtschaftskrise in meinem kleinen Paradies nichts anhaben konnte.331452.jpg?1704998052508

Aber dann kam meine Welt mit quietschenden Bremsen zum Stehen, zeitgleich mit Herbert Hoover - am letzten Tag seinerPrä-sidentschaft. Die Banken brachen zusammen und rissen um mich alles mit sich.
Eigentlich fing der Tag gut an. Eine positive Spannung lag an diesem Samstag in der Luft. Ich hatte lange geschlafen, war aber trotzdem noch müde von der Feier der Studentenverbindung an der Georgia Tech. Mama weckte mich wie gewünscht um zehn, und nachdem ich Frühstückseier und Maisgrütze hinuntergeschlungen hatte, setzte ich mich zum Rest der Familie ins Wohnzimmer, wo auf der Anrichte unser Radio stand.
Die Kommentatoren beschrieben voller Begeisterung die Szenerie in Washington, D. C. „Menschenmassen drängen sich auf dem gut vier Hektar großen Areal, stehen auf den Bürgersteigen und Rasenflächen und warten auf den zukünftigen Präsidentet.
Mama, Daddy, meine jüngeren Geschwister Barbara und Irvin und ich rutschten so nah wie möglich ans Radio. Jimmy und Del-lareen, unsere schwarzen Diener, waren mit ihren fünf Kindern auch da. Mama hatte sie eingeladen, damit sie hören konnten, wie Mr Roosevelt seinen Amtseid ablegte. Normalerweise arbeiteten sie nur die Woche über bei uns.
Es war, als hielte Amerika die Luft an und wartete darauf, dass dieser neue Präsident uns von uns selbst erlösen würde. 

Ich war vor Anspannung ganz nervös und Mama hatte ihr Sonntagslächeln aufgesetzt, aber Daddy machte keinen Hehl aus seiner düsteren Stimmung. Daddy war Banker und an jenem Morgen des 4. März 1933 hatte selbst die letzte Bank in den Vereinigten Staaten ihre Türen geschlossen. Das ganze Land fürchtete sich - na ja, war gelähmt vor Angst, traf es vielleicht besser.
Während wir auf die Antrittsrede warteten, ging Mama zu Dad-dy und gab ihm einen Kuss auf die Wange. „Holden, glaub mir, Mr Roosevelt kriegt das Land wieder auf Kurs."
„Zu spät, Dot", war alles, was er sagte.

Typisch, dachte ich und ärgerte mich, weil er drauf und dran war, diesen historischen Moment zu ruinieren. Auch wenn er Grund hatte, pessimistisch zu sein. Als Vorstandsmitglied der Georgia Trust Bank hatte er angesichts der Wirtschaftslage wenig Hoffnung auf ein Wunder.

„Er wickelt die Leute mit seinen schönen Worten um den Finger, dieser Roosevelt", sagte Daddy. „Aber was er konkret machen will,
hat er noch nicht ein einziges Mal gesagt. Seine Reden bestehen aus blumiger Rhetorik mit einem Schuss Humor. Aber was wirklich dahintersteckt, weiß kein Mensch."
Mama tätschelte Daddys Hand und zuckte verständnisvoll mit den Schultern. Im Hintergrund hörten wir Musik und dann und wann leitete der Ansager kurze Werbepausen ein, in denen für
Coca-Cola, Sears, Roebuck and Company oder Haverty's Furniture geworben wurde. Schließlich kam die Rede des neuen Präsidenten.
Dellareen ermahnte zwei ihrer Jungs, die auf dem Boden saßen und sich zankten. Ich saß auf dem Wohnzimmertisch, die Füße auf Ir-vms Schoß, und niemand scheuchte mich runter.
Ich glaube, wir beteten alle um ein Wunder. Ganz Amerika brauchte eins - vom Banker bis zur Haushaltshilfe Republikaner,
Demokraten, Alte und Junge. Ich war ziemlich froh, dass Herbert Hoover nicht mehr Präsident war. Ich hatte genug von den Elends-
vierteln, die wir nur „Hoovervilles" nannten, und von hundert anderen Sachen, über die wir nur die Köpfe schütteln konnten. Der Gedanke an eineeränderung ließ mein Herz höherschlagen.
Mr Roosevelts Sflrnme kam knisternd durch den Radiolautsprecher und wir beugten uns gespannt vor.
Dieses große Volk wird weiter durchhalten, wie es bisher durchgehalten hat, es wird wieder aujblühen und gedeihen. So lassen Sie mich denn als Allererstes meine feste Überzeugung bekunden, dass das Einzige, was wir zu flirchten haben, die Furcht selbst ist - die namenlose, blinde, sinnlose Angst, die die Anstrengungen lähmt, derer es bedarf um den Rückzug in einen Vormarsch umzuwandeln.
Wir lauschten gebannt, verzückt - außer vielleicht Daddy -‚ ließen uns von seinem väterlichen Ton beruhigen und hörten die zuversichtlichen Ankündigungen, die in meinen Ohren wie der Startpunkt für ein Wunder klangen.
„Und Präsident Roosevelt demonstrierte diese Stärke und den Optimismus höchstpersönlich, indem er sich aus dem Rollstuhl erhob und trotz seiner Gehbehinderung über die Bühne zum Rednerpult schritt", verkündete der begeisterte Radiosprecher nach Roosevelts Rede.
Ich hoffte, dass die Rede des neuen Präsidenten auch Daddys Laune heben würde. Er war im Lauf der letzten Monate imiiier mürrischer geworden. Normalerweise vertraute mir mein Vater vieles an, was seine Arbeit betraf; die mich immer wieder faszinierte. Aber in letzter Zeit war er viel allein im Arbeitszimmer gewesen und gestern Abend hatte ich gehört, wie er sich mit Mama über die Situation in den Banken gestritten hatte.
Mama blickte mit einer Portion Optimismus auf das Leben, was meinen vor sich hin brütenden Vater oft besänftigte. Manchmal machte seine finstere Laune seinen Haaren alle Ehre - sie waren kohlrabenschwarz und es war nicht ein graues dazwischen. Komisch, dass mein Vater, der so oft melancholisch war, jung und frisch aussah, während Mama Ringe unter ihren hübschen grünen Augen hatte und alle zwei Monate ihr dunkelblondes Haar färben lassen musste, ein Luxus, den wir nie als Luxus angesehen hatten, bis Daddy letzten Monat wütend nach Hause gekommen war und der armen Mama den Besuch im Schönheitssalon untersagt hatte.
Aber Mama war erfinderisch und schaffte es auch so, einen neuen Schnitt und neue Farbe zu bekommen - Dellareen kannte sich zum Glück gut damit aus und hatte schon vielen weißen
Damen die Haare gemacht. Ich hatte Dellareen dabei zugesehen, wie sie ihr Gebräu anrührt hatte, und inständig gehofft, dass es funktionieren würde, damit meine Freunde aus Atlanta nicht auf den Gedanken kamen, bei den Singletons wäre die Armut ausgebrochen.
An jenem Samstag Anfang März hatte Präsident Roosevelt die Nation mit seinen Worten besänftigt und ich verspürte so etwas wie Hoffnung.- Ich hatte Freunde, Partyeinladungen und Massen an Verabredungen, und der Präsident würde es schon irgendwie - schaffen, die Wirtschaft wieder auf Trab zu bringen. Und die Banken. Oh, bitte, auch die Banken, vor allem die von Daddy.
„Perri, ich möchte, dass du mich nachher zum Bahnhof begleitest", sagte Mama nach dem Mittagessen. Irvin war schon wieder nach draußen entwischt, um mit seinen Freunden Baseball zu spie- - len. Barbara besuchte ihre Freundin LüIu und Daddy war im Ar-
beitszimmer verschwunden. -
Ich wollte eigentlich meine Freundin Mae Pearl besuchen, um sie zu fragen, was sie von Roosevelts Rede hielt. Missmutig verzog ich das Gesicht. „Och, Mama. Warum?"
‚josephine Chandler holt -ihre Nichte aus Chicago ab. Sie wird den Rest des Jahres bei den Chandlers wohnen und aufs Washington Seminary gehen."
-,‚Sie fängt jetzt mit der Schule an? Im März?"
„Ich glaube, ihre Familie hat es ziemlich hart getroffen und Mrs Chandler hat angeboten, das Mädchen aufzunehmen und für eine
ordentliche Schulbildung zu sorgen." -
Alle hat es hart getroffen, dachte ich und ärgerte mich darüber, dass Mama gerade meine Nachmittagspläne durchkreuzt hatte. - Aber dieses Mädchen hafte echtes Glück. Die Chandlers lebten im größten Haus in unserer Nachbarschaft und veranstalteten fast jede Woche irgendein Fest. Ich kannte jede Menge Mädchen, die ihren - Eistee im August hebend gern gegen einen Besuch im Haus der -
- Chandlers eingetauscht hätten. -
„Holden, wir nehmen den Buick", rief Mama. Mein Vater musste wohl seine Zustimmung gegeben haben, denn kurz darauf fuhren wir schon in Daddys Zweitürer, dem Buick Victory Coup& die Wesley Road hinunter in Richtung Peachtree Street zu den Chand- lers. Daddy liebte sein Auto so sehr, dass er Mama eigentlich fast nie damit fahren ließ.
Dann hat er bestimmt wegen Mr Roosevelt gute Laune, dachte ich.
Mama war wie immer etwas nervös beim Fahren, aber obwohl das auf mich abfärbte, ließ ich mir nichts anmerken. Mrs Chandler wartete schon auf uns und ihr Fahrer stand bereit, um uns im Pierce Arrow Cabriolet zum Balinhöf zu bringen. Oh, was für ein elegantes Auto! Mrs Chandler stieg auf der Beifahrerseite ein und Mama und ich kuschelten uns auf dem Rücksitz aneinander, während der Frühlingswind uns die Haare durcheinanderwirbelte.
„Das Mädchen heißt Mary Dobbs Dillard. Sie ist sechzehn oder siebzehn und wird in deine Klasse gehen, Perri." Mrs Chandler drehte sich beim Reden um und ihr perfekt frisiertes Haar wehte etwas durcheinander. „Ich hatte sie jahrelang nicht gesehen und als ich dann letzten Herbst in Chicago war, musste ich feststellen, wie schwer es meinen Bruder und seine Familie getroffen hat. Ich bestand darauf, dass Mary Dobbs hierherkommt. Sie ist ziemlich intelligent und hat eine gute Schulbildung verdient." Mrs Chandler sah kurz nach vorn.
„Mein Bruder Billy meint es natürlich gut. Er möchte wohltätig sein, aber ich hafte den Eindruck, seine Familie hungert, während er großzügig seine Almosen gibt. Ich wollte ja eigentlich die beiden jüngeren Schwestern auch herholen, aber Billys Frau Ginnie meinte, sie seien zu jung, um von zu Hause wegzugehen."
Ich stellte mir - Mrs Chandlers Nichte vor - dürr, hohläugig, schüchtern und ausgehungert. Mrs Chandlers Bruder sah in meiner Vorstellung aus wie der Mann auf Dorothea Langes Foto mit dem Titel „White Angel Breadline". Darauf waren müde Männer zu sehen, die für Brot anstanden. In der Mitte war ein Mann der Kamera zugewandt Er hatte einen abgewetzten Hut auf dem Kopf und lehnte sich über einen Holzzaun, auf dem eine Blechtasse stand, um die er die Arme gelegt hafte. Er sah bettelarm aus. Dorothea Lange war meine Heldin damals Wie sie wollte ich auch fotografieren können.
Wir hielten vor dem stattlichen Bahnhof mit seinen Bögen und Türmchen. 

Mrs Chandler, Mama und ich beeilten uns, das Gleis ausfindig zu machen, an dem das arme Mädchen aus meiner Vorstellung gleich ankommen sollte. Ein paar Minuten Später stieg - Mary Dobbs Dillard in einer Wolke aus Rauch und Dampf aus dem Zug und es verschlug mir den Atem.
Ich war vom ersten Augenblick an von ihrer Erscheinung gefesselt. Mary Dobbs War das hübscheste Mädchen, das ich je gesehen hatte, aber auf eigenartige, unkonventionelle Art. Ihre Haut war leicht gebräunt - und stand damit in starkem Kontrast zu der vornehmen Blässe, die bei uns Mode war. Ihre dichten, schwarzen Locken, die bis zur Taille reichten, trug sie offen. Ihre Augen waren tiefschwarz - wie große, ovalförmige Onyxsteine - und ihr Gesicht war genauso oval, mit hohen Wangenknochen und einer Haut, die noch nie ein Pickelchen verunstaltet hatte, da war ich mir sicher. Sie war zierlich und nicht besonders groß, aber zugleich wirkte sie stark und entschlossen. Das ausgeblichene dunkelblaue Baumwollkleid, das sie trug, hing an ihr herunter.
Vielleicht hatte ihre Familie ganz schön zu kämpfen, aber Mary Dobbs sah weder schüchtern noch kleinlaut aus. Sie stand gerade, die Schultern zurückgeschoben und auf ihrem hübschen Gesicht spiegelte sich Erstaunen.
„Hallo, Mary Dobbs", sagte Mrs Chandler und legte ihr freundlich eine Hand auf die Schulter.
Mary Dobbs stellte ihren kleinen Koffer ab. Er war grauweiß, hatte etliche Schrammen und wies viele Gebrauchsspuren auf, um es positiv auszudrücken. Sie schlang die Arme um Mrs Chandler. „Ich freue mich ja so, endlich hier zu sein, Tante Josie!"
Etwas überrascht löste sich Mrs Chandler vorsichtig aus Mary Dobbs' Umarmung. „Na, na. Schön, dass du heil angekommen bist." Dann wandte sie sich an Mama und mich. „Mary Dobbs, ich möchte dir eine gute Freundin vorstellen. Das ist Mrs Singleton und das ihre Tochter Perri."
Mary Ddbbs begutachtete uns, zeigte ihre perfekten Zähne und griff nach meiner Hand, um sie im nächsten Moment kräftig zu schütteln. „Freucmich", sagte sie, und fügte dann leise hinzu „Mey sagt keiner zu mir. Ich heiße einfach Dobbs.”
Ich wurde rot.
„Also schön, Mary Dobbs", sagte Mrs Chandler, „dann lasse ich den Chauffeur mal deine Taschen holen."
Sie gab dem Fahrerein Zeichej%, aber Dobbs schüttelte den Kopf und zeigte auf ihren alten Koffer. „Mehr habe ich nicht."
Mrs Chandler sah wieder ziemlich überrascht aus, aber nur für einen kurzen Augenblick. „Na schön, wenn das alles ist, dann können wir ja fahren." Der Fahrer nahm den Koffer und ging uns voraus.
Auf dem Weg nach Hause saß ich zwischen Mama und Dobbs. Fasziniert beobachtete ich, wie ihre lange schwarze Mähne wie eine Fahne auf der Maiparade im Wind flatterte. Ich kannte kein anderes Mädchen mit langen Haaren.
Mama stieß mich heimlich an, was wohl so viel bedeuten sollte wie Sag irgendwas, Pen-i! Also fragte ich: „Warst du schon mal in Atlanta?"
„Ein oder zwei Mal, vor langer Zeit. Ich kann mich nicht mehr an viel erinnern, aber mein Vater hat mir einiges über Atlanta erzählt."
„Dann kommt er von hier?"
Dobbs sah mich zweifelnd an. „Natürlich. Mein Vater ist doch Mrs Chandlers Bruder. Er ist in dem Haus aufgewachsen, in dem sie wohnt."
Mir wurde heiß. Natürlich. Was Ar eine dumme Frage!
Ich wollte ihr sagen, was für ein großes Glück sie hatte, in dieses riesige Haus zu ziehen, aber das wäre nicht höflich gewesen.Und egal welche Fehler ich sonst haben mochte, ich wusste wann ich höflich zu sein hatte, vor allem jetzt, wo Mama neben mir saß. Ich wollte Dobbs nach ihrem Leben in Chicago fragen,- aber angesichts dessen, was Mrs Chandler erzählt hatte, wäre das wohl auch unhöf-lich
nhö&lich gewesen.
Also herrschte Schweigen.
Mami versuchte ein Gespräch in Gang zu bringen. „Perri, Liebes, warum erzählst du Mary Dobbs nicht ein wenig von deiner Schule, von den Mädchen in deiner Klasse? Das interessiert sie bestimmt."
Ich machte ein finsteres Gesicht. Es schien sie nicht nur zu interessieren, sie schien geradezu gierig danach zu sein. Ihre Augen waren groß vor Erwartung und das störte mich. „Die Schule heißt Washington Seminary. Das weißt du bestimmt schon
 „Oh ja!", unterbrach mich Dobbs. „Washington Seminary, dabei

Dani Pettrey, Dünnes Eis, Leseprobe

01/10/2024
von Christ-und-Buch Günter Arhelger

Dani Pettrey Dü n n e s Ei s

Piper fuhr auf. Trotz der Dezemberkälte war ihr Schlafanzug vom Schweiß ganz feucht.
Was war das?
Ihr verschlafener Blick fiel auf die Uhr – 1:30 Uhr – und dann auf Aurora, die wie eine Wache an der Schlafzimmertür stand. Das weiße Fell des Huskys zuckte auf seinem Rücken, die Ohren waren aufgestellt.
Piper zog die verknoteten, mit Schneeflocken bedruckten FlanellBetttücher fort, in denen ihre Beine sich verfangen hatten, und lauschte.
Da war es wieder. Ein Knarren der Bodendielen im Stockwerk unter ihr. Schwere Schritte. Nicht die von Kayden. Aurora sprang an der Tür hoch und legte die Pfoten an den ramponierten Türrahmen. Ein tiefes Knurren kam aus ihrer Kehle.
Piper stieg aus dem Bett, wobei sie den Kälteschock an den Füßen ignorierte, und durchquerte das Zimmer. Sie zog die Tür einen Spaltbreit auf und spähte in die Dunkelheit hinaus. Wieder drang ein Knarren vom Flur im Erdgeschoss herauf. Die Schritte blieben am Fuß der Treppe stehen.


Aurora winselte und schob ihre Schnauze in die Türöffnung. Piper wollte Auroras Halsband packen, war aber nicht schnell genug. Aurora stieß die Tür auf und lief auf den Gang hinaus.
Piper folgte ihr, aber ihre Schwester hielt sie zurück – mit einem Gewehr in der Hand. Kayden ließ Piper los und hob dann warnend den Zeigefinger an ihre Lippen.
Sie schlichen den Gang entlang, während Aurora knurrend die Treppe hinunterjagte.
Eine männliche Stimme ertönte unter ihnen, eine Art Grunzen.
Dann fiel etwas Schweres zu Boden. Kayden richtete den Gewehrlauf auf das Durcheinander im Untergeschoss. „Mach das Licht an“, flüsterte sie.
Piper betätigte den Schalter.
Aurora stand in Habachtstellung etwa dreißig Zentimeter von
dem Mann auf dem Boden entfernt. Er zog den Arm von seinem
Gesicht und blickte auf.
„Reef?“ Piper starrte ihren Bruder entsetzt an. „Ist das Blut?“

Landon Grainger leerte das Glas mit Rum in einem Schluck und spürte, wie die Flüssigkeit heiß wie Feuer durch seine Brust sickerte. „Sieht aus, als müsstest du Kummer runterspülen, Officer.“ Becky Malone drehte sich auf ihrem Barhocker und beugte sich vor, bis der würzige Duft ihres Parfüms ihn in der Nase kitzelte.
Er stellte das leere Glas auf den Tresen und gab dem Barkeeper ein Zeichen, es wieder aufzufüllen. „Hast du eine Ahnung.“
Sie fuhr mit dem Finger über den Rand ihres Glases. „Oh, du wärest überrascht, was ich alles weiß.“ Ihr selbstbewusster Tonfall erschreckte ihn. War er so leicht zu
durchschauen?
„Liebeskummer ist mir nicht fremd.“
Landon zog eine Grimasse. Offenbar war er so leicht zu durchschauen. „Noch einen?“, fragte der Barkeeper und hielt die Flasche über Landons leeres Glas.
Er zögerte, obwohl er vergessen wollte. Vergessen musste … Aber dieser Drang war es, der ihn mit einem Mal vorsichtig werden ließ. Er wollte einen Absturz vermeiden. „Lieber ein Bier.“ Er musste gehen. Er musste nach Hause fahren. Nur noch ein Bier, dann war
es genug. Er hätte die Bar überhaupt nicht betreten sollen.

„Weißt du“ – Becky rutschte näher, bis ihr Oberschenkel seinen berührte – „ich finde immer, Gesellschaft ist die beste Medizin gegen Liebeskummer.“
Er hätte gerne gefragt, warum sie so sicher war, dass sein Drang zu vergessen von Liebeskummer herrührte. Doch er wus ste, dass die Frage ihn nur noch angreifbarer machen würde. Wenn Becky den Namen von Piper erwähnen würde …
Piper. Landon hielt den Hals der Bierflasche mit zwei Fingern und setzte sie an seine Lippen. Merkwürdig, wie schnell alte Gewohnheiten zurückkehrten. Wenn er nicht aufpasste, würde er sich irgendwann am Fuß des rutschigen Abhangs wiederfinden, an dessen Rand er sich gerade bewegte. Er war zu lange vernünftig gewesen,
um sich nun von seinem Kummer so weit zurückwerfen zu lassen.
„Was meinst du?“ Becky fuhr mit ihrem Finger seinen Brustkorb hinunter und verursachte ein ebensolches Brennen wie der Rum. „Ich bin richtig gut darin, Gesellschaft zu leisten.“
„Da bin ich mir sicher, aber …“ „Immer dieses Aber …“ Sie schüttelte den Kopf. „Das ist ein Teil
deines Problems.“ 
Er trank einen schnellen Schluck von seinem Bier, warf einen Zehner auf den Tresen und erhob sich. Becky legte den Kopf schief und lächelte. „Ist das eine Einladung?“
Sie drehte sich ihm ganz zu. Sein Blick wurde unwillkürlich von ihren langen Beinen zwischen dem Rand ihres schwarzen Mini-Jeansrocks und dem Schaft ihrer roten Krokodillederstiefel angezogen.
„Bist du für unser Alaskawetter nicht ein bisschen zu dünn angezogen?“ Thanksgiving lag gerade hinter ihnen, und sie hatten schon minus zehn Grad und Schnee. Sie kam aus Yancey und müsste es eigentlich besser wissen.
„Ach, Süßer.“ Sie stand auf und strich ihren Rock glatt. „Ich weiß schon, wie ich mich warm halten kann.“
Wärme klang gut. Er hatte genug von seiner inneren Kälte und Einsamkeit und es war ihm schmerzlich bewusst geworden, dass aus Piper und ihm wohl nie etwas werden würde. Er verdrängte die Erinnerung an die Ereignisse des Abends.
Beckys Finger schoben sich zwischen seine. „Warum feiern wir diese Party nicht irgendwo weiter, wo wir ungestört sind?“ 

„… es könnte wie Weisheit erscheinen, wäre da nicht die Warnung meines Herzens.“
Warum hatte er den Herrn der Ringe als Jugendlicher so oft gelesen? Es gab so viele Zeilen, die in sein Gedächtnis eingegraben waren.
„Nur ein paar Drinks unter Freunden“, sagte sie und führte ihn zur Tür.
„Und dann?“ Er wusste genau, was sie danach wollte.
„Und dann …“ Sie nahm ihren Mantel von der Garderobe, stieß
die mit kitschigem roten Lametta geschmückte Tür auf und zog ihn
auf den Parkplatz hinaus.
Tariuks eisige Seeluft traf mit beißender Kälte seine wettergegerbten Wangen und holte ihn in die Realität zurück.
Becky schlüpfte in ihren Mantel und zog ihn fest um sich. „Und dann … sehen wir einfach, was sich richtig anfühlt.“ Nichts von all dem hier fühlt sich richtig an. „Ich weiß das Angebot
zu schätzen …“ 
„Aber?“
„Aber …“ Er seufzte und blickte zu der Weihnachtsbeleuchtung hinüber, die der Wind an einem Ende losgerissen hatte und die in regelmäßigen Abständen gegen die Dachrinne von Hawkings
Pub schlug. Es war nicht gerade eine der feineren Lokalitäten von Yancey, aber auf einer Insel, die so klein war wie Tariuk, hatte er kaum einen anderen Ort finden können, um Abstand zu gewinnen. Sie lächelte. „Ich habe dir doch gesagt, dass dieses Aber ein Spielverderber ist.“
Sein Handy klingelte und ihr Blick wanderte zu seiner Hosentasche. „Ich muss drangehen.“
Sie machte keine Anstalten, ihn loszulassen.
„Grainger.“
„Tom hier.“
Becky schmiegte sich an ihn.
Er versuchte, sich aus ihrem Griff zu befreien. „Das ist jetzt kein guter Zeitpunkt.“
„Das kann man wohl sagen.“

„Was ist los?“
„Wir haben einen Mordfall.“
Landon schluckte zwei Schmerztabletten, um sich gegen die Kopfschmerzen zu wappnen, die der Alkohol mit Sicherheit verursachen
würde. Er fuhr mit einer Hand am Steuer, während er den Rest
seines Energydrinks in sich hineinschüttete. Er hatte versucht, die
Erinnerung an den frühen Abend auszulöschen oder wenigstens zu
ertränken, aber nach ein paar Drinks und einer Beinahe-Katastrophe mit Becky schien alles nur noch fester in sein Gedächtnis gegraben zu sein. Was früher eine wirksame Form der Flucht gewesen
war, fesselte ihn jetzt und betonierte in seiner Erinnerung alles ein,
was er zu vergessen versuchte.
Er zerquetschte die leere Getränkedose in seiner Faust.
Was war nötig, um Piper zu vergessen? Um zu verhindern, dass
der Schmerz quälend langsam seine Eingeweide verzehrte?
Er warf die zerknautschte Dose auf den Boden unter dem Beifahrersitz und beschleunigte.
Abgesehen von seinem eigenen Auto war die Straße wie leergefegt. Sie erschien ihm wie ein langer, dunkler Abgrund, der sich vor
ihm auftat. Eine Zeit lang war er am Rand des Abgrunds entlanggewankt, aber heute Abend … Er umklammerte das Lenkrad, und
der Schmerz zog durch seine Arme bis in sein Herz. Der heutige
Abend hatte ihn über die Klippe getrieben. Die Wirklichkeit hatte
ihn getroffen wie ein Blitzschlag.
Als er Piper zusammen mit Denny Foster bei Coles und Baileys
Verlobungsfeier gesehen hatte, war es ihm schmerzlich klar geworden: Irgendwann würde es Pipers Verlobung sein, dann ihre Hochzeit. Und er würde am Rand stehen und mit ansehen müssen, wie
die Frau, die er liebte, ihr Leben einem anderen versprach.
Vor ihm tanzte der schwache Schein roter Lichter in der gleißenden Helligkeit einer Flutlichtanlage. Landon blinzelte geblendet
und hielt neben einem Streifenwagen mit Blaulicht. Er holte tief Luft und stieg aus seinem Pick-up. Innerlich wappnete er sich für das, was ihn erwartete.

Der gefrorene Boden knirschte unter seinen Stiefeln, als er an dem provisorischen Lagerplatz der Midnight Sun Extreme-Sportveranstaltung – bestehend aus einer Reihe Wohnwagen und Zelte
– vorbeiging. Er steuerte auf die Trailside Lodge zu, das Hotel, in dem die Sportler untergebracht waren. Der sonst so urige und friedliche Ort wimmelte nur so vor  Geschäftigkeit. Das Flutlicht schien die Verwirrung noch zu vergrößern und die Hektik zu verstärken.
Eine Menschentraube stand draußen und beobachtete den Sheriff und seine Mitarbeiter, während diese den Bereich vor dem Hotel absperrten. Die etwas mehr als fünfzig Gäste, überwiegend Snowboarder und Skiläufer – Konkurrenten in der Sportveranstaltung
–, wurden so mehr oder weniger durch das Absperrband in einem Streifen neben dem Haupteingang eingepfercht. 
Deputy Tom Murphy entdeckte ihn in der Menge und kam auf ihn zu.
„Wer hatte denn die schlaue Idee mit dem Flutlicht?“
Tom räusperte sich und deutete mit dem Kopf auf Sheriff Slidell.
Landon seufzte. Natürlich. Landons Boss war ein gewählter Beamter ohne vorherige Polizeierfahrung und schwankte zwischen
beinahe völliger Tatenlosigkeit bei einem Fall und blindem Aktionismus beim nächsten.
Trotz seines Amtes hatte Bill Slidell nicht die geringste Ahnung
davon, wie man einen Tatort zu behandeln hatte. Das wurde nun
wieder mehr als deutlich.
„Wenn der Bereich gesichert ist, können wir vielleicht die Scheinwerfer ausmachen. Wir brauchen den Leuten schließlich nicht noch
mehr Angst einzujagen, als sie ohnehin schon haben.“
Tom tippte an seine Mütze. „Alles klar.“
Landon betrat die Hotellobby und stellte erstaunt fest, dass das
Feuer in dem großen gemauerten Kamin brannte und auch die Beleuchtung am Weihnachtsbaum noch eingeschaltet war. Die riesige, über drei Meter hohe Fichte berührte fast die Holzdecke. Die Flammen, die sich in den silbernen Christbaumkugeln spiegelten, ließen das Feuer in dem ansonsten leeren Eingangsbereich noch heller erscheinen. Andy Miner, der Eigentümer und Manager des Hauses aus dem neunzehnten Jahrhundert, kam aus dem Hinterzimmer. „Bin ich

froh, dass du hier bist, Landon. Slidell hat alle meine Gäste aus dem
Bett geworfen und in die Kälte rausgescheucht. Und dabei ist es
beinahe zwei Uhr morgens.“
Landon warf Tom einen Blick zu.
Tom zuckte mit den Schultern. „Befehl vom Boss.“
Er zog eine Grimasse. „Du kannst Slidell sagen, wenn der Tatort abgesperrt ist, gibt es keinen Grund, die Leute nicht wieder ins Haus zu lassen. Sag ihm, sie werden kooperativer und einfacher zu befragen sein, wenn sie sich nicht zu Tode frieren.“ Ganz zu schweigen davon, dass man sie besser im Auge behalten kann.
„Alles klar. Willst du auf mich warten oder allein raufgehen?“
„Wo ist sie?“
„Damenumkleide, oberster Stock.“
„Wer ist oben?“
Tom räusperte sich. „Slidell wollte, dass wir hier unten suchen.“
„Und ihr habt den Tatort eines Mordes unbewacht gelassen?“
„Wir haben den Eingang mit Band abgesperrt und da alle Gäste
hier draußen sind …“
Landon ging zum Treppenhaus und nahm zwei Stufen auf einmal, während er in den siebten Stock hinauflief. Sein Herz hämmerte im Rhythmus mit dem Geräusch seiner Stiefel auf den Betonstufen. Es half ihm, wenn das Blut in seinen Adern pulsierte und das Adrenalin strömte, bevor er einen Tatort betrat, so als wollte er das Herz hochfahren, damit es den Schock besser verkraften konnte, den es erwartete. Seiner Erfahrung nach traf es ihn dann nicht so hart –
jedenfalls nicht körperlich.
Er verließ das Treppenhaus, als Tom gerade aus dem Aufzug trat. „Ich dachte, du redest mit Slidell darüber, das Flutlicht auszuschalten“, warf er Tom entgegen. Slidell würde den Vorschlag, die Gäste ins Haus zu lassen, von Tom wesentlich eher annehmen als von ihm. Nach dem letzten Mordfall, in dem sie gemeinsam ermittelt hatten, war es Landon so erschienen, als hätten er und sein Chef endlich einen gemeinsamen Nenner gefunden. Doch jetzt, wo Slidells Wahlkampf für die Wiederwahl in vollem Gange war, wurde
sein Boss mit jedem Tag mehr Politiker und weniger Polizist.
„Das werde ich auch, aber ich muss dir erst noch was sagen.“
„Was denn?“

„Ich wollte vor Andy nicht davon sprechen, obwohl ich sicher bin, dass er es weiß. Wahrscheinlich wissen es inzwischen alle.“
„Was wissen alle?“
Tom rieb sich den Nacken. „Die Zeugen … sie sagen …“
„Zeugen?“ Konnten sie so viel Glück haben? „Sie haben den
Mord mit angesehen?“
„So gut wie. Sie haben den Killer dabei ertappt, als er gerade fertig war. Er hatte das Blut des Opfers überall an sich.“ Es kam nicht oft vor, dass es bei einem Fall gleich einen solchen
Durchbruch gab. „Erzähl mir der Reihe nach, was passiert ist.“ „Eine der Sportlerinnen sagte, sie hätte vorhin etwas hier oben vergessen.“
„Hast du ihren Namen?“ Bitte sag, dass du sie nach ihrem Namen gefragt hast.
„Moment.“ Tom zog einen kleinen Notizblock aus seiner Hemdtasche. Er schlug ihn auf und überflog die Seite. „Ashley Clark.“
Landon notierte sich den Namen. „Gut. Und weiter?“
„Also ist sie mit ihrem Freund hier heraufgekommen, um es zu holen.“
„Der Name des Freundes?“
„Tug Williams, auch ein Teilnehmer bei dem Wettkampf.“
„Okay.“ Landon schrieb den Namen auf.
„Sie steigen aus dem Aufzug und gehen den Flur hinunter. Sie hören Geräusche aus der Damenumkleide, also streckt Ashley den Kopf rein. Da sieht sie das Opfer tot in den Armen des Killers, die Mordwaffe hat er noch in der Hand.“ „Wir haben den Täter in Gewahrsam?“ Warum hatte Tom das nicht gesagt?
„Ich fürchte nicht. Er hat mit Tug gestritten, bevor er an ihm und
Ashley vorbeigestürmt und abgehauen ist.“
Gestritten? „Die Zeugen kannten den Verdächtigen?“
„Das ist richtig.“
„Und, wer ist es?“ Warum druckste Tom so herum?
„Es wird dir nicht gefallen …“
Ein mulmiges Gefühl machte sich in Landons Magen breit. „Eine Frau ist ermordet worden. Daran gefällt mir gar nichts.“ „Der Mörder ist Reef McKenna.“

Landon wurde es schwarz vor Augen. „Reef?“ Das konnte nicht sein. „Beide Zeugen haben ihn identifiziert.“ Das wird Piper umbringen. „Hat Slidell schon die Fahndung ausgeschrieben?“
„Nein. Er hat uns nur beauftragt, die Gäste zusammenzutrommeln und den Umkreis abzusperren.“
Er bezweifelte, dass Reef auf dem Gelände geblieben war. „Irgendeine Ahnung, wo er ist?“
„Keinen Schimmer. Sollen wir jemand zu seiner Familie schicken?“ „Das mache ich selbst.“ Wenn jemand es ihnen beibrachte, dann würde er es sein.

Welche Biographie sollte man gelesen haben?

12/18/2023
von Christ-und-Buch Günter Arhelger
  • Bismarck: Sturm über Europa von Ernst Engelberg: Eine Biografie über Otto von Bismarck, die sich auf seine politischen Errungenschaften konzentriert 
  • Pilgerreise zur seligen Ewigkeit von John Bunyan: Eine religiöse Autobiografie, die das Leben des Autors beschreibt und seine Reise zum christlichen Glauben dokumentiert
  • Die Frau und das Tier - Geschichte, Gegenwart und Zukunft der römischen Kirche von Dave Hunt: Eine kritische Analyse der römisch-katholischen Kirche
  • An die Eltern meiner Enkelkinder von G.C. Willis: Eine Sammlung von Briefen, die sich an die Enkelkinder des Autors richten und Ratschläge für ein erfülltes Leben geben
  • Die sanften Hügel von Darjeeling von Catherine Palmer: Eine Biografie über das Leben einer Frau, die in Indien aufgewachsen ist 

Der Rächer von Schloss Fenwick, Hunter James H.,

07/28/2023
von Christ-und-Buch Günter Arhelger

Der schwarze Rächer

Es war im Jahre 1685. Die Junisonne goss ihre goldenen Strahlen über die etwas verfallene Pracht von Schloss Fenwickl  mit seinen Schutzwällen und Türmen, seinen gepflegten Rasenflächen, ausgedehnten Wäldern und üppigen Gärten.
An diesem warmen Junitag hatten sich ein älterer und zwei junge Männer zum Mittagsmahl im großen Speisesaal des Schlosses niedergelassen. Der Raum war dreizehn Meter lang und sieben Meter breit, und seine Decke bestand aus einem Gitter dicker Eichenbalken. Wildschwein-, Wolfs- und Hirschfelle bedeckten den steinernen Fußboden. Im Kamin war frisches Holz aufgestapelt.
Der Mann am Kopfende des Tisches war eine imposante Erscheinung. Trotz seiner siebzig Jahre war seine Gestalt ungebeugt und volller Lebenskraft. Er war gewiss über einen Meter achtzig groß, und seine breiten Schultern verrieten große körperliche Kraft. Diese Gestalt hätte auf rücksichtsloses Durchsetzungsvermögen schließen

lassen können, doch dem widersprachen der edel geformte Kopf mit der langen Mähne grauen Haares, die freundlichen blauen Augen und das ernste Gesicht, in das Angst und Leid tiefe Furchen gegraben hatten. Das Haus Fenwick hatte böse Zeiten gesehen, und nun, im Alter Donalds des Guten, mehrten und verdichteten sich die drohenden Schatten.

Als im Jahre 1559 John Knox nach Schottland zurückgekehrt war, hatten sich die von Fenwick zusammen mit anderen schottischen Edlen dem Protestantismus verschrieben, weil sie mit der Annäherung der königlichen Politik an Frankreich unzufrieden waren. 1638 unterzeichnete Donald, Herzog von Fenwick, auf dem Kirchhof von Greyfriars in Edinburgh zusammen mit vielen anderen Schotten die Gründungsurkunde des schottischen Glaubensbundes. Sie verpflichteten sich, die neugegründete Presbyterianische Kirche von Schottland mit Leib, Leben und Gütern zu unterstützen und zu verteidigen und das Papst- und Prälatentum und alle verkehrten Formen des Glaubens auszurotten.

Zwischen den beiden jungen Männern, die mit ihm am Tisch saßen, bestand ein auffälliger Kontrast. Obwohl beide ihn Vater nannten, war doch deutlich, dass sie nicht blutsverwandt waren. Sie waren beide in ihrem einundzwanzigsten Jahr. Der junge Mann auf
der linken Seite hätte in jedem Kreis durch seine auffallende Schönheit hervorgestochen. Er hatte das wie in Kupfer gestochene Gesicht eines Patriziers, glatte Haut, glänzende schwarze Augen und ein energisches Kinn. Dass er schön war, war nicht zu leugnen, doch sein gutes Aussehen mochte nicht jedermanns Geschmack sein. Seine Lippen waren zu dünn, und in seinen Augen glühte bisweilen Hass. Sein Stiefvater, Gilbert Crawford von Maybole, war ein guter Freund des Herzogs von Fenwick gewesen. Während seiner Garnisonzeit in Edinburgh hatte er Senora Amanda de Ferrari kennengelernt und geheiratet, die Witwe des Grafen de Ferrari. Sie war mit ihrem Sohn
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nach dem Tode ihres Gatten in die schottische Hauptstadt gekommen. Die Ehe dauerte nur drei Jahre, bis die Senora starb und ihr Gatte ihr ein Jahr später ins Grab folgte. Vor seinem Tod ersuchte
Gilbert Crawford seinen alten Freund, sich des Waisenknaben anzunehmen. Auch Donald Fenwicks Sohn hatte bereits seine Mutter verloren, und so hatte der Herzog den damals zehnjährigen Jungen mit sich nach Hause genommen. So kam Luis Salvador de Ferrari in das Haus Fenwick und nahm den Namen seines Wohltäters an, womit er auch alle Rechte und Privilegien eines Fenwicks erlangte.
Dem jungen Mann, der ihm gegenübersaß und den Kopf eines großen, schwarzen Jagdhundes an seiner Seite streichelte, konnte,man ansehen, wie sein Vater vor einem halben Jahrhundert ausgesehen haben musste. 

Duncan Fenwick war genauso groß, mit denselben breiten Schultern, der kräftig gebauten Figur, dem braunen Haar und den klaren blauen Augen, die sein Vater besaß, aber sein Aussehen hielt einem Vergleich mit dem seines Adoptivbruders kaum stand. Seine Züge waren so grob, dass man ihn fast
hätte hässlich nennen können, wären nicht der offene und ehrliche Gesichtsausdruck gewesen und der Humor, der gewöhnlich aus seinen Augen blitzte. Doch heute war sein Gesicht verfinstert,
und seine Augen blickten besorgt zum Vater hinüber.
»Aber Vater«, sagte er, »warum meint Ihr, sie würden uns jetzt behelligen? Warum sollten sie uns gerade jetzt verhaften, nachdem sie uns all die Jahre in Frieden gelassen haben?«
Der andere junge Mann sagte nichts, doch sein forschender Blick war auf den Mann gerichtet, den er Vater nannte.
Eine Zeit lang schien es, als hätte Donald Fenwick die Frage seines Sohnes überhört. Er starrte ins Leere, und seine Gedanken weilten in der Ferne. Die Sonne vergoldete das lebhafte Grün des Rasens, das Heidekraut und die Farne, die von Schloss Fenwick bis zur alten Straße nach Maybole den Abhang des Berges bedeckten. Weit im Süden konnte man den Shalloch und den Minnoch, die höchsten Gipfel der Pentlands, in das Blau des Himmels ragen sehen. In dem feierlichen Schweigen, in das die drei Männer verfallen waren,
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konnten sie das Rauschen des Girvan hören, der auf dem Weg zum Meer zwischen waldigen Ufern an dem kleinen Weiler Craigfin vorbeifloss. Heide und Ginster, Wald und Wasser, Berge, Täler, Hochmoore und Schluchten, der Gesang der Lerchen und das Blöken der Lämmchen, alles verwob sich zu einem wunderbaren Bild, auf das die milde Sonne herabstrahlte wie die Liebe Gottes aus der Herrlichkeit des Himmels. 

Reinigung schienen ihre Strahlen zu verheißen, die Reinigung Schottlands von dunklen Taten unmenschlicher Menschen, die ihre Landsleute erschlugen, nur weil diese die Kirche Christi, sein Reich und seinen Glaubensbund liebten.
Donald Fenwick fuhr aus seinen Gedanken auf und wandte sich dem Sohn und seiner Frage zu.
»Mein Junge«, sagte er, »ich weiß, dass uns die Feinde des Herrn nicht mehr lange in Frieden lassen werden. Der Feuerofen wird noch siebenmal heißer gemacht werden, und mancher wird sein Leben
opfern müssen, wenn das Papsttum in Schottland nicht den Sieg erringen soll. Wohl stimmt es, dass Charles, der Hauptübeltäter, tot ist. 

Er starb, wie er lebte, seine Huren um sich, seine Seele sündenbeschmutzt, von Menschen der Vergebung versichert, aber von Gott verdammt. Ein paar Worte eines antichristlichen Priesters sollten ihm helfen, aus den Armen Delilas in den Schoß Abrahams zu springen. Doch ich fürchte, mein Junge, dass unser Land immer mehr von Unruhen heimgesucht werden wird, solange noch ein papistischer Stuart auf dem Thron sitzt. Wie der große Apostel Paulus weiß ich, dass der Tag meines Scheidens nicht mehr fern ist. Unsere Feinde wissen, dass wir viele der Bergbewohner geschützt haben, und werden bald ihre Wut an mir auslassen. 

Dass sie mir mein Leben nehmen können, bedeutet mir wenig. Die meisten meiner Freunde sind
mir schon vorausgegangen. Deine liebe Mutter ist auch dort drüben auf der anderen Seite. Dort sind ein Cargill und ein Cameron, ein Eccles, Horne, McCarron, McHarrie, McWhirter, Rodger und viele
andere tapfere Männer und Frauen, für die diese Welt zu schlecht war. Warum sollte ich länger ausgenommen sein? Und wenn die Opferung meines armen Lebens den Tag der Befreiung Schottlands
beschleunigen könnte, wie gern würde ich es weggeben und zehntausend andere Leben, wären sie mein!«»Aber warum müsst Ihr Euer Leben wegwerfen?«, warf Luis ein.

»Sicher geht es nicht um unverrückliche Prinzipien, wenn man sich der Befragung unterzieht und dem König als Haupt des Reiches und der Kirche Treue und Ergebenheit schwört. Gibt es nicht das schottische Sprichwort: ›Bück dich, damit dich die Welle nicht trifft!‹?
Warum sollte man sich da nicht ein klein wenig bücken?«
Donald Fenwick sah seinen Adoptivsohn an, und Tränen standen ihm in den Augen.
»Mein Junge, du weißt wenig vom Wort Gottes und von der Wahrheit, die wir in Jesus Christus haben. Ich fürchte Gott und ehre den König, wie es die Schrift befiehlt, und wie du wohl weißt, bete ich täglich für ihn. Doch das Haupt der Kirche ist Christus allein, und in der Sache Christi gibt es kein ›Bücken‹. Mein Junge, ich fürchte, das Papsttum, in dem du aufgewachsen bist, und das Prälatentum, das du in St. Andrews aufnahmst, haben dich für die Lehre Christi verdorben. Möge der Herr dich aus dieser Falle Satans erretten.«
Der junge Mann, dem diese Worte galten, wurde rot vor Zorn, und aus seinen schwarzen Augen loderte Feindseligkeit. Er öffnete den Mund, um etwas zu sagen, verschluckte aber dann mit
sichtlicher Anstrengung seine Worte. Als er seine Fassung wiedergewonnen hatte, sagte er:
»Sicherlich seht Ihr diese verrückte Bande von psalmensingenden Demagogen, die für eine bestimmte Art der Kirchenverwaltung gleich zum Märtyrer werden wollen, nicht in demselben Licht wie die studierten und ehrwürdigen Prälaten und Theologen der katholischen Kirche? Übrigens waren es ja diese, die das Licht der Gelehrsamkeit durch die Jahrhunderte hindurch leuchten ließen und der Nachwelt diese Bibel erhielten, auf die Ihr Euch fortwährend beruft.«

Wenn Donald Fenwick über die Worte des jungen Mannes traurig war, so zeigte er es nicht. Er war diese Ausbrüche gewöhnt und hatte nur eine Freundespflicht erfüllt, als er den Knaben unter die Obhut von Männern gegeben hatte, die über die Dinge des Glaubens anders als er dachten. Er liebte den jungen Mann wegen seines Widerstandes gegen die Wahrheit nicht etwa weniger, sondern eher mehr. 

Wie David über seinen abtrünnigen Sohn Absalom Schmerz empfand, so hatte auch Donald Fenwick Mitleid mit seinem Pflegesohn. »Es war Gott, mein Junge, der sein Wort bewahrte. Die Instrumente, die er dazu benutzt, wählt er selbst aus, und manchmal lässt er es auch zu, dass eine schwarze Hand ein helles Licht trägt. Die Männer des Glaubensbundes sind keine verrückten Enthusiasten, wie du
annimmst, und streiten auch nicht um eine bloße Besonderheit der Kirchenverwaltung. Sie wollen eine reine Lehre und eine freie Kirche, und vor allem wollen sie alle Menschen vor den Gnadenstuhl
Christi bringen. Sie suchen das Martyrium ebenso wenig wie Stephanus oder Paulus oder die glorreiche Schar unter der Herrschaft Neros, die lieber von den Löwen zerrissen wurde, als der Diana auch nur ein wenig Weihrauch zu opfern.«

»Aber Eure Bibel lehrt Euch auch, den König zu ehren«, war die gereizte Entgegnung. »Und Gott zu fürchten«, fügte der alte Mann ernst hinzu. »Ich gehorche Seiner Majestät, dem König, so lange, wie er dem Gesetz und Gott gehorcht. Das solltest du in den Jahren, in denen du unter meinem Dach lebtest, gelernt haben.« Der junge Mann öffnete den Mund zu einer Entgegnung, besann sich aber eines Besseren und erhob sich ohne ein weiteres Wort.
»Wenn mein Vater mich entschuldigen möchte«, sagte er mit einer Verbeugung. »Ich habe einige Tage in Edinburgh zu tun.« Als er gegangen war, schlug der alte Mann einen Gong neben dem Kamin
an. Der Diener, der daraufhin erschien, war mindestens ebenso alt wie sein Herr. »Du kannst die Tafel abräumen, Farson«, sagte Donald Fenwick, »und danach möchte ich mich mit dir unterhalten.«
»Sehr wohl, mein Herr«, erwiderte der alte Bedienstete mit dem Ausdruck äußerster Ergebenheit und Zuneigung. »Wenn ich mit Farson geredet habe, werde ich dich draußen auf der Terrasse treffen, Duncan.«

Sein Sohn nickte ernst und ging hinaus in den strahlenden Sonnenschein. Gerade als er dabei war, das friedliche Bild vor seinen Augen in sich aufzunehmen, begegnete ihm sein Adoptivbruder,
gestiefelt und gespornt für seinen Ritt nach Edinburgh. »Ich fürchte, die Tage unseres Vaters sind gezählt«, sagte Luis, als sei das eine feste Tatsache.
Duncan fuhr zusammen. »Warum sagst du das?«, fragte er. Sein Gegenüber zuckte mit den Schultern. »Du bist doch nicht taub«, war seine ungeduldige Antwort. »Du hast ja gehört, was er sagte. Er erwartet Claverhouse und seine Dragoner jederzeit. Das wird das Ende sein.«
»Nein, Bruder, das wird nur der Anfang sein«, sagte Duncan ernst. »Aber du erwartest sie scheinbar auch.«
»Was soll das heißen?«, fragte Luis ärgerlich. »Genau das, was ich sagte, Luis. Du hast den Geist eines Jesuiten
und das Herz eines Judas. Mein Vater bot dir ein Heim und eine Ausbildung, weil er die Wünsche deines Stiefvaters respektierte. Er hat dich ernährt, dich gekleidet, dich mit seiner Zuneigung überhäuft und versucht, dich auf den schmalen Pfad zu führen, der zu Gott führt. Wie hast du es ihm gedankt? Mit Hohn, Spott, Gleichgültigkeit und, wie ich vermute, noch weit Schlimmerem.«
Luis war blass geworden, doch er schwieg. Nur das Flackern seiner Augen zeigte, wie groß der Hass war, den er mühsam zurückhielt.
»Lass uns nicht streiten, Duncan«, sagte er schließlich. Hart und drohend war seine Stimme. »Es tut mir leid, dass ich deinen Gefühlen zu nahe getreten bin. Menschen sterben jeden Tag, und keine
Stunde schlägt, in der nicht Hunderte vom Tod, dem letzten Feind, gerufen werden. Ich möchte nur gern wissen, welchen Weg du gehen würdest, sollte deines Vaters Prophezeiung sich als wahr erweisen.«

Duncan sah den Mann, der vor ihm stand, furchtlos an, und derm Blick seiner blauen Augen schien bis ins Innerste des Spaniers zu dringen. »Ich gehe den geraden, den schmalen Weg, den Weg des Glaubensbundes, des Kreuzes und der Krone!«, sagte er mit aller Leidenschaft seines frommen Herzens. Luis’ Augen funkelten vor Überraschung und Erregung.
»Adios«, sagte er. »Dann trennen sich unsere Wege hier, und wenn Gott nicht noch ein Wunder tut, dann wirst du – wie eines eurer langweiligen schottischen Sprichwörter sagt – den Faden deines eigenen Schicksals spinnen und ich den meinen.«
Er kehrte auf dem Absatz um und verschwand um die Ecke des Gebäudes. Einige Augenblicke später hörte Duncan das Klappern der Hufe seines Pferdes auf der Straße nach Maybole, und im gleichen Moment fühlte er die Hand seines Vaters auf seiner Schulter.
»Setz dich, mein Sohn«, bat Donald Fenwick und zeigte auf eine Bank neben ihnen.
Eine Weile saßen Vater und Sohn schweigend nebeneinander. Das Bild der Landschaft vor ihren Augen, vergoldet vom Licht der Sonne und leuchtend wie an einem Frühlingstag, hielt sie in seinem Bann.
»Ich bin froh, dass Luis nicht hier ist«, sagte der Vater leise, »denn ich möchte mich gern mit dir allein unterhalten.« Duncan wagte nicht zu sprechen und nickte nur. »Welchen Weg wirst du gehen, wenn ich von dir gehe, Duncan?«
Erstaunt blickte ihn sein Sohn an, wurde ihm diese Frage doch schon zum zweiten Mal innerhalb kurzer Zeit gestellt.
»Luis fragte mich vor wenigen Augenblicken dasselbe, Vater.«
»Das überrascht mich nicht. Was antwortetest du ihm?«
»Müsst Ihr noch fragen? Ich sagte ihm, dass mein Weg der Eure sei und kein anderer.«
»Ich danke dir, mein Sohn«, war die einfache Antwort. »Doch höre mir zu. Eines Tages wird diese große Finsternis des Schreckens aufhören, und Schottland wird frei sein. Ich werde es nicht mehr erleben, doch du wirst diesen Tag sehen. Du hast einen starken Körper, und dein Geist ist ihm ebenbürtig. Ich bezweifle, dass dir in Schottland oder England ein Mann an Stärke gewachsen ist.

 Wenn ich auch weiß, dass der Herr kein Gefallen hat an eines Mannes Schenkeln, so hat er uns doch einen Körper gegeben, den wir achten sollen als den Tempel des Heiligen Geistes. Ich habe dich in der Kunst des Ringens und des Schwertkampfes alles gelehrt, was ich weiß, damit du ein Kämpfer seist, der für die Schwachen eintritt und den Unterdrückten aufhilft. Bist du in Edinburgh je in einem Kampf besiegt worden?«
»Niemals, Vater, obwohl ich mehr als hundert Freundschaftskämpfe ausgetragen habe. Ich glaube, es war die Zähigkeit der Fenwicks, die mich in vielen Kämpfen durchgebracht hat. Wir sind ja
dafür bekannt, dass wir nie wissen, wann wir genug haben.«
Donald Fenwick lächelte. »Das Einzige, was ich niemals ganz gebilligt habe, Duncan, war deine Schauspielerei«, sagte er.
»Aber Vater, sie hatte doch kaum etwas zu bedeuten und hat meine Studien in keiner Weise beeinträchtigt. Es war nur ein harmloser Zeitvertreib, dass ich in meinen Räumen Personen zu imitieren versuchte. Ihr wisst, Vater, dass ich mich jeder Person anpassen kann, die ich kenne oder von der ich gelesen habe. Ich passe mich niemals dem Charakter an, sondern was ich zu sein vorgebe, das bin ich für eine Weile selbst.«
Der alte Mann nickte zustimmend. »Ich weiß, mein Sohn, ich weiß. Schon in den Tagen deiner Kindheit hattest du diese eigenartige Fähigkeit, jeden Menschen genau nachzuahmen, auch wenn
du ihn nur wenige Augenblicke gesehen hattest. Gott hat dich mit dieser Gabe beschenkt, damit du sie in seinem Dienst gebrauchen kannst – selbst wenn wir jetzt noch nicht wissen, wie. Ich glaube,
dass du in diese Zeit des Reiches hineingeboren werden musstest.

Hör mir zu. Im Jahre 1661 war ich in Edinburgh, als James Guthrie, die Hände gefesselt, die High Street entlang zur Hinrichtungsstätteder Stadt schritt. Wir nannten ihn Sicherfuß, denn sicheren Fußes ging er den Weg der Gerechtigkeit. Ich hörte seine letzten Worte, als er sich auf dem Schafott umdrehte und zur Menge sagte: ›Ich rufe Gott zum Zeugen an, dass ich dieses Schafott nicht für Palast und Bischofsmütze des größten Prälaten in Britannien eintauschen würde.‹ Ich sah, wie er gehenkt und dann geköpft wurde und wie sein Haupt auf das Untertor gesteckt wurde, wo es noch heute hängt.

Als ich ein Jahr später wieder zu diesem Haupt emporblickte, sah  Das Haupt James Guthries hing dort 25 Jahre lang. ich einen kleinen Knaben an meiner Seite. Er mochte sechs Jahre alt
sein, und Tränen liefen seine Wangen hinunter. ›Mein kleiner Mann‹, sagte ich zu ihm, ›hier gehörst du nicht hin. Dies ist kein Ort für dich.‹ Bis an mein Lebensende werde ich den Anblick seines Gesichtchens nicht vergessen, als er mich ansah und sagte: ›Herr, das ist das Haupt meines Vaters.‹ Es war der kleine Willie Guthrie, der Sohn des Märtyrers.«

Donald Fenwicks Stimme versagte, und das Gesicht seines Sohnes war aschfahl. »Wie lange noch, o du heiliger und wahrer Gott; wie lange noch hältst du nicht Gericht und rächst unser Blut?«, flüsterte der Vater.
»Hilf, Herr! Die Heiligen haben abgenommen, und der Gläubigen
sind wenig unter den Menschenkindern.«
»Was geschah mit Willie Guthrie?«, fragte Duncan, als sein Vater
wieder Herr seiner Gefühle war.
»Vor einigen Jahren starb er, ein frommer, junger Gelehrter mit einer vielversprechenden Zukunft. Er wurde begraben, während seines Vaters Haupt noch immer auf dem Untertor bleichte«, war die traurige Antwort. »Wie du weißt, mein Sohn, haben wir seit jenem Tag den Bundesgenossen geholfen und ihnen hier Zuflucht gewährt, wenn sie sich vor Claverhouse und seinen Unholden verstecken mussten. 

Weiß übrigens Luis von dem Geheimzimmer und dem Tunnel zum Fluss?«
Duncan schüttelte den Kopf. »Ich bin sicher, er weiß nichts davon. Er war lange Zeit in St. Andrews, und wenn er auch weiß, dass wir hier Männer des Glaubensbundes verborgen haben, so war es doch
meist im Winter, wenn er nicht hier war. Das Zimmer und den Tunnel kennt er nicht. Vater, ich habe Luis niemals getraut und bin sicher, dass er uns übelwill.«
Sein Vater seufzte und nickte.
»Ich weiß, mein Junge, ich weiß, wir müssen jeden Tag mit einem Besuch der Dragoner rechnen. Duncan, wenn sie kommen, um mich zu holen …«
»Sollen wir kämpfen?«, unterbrach ihn sein Sohn. »Wir würden schon mit ihnen fertig werden.«

Der alte Mann schüttelte den Kopf. »Es wäre nutzlos und würde zu nichts führen. Mein Leben ist bald vollendet, aber das deine beginnt erst – und ein lebendiger Hund, Duncan, ist immer besser als ein
toter Löwe«, fügte er lächelnd hinzu. »Du wirst Schloss Fenwick verlassen und in die Berge gehen müssen. Nimm deinen stählernen Bogen mit und deine Pistolen, damit du der Schrecken unserer
Feinde bist, wie der Schwarze Douglas es für die Engländer war, als er mit Robert Bruce für die Befreiung Schottlands kämpfte. Ich habe
mit Farson gesprochen, und er will versuchen hierzubleiben, bis die
Sache des Herrn triumphiert und seine Kirche frei ist. Doch schau,
wir bekommen Besuch.«
Die beiden sahen eine Gestalt über die mit Gras und Farn bedeckten Berghänge auf das Schloss zukommen. Als sie näher kam, erkannten die Beobachter, wer es war.
»Es ist Peden«, sagte Donald Fenwick. »Armer, alter Sandy; er
bringt schlechte Nachrichten, fürchte ich.«
Alexander Peden war eine der malerischsten Figuren der verfolgten Bundesgenossen. Achtundzwanzig Jahre lang hatte er selten in einem Bett geschlafen. Sein Heim waren die Schlupfwinkel und Höhlen in den Bergen von Ayrshire und Galloway, sein Lager bestand aus Heidekraut und Farn, seine einzige Decke im Sommer war oft nur der Himmel über ihm. Seine häufigen Voraussagen über sein Schicksal und das anderer hatten ihm den Titel »Peden der Prophet« eingebracht. Die beiden Männer beobachteten ihn, wie er mit eiligen Schritten über den Abhang auf sie zukam. Seine Gestalt war klein, aber sein Körperbau athletisch. 

Er trug eine Schottenmütze, unter der sein langes, dunkles Haar zerzaust hervorsah. Das Gesicht
war fahl und eingefallen, doch seine dunklen Augen blickten scharf und durchdringend um sich. Seine Kleidung bestand aus einem kurzen Mantel, ausgebeulten Hosen, langen Strümpfen und alten, derben Schuhen. Als ihn Donald Fenwick erkannt hatte, hatte er Farson sofort eine Mahlzeit herrichten lassen.
»Seid uns gegrüßt, Sandy, und willkommen auf Schloss Fenwick«, rief er, als Peden zu ihnen heraufgekommen war.

»Ich wünsche Euch und Eurem tapferen Sohn Duncan einen guten Tag, auch wenn es ein trauriger Tag für die Presbyterianische Kirche Schottlands ist. Ich bringe schlechte Nachrichten, Donald.«
»Berichtet uns während des Essens, Sandy. Ich sehe, dass Euch Farson etwas zubereitet hat.«
»Gott wird Euch belohnen für Eure Freundlichkeit gegen mich und alle Verfolgten, denen Ihr in diesen vielen Jahren Schutz unter Eurem gastfreundlichen Dach gewährt habt.«
Bevor er aß, hob Peden die Hände zum Dankgebet empor und zu
der leidenschaftlichen Bitte, der Allmächtige möge seinem bedrängten Land Frieden schenken und seine verfolgte Kirche erlösen.
»Ihr müsst fliehen, Donald«, sagte Peden, als er mit dem Essen
begonnen hatte. »Ich bin gekommen, um Euch zu warnen. Sie werden bald kommen, um Euch abzuholen. Davie Watret aus Maybole
bat mich, Euch zu warnen. Davie ist ein treuer Sohn des Bundes
und wusste, dass ich mich in einer Höhle am Berg Kildoon verbarg,
wo ich auch manchmal Gottesdienst halte. Er brachte mir, unter
beträchtlicher Gefahr für sich selbst, etwas zu essen und gab dabei
die schlimme Nachricht an mich weiter.«
»Konnte er Euch sagen, wie viel Zeit uns noch verbleibt, Sandy?«
Peden schüttelte den Kopf. »Nein. Er bekam die Botschaft von seinem Neffen Sam Gibson, der aus Sanquhar gebürtig und ein Gefolgsmann Ritchie Camerons ist. Sam erfuhr es von einem betrunkenen Soldaten in Maybole und erzählte es seinem Onkel weiter. Ich
fürchte, es wird nicht mehr lange dauern, Donald. Was gedenkt Ihr
zu tun?«
»Hierzubleiben, Sandy.«
»Ihr wisst, was das bedeutet«, sagte der alte Prediger, »aber ich
habe diese Antwort von Euch erwartet. Euer Krönungstag wird bald
kommen, Donald, und ich wünschte, ich könnte den meinen zusammen mit Euch begehen. Ihr werdet den König in seiner Schönheit
sehen und sein Lob empfangen. Wer wollte nicht diesen herrlichen
Anblick gegen die Finsternis und das Leid dieser schrecklichen Zeiten eintauschen? Aber was wird aus Duncan?«
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»Ich gehe zu den Bergbewohnern«, sagte Duncan, »um ihre Leiden und Sorgen mit ihnen zu teilen, um ihre Schlachten zu schlagen
und, wenn es der Wille Gottes ist, das Unrecht zu rächen, das ihnen
widerfährt.«
»Wenn es der Wille Gottes ist«, wiederholte Peden ernst. »Das ist
recht, mein Sohn. Die Rache ist mein; ich will vergelten, spricht der
Herr. Aber manchmal gebraucht Gott menschliche Instrumente, um
die Strafe zuzumessen, und ich betrachte dich als einen Hammer Gottes, der seine Feinde niederschlägt. Auch wenn meine alten Augen
den Tag nicht sehen werden, an dem der Kopf Satans in Schottland
zertreten und Christus allein regieren wird, so sehen sie ihn doch
jetzt.« Pedens Stimme klang laut und beinahe schrill durch den Saal,
und in seinen Augen brannte ein prophetisches Feuer. Seine Zuhörer
waren überzeugt, dass er in diesem Augenblick wahrhaft die Weissagungen Gottes redete.
Peden wandte sich an seinen Gastgeber: »Donald, ich muss weiter
nach Culzean. Die Kennedys beherbergen einige unserer Leute, die
gewarnt werden müssen.«
»Nein, Sandy, Ihr seid müde. Ruht Euch diese Nacht bei uns
aus und lasst Duncan die Botschaft ausrichten. Er interessiert sich
nämlich für ein Mitglied der Familie Kennedy. Ich glaube, es heißt
Marion und ist das reizendste Mädchen im Süden Schottlands.«
Der Sohn errötete bei diesen Worten. »Ich richte gern die Botschaft aus«, sagte er. »Mein Pferd wird mich in sechs Stunden dorthin tragen. Ich müsste also bis morgen Abend zurück sein.«
»Nimm deinen berühmten Bogen und deine Pistolen mit, Duncan«, rief ihm Peden nach. »Vielleicht kannst du sie gebrauchen.«
Eine halbe Stunde später führte Farson Duncans Pferd auf den
Platz vor dem Schloss. Dort wartete der junge Mann schon mit
Peden und seinem Vater. Das Tier war wunderschön und verdiente
den Namen ›Mitternacht‹ zu Recht, denn sein glänzendes schwarzes
Fell zeigte nicht die geringste Färbung. Peden sah das Tier prüfend
an und bewunderte die weiche Rundung der Schulter, den geschmeidigen Schritt und den edlen Kopf.

 Die leicht vorstehenden Augen waren voll Feuer und verrieten das Blut und die Rasse der arabischen
Vorfahren. »Sage deinem Vater noch einmal Lebewohl«, wandte sich Peden an Duncan, der gerade sein Pferd besteigen wollte. »Du musst damit rechnen, dass du das nächste Mal erst im Himmel wieder mit ihm sprichst.«Diese Worte erschreckten Duncan zutiefst, doch er gehorchte.

Dann bestieg er sein Pferd, rief seinen großen Hund Major und machte sich auf den Weg nach Westen, der Küste zu. Auf der Terrasse von Schloss Fenwick sahen ihm zwei Männer traurig nach.
Zwanzig Stunden später hielt ihn Peden auf dem Weg an, der von Culzean nach Maybole führte. Sechs Stunden lang hatte sich der alte Mann versteckt und auf Duncan gewartet. Schlecht waren
seine Nachrichten. Die Dragoner waren um Mitternacht gekommen.
Glücklicherweise hatte Peden die geheime Kammer bewohnt und war so den Häschern entkommen, aber der Herzog von Fenwick war als Gefangener nach Edinburgh gebracht worden. Drei Wochen später stand ein großer Mann in der Menge vor dem Schafott am Mercat Cross in Edinburgh. Von Kopf bis Fuß verhüllte ihn ein schwarzer Umhang, und dazu hatte er einen Hut tief in die
Stirn gezogen. Der Sohn sah seinen Vater auf das Schafott steigen, sah
den Glanz einer anderen Welt auf seinem Antlitz, sah, wie er seinen
Hals der Axt des Henkers beugte, sah, wie sein Kopf auf dem Untertor neben dem gebleichten Schädel James Guthries aufgesteckt wurde.
Ein Schaudern durchfuhr die herkulische Gestalt in der Menge, und
ein ohnmächtiges Stöhnen kam über Duncans Lippen.
Unrecht macht den Weisen rasend. Angenehm im Umgang,
entschlossen in der Tat war Duncans Vater gewesen. Doch in dieser Stunde wurde »Duncan der Schreckliche« geboren, der durch Ayrshire und Galloway gehen sollte wie Sir Aretgals eiserner Mann
Talus mit seinem Dreschflegel, »mit dem er Falschheit ausdrosch und die Wahrheit entfaltete, unbestechlich und ohne dass ihm jemand widerstehen konnte, schnell wie eine Schwalbe und wie ein Löwe so stark«.
25
In den frühen Morgenstunden des nächsten Tages klopfte Duncan an die Tür einer einsamen Berghütte, fünf Meilen entfernt vom Haus seiner Väter. Die Frau, die öffnete, brach in Tränen aus, als sie ihn sah. »Ist alles vorbei, Duncan?«, fragte sie traurig.
Der Mann nickte. »Alles vorbei, Alison, außer der Abrechnung.«
Verwundert sah ihn Alison Purdie an. Sie war über siebzig Jahre alt, groß und mager. Ihr Haar war schlohweiß, und ihr Gesicht war von Leidens- und Sorgenfalten gezeichnet.
Die Hütte, die sie bewohnte, hatte dem Herzog von Fenwick gehört und war der Frau geschenkt worden, als sie alt und gebrechlich wurde. Die Hütte enthielt einen großen Raum, der als
Küche und Schlafzimmer diente und in dem ein Klappbett stand, das tagsüber aussah wie ein Schrank, doch nachts in ein Lager umgewandelt werden konnte. Zwei kleine Kammern befanden sich
hinter der Küche; jede von ihnen war mit einer Strohmatratze ausgestattet.

Aus einer dieser Kammern drangen Geräusche, und eine seltsame Gestalt schwankte hervor. Dieser Mann war gut und gern so groß wie Duncan, doch nicht so gerade gewachsen. Sein Haar war
lang und ungekämmt, er hatte vorstehende Zähne, und ein großes,
rötliches Muttermal entstellte seine rechte Gesichtshälfte. Sobald er Duncan erblickte, stieß er einen schrillen Freudenschrei aus und kniete sich vor ihm hin. Er nahm Duncans Hand in beide Hände und drückte sie an seine Wange. Das war der Blöde Jimmy, der Schwachsinnige, der sich geistig nie entwickelt hatte. Er war, wie man in Schottland sagt, ein »natürliches« (uneheliches) Kind, und war nach dem Tode seines früheren Vormundes von Herrn von Fenwick zu Alison geschickt worden.

 Körperlich sehr kräftig, war er der alten Frau eine große Hilfe. Den meisten Bewohnern der Besitzung war er als »Ja-nu-Jimmy« bekannt, da er fast jeden Satz mit »Ja-nu« begann.
Seine Herren von Fenwick liebte er mit einer Hingabe, die an Vergötterung grenzte, und vor allem Duncan, der ihm stets gegen seine Peiniger beigestanden hatte.

Jimmy sah seiner Adoptivmutter die Tränen die Wangen hinunterlaufen und wimmerte: »Ja-nu, Herr Duncan, ja-nu, ja-nu, wo ist der Herr? Ja-nu, ja-nu, nicht totmachen den Herrn. Ja-nu, Jesus,
ja-nu Herr, nicht totmachen den Herrn.« Nun standen auch in Jimmys Augen Tränen.
»Sei still, Jimmy«, sagte Alison sanft. »Der Herr hat’s gegeben, der Herr hat’s genommen; der Name des Herrn sei gelobt.«
»Ja-nu, ja-nu, nicht wegnehmen den Herrn. Ja-nu, ja-nu, wegnehmen den Clavers und Johnstone und Bothwell und den bösen Papist König James.«
Mit einem Wink brachte Duncan Jimmy zum Schweigen und ließ sich auf einer rohen Bank vor dem Herdfeuer nieder. Alison setzte den Kessel aufs Feuer. »Ihr bekommt ein Stück Schafschinken und
etwas Pastete, die ich von Schloss Fenwick bekam. Farson brachte sie uns neulich.«
»Ich danke dir, Alison. Ich werde lange Zeit nicht mehr in meines
Vaters Haus essen.«
»Vielleicht nicht so lange, wie Ihr denkt«, war die Antwort. »Der Herr wird seinen heiligen Arm ausstrecken und sein Volk erlösen. 
Und nun, meine ich, solltet Ihr ruhen.«
Die Abendschatten streckten sich bereits lang über den Berghang, als Duncan aufwachte. »Ich muss mich in die Berge aufmachen, Alison, und das harte Los meiner angefochtenen Landsleute teilen.
Glücklicherweise habe ich so etwas vorausgesehen und mich darauf vorbereitet. Ich darf dich und Jimmy nicht länger durch mein Bleiben gefährden, aber ich werde mit euch von Zeit zu Zeit in Verbindung treten.«
»Zu welcher Stunde des Tages oder der Nacht Ihr auch kommt, Duncan – das Haus steht Euch offen«, sagte sie mit tränenerstickter Stimme. »Danke, Alison. Peden prophezeite mir, ich würde zum Hammer Gottes werden. Vielleicht hat er recht, und ich bin eigens für diese Zeit des Königreichs geboren worden.« Während dieser Unterhaltung hatte der Blöde Jimmy in offener Bestürzung von einem zum anderen geblickt.
27
»Ja-nu, ja-nu, Herr Duncan – nicht weggehen, nicht weggehen, ja-nu, Gott bewahre, Gott bewahre.« »Ja, Jimmy, Gott bewahrt; darum wollen wir uns ihm anbefehlen.« Der Schwachsinnige fiel auf die Knie und hob die Hände empor, während Duncan betete: »O Gott, der du für alle sorgst und allen vergeben kannst, weil du alle Menschen kennst und weil du gerecht bist; in all unserer Trübsal leidest du mit uns. Sieh auf dein leidendes Volk und deine leidende Kirche in Gnaden hernieder. Breite aus den Mantel deines Schutzes über uns, deine Kinder. Lege Ehre ein, wo
Menschen wider dich wüten und bringe unserem geängsteten Land wieder Frieden. Um dessentwillen, der sein kostbares Blut für uns vergoss. Amen.«


Und so erstand in Ayrshire ein Name, bei dessen Klang die Bösen, die einen Strom unschuldigen Blutes vergossen, erbleichten – ein Name, den selbst Claverhouse in drei langen Jahren fürchten lernte. Eine rätselhafte, geheimnisumwitterte Gestalt wurde zum Sinnbild der Hoffnung unter den verfolgten Bundesgenossen. Nur wenige hatten das Gesicht dieses Mannes gesehen oder kannten seinen Namen. Er rettete die Verurteilten von den Galgen, befreite Gefangene aus den Händen der Häscher und übte mit unnachsichtiger Hand Gerechtigkeit an denen, die gnadenlos Unschuldige erschlugen. 

Der Aberglaube erzählte, er führe mit dem Wind, und die Legende berichtete, er habe die Stärke Simsons, die List eines Drachens und den Mut eines Löwen. Feinde der Bergbewohner sangen
ihre Kinder mit diesem aus der Angst geborenen Lied in Schlaf: »Still, mein Kind, mein kleines Herzlein, Still, mein Kindlein, musst nicht bang sein, Dich fängt der Schwarze Rächer nicht ein.«
Als das Haupt Donald Fenwicks auf das Untertor gesteckt wurde, wurde Luis Salvador de Ferrari auf Anordnung des papistischen Königs James VII. von Schottland Herr der Besitzungen von Schloss
Fenwick.
28
In der Herberge zum Eberkopf
Eine Woge der Verfolgung überzog den ganzen Süden Schottlands und verschonte weder Alter noch Geschlecht derer, die der Ketzerei verdächtigt wurden. Jedes Dorf in Ayrshire und Galloway hatte seine eigene blutige Geschichte. In der einen Familie fehlte der grauhaarige Vater, in der anderen der hoffnungsvolle Sohn. Unter Flüchen und Verwünschungen drangen die ruchlosen Dragoner in
die Hütte des Bauern ein, erschlugen die alte Großmutter, die in der Kaminecke saß, und vergewaltigten die Tochter. 

Dem Vater legten sie die Schwurformel vor, mit der er dem Presbytertum absagen sollte,
und ließen ihn, wenn seine einzige Antwort ein zitterndes und doch ruhiges »Gottes Wille geschehe« war, drei Minuten später auf der Schwelle seines eigenen Hauses in seinem Blute liegen.
In vielen schottischen Wohnungen war die Lücke noch deutlich zu spüren, die der Märtyrertod eines Familienmitgliedes zurückgelassen hatte, und jedes Kind konnte sagen, wo in der Heide das
noch frische Grab zu finden war. 

Es war ein halbes Jahrhundert vergangen, seit Jenny Geddes dem Dekan von St. Giles in Edinburgh ihren Schemel mit den historischen Worten entgegengeschleudert
hatte: »Ihr werdet vor meinen Ohren keine Messe lesen« – fünfzig blutige Jahre, fünfzig Jahre des Schreckens.
Man könnte darüber streiten, ob es recht oder unrecht war, dass die Bundesgenossen das Schwert ergriffen, aber nach dreißig Jahren der schrecklichsten Verfolgung, die gottlose..

* Fast vier Jahrhunderte lang war Schloss Fenwick eines der großen Bollwerke gewesen, die die Freiheit und Unabhängigkeit Schottlands garantierten. Wer sich dafür interessiert, kann noch heute seine Ruinen finden. 

*Sie stehen drei Kilometer vor dem hübschen Städtchen Maybole in der Grafschaft Ayr am Abhang eines Berges über dem Tal des Flusses Girvan. Die Fenwicks waren eine Familie, die ihre Ahnenreihe in ununterbrochener Linie von jenen Sachsen ableiten konnte, die nach der normannischen Eroberung nach Schottland geflohen waren. Sie waren der Fahne von Robert Bruce gefolgt, und es waren Lord Archibald Fenwick und seine Lanzenreiter gewesen, die in der Schlacht von Bannockburn das Blatt zugunsten Schottlands gewendet hatten. 

*Die Urkunde über die Verleihung Schloss Fenwicks als Grundbesitz ist noch heute im schottischen Nationalmuseum zu Edinburgh vorhanden. Darauf ist der Wahlspruch der Familie zu lesen, der ihr von König Robert Bruce verliehen wurde: »Suaviter in Modo, Fortiter in Re« (»Angenehm im Umgang, entschlossen in der Tat«). Die Geschichte lehrt uns, dass wenige derer von Fenwick die Ehre ihres Wappenschildes beschmutzt haben, obwohl sie Feudalherren waren und obwohl ihre Geschichte von Kriegen, Aufständen und Streifzügen voll ist.

Papke Käthe, Lesebuch

06/03/2023
von Christ-und-Buch Günter Arhelger

Heinz Ehlert, der junge Forstassessor, lag der Länge nach ausgestreckt unter einer großen Fichte im Moos, die Arme unter dem Kopf verschränkt, und gab sich ganz dem Zauber der milden Maiennacht hin. Der spitze Jägerhut lag neben ihm. Das Gewehr hatte er an den Baum gelehnt. In den Wipfeln rauschte der Nachtwind. Irgendwo fern im Wald bellte ein Fuchs.

Sonst war alles still.
Und doch war alles voll des geheimen, jungen Lebens, das knospend und sprossend zur Entfaltung drängte. Uberall war zauberhaftes Raunen und Rauschen, Blühen und Duften, so dass das Blut schneller kreiste und das Herz rascher schlug.
Heinz richtete sich auf und breitete weit die Arme aus. Ein frohes Lächeln glitt über das blühende Gesicht des Sechsundzwanzigjährigen. Er durchlebte in Gedanken noch einmal die letzten Stunden; Er hatte mit einigen Freunden einen Ausflug zum Kloster Walkenried gemacht.

Das war ein froher Nachmittag, voller Scherzen und Lachen, voller Wanderlust und Lebensfreude; Selbst Annegret, die meistens ernste Tochter seines Vorgesetzten, des Oberförsters Werner, hatte sich von den lustigen Einfällen Hans Garmstedts mit fortreißen lassen. Hans studierte in Berlin Theologie und genoss die Pfingstferien daheim bei seinem Vater im Pfarrhaus. Eine echte Freundschaft verband Heinz mit Rolf Winter, dem Erben der Brunnenbachmühle. Sein Vater hatte gewünscht, dass er das Handwerk auch anderswo kennen lernen solle. So hatte er den Winter über in einer Mühle in Bayern gearbeitet. Nun war er wieder da!
Die Gedanken des jungen Träumers gingen weiter. War es nicht am aller schönsten, dass auch Liesel Wich-mann den Ausflug mitgemacht hatte? Man konnte alles mit ihr besprechen, auch ernste Probleme, die ihn beschäftigten. Auf alles ging sie ein, und ihre Meinung war stets wohlüberlegt. Merkwürdig, dass es ihn so zu diesem einfachen Dorfmädchen hinzog, das mit seiner Großmutter den Kolonialwarenladen in der Hauptstraße führte. Die Eltern waren schon lange tot. Von ihrer Mutter, die gleich nach Liesels Geburt gestorben war, sollte sie die eigenartige Schönheit geerbt haben. Soviel hatte Heinz da und dort gehört. Ihre Großmutter hatte sie nach Nordhausen in die Oberschule geschickt. Daher stammte auch die Freundschaft mit Annegret Werner, besonders aber mit Friedlinde Winter, der Müllers Tochter.
Heinz kam oft in die Mühle. Dort hatte er Liesel bei Friedlinde kennengelernt. Zuerst war ihm natürlich ihre Schönheit aufgefallen, dann aber hatte ihn ihr Charakter gefesselt. Immer war sie hilfsbereit und bestrebt, andere zu erfreuen. Sie besaß ein tiefes Gemüt und war sehr darauf bedacht, sich selbst weiterzubilden. Sie las viel und sprach die gelesenen Bücher gerne mit ihm durch. - Als Heinz sie einlud, ihn einmal in den Wald zu begleiten, zögerte sie zuerst. Dann aber war es ihm ein Genuss, sie in die reiche Schönheit des Waldes einzuführen. Schon einige Male waren sie so zusammen gewandert. Und dann kam es, wie es nicht anders möglich war - eine große, tiefe Liebe einte ihre Hrzen und verband ihre Seelen. Nun wurde es erst recht achöh, kam doch zu dem Verstehen in vielen Dingen noch das Bewusstsein des innersten Ein eins, des Zusammen-gehörens.
Heinz Ehlert sprang auf. »0 Welt, o Leben, wie bist du schön!« kam es dankbar von seinen Lippen. Dann griff er nach Hut und Gewehr und schritt langsam im Wald dahin.
Eigentlich hatte er, als er heute abend nach Hause gekommen war, gleich zu Bett gehen wollen, aber das Glück in seiner Brust ließ es ihn nicht im Zimmer aushalten, er musste noch hinaus in den Wald. Das war von jeher sein liebster Aufenthaltsort gewesen. Dahin eilte er als Junge, wenn es in der Schule nicht klappte - dahin floh er beim Tod des Vaters, der als Beamter in Ebers-walde starb. In die Waldeinsamkeit trug er sein Glück; als die Mutter ihm eröffixete, sie wolle ihm, ihrem Einzigen, nicht im Wege sein, wenn er das Forstfach, nach dem all sein Sinnen stand, als Beruf ei-wählen wollte. 

Er wusste, dass dies mit finanziellen Opfern verbunden war. Mutter würde sich ihm zuliebe auf ihre bescheidene Pension beschränken und die Zinsen des kleinen Sparkapitals ihm zum Studium geben müssen. Aber glücklicherweise hatte ihm seine Patentante einen Betrag vererbt, der ihm jetzt besonders willkommen war. So musste er, wenn er sparsam war, die Mutter nicht allzu-sehr in Anspruch nehmen. Aber Heinz gelobte sich damals, sie treulich zu unterstützen, sobald er eine feste. Anstellung habe.Er wollte ihr ihre Liebe und Opferwilligkeit vergelten!
Der Wald war auch Zeuge seines und Liesels heimlichen Glücks geworden - o wie liebte er seinen Beruf, wie hing er mit Leib und Seele an ihm' Er wusste auch, dass Oberförster Werner, sein Vorgesetzter, mit ihm zufrieden war. Auch mit Förster Warlich, bei dem er im
örsthaus Wiethfeld wohnte, stand er auf kamerad-ehaftlichem Fuß.

Wie schön war doch das Leben! Konnte es etwas Herrlicheres geben als diese Harzberge mit ihren unendlichen Wäldern, Tälern und Gründe& Wenn er erst Förster, nein Oberförster war - nirgends anders als im z wollte er wohnen, und in seinem Haus sollte nie-od anders als Liesel Wichmann Hausfrau sein
Der Wald lichtete sich vor ihm. Er trat auf eine Wiese hinaus. Ein leiser Ruf des Staunens entglitt ihm - so weit war er in seinen Gedanken und Träumen gewan-
dert? Dort unten lag ja die einsame Bnnmenbachmühle' Leise plätscherte der Brunnenbach. Das Mondlicht übergoss mit zauberhaftem Glanz Mühle, Wasser, Wie-
se, Wald und Berge. Traumhaft schön war diese Nacht!
Er stand lange verloren da. Seine Blicke glitten über die Mühle hin, in der er schon so viele schöne Stunden ver-
lebt hatte und hoffentlich noch .verleben würde. Dann wandte er sich wieder zurück zum Wald, um heimzugehen.
Er lachte leise vor sich hin - gewiss war er der einzige aller seiner Wandergenossen, der noch wachte. -
Aber diesmal hatte er sich geirrt, und wenn er gewusst hätte, dass gerade Rolf Winter, sein Freund, am Fenster
seines Zimmers saß und in tiefe Gedanken versunken
war, er hätte vielleicht geklopft und wäre noch bei ihm eingekehrt, zumal, wenn er gewusst hätte, dass Rolf sich
stark mit ihm beschäftigte: Der stattliche Müllerssohn
hatte nach seiner Rückkehr in die Heimat seine Tätigkeit in der väterlichen Mühle mit Eifer und Verständnis aufgenommen. Der Freundeskreis war unverändert
herzlich und harmonisch. Das hatte er heute gesehen. Nur Annegret, die Jugendgespielin der MüIlerskinder, fand er ernster und Liesel entschieden noch hübscher. Viele behaupteten, sie sei die Schönste von ganz Tanne und Umgebung. Aber es hatten ja nicht alle den gleichen Geschmack. Auf ihn zum Beispiel hatte Annegrets Freundin, Heiderose Mieland, einen tiefen Eindruc gemacht. Sie wohnte in Goslar und war zur Zeit in der Oberförsterei zu Besuch. Wenn er zu wählen hätte... Er musste lachen.

 Wie kam er nur auf solche Gedanken? Nun, es war ihm nicht verborgen geblieben, dass der 1 freundschaftliche Verkehr zwischen Heinz und Liese! ernstere Formen angenommen haben musste. Er runzelte die Stirn. Was dachte sich Heinz eigentlich bei der ganzen Geschichte? Er nahm sich vor, möglichst bald ernstlich mit ihm darüber zu reden. Für eine bloße Spielerei war das charaktervolle Mädchen mit dem feinen Wesen, das sie vor allen auszeichnete, entschieden zu schade. Das würde Heinz nie tun; dafür kannte er seinen Freund zu genau. Aber eine Heirat konnte doch auch nicht in Frage kommen; denn dadurch würde er sich ja die ganze Laufbahn zerstören. Dann konnte es ihm nicht weiter als bis zum Förster reichen.

An Liesel selbst war nichts auszusetzen. Wäre ihr Charakter nicht einwandfrei gewesen, hätte sie niemals Eingang in den Freundeskreis gefunden. Aber freundschaftlicher Verkehr war etwas ganz anderes als eine Heirat. Daran hätte Heinz denken müssen und dem Mädchen nicht irgendwelche Hoffnungen machen, die er nie erfüllen konnte. Wollte er das dennoch, dann musste er auch die Konsequenzen ziehen. Aber so weit hatte der Idealist Heinz sicher noch nie gedacht. Mit grenzenloser Harmlosigkeit nahm er die Dinge, wie sie kamen. Er genoss das »Heute« und dachte kaum an das »Morgen«. Er aber wollte ihm ein treuer Freund sein und ihn auf alles aufmerksam machen, was ihm nützen nier schaden könnte.

Am allerbesten wäre es, wenn Liesel bald heiraten würde. Da kam aber außer Heinz, der ja auch erst in einigen Jahren daran denken konnte, nur August Meier-hadi in Betracht, der den großen Bauernhof oben im Dorf hatte. Er war ein sehr wohlhabender Mann, Mitte her Zwanzig, und verfügte über einen stattlichen Besitz.
Seine Eltern waren vor einigen Jahren kurz nacheinander gestorben. Seitdem bewirtschaftete er seinen Hof alein mit Hilfe von einigen Knechten und zwei Mägden.
Auserdem war er in der Gemeinde nicht sehr beliebt. Sein Wesen war ebenso derb wie sein Äußeres. Man munkelt auch so allerlei über ihn und seine Mägde. Nie-and konnte sagen, was daran Wahres war. Das waren in schließlich Privatsachen, in die sich niemand einmi-
ithen wollte. Der junge Bauer verstand keinen Spaß.
Nun ging seit kurzem die Rede von ihm, er hätte auf Liesel ein Auge geworfen. Aber sollte man ihr diesen
Mann wünschen? Rolf schüttelte den Kopf. Nein, nein, ie war viel zu schade für ihn und tat recht daran, wenn sie ihn abwies.
Man muss eben abwarten, wie sich alles entwickeln wird«, murmelte er halblaut vor sich hin. Dann stand er nE und ging zu Bett - er war zu müde zum Denken geworden.
Liesel Wichmann stand im kleinen Stübchen hinter hin Laden und rüstete sich zu einem Weg nach Elbin-gerude. Fast jede Woche unternahm sie einmal den dreistündigen Weg, um allerlei Geschäftsbesorgungen zu machen. Die Großmutter war immer in Sorge, we sie Liesel so allein ziehen lassen musste. Darum freute sie sich, wenn sich eine Gelegenheit zum Mitfahren bot oder andere Dorfbewohner den gleichen Weg machen mussten und sie begleiteten. Seit aber der junge Heinz Ehlert so oft herkam und es immer wieder einzurichten wußte, Liesel ein Stück Wegs zu begleiten und ihr auch am Abend entgegenging, war sie, wenigstens nach dieser Seite hin, ohne Sorge. Sie wusste Liesel in guter Hand.

Der Verkehr zwischen den beiden passte ihr zwar nicht so ganz. Sie konnte es kaum glauben, dass der junge Mann es ernst meine und ermahnte zuweilen ihr Enkelkind, auf der Hut zu sein.
Mit ungläubigem Staunen in den dunkelblauen Augen schaute Liesel sie beim ersten Mal an und erwiderte: nur: »Aber Großmutter, was denkst du nur von Heinz!« Als aber die Ermahnung sich wiederholte, sagte sie freundlich, aber bestimmt: »Lass das meine Angelegenheit und Sorge sein, Großmütterchen. Heinz ist ein Ehrenmann. Ich habe sein Wort, und er hat das meine. Ein Zweifel an ihm ist eine Beleidigung, die mich zugleich trifft. Mein Vertrauen zu ihm ist unbegrenzt.« - Da sagte die Großmutter nichts mehr. Sie freute sich im Stillen, dass ihrem Liebling eine schöne Zukunft winkte.

Neuerdings war sie aber wieder schwankend geworden, seit sie merkte, dass August Meierbaeh sich um das Mädchen bemühte. Der hatte doch entschieden mehr in die Suppe zu brocken als Heinz! Wenn ihre Liesel die reichste Frau der ganzen Gegend werden würde...
Als diese davon hörte, war sie zuerst sehr erstaunt und lachte dann darüber. Sie schüttelte sich. Der Gedanke, Frau Meierbach werden zu müssen, war ihr - ganz abgesehen von ihrem Jawort an Heinz - einfach unerträglich.
ic Großmutter schwieg dazu, sprach auch zu kei-der anderen Dorfbewohner davon. In dieser Beziehung war sie eine mustergültige Ausnahme sämtlicher öwohnerinnen Tannes - und wahrscheinlich auch nej anderer Orte.
lt herzlichem »Behüt dich Gott!« entließ sie heute e Enkelin nach Elbingerode. Der Weg führte das ciehen dicht hinter Tanne in den Wald hinein. Nach er knappen Viertelstunde gesellte sich Heinz zu ihr. oh schritten sie dahin.
Der Weg ging über eine Anhöhe, von der rechts eine khtc, halbhohe Tannenschonung bis hinunter zur indstraße führte. Links fiel der Hang, mit hohen Fich-- bestanden, sanft gegen einen kleinen Waldteich ab, r nur im Herbst und Winter Wasser hatte. Im Som-
war er meist trocken oder schlammig. Dieser kleine Timpel lag wohl idyllisch im Waldesdunkel, wurde aber von den Dorfbewohnern ängstlich gemieden Es ging ;die Sage, dass es hier nicht ganz geheuer wäre! Vor Zeiten sollte hier ein Mord an einer Frau begangen worden
in. Die Alten wollten von ihren Vätern gehört haben, dss man zuweilen dort Seufzen und Stöhnen vernehemen könne. Etliche behaupteten sogar, gespensterhafte Gestalten gesehen zu haben. Genaues wusste niemand, aber wer konnte, mied den Weg, der an diesem unheimlichen Ort vorüberfürhrte.
Auf der Anhöhe rasteten die beiden. Sie träumten von cm künftigen gemeinsamen Haushalt. Dann sprach hinz von seinen Studien, denen Liesel nicht nur Inte-sse, sondern auch Verständnis entgegenbrachte.
»Ach, ich muss noch viel praktisch lernen, bis ich Dberförster bin«, seufzte Heinz endlich, »und die Anstellungsmöglichkeiten sind auch dünn gesät. Wer weiß,

@1998 Christliches Verlagshaus ISBN 376757070x



The Happy England of Helen Allingham with 80 full-colour, Marcus Huish

05/11/2023
von Christ-und-Buch Günter Arhelger

Helen Allingham loved to paint in the open air, in spring and summer - Paitresses, Past and Present - The Artist's Early Work - The Artist's Surrey Home - The Influence of Witley - The Woods, the Lanes and the Fields - Cottages and Homesteads - Gardens and Orchards - Tennyson's Homes - Blackdown from Witley Common - The Old Yew Tree - Cottage at Shottermill - The Apple Orchard - The Kitchen-Garden and othersBV21626%20Marcus-Allingham-Huish%2BThe-Happy-England-of-Helen-Allingham-with-80-full-colour-illustrations.jpg?1683783152128

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Im Land der Feuerberge und Eisgletscher, Manfred A Bluthardt

05/09/2023
von Christ-und-Buch Günter Arhelger

Geleitwort
Es war im Herbst 1985, als ich dem Autor dieses Buches, Manfred A. Bluthardt, das erste Mal persönlich begegnet bin. Er war erst wenige Monate zuvor mit seiner Familie aus Chile nach Deutschland zurückgekehrt, um in der Leitung der Deutschen Missionsgemeinschaft mitzuarbeiten. Sie befanden sich noch voll in der Umstellung. Was für ein Wechsel nach 23 Jahren Missionsdienst und Leben in Südamerika. Deutschland hatte sich seit seiner ersten Ausreise 1961 dramatisch verändert. Er kam zurück in sein Heimatland und fand sich gleichsam in einer neuen Welt wieder.


Auch ich erlebte damals eine massive Umstellung, jedoch in umgekehrter Richtung. Nach Hochschulstudium und Uni-Karriere mit viel persönlicher Freiheit und Weltoffenheit galt es, mich in die Dienstgemeinschaft eines Missionswerks zu integrieren. Gott hatte uns in die Außenmission berufen.
So fanden Manfred Bluthardt und ich uns in recht ähnlichen persönlichen Herausforderungen wieder, als wir damals auf dem Buchenauerhof zusammenkamen. In den darauf folgenden Wochen arbeiteten wir handwerklich miteinander, dabei ergaben sich gute Gespräche.
Wir stammten aus unterschiedlichen Generationen und hatten sehr verschiedene Biografien: Er, ein erfahrener Missionar und Missionsleiter, ich, ein junger Rebell, der gern provozierte. Damals habe ich Manfred Bluthardt schätzen gelernt. Seine geradlinige Persönlichkeit. 

Die klare Verkündigung und seinen Mut, Gottes Wort zu lehren, ob es gerade attraktiv erscheint oder nicht. Wie er selbst schwierige Bibeltexte respektvoll stehen lässt und sich unter Gottes geoffenbarte Wahrheit stellt. Manfred Bluthardt strahlt Gottvertrauen und Glaubensmut aus, was durch seine sonore Stimme noch unterstrichen wird. Er konnte eigentlich alles - verkündigen, leiten, verwalten, künstlerisch gestalten und handwerklich tätig sein. Wie es damals von einem typischen Missionar erwartet wurde. Das beeindruckte mich.
Nach fünf Jahren Mission im Orient hat der Vorstand der DMG uns ebenfalls ins Heimatteam berufen. So arbeitete ich ab Januar 1991 intensiv mit Manfred Bluthardt zusammen. Im Oktober 1991 erschütterte uns der plötzliche Tod des damaligen Missionsleiters Bruno Herrn. Manfred Bluthardt wurde zu dessen Nachfolger berufen, und ich zu seinem Stellvertreter. In den darauf folgenden Jahren arbeiteten wir eng zusammen. Dabei habe ich besonders Manfred Bluthardts Liebe zu Jesus, seine vollkommene Hingabe und seinen unermüdlichen Einsatz bewundert. Er war und ist ein »Missions-Staatsmann«, der die Missionsarbeit in wunderbarer Weise repräsentiert.
Im November 1999 ging Manfred A. Bluthardt formal in >'Ruhestand« und flog bereits am folgenden Tag für vier Monate nach Chile, um allen Mitarbeitern und Missionaren zu dokumentieren, wer jetzt die Leitung hatte. So konsequent und selbstdiszipliniert lebte er - zumal sein Herz stets für Südamerika geschlagen hat. Bis heute verkündigt er gerne weiter Gottes Wort, besonders auf Missionsfreizeiten, bei denen er Bibelarbeiten hält. Zudem bringt er seine Missionserfahrung in verschiedenen Gremien ein. Er baute den Männergebetsbund mit auf, in dessen Vorstand er mitarbeitete, wie auch im Leitungskreis der Akademie für Weltmission in Korntal. Die Ausbildung neuer Missionare liegt ihm am Herzen. Als Missionsleiter der DMG und auch danach hat er viele Abenteuer mit Gott erlebt, doch diese werden wahrscheinlich einmal Gegenstand eines eigenständigen Buches sein.

2001 zog das Ehepaar Bluthardt in seine alte Heimat nach Ostfildern um. Die ehemalige Kaserne Scharnhäuser Park war inzwischen in ein neues Stadtviertel umgebaut worden. Der Württembergische Brüderbund begann dort eine Gemeindeneugründung. Neben Bibelstunden und Predigten engagierte sich Bluthardt tatkräftig beim Neubau des Gemeindezentrums.
Mit Fleiß und handwerklichem Geschick investierte er unzählige Stunden auf der Baustelle des Neubaus. Als Senior-Missionsleiter ist er sich nicht zu schade, einfache Arbeiten zu bewältigen und sich die Hände schmutzig zu machen: ein dienender Leiter, der dem Vorbild Jesu folgt.
Eines war und ist ihm das Wichtigste: Menschen einzuladen zur Begegnung mit dem auferstandenen Herrn Jesus Christus. Mit Wort und Tat lebt Manfred Bluthardt das Evangelium, bis heute. Seine persönlichen Erfahrungen in diesem Buch möchten Sie dazu einladen, Gott beim Wort zu nehmen, sich von Gott ein neues Leben schenken zu lassen. Das gibt es nur durch Jesus Christus. Wir möchten Sie dazu ermutigen, sich einzulassen auf das Abenteuer mit Gott, Nachfolge Jesu zu leben und ähnliche eigene Erfahrungen mit dem Herrn zu machen. Er ist der Gleiche, vor 2000 Jahren, vor 50 Jahren und heute.
Dieses Buch ist keine Biografle. Manfred A. Bluthardts Erzählungen sind bewusst selektiv, er beschränkt sich auf einige ausgewählte Ereignisse und Erlebnisse. Es ist auch keine Autobiografle, denn der Autor ist hier lediglich Berichterstatter. Manfred Bluthardt bleibt bewusst im Hintergrund, als Augenzeuge von Gottes großen Taten. Eindrucksvoll schildert er, was er mit Gott erlebt hat.
Da geht es um Gottes Eingreifen in Lebensgefahr. Wie er als Kind im zugefrorenen Teich eingebrochen und unter die Eisdecke geraten ist ... Um Gottes wunderbare Hilfe in fremden Kulturen und ausweglosen Situationen. Es geht darum, wie Gott im Missionsdienst unter Mapuchen-Indianern in Chile großartig gehandelt hat. Und um Gottes treues Versorgen, als der Autor über viele Jahrzehnte zu einem Glaubenswerk ohne gesichertes Einkommen gehörte. Manfred A. Bluthardt erzählt, wie der Herr ihn und seine Frau mit ihren sechs Kindern sowie unzähligen geistlichen Kindern wunderbar beschenkt hat. Spannende Abenteuer mit Gott, die das. Leben geschrieben hat.
Das Buch liest sich wie eine Art Fortsetzung der biblischen Apostelgeschichte. Auch in der Bibel geht es nicht um herausragende Personen wie Petrus oder Paulus, sondern um Gottes vollmächtiges Handeln, es geht um Gott. Gott macht Geschichte, und das mit uns schlichten Menschen.

Dabei berichtet der Autor nicht nur seine Erfolge. Im Gegenteil: In schonungsloser Offenheit beschreibt er auch eigene Fehler und Versagen. Das macht Mut. Gott kann auch aus scheinbaren Niederlagen Gutes machen. Ihm dürfen wir vertrauen. Auf Gott ist Verlass. Diesen Gott können wir auch heute beim Wort nehmen. Dazu laden uns die Berichte von Manfred A. Bluthardt ein: Jesus Vertrauen zu schenken, der das Herz von vielen Menschen verändert hat, der ein Leben reich macht und tiefen Sinn stiftet, der ein Leben in Ewigkeit bei Gott schenkt. Gott wirkt in unserer Welt. Und er ist stets für eine Überraschung gut. Wer mit Gott rechnet, verrechnet sich nicht!
Dr. Detlef Blöcher
seit 2000 Nachfolger von Lic. Manfred A. Bluthardt als Direktor der Deutschen Missionsgemeinschaft (DMa) Sinsheim, Januar 2009

Wer mit Gott rechnet verrechnet sich nicht!
Gott aus dem Leben auszuklammern ist immer eine Fehlkalkulation und führt in den Bankrott. Es ist ein Trugschluss zu meinen, das Leben selbst meistern zu können. Gottes Hilfe ist schon im Leben, erst recht aber im Tod unverzichtbar. Wir Menschen können existieren, weil Gottes Barmherzigkeit uns die Luft zum Atmen und ein begrenztes Dasein geschenkt hat. Aber leben, wirklich leben, in alle Ewigkeit leben ... Das können wir nur durch den, der das Leben ist: Jesus Christus.
Der Fischer Simon Petrus hat das existenziell erfahren. Nach einer erfolglosen Arbeitsnacht und vor einer drohenden beruflichen Pleite begegnet er Jesus. Der spricht konkret in das Leben des frustrierten Fischers hinein. Der Galiläer glaubt und vertraut ohne zu zweifeln der Zusage von Jesus. Petrus rechnet mit Jesus wie mit Zahlen. In der Bibel berichtet uns der Arzt Lukas von diesem Ereignis:
»'Hern, erwiderte Simon, 'wir haben die ganze Nacht gearbeitet und nichts gefangen. Aber weil du es sagst, wffl ich es wagen. Sie warfen ihre Netze aus und fingen so viele Fische, dass die Netze zu zerreißen anfingen« (Lk 5,5.6; .Hfa).
Es lohnt sich, die Erfahrungen von König David ernst zu nehmen. Er sagte: »Menschen, die sich einreden: 'Gott gibt es überhaupt nicht!<, leben an der Wirklichkeit vorbei« (Ps 14,1 Hfa). Und: »Du hilfst denen, die sich helfen lassen und sich selbst nicht überschätzen. Die Überheblichen aber stößt du von ihrem Thron. Herr, du machst die Finsternis um mich hell, du gibst mir strahlendes Licht. Mit dir kann ich die Feinde angreifen; mit dir, mein Gott, kann ich über Mauern springen« (Ps 18,28-30 Hfa).
Auch bei scheinbarer Überlegenheit der Gegner ist man mit Gott immer in der Mehrzahl. Gottes Mengenlehre passt eben nicht in unser logisches Denken. Gott kann es sich beispielsweise leisten, das Heer um den Feldherrn Gideon so sehr zu reduzieren, dass von 32000 Mann nur noch 300 Getreue übrig bleiben. 

Und dann schenkt Gott dieser unbewaffneten Minderheit auch noch den Sieg (Ri 6-7).
Lesen Sie hier von Menschen, die mit Gott gerechnet haben, in deren Leben Jesus der große Pluspunkt wurde. Mit Jesus Christus bleibt auch am Ende des Lebens eine positive Bilanz Denn unsere menschlichen Defizite und unsere Lebens-Verlustrechnung werden durch seine unbegrenzte Gnade ausgeglichen, Rechnen Sie damit? Dann verrechnen Sie sich sicher nicht.
Missionsfreunde und unsere eigenen sechs Kinder haben mich immer wieder ermutigt, ja sanft gedrängt, aus der Vielfalt unserer persönlichen Erfahrungen und Erlebnisse, vor allein in Südamerika, einiges zu Papier zu bringen; Meine liebe Frau Gertraud hat mich dabei tatkräftig unterstützt, auch als Korrekturleserin.
Wenn Gott das Lob bekommt, die Leser im persönlichen Glauben an Jesus Christus gestärkt werden und das missionarische Interesse geweckt wird, sind diese Zeilen mehr als nur Druckerschwärze.
Lic. Manfred A. Bluthardt, Ostfildern, Januar2009

Harte Kriegsjahre
Mit den Nachbarjungen spielten wir Krieg. Jede Gruppe hatte ihre eigenen Waffen und Strategien, und gewaltlos ging es bei Weitem nicht zu. Dass unser Land tatsächlich unter den Wunden des Zweiten Weltkriegs litt, bekam ich erst in den letzten Kriegsjahren mit. Als Fahrräder und Skier, Wolldecken und manches andere »eingezogen« wurden. Dabei hatten wir auch so schon unsere zwei Paar Schlittschuhe stundenweise unter sechs Kindern aufgeteilt. Als selbst die letzten unserer Schuhe total verschlissen waren, hatten auch die angerosteten Schlittschuhe im Winter längere Ruhepausen.
Immer wieder wurden wir von der Oma zum Einkaufen geschickt. Aber ihre Hustenbonbons gab es schon lange nicht mehr. Und die Lebensmittelmarken reichten für die zehnköpfige Großfamilie ohnehin nicht aus. Mutter arbeitete von früh bis spät, sie stopfte Strümpfe, flickte Hosen, nähte neue Kleider aus alten.
Was Garten und Acker hergaben, wurde ihnen abverlangt. Alles war mit harter Arbeit verbunden. Das Ähreulesen mit den Schwestern war ein Schauspiel, nein, eine Tragödie. Kaum war der Acker von den Bauern abgeerntet, standen schon Scharen von Sammlern mit Körben und Säcken bereit und fielen wie Heuschrecken über die spärlich liegen gebliebenen Ähren her. Ihre Schnelligkeit musste unsere Schwester mit einem schmerzhaften Rechenhieb der resoluten Bauersfrau an den Kopf bezahlen. Sie hatte nicht den gebührenden Abstand gewahrt.
Hausgemachte Säfte waren nur für besondere Anlässe und ganz heiße Sommertage gedacht.
Einmal komme ich schweißgebadet und nach Flüssigkeit lechzend durch den Hintereingang ins Haus. Was? Das ist ja ein Traum! In der Waschküche steht eine Flasche Apfelsaft auf dem Tisch. Das Gewissen schlägt, aber der Durst drängt. Und plötzlich ist die Flasche am Mund. Aber genauso schnell wieder abgesetzt, denn es ist flüssige Seife
11
Von sechs Geschwistern war ich wohl das Schwergewicht. Deshalb hatte ich immer Hunger. Sich satt zu essen war ein immer gegenwärtiger Wunsch, Brotrationierung eine schlimme Strafe.
Im Herbst grub ich einem Bauern den ganzen Obstgarten um, sammelte Blätter und war Hausboy für alles. Der Lohn: eine dicke Schnitte Brot mit einem schleierartigen Überzug aus Schmalz lind als Glanztat meiner Gutherzigkeit brachte ich diese keilartige Restschnitte als Erwerbsbeitrag nach Hause.
Während die älteren Brüder unter die strenge Obhut und gottlose Doktrin der Hitlerjugend kamen, beneideten wir »Kleinen« die strammen Jungs und regimekonformen Mädchen. Das Hakenkreuz war überall präsent und das »Hell Hitler!« Teil der Alltagskultur.
Mehr und mehr erlebten wir auch in der Heimat die Brutalität und Rücksichtslosigkeit des Krieges. Er war Alltag geworden. Immer wieder der Ruf der Mutter mitten in der Nacht, die den Fliegeralarm ankündigte; der immer gleiche Appell an uns Kinder: »Schnell aufstehen, anziehen, kein Licht machen und dann rasch in den Keller. Vergesst die Wolldecken nicht!« Und zu den älteren Jungs: »Geht schnell und holt Oma und Opa. Und nur Kerzcnlicht gebrauchen.«
Oma wollte lieber in ihrem Bett sterben. Es war jedes Mal eindringliche Überredungskunst nötig, um sie über die drei Treppen in den kalten Keller zu bringen.
Wieder wurde Stuttgart bombardiert. Noch bei uns, in zwölf Kilometern Entfernung, hörte man die Detonationen, sah durch das einzige verdunkelte Kellerfenster Blitze zucken. Wir wussten nie, ob außer den Blindgängern nicht doch eine zerstörerische Bombe die Scharnhäuser Straße 57 treffen würde. Nicht verwunderlich, dass angstvolle Äußerungen die zarten Gemüter bewegten und Tränen der Hilflosigkeit flossen. Außer Kerzenlicht, Wasser, und Verbandszeug hatte Mutter auch immer ihre große Bibel dabei.
Meinem kindlichen Glauben wurde zum ersten Mal die.Wirklich-keit Gottes bewusst:
12
»Wer unter dein Schirm des Höchsten sitzt und unter dem Schatten des Allmächtigen bleibt, der spricht zu dem Herrn: Meine Zuversicht
und meine Burg, mein Gott, auf den ich hoffe.«
Psalm 91,1.2; L
Äußerlich hatte sich nichts verändert, wir lagen immer noch auf harten Strohmatten, schreckten bei jedem Geräusch auf, waren müde und konnten doch nicht schlafen. Aber im gemeinsamen Gebet haben wir bei Gott Schutz gefunden. Etwas wie himmlischer Friede lag über dem kargen, dunklen Kellerraum.

Geleitwort.5
Wer mit Gott rechnet, verrechnet sich nicht'..............9
Harte Kriegsjahre.....................................11
Schlager für Onkel Gotthilf.............................14
Dumme Mutprobe....................................17
Der unvergessliche militärische Ausritt ...................19
Ein schwäbisches Original »auf Du und Du«
mit dem lieben Gott...................................21
In Sport war ich nie ein Star ............................23
Ein neues Leben mitten in der Nacht .....................25
Ein Gärtnergehilfe mit Weitblick ........................27
»Manfred, was bewegt dich denn?« ......................29
Gottes ungehorsame Leute .............................31
Schöne Bescherung vor Weihnachten ....................34
Noch nicht das Ende..................................38
Das »Braut-Geschenk« aus Übersee......................40
Ein leerer Tank und ein 13-jähriger »Guide« ...............46
Das bedrohte Stoffiappenhaus ..........................53
Blut zur Versöhnung..................................56
Der leere und doch besetzte Sarg ........................59
Ein falscher Polizist zu Pferd...........................62
Interpretationsexperte Maxi ............................67
Einer, der nicht lesen konnte, aber lesen wollte ............69
Antuco, ein Todeskandidat der Tradition.................72
Glaube, der Berge versetzt.............................77
Der Ausländer mit der goldenen Trompete ................81
Desiderio, der Entschiedene............................85
Guido taucht wieder auf ...............................89
Freu dich, Jesus liebt dich'.............................96
»Löwenzahn« blüht auf................................99
Herzbeschwerden ganz anderer Art ......................104
Was soll aus Puna schon Gutes kommen?................108
Polizeiliche Begnadigung .............................. 113
Geburtshelfer auf Abruf. 120
Irgendwo über dem Atlantik............................ 124 
Ein Heuchler wird endlich entlarvt ...................... 126 
Belardo unsterblich verliebt ............................ 131
Ein Reiterheer auf arabischen Schimmeln................. 138
Chibembe aus Caluquembe............................. 144
Weichenstellung in 11 000 Metern Höhe.................. 150
Eine Handvoll Geld in letzter Sekunde ................... 155



Mit der Seele erschaut - Briefe und Tagebuchblätter, Fritz Rösch

05/08/2023
von Christ-und-Buch Günter Arhelger

Ein Leben der Tat

Die Gerechten werden weggerafft vor dein Unglück. (Jesaja 57,1.)
Am 2. August 1914 traf Dr. Fritz Rösch, den Verfasser der folgenden Tagebuchblätter und Briefe, in Ägypten die Nachricht vom Ausbruch. des Krieges. Unter großen Schwierigkeiten und manchen Abenteuern, unter Aufopferung seiner ganzen Ersparnisse, kam er schon am 14. August in die Heimat. 

Noch im gleichen ersten Kriegsmonat fiel er in den französischen Vogesen. „Ich habe nur ein Leben, und das möchte ich gern mit Taten füllen", schrieb er einmal seinen Eltern. Eine Tat war sein Leben, eine Tat sein Tod.
Friedrich Rösch war Gelehrter und Missionar, vor allem aber ein Mensch mit einer feinen, tiefen Seele. Er hatte die Gabe, Welt und Menschen mit Seele und Gemüt zu erfassen und, was er gesehen und erlebt, in künstlerisch vollendeten Schilderungen wiederzugeben. Deshalb sind auch seine algerischen Briefe und Tagebuchblätter von bleibendem Werte. Zuerst im „Evangelist" und in der „Christlichen Welt" von 1909 bis 1915 veröffentlicht, kommen sie hier gesammelt zum Abdruck.
Friedrich Rösch war Schwabe. Von seinen Vorfahren, einem urwüchsigen Stamm an den Ufern des Neckars, nicht ferne von Stuttgart, hat sich wertvolles Erbe auf ihn übertragen: durch seinen Vater Urteil und Humor echt schwäbischer Art, durch die Mutter tiefes schwäbisches Gemüt und mystisch gläubiger Sinn mit jener gedankenschweren metaphysisch gerichteten Begabung dies schwäbischen Volkes, aus der in dem engen Bereich des neckarschwäbischen Berg- und Hügellandes ungewöhnlicher Reichtum des Geistes und Gemütes geflossen ist: die eigenartige urwüchsige Erscheinung des altschwäbischen Pietismus mit seinen

Bestell-Nr.: BN7873
Autor/in:Fritz Rösch
Titel:Mit der Seele erschaut - Briefe und Tagebuchblätter
Format:20,5 x 15 cm
Seiten:150
Gewicht:232 g
Verlag:Anker Verlag
Erschienen:1948
Einband:Hardcover/gebunden

Von Dir beschenkt, George Verwer

05/05/2023
von Christ-und-Buch Günter Arhelger

Kämpfer gesucht

Die heutige Welt kann es nicht bequem genug haben. Am tollsten treiben es die Amerikaner, und das verrückteste Beispiel aus den letzten Jahren ist wohl die elektrische Zahnbürste. Es ist von einem Menschen also zuviel verlangt, seinen Arm auf und ab zu bewegen... Vielleicht erfindet demnächst jemand einen Zahnreinigungsapparat für Schnarcher: Während Sie noch schlafen, kommt eine elektronische Zahnbürste von der Decke, und wenn Sie aufwachen, sind die Beißerchen strahlend weiß.
Schnell und bequem will der Mensch es haben. Wenn es jedoch darum geht, die Welt mit dem Evangelium zu erreichen oder jemanden zu helfen, ein Jünger Jesu zu werden, gibt es keine Schnellverfahren, keine Automatisierung. Als der Apostel Paulus auf dem Weg nach Jerusalem war und sich von den Ältesten der Gemeinde in Ephesus verabschiedete, sagte er unter anderem:
Aber nach meinem Leben frage ich nichts, wenn ich nur meinen Lauf vollende und den Dienst tue, der mir von dem Herrn Jesus anvertraut wurde, nämlich das Evangelium von der Gnade Gottes zu bezeugen.


Darum seid wachsam und denkt daran, daß ich drei Jahre lang Tag und Nacht nicht aufgehört habe, einen jeden unter Tränen zu ermahnen (Apostelgeschichte 20,24.31).
Jedesmal, wenn ich diese Verse lese, spüre ich förmlich die Energie dieses Paulus, den Pulsschlag seines Einsatzes für Gott. Paulus war der große Pionier der Weltevangelisation, und wer seinen Fußstapfen folgt, hat keine einfache Wegstrek-ke vor sich. Jesus Christus sucSMenschen, die bereit sind, ihr ganzes Leben in seinen Dienst zu stellen Es gibt kerne Zeitsol
daten in seiner Armee. Bei Jesus dient man buchstäblich bis zum Tod.
Paulus und viele andere Christen seiner Zeit waren sich dieser Tatsache voll bewußt. In den heutigen Gemeinden und Kirchen ist das meist anders. Viele Christen verstehen es sehr wohl, über Kampf und Sieg und Einsatz zureden, aber was dies eigentlich bedeutet, ist ihnen fremd. Sie sprechen eine militärische Sprache und ziehen es im übrigen vor, in den sicheren vier Wänden der geschlossenen Gesellschaft der Frommen zu bleiben. Es ist vielleicht einmal nützlich, sich eine Zeit wie die des Zweiten Weltkriegs zu vergegenwärtigen und die Energie und den Kampfgeist zu sehen, der Männer wie Winston Churchill charakterisierte. Churchill versprach seinen Soldaten Schweiß, Arbeit und Tränen, und doch strömten die Freiwilligen nur so herbei. Ich kann jedem, der daran denkt, ein Jünger Jesu zu werden, nur empfehlen, einmal ein Buch über die Invasion in der Normandie im Jahre 1944 zu lesen. Die alliierten Soldaten wurden auf Schiffen und Lastkähnen übergesetzt und wateten seekrank ans Ufer, um sofort zu kämpfen und ihr Leben für ihre Heimatländer und deren Werte einzusetzen. Der Zweite Weltkrieg war so furchtbar, daß er uns heute fast unwirklich vorkommt. Und doch ist dies alles passiert.
Im 1. Jahrhundert n. Chr. gab es im Mittelmeerraum überall militärische Anlagen. Paulus muß gewußt haben, was es bedeutete, ein Soldat zu sein, um so mehr, als ihm persönlich Mühsal, Leiden, Schmerzen nicht unbekannt waren. Und doch kann er Timotheus schreiben »Leide mit als ein guter Streiter Christi Jesu« (2 Timotheus 2,3) Paulus wußte was er sagte Jeder, der sich zum christlichen Glauben bekennt steht vor der ui4n Wahl Möchtest du ernsthaft ein ausgebildeter Sol Arniee Gottes werden, oder hast du den heimlichen r tut der Tribüne zu stehen und mit deinem nkun wenn die kämpfenden Truppen vor Wut Christi zu worden ist das Beschwer !tü1lendste, Was man in seinem Leben
Als ich mit dem Evangelisieren anfing (das war kurz nach meiner Bekehrung); ging es mir vor allem darum, die Leute dazu zu bringen, daß sie sich für Christus entschieden. Hierauf zielten all meine Gebete ab. Heute geht es mir sehr darum, daß wir christliche Soldaten, Kämpfer für das Evangelium bekommen, denn ohne sie werden wir nie der ganzen Welt das Evangelium bringen können. Der Grund dafür, daß die meisten der ausgebildeten Reichsgottesarbeiter in der Welt unter 10 Prozent der Weltbevölkerung arbeiten und es für die übrigen 90 Prozent nur wenige solcher Arbeiter gibt, besteht darin, daß wir nicht genügend Soldaten besitzen und unsere Schlachtpläne vergessen haben.
Wahrscheinlich sind Sie ganz bestimmte Sitten und Gebräuche gewöhnt, eine bestimmte Sprache, bestimmtes Essen, Kleidung, Klima usw. Die meisten Missionsgesellschaften nehmen keine älteren Kandidaten an (obwohl sich das jetzt allmählich ändert), weil sie befürchten, daß diese nicht mehr hinreichend flexibel und anpassungsfähig sind. Es gibt auch christliche Sitten und Gebräuche, an die man sich gewöhnen kann. Es ist in unseren Kreisen recht einfach, als Frommer zu leben, in den Gottesdienst, die Bibel- und Gebetsstunde zu gehen, Lieder zu singen, rechtgläubig zu sein und sich in schönen Worten über den Glauben auszutauschen - kurz: ein guter evangelikaler Christ zu sein.
Aber wo ist der Kampfgeist, die Einsatz- und Leidensbereitschaft? Oder denken Sie, daß es Gottes Plan entsprechen kann, wenn z. B. die Zeugen Jehovas die Christen an Missionseifer, Hausbesuchen und allen möglichen anderen Dingen weit übertreffen? Wußten Sie schon, daß die amerikanischen Mormonen mehr Missionare aussenden als sämtliche christliche Kirchen in Großbritannien, Kanada, Australien und Neuseeland zusammen? 24000 solcher Mormonenmissionare sind heute unterwegs, und jeder von ihnen ist für die Taufe von zwei Neubekehrten pro Jahr verantwortlich. Nach ihren Schätzungen erfordert jede Bekehrung im Durchschnitt 500 Stunden Hausbesuche.

Inhalt
Einleitung: Kämpfer gesucht 11
Teil 1: Der Ruf in die Jüngerschaft  17
1. Kapitel: Jüngerschaft in einem Zeitalter der Spannung und Furcht 17
2. Kapitel: Heraus aus dem Nebel 23
3. Kapitel: Frucht für Gott  35

Teil II: Biblische Grundlagen für Jüngerschaft und Sieg     42
4. Kapitel: Liebe - das Gütezeichen des Christen . . 42
5. Kapitel: Grundlagen geistlichen Wachstums 52
6. Kapitel: Gottes geistliche Schule  64
7. Kapitel: Waffen und Taktik 87

Teil III: Am Bali bleiben 97
8. Kapitel: Buße 97
9. Kapitel: Nur nicht den Mut verlieren! 102
10. Kapitel: Geistliches Gleichgewicht 115
11. Kapitel: Als Familie leben 126
12. Kapitel: Herr über alles 133

JESUS PRAKTISCH ERLEBEN
Einleitung: Das christliche Doppelleben 143
1. Kapitel: Wonach sehnen wir uns? 146
2. Kapitel: Ein Gebet um Demut 153
3. Kapitel: Bei Gott zur Ruhe kommen 165
4. Kapitel: Gefahren auf dem Wder Nachfolge . . 176
5. Kapitel: Wie kann Gottes Lidff in uns wachsen?. 188
6. Kapitel: Seine Gnade reicht aus für uns ........ 198 
7 Kapitel Erklären Sie sich zu einer Revolution bereit . 203

DIE REVOLUTION DER LIEBE
1. Kapitel: Die Revolution der Liebe
2. Kapitel: Geistliche Ausgewogenheit
3. .Kapitel: Ein offenes Herz
4. Kapitel: Echte Menschen —echte Kraft
5. Kapitel: Wie nehme ich mich selbst und andere an?
6. Kapitel: Eine neue Generation - eine unvollendete. Aufgabe

ISBN:    9783775115308
Format:    18 x 11 cm
Seiten:    310
Gewicht:    240 g
Verlag:    Hänssler
Erschienen:    1990
Einband:    Taschenbuch

Ich habe dem Mörder meiner Tochter vergeben, Johannes Wendel

04/21/2023
von Christ-und-Buch Günter Arhelger

»Ich habe dem Mörder meiner Tochter vergeben« Gott gibt Kraft zum scheinbar UnmöglichenBN3756.jpg?1682062250615

In der Neujahrsnacht 2000 kam meine Tochter Steffi, 1 6 Jahre alt, von einer Feier nicht mehr nach Hause. Sie wurde auf brutalste Weise ermordet. Ein Mann, der zur Sadomaso-Szene gehörte, stach sie mit einem Messer nieder. Er entblößte sie dann, missbrauchte sie mit dem Messer und schnitt ihr am Ende den gesamten Bauchraum auf. Für meine jüngere Tochter Nadine (damals 14 Jahre alt) und mich war das Leben danach furchtbar und unerträglich. Seit 1992 war ich alleinerziehend und hatte mit dem Glauben nicht viel zu tun.
Ein Jahr nach diesem Ereignis unternahm Nadine einen Selbstmordversuch, weil sie das Geschehene nicht mehr ertragen konnte. Sie wurde gerettet, verbrachte dann einige Zeit in der Jugendpsychiatrie und begann aus ihrer großen seelischen Not heraus, sich selbst mit Rasierklingen zu verletzen. Wenn das Blut floss, ging es ihr vorübergehend besser.
Im November 2002 waren wir beide an einem Punkt tiefster Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit und gingen zu einer Freundin, weil wir einfach nicht mehr weiterwussten. Sie sagte uns: »Ich weiß nicht, wie ich euch helfen kann, aber ich kenne jemanden, der es kann«, und dann erzählte sie uns von Jesus Christus. An diesem Tag übergaben Nadine und ich unser Leben Jesus. Er schenkte uns dann Begegnungen mit vielen gläubigen Christen, die uns in unserer Not beistanden, von Gottes Liebe erzählten und mit uns über die Bibel sprachen. Es ging uns von Tag zu Tag und von Woche zu Woche besser. Ich wurde von schwersten Depressionen geheilt und bekam wieder Lebensmut; auch Nadine erholte sich langsam.
Jetzt waren Nadine und ich errettet - doch was war mit Steffi? Sie muss doch auch errettet sein - sonst hat das alles keinen Sinn! Als ich einmal die Kirche besucht hatte, war in mir das tiefe Gefühl und der Friede gewesen, dass Stephanie jetzt ganz nahe bei Gott ist. Aber ich kannte auch den Bibelvers, der sagt: »Es sei denn, dass jemand von neuem geboren werde, so kann er das Reich Gottes nicht sehen« (Jesus zu Nikodemus in Johannes 3,3). Ich durchlebte einen schweren inneren Konflikt bezüglich meiner Liebe zu Jesus und der Ungewissheit, ob Steffi gerettet ist.
Nach Steffis Tod war irgendwann der Zeitpunkt gekommen, ihr Zimmer aufzuräumen und ihre Sachen zu sortieren. Dabei war mir eine kleine Bibel mit grünem Kunststoffeinband in die Hände gefallen. Da wir bereits einige Bibeln zu Hause hatten, sah ich eigentlich keinen Bedarf mehr; trotzdem legte ich sie im Wohnzimmer ins Regal.
Kurz vor meiner Taufe durchlebte ich wieder ein ganz tiefes Loch wegen dieser Ungewissheit über Steffis Errettung. Auf einmal ging ich ohne nach
zudenken ans Regal, nahm diese grüne Bibel heraus und öffnete sie. Damals geschah es ganz ohne Grund; heute weiß ich, dass Jesus mich geführt hat. Ich schlug sofort die letzte Seite mit dem Übergabegebet auf - und dort hatte Steffi mit Datum unterschrieben, als sie 11 Jahre alt gewesen war.
Da heißt es: »Mein Entschluss, Jesus Christus als meinen Erretter anzunehmen: Ich bekenne, dass ich ein Sünder bin, und ich glaube, dass der Herr Jesus Christus für meine Sünden am Kreuz gestorben und zu meiner Rechtfertigung auferstanden ist. Ihn nehme ich jetzt an und bekenne ihn als meinen persönlichen Erretter. «
Ich kann nicht beschreiben, wie überschwänglich meine Gefühle angesichts der großen Gnade waren, die Jesus mir geschenkt hatte! Ich bin so dankbar, dass ich Gewissheit haben darf, dass Steffi nun bei Jesus Christus in der Ewigkeit lebt. Seither ist mir diese kleine Bibel so kostbar geworden.
Ein Jahr nach mir ließ auch Nadine sich taufen. Wir beide erfuhren sehr viel innere Heilung. Jesus hat uns ein ganz neues heben mit viel Liebe und Freude geschenkt.
Der Mörder meiner Tochter war nach dem Verbrechen schnell gefasst worden. Aufgrund der Grausamkeit der Tat wurde er zu lebenslänglicher Haft mit anschließender Sicherheitsverwahrung verurteilt. In einem langsamen inneren Prozess, der Jahre dauerte, machte Jesus mir deutlich, wie wichtig es ist zu vergeben. Eines Tages war ich so weit, dass ich sagen konnte: »Herr Jesus, ich vergebe diesem...

aus vollem und ganzem Herzen.« In diesem Moment durfte ich erfahren, dass ich noch einmal freier und heller an meiner Seele wurde.
Im Februar 2009 besuchte ich den Mörder meiner Tochter im Gefängnis. Er war schwer an Krebs erkrankt. Ich konnte ihm sagen, dass ich ihm vergeben habe und dass auch Gott ihm vergeben möchte. Der Mann bat mich darum, mit ihm zu beten, was ich dann auch tat. Unter Tränen übergab er sein Leben Jesus Christus. 14 Tage später starb er.

Ursula Link, 1955 in Duisburg geboren, lebt seit 1979 in Freiburg. Seit 1992 ist sie alleinerziehende Mutter. Bei der Scheidung sind die beiden Töchter 8 und 6 Jahre alt. Sie können nach der Scheidung einen kleinen Stall mit Ponies und anderen Tieren neben Schule und Arbeit unterhalten und verbringen dort viele schöne Stunden gemeinsam. Wie ein Kleeblatt halten sie zusammen, und immer ist eine für die andere da, bis in der Neujahrsnacht 2000 das Unfassbare geschieht, das ihr Leben von dz an komplett verändert

Heute ist Ursula Link Mitglied einer internationalen Christengemeinde, arbeitet ehrenamtlich beim Schwarzen Kreuz mit, einer christlichen Straft2illigen-Hilfe, und besucht zweimal wöchentlich Strafgefangene sowohl im Untersuchungsgefiingnis als auch bereits verurteilte Gefangene. Beruflich arbeitet sie vollzeitlich als Chemielaborantin in der Qualitätskontrolle einer Arzneimittelfirma.
Ihre Lieblingsbibelverse sind Johannes 10,10: «Ein Dieb kommt nur, um zu stehlen, zu schlachten und umzubringen. Ich Jesus Christus] bin gekommen, damit sie das Leben und volle Genüge haben sollen.<, Das hat sich so bewahrheitet in ihrem Leben. Und Jesaja 61,1: "Er hat mich gesandt, den Elenden gute Botschaft zu bringen, die zerbrochenen Herzen zu verbinden, zu verkündigen den Gefangenen die Freiheit, den Gebundenen, dass sie frei und ledig sein sollen. «

- ich schrie zu Gott - der Atheismus gab mir keine Antwort - Brustkrebs mit 38 Jahren - auf der Suche nach dem Sinn  - Traumschiffpianist auf MS Deutschland - Drogen, Raubüberfälle und keine Perspektiven - dort wohnt Gott drin  - die zerlesene Gideon-Bibel - getröstet über allen Schmerz - fliegen Sie gern? - reich, berühmt, erfolgreich, innerlich leer  - auf der Suche nach Freiheit - ich schäme mich des Evangeliums nicht - wenn ich jetzt springe, geht es ganz schnell...  - ein kleines Amen auf Gottes großes JA - ich wollte und wollte nicht - Schritte in ein neues Leben

ISBN:9783894368302
Format:
11 x 18 cm
Seiten:
93
Gewicht:
92 g
Verlag:
Christliche Verlagsgesellschaft
Erschienen:
2010

Stark und zart - Wie sich eine Frau den Mann wünscht, Joyce Landorf

04/14/2023
von Christ-und-Buch Günter Arhelger
Danke, Frau, das hat mir gerade noch gefehltBV11350.jpg?1681450325490

Ich will dich den Weg der Wahrheit führen; ich will dich aufrechter Bahn leiten, daß, wenn du gehst, dein Gang dir nicht sauer werde, und wenn du läufst, du nicht strauchelst. Bleibe in der Unterweisung, laß nicht ab davon; bewahre sie, denn sie ist dein Leben.
Sprüche 4, 11-13

Wenn ich von diesen bedruckten Seiten aufblicke, kann ich nur schwer sagen, was Sie, lieber Leser, wirklich denken. Ich kann mir vorstellen, daß einige von Ihnen nicht nur neugierig sind, sondern ein aufrichtiges Interesse daran zeigen, was eine Frau nun wirklich von ihrem Mann erwartet. Es mag sein, daß sie sich seit Jahren bemühen, ein ausgeglichener Ehemann zu sein, und daß Ihnen dies auch ziemlich gut gelungen ist, aber trotzdem kommt es vor, daß Sie ab und zu die Hände ringen und verzweifelt ausrufen: »Ich werde die Frauen nie verstehen!«
In vielen Ihrer Gesichter kann ich ganz klar den Ausdruck resignierter Enttäuschung erkennen. Dieses Buch bringt nicht das, was Sie erwartet haben. Der Grund liegt darin, daß Ihre Frau wahrscheinlich nun schon seit Tagen mit wichtigem Gehabe durch das Haus eilt. Sogar ihr Gang scheint zu sagen: »Ich weiß etwas, was du nicht weißt.«
Seit Tagen geschieht das so, und heute morgen waren Sie sich dessen ganz sicher.

Als Sie sich nach der Quelle ihres überschwenglichen Wesens erkundigten, hofften Sie insgeheim, Ihren Namen zu hören. Stattdessen blieb sie kurz stehen, winkte Ihnen zu und sagte: »Liebster, ich habe eine tiberraschung für dich!«
»Eine Überraschung?« dachten Sie. »Aha! Ich weiß, was es ist! Seit Monaten liest sie nun schon ein Buch nach dem anderen darüber, wie man eine erfüllte und anziehende Ehefrau wird, und dies ist nun das Ergebnis. Sie will mir nun zeigen, was sie gelernt hat. 

Das ist großartig. Ich möchte wissen, wie sie es anstellen wird!« Sie verfielen in hoffnungsvolle Erwartungen.
Als Sie an diesem Abend nach Hause fuhren, kam sie nicht heraus, um Sie zu begrüßen, und das Haus lag in einer seltsamen Stille. Der Hoffnungsschimmer stahl sich wieder sachte in Ihre Gedanken ein und setzte Ihre Phantasie wieder in Bewegung. Sie riefen also zärtlich: »Liebling, ich bin da!«
Nachdem Sie das Haus einige Zeit durchstreift hatten, fanden Sie sie schließlich im Zimmer eines Ihrer Kinder. Sie stand bis zu den Knien in Schmutz und Durcheinander, hielt in der einen Hand den kaputten Schlauch des Staubsaugers und in der anderen die Katze. Sie hörte, wie Sie »Hallo« sagten und erklärte, daß die Katze in dem Augenblick, als der Staubsaugerschlauch platzte, in einen Abfalleimer gesprungen sei, weil sie dort eine Maus vermutete. Das Chaos war unvorstellbar. Sie richtete sich aus all dem Durcheinander auf und sagte: »Liebster, bin ich froh, daß du zu Hause bist! Du glaubst nicht, was heute wieder für ein Tag war!«
Irgendwo in Ihrem Kopf schlug die Tür der Hoffnung zu. Sie standen da wie ein begossener Pudel.
Ohne Ihnen einen Blick zu schenken, sagte sie: »Wir werden essen, sobald ich dieses Durcheinander ein wenig in Ordnung gebracht habe.«
Nach ein paar Sekunden sagten Sie dann in einem Ton, der nur als der eines kleinen Jungen beschrieben werden kann: »Aber ich dachte, du hättest eine Überraschung für mich. Du hast es doch heute morgen gesagt.«
»Ach so.« Sie packte die Katze und die restlichen herumliegenden Utensilien und schwebte damit an Ihnen vorbei, während Sie nicht wußten, ob nun Ihre Frau oder die Katze Ihnen zugeschnurrt hatte: »Ich weiß, ich weiß, aber das kommt erst nach dem Essen.«
Ah, es gab wieder hoffnungsvolle Erwartung. Die Tür der Hoffnung wurde dieses Mal nicht nur geöffnet, sondern durch eine zweifellos erregende Aussage offengehalten. Sie fühlten sich sofort wieder besser!
Das Abendessen war gut; die Kinder befanden sich in einer ziemlich 10
ausgelassenen Stimmung, und Ihre Frau sah aus wie immer— außer einem winzigen, aber doch erkennbaren Leuchten in ihren Augenwinkeln. Sie halfen ihr, den Tisch abzuräumen (das mindeste, was Sie tun konnten) und setzten sich dann auf das Sofa, studierten den Sportteil der Zeitung und erwarteten den Augenblick der Offenbarung.
Schließlich war es soweit. Die Küche war in Ordnung gebracht, die Kleinen waren im Bett, der Teenager machte noch Hausaufgaben in seinem Zimmer zu unglaublich lauter Musik, und endlich schmiegte sich Ihre Frau an Sie und sagte: »Liebling, hier. Dies ist meine Über-
raschung für dich.«
Es war ein Buch. Ein Buch, geschrieben von einer Frau. Ein Buch über das, was eine Frau von ihrem Mann erwartet, mit dem Titel:
»Stark und zart.«
Während Sie dasaßen und dachten: »Danke, Frau, das hat mir gerade noch gefehlt«, erzählte sie Ihnen irgend etwas über den Verfasser, und wie gelungen dieses Buch doch sei. Sie aber überbrückten die Zeit mit dem Gedanken: »Will sie mich aufziehen? Ich habe keine Zeit, um all die langweiligen Berichte zu lesen, die ich für meine Arbeit brauche. Ich habe keine Zeit, mich für die gerade laufenden Kurse vorzubereiten. Ich habe nicht einmal Zeit, jeden Abend den Sportteil durchzulesen, geschweige denn den Wirt-.schaftsteil der Zeitung. Außerdem ist dies kein Buch, das mir hilft, meine Golftechnik zu verbessern. Es ist ein Buch über das, was sie
von mir will!«
Wenn ich, lieber Leser, damit in etwa Sie und Ihre Gefühle beschrieben habe, kann ich gut verstehen, warum Sie so enttäuscht sind. Aber versuchen Sie doch, ein paar Seiten zu lesen—wenigstens
Ihrer Frau zuliebe.
Wissen Sie, heute morgen hatten Sie recht, als Sie an die vielen Bücher dachten, die sie in der letzten Zeit gelesen hat. Diese Bücher waren ihr auf so vielen Gebieten eine Hilfe. Sie hat sich wirklich mit der Frage beschäftigt, wie sie die Frau, die Ehefrau, die Mutter und besonders das Wesen sein kann, das Gott sich wünscht. Sie hat Bücher darüber gelesen, und sich mit anderen darüber unterhalten. Aber während sie diese Bücher las, kam ihr ein eigener Gedanke.
Sie begann zu erkennen, daß sie ein Problem hatte. Wenn sie sich wirklich ändern wollte, wenn sie Gott wirklich in ihrem eigenen Leben wirken lassen wollte, wird es eine große Hilfe für sie sein, wenn ihr Mann bereit wäre, sie dazu zu ermutigen, zu unterstützen und anzutreiben. Wenn sie selbst die Vergebung Gottes in ihrem eigenen Leben erfahren hat und in der Lage war, anderen zu vergeben, sie anzunehmen und zu ihren Lebensumständen ja zu sagen, könnte es notvoll werden, wenn ihr Mann dazu nicht fähig war.
Sie fühlt sich in ihrem täglichen Kampf um eine gute Ehefrau allein gelassen. Sie fühlt sich eigentlich mehr als Witwe oder Geschiedene. Als Mutter ist sie oft enttäuscht, weil sie sich in der Erziehung und Züchtigung der Kinder den Problemen einer alleinstehenden Frau gegenübergestellt sieht. Sie träumt von einer Ehe als echter Partnerschaft. Sie hält nicht viel von der romantischen Vorstellung der Ehe, in der eine wunderschöne Märchenprinzessin und ein starker, mutiger Ritter auf einem weißen Pferd dem Sonnenuntergang entgegenreiten und ihr Leben lang gemeinsam glücklich sind. Sie wünscht sich eine echte, lebendige Ehe, in der sich zwei Menschen achten und lieben. 

Ganz tief in ihrem Herzen sehnt sie sich danach, daß sie und ihr Mann ein Liebespaar sind (was Sie vielleicht überrascht). Sie hat gelesen, daß Gott, der größte aller Autoren, die Ehe so geplant hat, daß man die Eltern verläßt, einander an-hangt und ein Fleisch wird. Sie träumt davon, daß zwischen ihr und ihrem Mann eine echte Liebe besteht, eine Liebe, die nicht mit den Jahren verblaßt und abnimmt; eine Liebe, die blüht und sich entfaltet und reift; eine Liebe, die in einem mit Menschen überfüllten Raum auch nach dreißig Jahren noch strahlt und verbindet und die alle anderen Personen ausschließt, so als ob sie überhaupt nicht anwesend wären.
Sie wünscht sich aus ganzem Herzen, daß ihr Leben mit Ihnen so aussieht, aber ohne Ihre Hilfe, Ihre Ermutigung und Ihre Unterstützung bleibt dieser Wunsch eine phantastische Illusion. Die Umstände, so muß ich hinzufügen, stehen alle gegen Ihre Ehe, Ihre Familie und Ihr wahres Lebensziel, sie können Ihnen sogar jeglichen Boden unter den Füßen wegziehen.
Trotz allem, lieber Mann, möchte ich mit alldem, was ich gerade gesagt habe, meine Hoffnung ausdrücken, daß Sie nicht zu sehr ent-
täuscht sind von dieser Überraschung, von diesem Buch. Ich hoffe, daß Sie beim Lesen - sich hingebungsvoll in Ihre Frau verlieben, Ihre Kinder als das betrachten lernen, was sie wirklich sind, nämlich als ein Geschenk Gottes, sich des Lebens freuen, nicht nur der bloßen Existenz, sich täglich mit großer Freude und großem Vertrauen in dieses Leben stürzen als der Mann, der so ist, wie Gott ihn sich wünscht. -

Inhalt
1 Danke, Frau, das hat mir gerade noch gefehlt 9
2 MannoderMythos 14
3 Der Mann und die Entscheidungsverantwortung 28
4 DergeistlicheFührer 46
5 Der beispielhafte Zuhörer 66
6 DerweiseGentleman 86
7 Der zärtliche Liebhaber 109
8 Ein ganz unmöglicher Mann 125

Francke ISBN 388224 012 1

Kann man Gott entfliehen? Viggo Olsen; Jeanette Lockerbie

04/09/2023
von Christ-und-Buch Günter Arhelger

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Zu meinem fünften Geburtstag bekam ich das Taschenmesser, das ich mir schon wochenlang gewünscht hatte. Die Schnitzerei, die ich am nächsten Tag sogleich in Angriff nahm, wurde jedoch nie fertig. Das Messer rutschte aus und bohrte sich in das untere Glied meines linken Daumens. Die Wunde blutete heftig. Noch heute vermerke ich auf Ausweisformularen unter „Besondere Kennzeichen": „Narbe am unteren Glied des linken Daumens."
„Ich glaube, ich habe mich ziemlich schlimmgeschiEiit-ten", flüsterte ich meiner schlafenden Mutter ins Ohr. Vermutlich hatte ich zu ruhig gesprochen, denn sie war nicht im geringsten erschrocken. Noch ganz verschlafen richtete sie sich auf und schlüpfte gemächlich aus dem Bett, während ich in die Küche eilte. Der Anblick der Blutspur, die zur Küche führte, beschleunigte jedoch Mutters Schritt. Die Fahrzeit von unserer Wohnung ins Krankenhaus kann nur wenig unter dem derzeitigen Weltrekord gelegen haben. An jenem Tag machte mich mein Onkel - er war nämlich der behandelnde Arzt - erstmals mit der Chirurgie bekannt, als er die Schnittwunde sorgfältig nähte.
Mit sieben Jahren waren Cowboys und Indianer meine große Leidenschaft. „Wenn doch nur auf meinem Geburtstagstisch ein Paar perlmuttbesetzte Pistolen komplett mit Halfter und Gürtel liegen würden! Ich wäre der glücklichste Junge der Welt!" sagte ich mir. Wie selig war ich, als mein Traum tatsächlich in Erfüllung ging. 

Ich konnte gar nicht verstehen, weshalb meine Eltern lächelnde Blicke austauschten, als ich diese neuen Kostbarkeiten unter meinem Kopfkissen verstaute und zwischen den Klumpen und Beulen dann einen Platz für meinen Kopf suchte. Am anderen Morgen war ich bereits in aller Frühe mit Schießübungen beschäftigt, wollte ich doch der schnellste Schütze in ganz Omaha, Nebraska, werden.
Als ich neun Jahre alt war, hielt ein zweites Kind, um, seinen Einzug in unsere Familie. Mit drei Jahren gab er uns bereits eine Kostprobe seiner Vorliebe für Mechanik, als er um einen „Schraubenzieher, um Schrauben zu schrauben" bat. Vor meinem dreizehnten Geburtstag kam der letzte Sprößling an und machte das Jungentrio vollzählig. Charles, zu allen Streichen aufgelegt, nahm seine Aufgaben stets mit Elan in Angriff.


Mein Vater meinte, ich solle ein Musikinstrument erlernen. Ich entschied mich (warum weiß ich heute nicht mehr) für Geige, und damit fing die leidige Überei an. Ich habe niemals erfahren, wem sie mehr auf die Nerven gegangen ist, meinen Eltern oder mir. Sie haben ihre Empfindungen erfolgreich unterdrückt und mir immer neu Mut gemacht. Ich übte im „Trainingszimmer", eine allzu liebreiche Bezeichnung für die Folterkammer, in der ich mich verbissen mit den Stahl- und Katzendarmsaiten auseinandersetzte. Ich machte Fortschritte. Nach einigen Monaten war ich startklar für den ersten großen Auftritt in einem Musical der fünften Klasse.
Als am Tage der Vorstellung mein Name aufgerufen wurde, trat ich auf die Bühne und blickte auf die Gesichter meiner Mitschüler hinab. Plötzlich war die lebenswichtige Verbindung zwischen meinem Gehirn und meinen Fingen unterbrochen, mit dem Ergebnis, daß mein Musikvortrag allen Absichten des Komponisten hohnsprach. Als anderntags die Todesursache des Musicals geklärt wurde, wartete ich gefaßt auf die Diagnose unserer Lehrerin. Sie nahm kein Blatt vor den Mund. „Viggo, das war so sauer wie eine saure Gurke." Mein Kopf sackte auf: meine Arme herab, und der Tisch erzitterte unter
meinem heftigen Schluchzen. „Zurück mit dir ins Trainingszimmer, Olsen!' sagte ich mir schweren Herzens.

Als mein Vater dann eines Tages an unserer Garage ein Zielbrett und einen Basketballkorb befestigt hatte, setzte eine Invasion von Kindern aus der Nachbarschaft auf unser Grundstück ein. Eigenartigerweise ergab sich im Zusammenhang mit dem Basketballzubehör die erste Gelegenheit für mich, eine „Operation" durchzuführen. Das Weihnachtsfest stand vor der Tür, und hie und da ließ ich ein paar Andeutungen fallen, daß ich mich über einen Basketball unter dem Weihnachtsbaum sehr freuen würde. Eines Tages entdeckte ich ein geheimnisvolles viereckiges Paket im Abstellraum. Nach Form und Größe zu urteilen, konnte es ohne weiteres einen Basketball beinhalten; wiederholtes Schütteln deutete ebenfalls auf die Anwesenheit eines Basketballs hin. Wie konnte ein Junge aber sicher sein, ohne ihn tatsächlich gesehen und betastet zu haben? Es waren noch etliche Tage bis Weihnachten, und meine Eltern waren für den Abend ausgegangen. Mein Gewissen zwickte mich zwar unaufhörlich. Trotzdem suchte ich mir eine Rasierklinge und machte mit zitternden Fingern meinen ersten Einschnitt - in das braune Umschlagpapier. Sorgfältig ritzte ich die verdeckte Fläche unterhalb des Überschlags ein (klassisches Vorgehen in der Chirurgie) und nahm behutsam den Ball heraus. Dieser Ball war der größte „Tumor", den ich jemals entfernt habe, und der, einzige, den ich wieder hineingelegt habe!
Zur Schulabschlußfeier erhielt ich einen nagelneuen
Anzug, zweifarbene Schuhe und die Bewunderung meiner zwei kleinen Brüder, die mich mit großen Augen an-
starrten. Das Trainingszimmer hatte seine Aufgabe er-
füllt und mir größere Gelassenheit und Fingerfertigkeit als Violinspieler vermittelt. Als ich mein Solo vortrug und das Orchester in einer Nummer dirigierte, mußte ich im stillen denken, wenn mich nur die „Sauer-wie-eine-saure-Gurke"Lehrerin sehen könnte! Solch ein eingebildeter Bengel war ich!
Die Unterschrift meines Vaters lautete „Viggo C. 0lsen". Logisch - wie wäre ich sonst zu einem Namen wie Viggo gekommen! Vater war Ingenieur und hatte es mit seinem großen Fleiß schließlich zu einem eigenen Betrieb gebracht. Seine dynamische, warmherzige Persönlichkeit veranlaßte nicht selten Clubs und andere Vereine dazu, ihn zum Vorsitzenden zu ernennen. An seine Söhne stellte er hohe Anforderungen. Vater war immer ein wunderbar großzügiger Mensch und hat uns niemals seine finanflefle Hilfe versagt, wenn es darum ging, unser Gedankengut zu erweitern, Talente zu entwickeln oder unseren Reifeprozeß zu fördern. Weil er mein Leben entscheidend und dauerhaft geprägt hat, denke ich mit großer Liebe und Dankbarkeit an ihn zurück.
Mutter war zweifellos eine sehr gute Krankenschwester. Sie umsorgte uns vorbildlich. Damit sind jedoch nicht nur ihre hausfraulichen Fähigkeiten gemeint, sondern vor allem auch ihre unvergeßliche Liebe und Herzenswärme mit denen sie uns umgab. Mag Schönheit auch nur etwas Oberflächliches sein, so fand ich es dennoch herrlich, eine schöne Mutter zu haben. Auch sie war eine dynamische Persönlichkeit, und ich kann mich noch gut an ihre leuchtend braunen Augen erinnern. Trotz ihrer liebevollen Art schrak sie nicht davor zurück, uns, wenn nötig, zu strafen. Meinen ersten Tanz hüpfte ich im Takt zu der Gertenri.jt
in ihrer Hand Mutter war die treibende Kraft hinter dem Erfolg des Trainingszimmers Wie mein Vater lehrte sie
uns Idealismus, hohe moralische Maßstäbe und hielt uns stets an, das Rechte zu tun. Sei rechtschaffen, mein Junge, du wirst es nie bereuen!" Diese Worte beherrschten unser Gewissen. „Wenn sich etwas zu tun lohnt, muß man es gut machen", lautete ihre Mahnung, mit der sie uns zu verstehen gab, daß halbe Arbeit nichts taugt. Auch meine Mutter hat mein Leben sehr beeinflußt.

LEHR- UND WANDERJAHRE
Als Teenager hat mein Herz mehr als einmal wild und unkontrolliert geklopft, Eines Nachts forderte mich ein Freund dazu heraus, mit ihm den Getreideaufzug hinaufzuklettern. Es war ein riesiger Betonklotz, der bis in den Himmel hineinzuragen schien. „0. K.", sagte ich großspurig. Abgeblätterte Farbe und orangenfarbener Rost bedeckten die schmale Stahlleiter, die an der Betonwand des Aufzugs befestigt war. Sie ragte so hoch hinauf, daß man trotz des hellen Mondlichts ihre Spitze nicht erkennen konnte. Auf die erste Sprosse, die sich etwa zweieinhalb Meter über dem Erdboden befand und somit für uns unerreichbar war, gelangten wir, indem einer den anderen hochbugsierte und von ihm nachgezogen wurde. Während wir höher und höher kletterten, heulte uns der Wind um die Ohren und zerrte an unserer Kleidung. Auf einmal kam ich an eine Stelle, an der eine Sprosse fehlte. Ich überlegte kurz, ob ich nicht doch lieber umkehren sollte. Doch dann reckte ich mich nach oben und drängte weiter, fünfzehn Stockwerke in den Himmel hinein. Kurz vor dem Ziel, dem Dach des Aufzugs, rüttelte und schüttelte uns der Wind wie eine Vogelscheuche. Ich klammerte mich verzweifelt an die Sprossen. Mein Leben hing von ihnen ab. Und genauso war es! Endlich krabbelte ich über den Rand und erreichte das flache Dach und festen Grund unter den Füßen. Dabei bummerte mein Herz in meiner keuchenden Brust wie ein Preßlufthammer. Als wir eine Stunde später den gefährlichen Rand vor dem Abstieg noch einmal untersuchten, ging der Preßlufthammer wieder in Betrieb. Die Leiter endete genau am Dachrand. Mit dem Geländer hatte man ebenfalls gespart; es ragte keinen Zentimeter über den Dachrand hinaus. Rückwärts ließ ich mich in die dunkle, gähnende Tiefe hinabgleiten. Wie von einem Strudel wurde ich von den heulenden Sturmböen gepackt,
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während ich hilflos über dem Abgrund hing, bis endlich meine suchenden Hände und Füße die rettenden Sprossen fanden und sich daran festkrallen konnten. Der Preßluft-hammer hämmerte die ganzen fünfzehn Stockwerke hinunter und noch geraume Zeit danach. Nie wieder habe ich mich auf solch eine leichtsinnige und gefährliche Herausforderung eingelassen.
Als ich wenige Jahre später in den frühen Morgenstunden schwankend nach Hause kam und unsere Haustür aufschloß, war das innere Pochen wieder da. Meine Mutter saß im Sessel und wartete auf mich - und ich war betrunken. Diesmal war es die Scham, die den Preßluft-hammer in Gang gesetzt hatte. „Junge", fragte sie, „wo bist du gewesen?" Dann erkannte sie meinen Zustand, und augenblicklich breitete sich ein•Ausdruck des Schmerzes über ihr Gesicht. Obgleich sie nichts weiter sagte, während ich die Treppe in mein Zimmer hinaufstolperte, schien es mir, als hörte ich das Echo ihrer Stimme aus der Vergangenheit; „Sei rechtschaffen, mein Junge - du wirst es nie bereuen!"
Während meines ersten Semesters an der Oberschule lernte ich die Einsamkeit kennen. Meine Klassenkameraden aus der Grundschule waren alle in die nahegelegene North High School hinübergewechselt. Ich hingegen hatte mich für die Central High Scheel in der Innenstadt entschieden, weil mein Geigenlehrer dort das Orchester leitete. Zudem betrachtete ich Central High als akademisch stärker, auf alle Fälle aber kultivierter. Kultiviert-heit war jedoch kein Heilmittel für meine Einsamkeit, und das strenge akademische Pensum forderte seinen Tribut.
Gegen Mitte des Semesters hatte ich zum erstenmal in einem Fach eine glatte sechs, und auch in der darauf-
folgenden Prüfung erzielte ich kein besseres Ergebnis. Latein hieß die Nemesis*, die mir verdeutlichte, daß ich * strafende Gerechtigkeit.
mich in der Grundschule niemals in der Disziplin des Lernens geübt hatte. Bis zum Eintritt in die Oberschule hatten die einzelnen Fächer wenig oder gar kein Lernen erfordert. Ich war am Boden zerstört und wußte mir keinen Rat. Mutter hatte die Antwort bereit. „Ab mit dir in das Trainingszimmer, mein Junge. Vor dir liegen zwei Wochen Weihnachtsferien. Wenn du in diesen zwei Wochen Tag und Nacht arbeitest, schaffst du's!" Wie üblich, hatte sie wieder einmal richtig diagnostiziert. Einsen für die letzten paar Hausaufgaben und in der Abschlußprüfung brachten meine sechs auf eine wunderschöne, herzerfrischende zwei minus. Bis zum heutigen Tag sind mir einige jener damals gepaukten lateinischen Wörter im Gedächtnis haften geblieben. Wieder war das Trainingszimmer die Rettung gewesen. Vater stellte es zur Verfügung, .Mutter sorgte dafür, daß ich drin blieb, und ich erntete den Nutzen.
Einmal arbeitete ich während der Sommerferien in der Speckabteilung einer Konservenfabrik. Die schwere körperliche Arbeit gefiel mir, legte ich doch Wert darauf, Muskelkraft zu entwickeln. Hier gewann ich neue Freunde,' viele von ihnen mit polnischen, böhmischen und slawischen Namen. Sie arbeiteten schwer, tranken viel und verfügten über einen entsprechend kräftigen Wortschatz, von dem sie regen Gebrauch machten. Sie nannten mich „Slim". Ich kam prächtig mit ihnen aus, denn meine Klassenkameraden hatten ähnliche Fähigkeiten aufzuweisen.•
Diese Schulfreunde waren weltklug; einige von ihnen stammten aus angesehenen Familien. Wir führten ein flottes Leben, besuchten Parties und Tanzveranstaltungen, Bars und dunkle Spielhallen. Wir tranken, spielten und fluchten, als seien dies Zeichen besonderer Leistung.
Vom musikalischen Standpunkt aus betrachtet, war mein Entschluß, in die Central High Scheel zu gehen, weise gewesen. Das ständige Üben hat zwangsläufig dazu

© 1973 by The Moody Bible Institute of Chicago
ISBN 3-87739-542-2 1, Auflage 1973 Z.. durchgesehene Auflage 1974 ;Umschlaggestaltung: Egon Schwanz tjmschlagfoto dpa Satz: W. Bechstein KG, Wetzlar erstellung K H Benatzky, Hannover rhifed In Germany

Maria Sprenger er führt zum Ziel, Arno Pagel

04/08/2023
von Christ-und-Buch Günter Arhelger

Maria Sprenger Geb. 31. 8. 1846 in Basel als Tochter eines aus Baden stammenden Kaufmanns.

In der Konfirmationszeit lebendige geistliche Einflüsse durch den Basler Pfarrer Dr. Ernst Stähelin, später durch Dorothea Trudel in Männedorf Lehrerin an der Taubstummenanstalt in Rieben bei Basel. 1884 Begründung einer Taubstummenanstalt und eines Gästeheims in Lahr (Baden), nach einigen Jahren nach Dinglingen verlegt. Seit Mitte der neunzigerjahre nur noch Seelsorgedienst, auch, durch einen umfangreichen Briefwechsel. Gest. 25.1.1934.

Frühe Entschiedenheit
Maria und ihre einige Jahre ältere Schwester Emilie verlebten in der wirtschaftlich, aber auch geistlich aufblühenden Stadt Basel eine glückliche Kindheit und genossen eine vorzügliche Erziehung. Allerdings fehlte es auch nicht an Strenge von seiten der Eltern. Ein Beispiel: Eines Tages stellte die Mutter gelbe Rüben auf den Tisch, die recht schmackhaft zubereitet waren. Die, kleine Maria konnte sich für das Gericht allerdings nicht begeistern. Als die Schüssel zum zweiten Male die Runde machte, ließ sie diese an sich vorbeigehen mit der Bemerkung: »Ich bin satt.« Dann kam ‚aber noch Kuchen als Nachtisch an die Reihe. 

Er wurde an dem satten« Töchterchen vorbeigereicht. Und wie gut und gern hätte sie ihr Stück noch geschafft! Sie wandte sich bescheiden bittend an den Vater. Doch dieser entgegnete mit strenger Miene: »Mein Kind ist doch satt!« Darauf die Kleine: »Ja, Vater, Rübele satt!« Der Vater ließ sich nicht, erweichen: »Satt ist satt!«
Das frohe Spielen und Springen mit der geliebten Schwester Emilie fand ein frühes Ende, als diese an einer schmerzhaften Kniegelenkentzündung erkrankte. Diese zog sich durch Jahre hin, und alle ärztliche Hilfe. und Pflege brachte keine Besserung. Auch eine spätere Badekur blieb ohne jeglichen Erfolg. 

Nun aber griff Gottes verborgene Hand wundersam in das Leben des jungen Mädchens ein. Es hielt sich an dem betreffenden Badeort ein junger Mann auf, der genau dasselbe Leiden hatte wie Emilie. Sein Name war Arnold Bovet. Er wurde später der unermüdliche Vorkämpfer des Blauen Kreuzes in der Schweiz. Der junge Bovet sollte noch eine weitere Badekur mi südlichen Frankreich machen, und er versprach den Eltern Sprenger, sofort zu schreiben, falls diese Erfolg hätte.

Es kam tatsachlich nach einigen Monaten eine Nachricht von ihm, jedoch nicht aus Frankreich. Bovet war vielmehr an einen ganz andern Ort »verschlagen« worden, und zwar flach Männedorf im Kanton Zürich. Dort lebte und wirkte die bekannte Dorothea Trudel, auch Jungfer Trudel genannt. Sie hatte eine besondere Gabe der Seelsorge und legte auch Kranken unter Glaubensgebet die Hände auf. Vielen Menschen war schon an Leib und Seele geholfen worden. Auch Arnold Bovet konnte berichten, daß es ihm mit seinem Leiden viel besser gehe. Er forderte Emilie Sprenger auf, sich auch eilends nach Männedorf zu begeben. Gott könne sich auch an ihr als der gute Arzt verherrlichen.

Den Eltern Sprenger war zunächst bei diesen Dingen nicht ganz wohl. Sie waren zwar gut kirchlich eingestellt, witterten hier aber eine gewisse Schwärmerei. Nur zögernd gaben sie die Einwilligung zur Reise ihrer Tochter. Doch diese empfing durch den Dienst von Dorothea Trudel eine wunderbare Hilfe. Ihr Knieleiden verschwand, und ihre Seele wurde gesund durch die Gewißheit der ihr durch das Blut Jesu Christi zuteil gewordenen Vergebung ihrer Sünden. Nun stand die eine der Schwestern Sprenger im lebendigen, entschiedenen Glauben an den Heiland. Und die andere, Maria, folgte bald nach. Sie hatte einige Zeit in einem Pensionat in der französischen Schweiz zugebracht und war dann in ihre Geburtsstadt Basel zurückgekehrt. 

Der Tag ihrer Konfirmation wurde für sie der bewußte Beginn eines entschiedenen Glaubensweges. Die Eltern hielten die klare Haltung ihrer Kinder zunächst für eng und übertrieben. Doch legten sie ihnen keine wirklichen Hindernisse in den Weg. Sie wurden vielmehr je länger je mehr beeindruckt, als sie sahen, daß die Töchter Vater und Mutter mit vermehrter Achtung, Liebe und Dankbarkeit umgaben. Sie erfüllten ihnen die Bitte um einen gemeinsamen Aufenthalt bei der »Jungfer Trudel« in Männedorf. Dort wurde das Christentum der beiden noch weiter vertieft. Ihr ganzes Leben sollte ein Opfer der Liebe und des Dankes an ihren Heiland sein. Als Wahlspruch leuchtete über ihrem ganzen ferneren Glaubens- und Dienstweg:
»Für einen ewgen Kranz das arme Leben ganz!« Sie durften dann durch ihren Wandel auch die Eltern für das Evangelium gewinnen. Es folgte noch €ne gute Zeit miteinander bis zu deren frühem Tod.
Taubstummenlehrerin in Riehen Nach dem Heimgang der Eltern kamen die beiden Schwestern Sprenger zunächst als Lehrerinnen und Erzieherinnen an die Taubstummenanstalt in Riehen bei Basel. Deren Leiter war zu jener Zeit der prächtige Inspektor Wilhelm Arnold, der auch von Maria und Emilie sehr verehrt wurde. Die beiden gaben sich ihrerAufgabe mit großem Eifer und der ganzen Liebe ihres Herzens hin. Die Schüler und Schülerinnen dankten es ihnen mit einer großen Anhänglichkeit. Bald wurde überall lobend von den Erfolgen des Unterrichts gesprochen. Diese waren bisher nur Mäßig und begrenzt gewesen. 

Jetzt kam es zu einer erstaunlichen Steigerung der Leistungen. Die Gehörlosen lernten tadelloses Ablesen vom Mund, deutliches Sprechen und geistige Bildung. Auch wurde ihnen die Welt der Bibel und des Glaubens an Gottes Heil in Jesus Christus erschlossen. Der Ruf von Riehen drang weit ins Land hinaus, und es erschienen viele Taubstummenlehrer und sogar Vorsteher anderer Anstalten, um von den Schwestern Sprenger und ihren Methoden zu lernen.
Einer der Schüler kam aus Lahr in Baden und hieß Gustav Schweickhardt. Er war der jüngste Sohn der Familie. Wie es ihm in Riehen ergangen ist, darüber liegt der Bericht von Friedrich Guthmann, einem langjährigen Mitarbeiter der St.-Johannis-Druk-kerei C. Schweickhardt in. Dinglingen, vor:

»Gustav verlor durch eine Erkrankung an Scharlach das Gehör. Der Vater entschloß sich, diesen Sohn nach Riehen in die Anstalt zu geben, daß er dort zu einem brauchbaren Menschen erzogen würde. Und so kam er mit Fräulein Maria Sprenger zusammen. Jährlich einmal durfte er auf sechs Wochen nach Hause nach Lahr und dort die großen Ferien zubringen. Wie groß war das freudige Erstaunen der Familie Schweickhardt, wenn wieder der kleine Gustav heimkam und man bei ihm die schönen Fortschritte im Sprechen und im Ablesen feststellen konnte, der doch vorher die Sprache ganz verloren hatte! Noch mehr staunte man über seine guten Sitten und die echte Frömmigkeit.«

Es geht in der Schilderung sehr interessant weiter: »Besonders stark war der Eindruck von dem, was an Gustav . geschah, bei seinem nächstälteren Bruder Max. Er war zum Lehrer ausgebildet und entschloß sich, Taubstummenlehrer zu werden. Er war mehrere Jahre in Riehen, auch als sein Bruder Gustav schon entlassen war. -

Die große innere Veränderung, die sich dann auch bei Max Schweickhardt in Riehen vollzog, wurde von seiner Familie nicht verstanden. Die große Entschiedenheit, mit der er sich von der Welt, von allen Bekannten und Verwandten, die nicht zum verachteten Häuflein des Nazareners gehörten, trennte, hielt man für zu weitgehend. Indessen ging Max Schweickhardt mit großer Treue seinen Weg weiter. Er wußte, daß er auf dem rechten Wege war, und das sollte sich bald erweisen. Nach dem Heimgang von Inspektor Arnold trat in Riehen eine große Wendung ein. Ein neuer Inspektor wurde gewählt, der nicht in den Fußstapfen seines Vorgängers wandelte. Nun erkannten die beiden Schwestern Sprenger, daß ihre Arbeit in Riehen beendet sei. 

Sie trugen dies gemeinsam dem Vater im Himmel im Gebet vor, ohne jedoch einen Weg zu sehen. Da, als sie in größter Not waren und nicht wußten, wohin sie gehen sollten (sie hatten bereits gekündigt und die Koffer schon gepackt), kam ein Telegramm aus Männedorf: >Kommt herüber und helft uns!«
In Männedorf war die Jungfer Trudel heimgegangen. Ihre Nachfolge hatte ihr geistlicher Sohn Samuel Zeller angetreten. Dieser brauchte Hilfe und suchte sie bei den ihm bekannten Schwestern Sprenger. Diese sahen solche Bitte um Mitarbeit als den Ruf Gottes an Für Emilie war damit die Lebensaufgabe bis zu ihrem Heimgang im Jahre 1916 gegeben. Maria brachte nur wenige Jahre in Männe-dorf zu, bis Gott für sie die Weichen anders stellte. Sie spürte den inneren Ruf, wieder nach Baden, woher die Eltern einst in die Schweiz ausgezogen waren, zurückzukehren und dort dem Herrn zu dienen.
Lahr und Dinglingen Hören wir weiter dem schon erwähnten Friedrich Guthmann zu: »1884 wurde es Fräulein Maria Sprenger und Max Schweickhardt klar, daß sie in Lahr eine Meine Taubstummenanstalt ins Leben rufen sollten. Nach langer Vorbereitung im Gebet fand sich in Lahr eine schöne Villa mit großem Garten, die einem Verwandten der Familie Schweickhardt gehörte und sofort zu mieten war. Dieses schöne Landhaus wurde bezogen, und Maria Sprenger stattete es aus für zwölf taubstumme Kinder und als ein Heim für eine kleine Anzahl von Gästen.«
Was Gott unter den sich einfindenden Gästen wirkte, dafür liegt der lebendige Bericht des Arztes Dr. Boeckh, dessen Mutter eine Schwester von Max Schweickhardt war, vor: »Es war im Sommer 1884, als ich zum erstenmal Gelegenheit hatte, >Mütterlein< (dieser Name für Maria Sprenger bürgerte sich immer mehr ein) in Lahr zu sehen und zu begrüßen. Meine Mutter war damals recht krank, stand vor der Frage einer Operation und wurde von ihrer Schwester Lina gebeten, doch vor einem operativen Eingriff sich an Fräulein Sprenger zu wenden, die eine wunderbare Gebetskraft und die Gabe der Handauflegung habe. 

Meine Mutter, schon lange aufmerksam gemacht auf >Mütterlein< in Lahr, ging auf den Vorschlag ein, reiste schwerkrank nach Lahr und bekam dort -ich glaube wohl täglich - Handauflegungen und wurde in der Zeit von zwei Monaten so gesund, daß sie wieder ihren Haushalt besorgen konnte...
Die wunderbare Genesung meiner Mutter war nicht nur auf den Leib beschränkt, sondern verbunden mit einer gründlichen Bekehrung. Sie wurde ein Kind Gottes und zeigte dabei eine unerschrok-kene Gründlichkeit, die jener ihres Bruders Max nicht nachstand. Es brauchte aber drei Jahre, bis auch mein Vater, damals Oberlandesgerichtsrat in Karlsruhe, für Jesus gewonnen war. «
Maria Sprenger verlegte ihren Wohnsitz von Lahr nach Dinglip-gen. Dort hatte sie fortan ein geräumiges Wohngebäude mit Nebenbauten und einen großen, später noch wesentlich erweiterten Garten zur Verfügung und war allem Umtrieb und Lärm der Stadt entnommen. Dort wirkte, betete und liebte sie, bis sie im Januar 1934 heimgerufen wurde.
Hören wir weiter Dr. Boeckh, wie Mütterlein auch ihm Wegwei-serdienst zum lebendigen Glauben tat: »Ich selbst, das einzige Kind meiner Eltern, war im Winter 1889/90 an einer Lungentuberkulose erkrankt und hatte fünf Monate in Davos in der Schweiz zubringen müssen. Diese Erkrankung war nichts anderes als ein Liebesseil des Heilandes, der hierdurch mich, den noch Widerstrebenden, zu sich hinziehen wollte. Auf Wunsch meiner Eltern brachte ich nach meiner Rückkehr aus Davos fünf Monate im neuen Heim Mütterleins zu und durfte in dieser Zeit zu völligem Glauben durchdringen.

 In diesen fünf Monaten erfuhr ich, was christliche Liebe ist, und konnte im täglichen Verkehr mit Mütterlein und in ihren Bibelstunden große Reichtümer für das innere Leben und für die Ewigkeit sammeln.. . Nach meiner Niederlassung in Dinglingen als praktischer Arzt konnte ich noch sieben Jahre in Mütterleins nächster Nähe weilen und mein inneres Leben ihrer Leitung anvertrauen.« Der Dienst und die :geistlichen Wirkungen, die von Dinglingen ausgingen, erweiterten sich erstaunlich: »Viel könnte ich erzählen von der steten Vergrößerung des um Fräulein Sprenger sich bildenden Kreises ihrer geistlichen Kinder, auch von vielen lieben Gotteskindern, die bei ihr als Gäste kürzere oder längere Zeit verweilten, darunter auch bedeutende Arbeiter im Weinberg des Herrn wie Elias Schrenk, Inspektor Rappard von St. Chrischona, Pfarrer Blazejewski, der Gründer des Vandsburger Diakonissenwerkes, jener liebe, gütige Vorgänger von Pfarrer Krawielitzki.

Seit Mitte der neunziger Jahre hatte Fräulein Sprenger den Unterricht an Taubstummen, den sie bis dahin zusammen mit meinem Onkel Max Schweickhardt in großer Treue erteilt hatte, aufgegeben. Sie widmete sich dann ganz der Seelenpflege, die sie an den zahlreichen Gliedern ihrer örtlichen Gemeinschaft in Dinglin-gen - Timotheus-Verein genannt, an ihren Gästen im Haus und in einer äußerst umfangreichen Korrespondenz ausübte. Wer kann die Zahl derer nennen, die durch sie ein Eigentum Jesu geworden sind und die dann in dauernder Seelenpflege blieben und Mütterlein teilnehmen ließen an ihren irdischen Freuden und Sorgen oder von ihr Rat erbaten, wo es not tat. Und für alle, die mit lauterem Herzen zu ihr kamen, war sie eine Mutter mit mütterlicher Treue, Fürsorge und Liebe.

Verbindung mit Liebenzell und der St.-Johannis-Druckerei
Aus der Fülle lebendiger geistlicher Beziehungen, in denen Maria Sprenger stand, wollen wir zwei noch besonders herausgreifen. Da ist zunächst die Verbindung mit Pfarrer Heinrich Coerper und der von ihm gegründeten Liebenzeller Mission. Coerper lernte bei seinen Besuchen in Dinglingen seine spätere Frau Ruth Robert, die Tochter eines Pfarrers aus der französischsprachigen Schweiz, kennen. Sie war - so Dr. Boeckh - »die geistliche Tochter des teuren Mütterleins, das alles Gute, das in Fräulein Roberts Seele vorhanden war, veredelt und vergöttlicht hatte in treuer Seelsorge und in liebevoller Erziehung zum himmlischen Beruf.« Die Kontakte zwischen Maria Sprenger und Liebenzell blieben allezeit rege und endeten erst mit Mütterleins Tod im Jahre 1934. Zwei Jahre später begab es sich, daß Pfarrer Coerper in Dinglingen, wo er von Liebenzell aus zu Besuch weihe, im Frieden heimgehen durfte.
Und jetzt Mütterleins Beziehung zur St.-Johannis-Druckerei in Dinglingen? Wir hörten von den Brüdern Gustav und Max Schweickhardt und dm gesegneten Einfluß der damaligen  Taubstummenlehrerin Maria Sprenger auf ihr Leben und ihren Glauben. Später kamen - bis auf einen Bruder - alle Glieder der großen Familie Schweickhardt zu demselben Heilsglauben, in dem Gustav und Max vorangegangen waren. Geben wir noch einmal Friedrich Guthmann das Wort:
»Gar! Schweickhardt, einer der Brüder, war als Filialleiter einer Lahrer Firma in London tätig und kam in seinen Ferien öfter in das Haus von Mütterlein. In London besuchte er fleißig die Versammlungen des deutschen CVJM und war ein treuer Bekenner seines Heilandes. Doch seine Arbeit in der britischen Hauptstadt befriedigte ihn mit der Zeit nicht mehr. Dies äußerte er gelegentlich eines Besuches in Dinglingen. Darauf gab ihm Mütterlein zur Antwort: >Das ist ganz einfach! Du kommst zu uns nach Dinglingen und gründest eine christliche Druckerei, die dem Reiche Gottes dient!< Diesen Gedanken nahm er mit nach England und konnte ihn nicht mehr loswerden, und so kam es im Jahre 1896 zur Gründung der St.-Johannis-Druckerei. Bei der Druckerei allein verblieb es nicht. Vielmehr wurde in Verbindung mit ihr ein evangelischer Verlag eröffnet.«
Druckerei und Verlag sind im Laufe der Zeit sehr gewachsen und erfüllen heute mehr als je bedeutsame Aufgaben in dem weiten Bereich christlich-evangelikaler Literatur.
Kurze Aussprüche von Maria Sprenger
In dem Saal, der zu ihrem Anwesen gehörte und in dem sich regelmäßig ein - heute noch bestehender - Gemeinschaftskreis versammelte, hat Mütterlein zusammen mit dem 1932 heimgegangenen Max Schweickhardt schlichten Wortdienst getan und den Gläubigen gedient. Nach dem Tod des letzteren und dem zwei Jahre später erfolgten Heimgang von Mütterlein hat Pfarrer Wilhelm Grünewald, ein Schwiegersohn von Heinrich Coerper, den Dienst der Verkündigung fortgesetzt. Zugleich war er mit in der Firma tätig.
Maria Sprenger hat nie Männer in der Verkündigungsarbeit ersetzen und verdrängen wollen. Aber Gott hat ihr nun einmal einen Schlüssel zu den Herzen der Menschen gegeben. Viele ihrer Worte haben sich als geisterfüllt erwiesen und einen wirksamen seelsorgerlichen Dienst getan. Aus einer reichen Fülle wählen wir einige aus:
Jeder Gehorsam trägt schon hier einen großen Lohn in sich durch den Frieden, der darauf folgt.
Wenn man das Leben eines lebendigen Kindes Gottes prüft und dessen Wurzeln sucht, so findet man: Umgang mit Gott. Solche Seelen finden keine Freude außer Ihm und keinen Schmerz außer der Sünde.
Einen zerrissenen Schuldbrief haben, in Bethlehem und unter dem Kreuz gewesen sein und nicht lieben - das ist unmöglich; Wie kann ich meinem Nächsten die größte Liebe erweisen? Auf
den Knien Reisen machen, Geschenke schicken, Briefe schreiben, das können auch Weltleute.
Jesus sandte die Jünger zwei und zwei. Auf der Gemeinschaft liegt ein unaussprechlicher Segen. Aber es muß eine Gemeinschaft
sein, wobei keine Sünde geduldet wird, wo man einander die Wahrheit sagt, sonst ist es keine heilige Gemeinschaft, und Jesus kann nicht dabei sein. Gehe zu Jesus und sage ihm: »Ich möchte brennen im Geist.« Seine Antwort wird sein: »Weg mit diesem, los von jenem, Fleiß in der kleinsten irdischen Arbeit!« Ein merkwürdig trockener Weg zu dieser tiefernsten Segnung.
Nicht die Gaben, Jesus selbst muß unsere Lust sein. Solange das nicht ist, ist unser Friede barometerartig.

Zur IJnlauterkeit gehört: die Bibel lesen für andere. - Lernet eure Bibel lesen für euch.
Seelen, die aus lauter Gefälligkeit gegen Menschen da und dort von der feinen Zucht weichen, werden nach und nach taub gegen die Stimme des Geistes Gottes.
Was ist es doch um die Demut! Wie kann man da auf sich herumtreten lassen, und wie versteht man die liebe Dorothea
Trudel: »Werdet Staub, und Staub wird nicht verletzt!« Demütige Leute sind Staub und haben dabei eine Würde, der jeder weltliche Adel weicht.
Was wir Jesus tun, nimmt nicht Kraft, sondern gibt Kraft.
Drei Auszüge aus Bibelstunden:
Keine eigenen Wege -
Wieviel namenloses Elend habe ich schon beklagen hören von solchen, die eigene Wege gegangen sind, sich einen Gott und
Heiland gemacht haben, wie sie's wollten, und Jesus hatte einen
ganz andern Weg für sie gezeichnet, scheinbar nicht so heilig;wie sie's selber planten. Aber Jesus wollte sie auf seinem Weg schneller reifen und mehr Frucht bringen lassen.
In einer gläubigen Bauernfamilie starb der Vater. Der älteste Sohn sollte den Hof übernehmen. Allein er hatte sich einen andern,
frömmeren Weg gedacht; er wollte im Reich Gottes arbeiten. Obgleich er viel darüber betete, konnte Gott ihm nichts sagen, weil der vorgefaßte Plan im Herzen des jungen Mannes schon feststand. So übernahm denn der jüngere Sohn den Bauernhof, und der ältere
trat in die »Reichgottesarbeit«. Nachjahren mußte er mit Bedauern bekennen: »Mein Weg war ein verfehlter. Ich gehörte auf den Hof. Da wollte mich Gott für sein Reich erziehen.« -
Beten im Verborgenen Ein Pfarrer vermißte in der Gebetsstunde, die er für Erweckte eingerichtet hatte, ein gläubiges, ihm bekanntes junges Mädchen. Er fragte sie, warum sie nicht teilgenommen habe. Ihre Antwort war, sie habe einmal gemeinsam mit einer Frau gebetet, da habe diese gesagt: »0, wenn ich nur so beten könnte wie du!« Das habe ihr innerlich geschadet, und nun wolle sie erst das Gebet im Verborgenen recht üben, bis der himmlische Vater ihr vergelten werde öffentlich, dann wolle sie in die Gebetsstunde kommen.
Der Pfarrer sagte mir, das junge Mädchen habe ihm, ohne es zu wissen, eine Lektion gegeben. - Am folgenden Sonntag kommt der Müller und seine Frau, bei denen das junge Mädchen beschäftigt ist, in die Kirche, und die Mühle steht zum erstenmal am Sonntag still. Der Pfarrer denkt: Das ist die Frucht des Gebetes im Verborgenen. - Nach einigen Monaten erschien das junge Mädchen in der Gebetsstunde, und als sie ihr Herz vor Gott ausschüttete, war's den Anwesenden, als hätten sie noch nie ein solches Gebet gehört. -
Demut durch Liebe
Eine Schwester, die ein Krankenhaus leitete, hat bezeugt, sie habe, wenn ein lebendiges Gotteskind ihr Haus betrat, stets gedacht: »Ich bin nicht wert, daß du unter mein Dach gehst.« Gewiß war diese Schwester in solcher Gesinnung wohl zubereitet, jeweils einen Segen zu empfangen.
Wie kameradschaftlich gehen leider manche Christen mit ihrem Heiland um, ja sogar von oben herab. Man betet und macht dem Heiland seine Aufwartung. Aber es fehlt die Grundgesinnung: »Ich bin nicht wert, daß du unter mein Dach gehst. « Es bleibt dabei: Den Demütigen gibt Gott Gnade.
Wer in Wahrheit sagen kann: »Ich bin zu gering, ich bin nicht wert«, der wird durch alles, was der Heiland ihm an Liebe und Freundlichkeit zuwendet, immer Meiner, geringer und dankbarer.
Ich habe in meinerJugend manchmal Gotteskinder Magen hören, wenn sie vor andern gesündigt hatten, zum Beispiel empfindlich oder ungeduldig geworden waren, der Heiland habe sie sehr
gedemütigt. Mir schien dies nicht richtig. Da habe ich den Heiland gebeten: Ich will auch demütig werden, aber nicht durch Sünde, sondern durch deine Liebe.    Arno Pagel. ISBN 3882241985 Francke Buchhandlung.

Tränen die man nicht vergißt, Jean Marie Campbell

04/08/2023
von Christ-und-Buch Günter Arhelger

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Ich gähnte herzhaft und klopfte mit meinem Buch Der scharlachrote Buchstabe gegen die Scheibe. Vier oder fünf Goldfische auf meiner Seite des Aquariums wurden durch das Geräusch aufgestört und schossen davon. Drei gestreifte Fische huschten spielerisch durch die Algen. Doch der kleine rote Neonfisch bewegte sich nicht. 

Erneut versuchte ich, seine Aufmerksamkeit zu gewinnen. Diesmal wölbte sich der kleine Körper und bewegte sich ruckartig ein wenig nach links, bis er in Seitenlage an die Oberfläche gelangte. Er war krank und dem Tode nahe. Das erkannte ich.
„Campbell,Jean!"
Ich starrte weiter auf den winzigen Körper. Warum mußte er sterben? Warum? Warum gerade dieser und nicht die anderen? Er war so :wunderschön.
Jeanie?" unterbrach die Stimme an der Tür. Die weißgekleidete Frau lächelte mir zu und hielt die Tür auf. „Du bist dran"
Ich nickte, tastete nach meinem Täschchen und stand auf. Kurz vor der Tür drehte ich mich um und warf noch einen letzten Blick -auf das Aquarium.,, Ich vermute, das ist ein Neonfisch dadrin", sagte
Ich zu der Schwester und deutete auf das Aquarium. „Er ist krank. Man sollte ihn lieber rausnehmen, damit er die anderen nicht ansteckt Vielleicht wird er wieder gesund wenn er allein ist Ich machte eine Pause und fügte dann hinzu „Meinen Sie nicht auch? 0Ich weiß nicht ‚erwiderte die Frau mittleren Alters, „aber danke für den Hinweis. Ich werde mich später darum kümmern. Hast du zu Hause Fische?
„Nein",erwiderte ich und sauste an ihr vorbei in den engen Gang Fische nicht."
Sie deutete auf eine Tür zur Rechten „Tjntersuchungsraum C ist
Ich folgte ihr auf den Fersen und fuhr fort: „Fische nicht, aber ei-
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nen Kater. Er heißt Tiger. Und Bernd— das ist mein einer Bruder - hat einen Hund. Das ist vielleicht ein Köter! Er will einen immer abschlecken. Immerzu. Ich mag keine Hunde", meinte ich sachlich, „nur Katzen. Aber ein Aquarium hätte ich gern, wenn ich dürfte. Fische sehen so friedlich aus, finden Sie nicht? Sogar der kleine rote da drüben. Er kämpft um sein Leben. Halten Sie es für möglich, daß Fische Gefühle haben? Nehmen Sie an, daß der Fisch da weiß, daß e krank ist und daß er bald stirbt?"
„Du stellst heute aber viele Fragen", lachte sie. Die Schwester zögerte einen Augenblick an der Tür zum Behandlungsraum, wandte sich dann um und schaute mich an.
„Ich denke schon, daß Fische fühlen können. Warum eigentlich nicht?"
‚Ja", erwiderte ich „Warum nicht? Aber ich mag nicht sehen, wie der Neonfisch leidet. Ich meine, ich mag nicht
Sie hob die Hand wie ein Polizist an einer Kreuzung. „Dieser Fisch macht dir ja wirklich zu schaffen. Nun sei nicht traurig, Jeanie. Wir kümmern uns um ihn. Geh jetzt am besten hinein, damit wir dich wiegen und deine Temperatur messen können, bevor Dr. Bradford zu dir kommt! Kopf hoch! Deine Sachen legst du auf den gelben Tisch da drüben."
Ich betrat das kleine Zimmer und schmiß mein Täschchen und das Buch auf den Tisch. Das Buch blieb liegen, doch das Täschchen rutschte über die Kante und fiel zu Boden.
„Es ist leicht wie eine Feder", sagte ich nervös und kniete mich hin, um den verstreuten Inhalt aufzusammeln. „Nichts weiter drin als ein Kamm, ein Notizbuch und ein paar Zettel von der Schule."
Die Schwester trat einen Schritt zurück und verdrehte ihre großen braunen Augen. „Vergiß deinen Kuli nicht! Er ist unter dem Untersuchungstisch Ganz hinten."
Ich lag nun in voller Länge auf dem Boden und tastete mit verdrehtem Arm unter den Tisch. „Tut mit leid. Ich hab's nicht mit Absicht getan. Sie ist einfach runtergefallen. Es. . . es war ein Versehen. Es tut mir leid, weil - -
„Beruhige dich, Jeanie. Das macht doch nichts. Ist ja nichts passiert. Laß dir nur Zeit!"
‚Ja, aber ich möchte nicht.. . nicht.. . ach nichts. Ich hab ihn", flüsterte ich und kroch wieder hervor. Umständlich stopfte ich den Kuli in die Tasche, wischte mit der Hand über meine Hose und hielt mich am Tischbein fest, um schneller hochzukommen. Als ich mich auf richtete, rutschte ich mit dem rechten Fuß nach hinten aus und verfing mich in einem fahrbaren Dreifuß aus Metall, an dem eine besondere Lampe befestigt war. Ich hatte ihn weder gesehen noch ge-
spürt. Da war es geschehen!
„Volltreffer!" rief die Schwester, während sie das Tischchen auffing. „Das nächste Mal müssen wir größere Untersuchungsräume bauen!"
Sie versuchte, dem ganzen Vorfall eine lustige Seite abzugewinnen, aber ich war zutiefst erschrocken. Zudem hatte ich mir das Knie ziemlich angeschlagen, als ich auf den harten Boden hinknallte. Ich spürte einen klopfenden Schmerz. Nur mit Mühe konnte ich die Tränen zurückhalten. Das Blut schoß mir ins Gesicht und ich stotterte: ‚Meine Schuld. Es tut mir leid. Es tut mir so leid. Ich mache alles verkehrt. Überall, wo ich bin..

„Nun hör einmal auf, Jeanie!" sagte die Schwester und zog mich hoch. „Ist doch alles in Ordnung, oder? Es war doch nur ein Versehen. Stell dir vor, ich selbst hab diese Lampe auch schon runtergeworfen! Vor ungefähr acht Monaten. Da stand nur niemand hinter mir, der sie auffing." Sie lächelte mir aufmunternd zu und fuhr fort.
‚Du hast also wirklich Glück gehabt, kleines Fräulein."
‚Nein. Nein, Sie verstehen das nicht", brachte ich zitternd hervor.
‚Das war meine Schuld. Ich bin unvorsichtig und ungeschickt. Ich... ich bemühe mich wirklich, aber dann passiert doch wieder etwas." „Ist doch nichts geschehen", sagte die Schwester. „Setz dich hin und beruhige dich erstmal! Lies doch ein wenig, bis der Doktor kommt! Wovon handelt dein Buch eigentlich?"
Mein Knie schmerzte noch immer, und ich beugte mich hinunter,
--um es zu massieren. Ich tat einen tiefenAtemzug. „Ich habe es letzte Woche im Schulbuchladen gekauft. Es heißt Der scharlachrote Buchstabe. Ich habe es fast durch."
‚Wie! In welcher Klasse bist du denn?" -
„In der siebten."
„Und wie alt bist du?"
‚Zwölf."
Sie griff nach dem Buch. /
- - „Das habe ich erst gelesen, als ich mindestens in der letzten Klasse
des Gymnasiums war oder sogar erst, als ich mein Studium begonnen hatte. Ich kann mich gar nicht mehr recht erinnern. Es ist schon solange her."
Sie warf einen flüchtigen Blick auf den Einband und blätterte ein wenig darin herum. „Nathanlel Hawthorne. Das ist ganz schön ha pig für ein Kind in deinem Alter, weißt du das eigentlich?"
„Ich ... ich lese viel", sagte ich und setzte mich hin. Ich fühlt mich jetzt wohler und wurde ruhiger. Bei diesem Thema war ich meinem Element. „Wenn ich lese, habe ich etwas zu tun und kom nicht in Schwierigkeiten. Dies Buch gefällt mir besonders gut."
„Verstehst du es denn?" Ihre Stimme klang überrascht.
„Einige Abschnitte sind schwer. Aber ich denke schon. Ich meine ich verstehe es. Die Frau im Buch heißt Hester, und sie hat ein klei nes Baby. Aber sie will nicht sagen, wer der Vater ist. Wissen Sie, ihr Mann ist drüben in England." Ich hob meinen Zeigefinger zur Beto nung. „Und sie ist hier. Diese Leute - Puritaner waren das— wolleij sie dafür bestrafen. Darum muß sie immer den Buchstaben E an da..
Kleidung tragen, der für. . . für. . . Sie wissen schon ... für Ehebruch steht."
„Ganz genau, das war's. Na dann, du Kanone, nur weiter so!" „Kanone?" wiederholte ich. „Hat Ihnen das Buch gefallen?"
„Sagen wir mal so: ich beschäftigte mich damals mehr mit Natu wissenschaften. Mit Literatur hatte ich nichts im Sinn."
„Aha", bemerkte ich. ‚Jetzt habe ich Sie drangekriegt" Sie lachte nur.
„Ich vermute, wenn ich das Buch durchhabe, werde ich es nochmal lesen." Ich machte eine Pause. „Da steckt viel drin. Besonders wie Menschen in ihrem Innern denken und fühlen."
Die Schwester runzelte die Stirn und nickte zustimmend. Dann legte sie das Buch auf den Tisch zurück und war wieder voller Taten drang. „Sag mal, meinst du, ich könnte dich dazu bewegen, ein paar Sekunden auf der Waage zu stehen? Wenn ich deine Temperatur
messe, kannst du dich wieder deinem Buch und Lady Hester zuwenden. Was hältst du davon?"
„Klar", sagte ich. „Ganz wie Sie wollen."
Als Dr. Bradford kam, hatte ich schon alle Gegenstände auf seinem Instrumententisch genau betrachtet und mir eingeprägt: ein großes Glasgefäß mit kleinen und großen Holzspateln, drei Thermometer in einem Metallbehälter, einige bunte Glasfläschchen und verschiedene Ampullen, ein Karton mit Mull, verschiedene Bandagen, drei unterschiedlich große Scheren, Zangen, eine riesige Flasche Alkohol mit der Aufschrift Gift in leuchtend roten Buchstaben, fünf Päckchen mit Spritzen (ohne Nadeln), einige Tupfer, zwei Rollen weiße
Mullbinden und ein Gerät zum Blutdruckmessen. Das war nur die obere Ablagefläche.
„Wie geht es uns denn heute, kleines FräuleinJeanie?" fragte Dr.
aciford und gab mir einen kräftigen Klaps aufs Bein. Er war ein lustiger rundlicher Mann, der mich stets auf die gleiche Weise begrüßte.
Ich zuckte mit den Schultern. „Wenn Sie es wirklich wissen wollen

‚.Aber unbedingt!" erwiderte er fröhlich.
„Mir geht es nicht gerade glänzend. Meine Mutter war beunruhigt und hat mir darum für heute nach der Schule einen Termin bei hnen geben lassen. Sie muß bald hier sein, um mich abzuholen.
Das hoffe ich wenigstens."
Er öffnete die braune Mappe, auf der mein Name stand. „Nun sag
mal, wo es dir wehtut!"
- »Es ist der Magen. Immer noch der Magen."
„Na, dann wollen wir mal sehen", sagte er und blätterte einige zu-snmmengeheftete Unterlagen im Ordner durch. „Am fünfzehnten letzten Monats habe ich dir ein Rezept ausgestellt. Hat das Medika-
ment nicht geholfen?"
„Etwas. Aber hier ist alles so angespannt." Ich legte meine Hand auf die betreffende Stelle. „Genau hier. Und manchmal muß ich mich übergeben, wenn es wirklich schlimm wird."
Dr. Bradford kratzte sich am Kopf und erwiderte: „Nimmst du an, daß es am Essen liegt? Oder schlingst du es zu schnell hinunter? 

Was meinst du?"
„Ich denke nicht, daß es daran liegt. Manchmal kann ich gar nichts essen. Dann stochere ich nur im Teller herum."
„Hast du Schmerzen? Ungefähr eine halbe Stunde nach dem
‚Nein, eigentlich nicht. Das heißt, zumindest nicht mehr, als zu
anderen Zeiten."
„Leg dich mal hier oben hin!" forderte er mich auf und klopfte mit der Handfläche auf den Untersuchungstisch.
Nachdem ich seiner Anweisung gefolgt war, zog er meinen Pullover ein Stückchen hoch und tastete mit den Fingern meinen Bauch ab. Zuerst kitzelte es. „Tut es jetzt weh? Wenn ich hier drücke?"
„Nein, nein, es ist eine andere Art von Schmerz. Ich weiß nicht, wie ich es beschreiben soll."
Dr. Bradford drehte sich nach meiner Akte um, öffnete sie und nahm einen silbernen Kuli aus seiner Kitteltasche. „Versuch einmal, ganz genau zu beschreiben, was für ein Gefühl es ist, wenn es dir wehtut!"
„Meistens ist es so eine Art langsamer Schmerz", erklärte ich. „Und dann ist es oft so, als würde sich alles zusammenziehen. Es ist ganz angespannt da drinnen. Ich wache sogar manchmal mitten in der Nacht davon auf"
Er machte ein paar Notizen auf meiner Karteikarte. Dann mußte ich mich aufsetzen. Zuerst hörte er sorgfältig meinen Herzschlag ah. „Es ist ein wenig schnell heute. Doch das ist kein Grund zur Beunruhigung. Wollen mal sehen, wie es in deinem Hals aussieht. Mach mal deinen Mund auf."
Der trockene Holzspatel hinten im Rachen war sehr unangenehm. „Dein Hals ist leicht gerötet. Bekommst du ausreichend Schlaf?" „Ich liege lange genug im Bett, wenn Sie das meinen. Aber ich weiß nicht, wieviel ich schlafe. In Stunden, meine ich. Manchmal kann ich schlafen, manchmal nicht." „Dreh dich jetzt mal um,Jeanie! Wir wollen uns mal unterhalten."- Ich ließ meine Füße vom Tisch baumeln, und Dr. Bradford setzte sich neben mich. Er klopfte mit der Hand auf mein Knie, während er nach den richtigen Worten suchte.

‚Jeanie,Jeanie", sagte er leise, fast flüsternd. „Ich kenne deine Familie seit vielen Jahren, und dich kannte ich schon, als du noch so klein warst." Er hielt die Hände ein Stück weit auseinander. „Ich war am Krankenbett deiner Mutter, als sie mehrfach diese Herzschwäche haue. Zwei - nein drei —Jahre lang habe ich deine ältere Schwester behandelt. Und als dein Bruder Bernd Blutvergiftung hatte und vor Jahren den Unfall überstand, war ich an seiner Seite. Ich war im Krankenhaus bei deiner Familie. Ich war mehrfach bei euch zu Hause, und deine ganze Familie hat mich oft in meiner Praxis aufgesucht."
Er hielt inne, um sich zu räuspern. „Wenn ich zurückblicke, so kann ich sagen, daß deine Familie mehr als genug Belastungen überstanden hat, Jeanie. Aber dies hier? Das ist etwas anderes. Kannst du mir sagen, was mit dir los ist, Jeanie? Was macht dir wirklich zu schaffen?"
Der Kloß in meinem Hals war trügerisch. Gerade, als ich dachte, er sei groß genug, um Worte und Tränen aufzuhalten, zerbarst er unvermittelt wie ein morsches Schleusentor, und die Wellen stürzten hervor.
Die Zeit schien stillzustehen. Ich schluchzte und schluchzte und hielt dabei meine Hände vors Gesicht. „Doktor", weinte ich, „ich weiß selbst nicht mehr, was los ist. Zu Hause geht alles kaputt. Wirklich alles."
„l3eruhige dich, mein Kleines", sagte Dr. Bradford behutsam. Sein langer Arm umschloß mich, und seine Hand drückte meine Schulter 80 fest, daß es wehtat.
‚Es war schon schlimm, ehe Mama im letzten Jahr die Scheidung einreichte. Aber jetzt ist es furchtbar. Streit! Streit! Streit! Wenn es ruhig ist, dann sitze ich da und warte, daß es von neuem knallt. Morgens und abends. Und besonders am Wochenende. Es kommt mirso vor, als ob es schon immer so gewesen ist. Ich habe das Gefühl, es wird nie aufhören. Mein Papa... mein Papa...!"
„Sch, sch", unterbrach der einfühlsame Arzt mein Wehklagen. ‚Sch, sch." Sein starker Arm stützte meine bebenden Schultern.
„Nichts kann ihn beruhigen, wenn er wütend ist. Dann brüllt er. Und nicht nur das. Ich habe solche Angst vor ihm. Ich gehe raus oder verstecke mich in meinem Zimmer. Dort kann ich ihn aber immer noch hören. Ich sitze dann auf meinem Bett und weine und weine. ßinen Augenblick lang geht es mir besser. Dann ist mir wieder so Übel, daß ich mich übergeben muß. Alles geht kaputt! Alles! Manchmal denke ich, ich selbst auch."
„Oh, Jeanie!" Dr. Bradford seufzte und zog mich noch näher zu sich heran. „Das habe ich nicht gewußt. Das habe ich wirklich nicht gewußt."
lin angrenzenden Waschraum des Arztes hatte ich mein Gesicht in eiskaltes Wasser getaucht. Aber es war noch immer krebsrot. Ich betrachtete es im Spiegel über dem Waschbecken. Meine Nase lief Die Augen brannten. Die Lippen waren geschwollen. Das Haar war zottelig und stumpf Selbst bei leicht verschwommener Sicht erkannte Ich, daß ich fürchterlich aussah.
Ich trocknete mir die Hände und setzte mich auf einen Stuhl. Er bot meinem erschöpften Körper etwas Halt, während ich versuchte, - mich zu sammeln. Wenn ich allein war, haue ich schon oft so geweint, doch niemals in der Gegenwart eines Erwachsenen. Ganz besonders nicht vor einem Fremden.
- Einerseits fühlte ich mich leichter und freier als seit Monaten. Andererseits aber hatte ich Angst. Was wäre, wenn Dr. Bradford meiner Mutter die ganze Geschichte erzählte? Es wäre mir lieber, sie wüßte nichts davon. Ich wußte zwar, daß sie mich liebhatte. Aber sie würde fürchterlich böse werden. Dessen war ich mir sicher.

Selbst jetzt, während ich über die samtene Armlehne des Stuhles strich, kamen mir wieder ihre Worte aus der vergangenen Woche in den Sinn. ‚Halt dich da raus, Jean" befahl sie streng. „Geh in dein Zimmer und halt dich raus! Es wird dir nicht so viel ausmachen, wenn du nicht dabei bist und alles mitkriegst."
Ich hatte nicht den Mut, meiner Mutter zu widersprechen, aber nichts war weiter von der Wahrheit entfernt. Das Durcheinander zu Hause machte mir sehr wohl etwas aus. Es zerfraß mich im Innern wie eine Säure. Tag und Nacht.
Langsam verstrich die Zeit, und ich blieb wohl noch weitere zehn oder fünfzehn Minuten sitzen. Schließlich betrachtete ich noch einmal mein Gesicht im Spiegel und stellte fest, daß ich wieder einigermaßen normal aussah. Dieses neue Bewußtsein, daß das Leben von selbst wieder in mich zurückkehrte, gab mir Mut, wieder in den Untersuchungsraum zurückzukehren. Dr. Bradford war gerade von einem anderen Patienten gekommen. Ich fand ihn in der kleinen Nische am Fenster, wo er sich mit seinem silbernen Kugelschreiber Notizen machte.
‚Jeanie", begann er und drehte sich zu mir. „Geht es dir besser?" Er wartete einen Augenblick und fuhr dann behutsam fort: „Da hast du dich aber ordentlich ausgeweint."
„Ich bin müde", antwortete ich, „und erschöpft. Heute nacht werde ich wahrscheinlich schlafen wie ein Stein. Das ist mal was anderes."
Er schrieb einen letzten Satz in meine Akte und griff dann nach dem Rezeptblock. ‚Jeanie, ich werde dir zwei Medikamente verschreiben. Das eine wird deinen Magen ein wenig mehr beruhigen 1 als die Tabletten, die ich dir das letzte Mal verschrieben habe. Das andere ist eine kleine blaue Pille. Die wird dir helfen, dich insgesamt 1 zu entspannen. Wir wollen es damit einmal versuchen und hoffen, daß sich die Lage zu Hause bald normalisiert."
„Ich bete jeden Tag darum", flüsterte ich. „Wirklich."
Dr. Bradford riß die Zettel vom Rezeptblock und reichte sie mir. „Sag deiner Mutter, sie soll die Rezepte sofort einlösen! Heute abend oder morgen."
„Was meine Mutter betrifft", begann ich verlegen, „bitte, sagen Sie ihr doch nichts. Zumindest jetzt noch nicht. Bitte! Sie würde es nicht verstehen. Manchmal denkt sie, ich würde alles nur vorspielen, um zu Hause nichts tun oder nicht in die Schule gehen zu müssen. Bitte,
bitte, sagen Sie ihr nichts!"
DerArzt kratzte sich am Kinn und dachte nach. „Na gut, ich werde ihr erstmal nichts sagen. Wollen einmal sehen, wie die Arznei an-
schlägt."
Dann war es lange still zwischen uns. Ich war zu erleichtert, um
ein Wort herauszubringen.
‚Jeanie, du sollst wissen, daß ich mir um dich und um deine
Familie Gedanken mache. Verstehst du?"
Verlegen wich ich seinem Blick aus und gab die einzige Antwort,
die mir einfiel: „Ich bin davon überzeugt!"
„Hast du dich jetzt ein wenig gefangen?"
»Ja, ein bißchen. Ich brauche nur etwas Schlaf. Das ist alles."
„Ich möchte, daß du in ein paar Wochen wiederkommst. Anfang
des nächsten Monats. Dann wollen wir sehen, wie es dir geht."
„Klar", erwiderte ich. „Dann habe ich schon etwas, worauf ich
mich freuen kann . . . falls . . . falls es zu Hause schlimmer wird.
Wenigstens kann ich mit Ihnen darüber reden."
„Gut", meinte er zustimmend. Er drückte mir kurz die Hand.
Ich versuchte ein Lächeln, doch es wollte mir nicht gelingen. Dann griff ich nach meinem braunen Täschchen. „Bis dann", verab-
schiedete ich mich.
„Vergiß dein Buch nicht!"
„Ach ja." Ich griff nach dem Buch, öffnete es und stopfte die Rezepte hinein. Wir nickten uns zu, und ich trat auf den Flur.
Ich war überrascht, als ich das Wartezimmer auf der anderen Seite des Korridors völlig leer fand. Auf meinem weg zum Ausgang machte ich noch einen kurzen Abstecher ins Schwesternzimmer und warf einen Blick auf die Wanduhr. Wie lange mochte ich wohl hiergewe-
sen sein? Es kam mir vor wie Stunden.
„Ach, Jeanie", rief mir die freundliche Schwester von hinten zu. „Deine Mutter ist gerade noch einmal zum Auto gegangen, um die Scheinwerfer auszumachen. Jetzt ist es erst halb sechs und schon dunkel draußen. Ich mag den Herbst. Aber daß die Tage immer kur-
zer werden, gefällt mir gar nicht."
Ich nickte zustimmend.
‚Wenn du dich beeilst, kannst du ihr den Rückweg ersparen", fuhr
die Schwester fort.
Geistesabwesend schaute ich sie an, und sie wiederholte: „Deine
Mutter. Draußen auf dem Parkplatz."

Jennifer, Marjorie Buckingham

04/03/2023
von Christ-und-Buch Günter Arhelger

„Bis bald, Mutti, ich muß jetzt gehen." Jennifer nahm ihre Handschuhe und ihre Handtasche undBN2298-1.jpg?1680505805961 blieb einen Augenblick in der Tür stehen. „Ich muß mich um sieben mit Doreen treffen."
Frau Deane legte ihren Wandteppich hin und wandte sich ihrer achtzehnjährigen Tochter zu, die in diesem Augenblick ungeduldig mit dem Fuß an die Wohnzimmertür stieß. „Ein reizendes Mädchen", dachte sie in mütterlichem Stolz.

Ja, Jennifer sah wirklich sehr hübsch aus in, ihrem gut-sitzenden Tweedmantel, während das helle Seidenkopftuch, das sie lässig um ihr dunkles Lockenhaar gebunden hatte, die feinen Konturen ihres Gesichtes besonders klar betonte.
„Komm nicht so spät nach Hause, Jennifer", sagte sie laut, „du bist in letzter Zeit sehr oft recht spät gewesen - und dazu ist heute Sonntag."
Jennifer warf den Kopf hoch. ‚Und seit wann machst du dir etwas aus dem Sonntag?" entgegnete sie schlagfertig. „Es ist ein Wunder, daß du nicht wieder anfängst, zur Kirche zu gehen."
Anton Deane legte das Buch, in dem er gelesen hatte, beiseite und langte nach einem Holzscheit. „Na ja, junge Dame", mahnte er, „du brauchst dich nicht so aufzuspielen. Deine Mutter hat ganz recht: du bist schon zu viele Abende bis spät ausgewesen. Wenn du nicht achtgibst, werde ich dir den Ball im nächsten Monat streichen."
„Ach nein", lachte Jennifer trotzig, „ich möchte doch sehen, ob ihr oder sonst irgendwer mich aufhalten kann! Ich lebe nur noch für diesen Ball. Und es sind noch drei Wochen! Na ja", fügte sie lebhaft hinzu, „ich muß jetzt weg. Erwartet mich, wenn ich wieder da bin. Wiedersehen."
Sie warf ihnen eine Kußhand zu, und wenig später hörten sie die Haustür hinter ihr zuschlagen.
„Hm", Anton Deane machte es sich in seinem Sessel wieder bequem und stützte seine Füße auf das Gitter vor dem offenen Kamin, „das Mächen wird langsam ein Problem für uns, Julia."

„Es wird schon noch alles gut mit ihr werden, mein Lieber", sagte seine Frau beschwichtigend. „Sie ist doch noch so jung und möchte ihr Leben genießen. Sie hat später noch Zeit genug, um sich häuslich niederzulassen."
Herr Deane schien von dieser Feststellung nicht sonderlich beeindruckt. „Wo geht sie eigentlich heute abend hin? " wolte er wissen.
„Ach, ich denke, da ist eine Party, die einer der Jungens gibt. Einer aus ihrem Bekanntenkreis, weißt du."
„Nun, sie täte besser daran, zu einer anständigen Zeit nach Hause zu kommen, sonst wird es Ärger geben", murmelte er, mehr zu sich selbst, als er sah, daß Julia sich wieder ganz ihrer Näharbeit zuwandte.
Anton Deane war ein merkwürdiger Mann. Er pflegte nicht viel zu sagen, und es war schwierig, zu erfahren, was er wirklich dachte. Seine Kollegen kannten ihn als einen erfolgreichen Geschäftsmann, der rücksichtslos seinen Vorteil zu wahren wußte; seine Familie kannte ihn als einen ruhigen, aber pflichtbewußten Gatten und Vater. Er sorgte großzügig für ihr äußeres Wohl, doch gelegentlich zeigte er eine unerwartete Besorgnis über ihr Benehmen und ihre Lebensweise; es schien, als verberge sich hinter seinem verschlossenen Äußeren die leise Ahnung, daß sich seine Pflicht gegenüber der Familie nicht in der Sorge für ein gutes Heim, gute Kleider, gute Erziehung und freizügiges Taschengeld erschöpfte.

Aber Julia war sehr zufrieden. Sie hatte ein schönes Heim; sie konnte sich elegante Kleidung leisten, und jetzt, da ihre Kinder heranwuchsen, hatte sie viel Zeit für gesellschaftliche Verpflichtungen. Sie war wirklich eine stolze Mutter. Rodger, der Älteste, folgte den Spuren seines Vaters und war mit seinen einundzwanzig Jahren ein vielversprechender junger Buchhalter. Philip, der Jüngste, war erst sechzehn, aber er hatte so viele Schulfreunde, daß sie ihn selten sah, außer zu den Mahlzeiten. Und dann Jennifer! Julia setzte große Hoffnungen auf Jennifer. Sie war fest entschlossen, sie in die besten Kreise einzuführen. Jennifer war ein reizendes Mädchen und allseits sehr beliebt. 

Eines Tages würde sie sich gut verheiraten - mit einem, der standesgemäß gut zu ihr paßte - und Julia hatte schon Pläne, die sich als sehr weitreichend erweisen sollten. Der große Ball in drei Wochen stand bevor! Alles, was Rang und Namen hat, würde dort vertreten sein, und sicherlich sollte nicht Julia Deane daran schuld sein, wenn ihre Tochter nicht alle Sympathien im Sturm eroberte! Und Jennifer...
- Jennifer eilte die Straße hinab zu der Ecke, au der sie sich mit Doreen Jackson verabredet hatte. Es war schon sieben Uhr durch, und sie haßte es, unpünktlich zu sein.
Doreen kam gerade die Straße herunter. „Nicht so eilig, Jenn!" rief sie. „Die Jungens sind noch gar nicht hier." Als Doreen ihre Freundin eingeholt hatte, fuhr sie fort: „Es scheint so, als seien sie uns entwischt."
Doreen und Jennifer waren schon seit ihrer gemeinsamen Schulzeit befreundet. Eigentlich gleichaltrig, sah Doreen mit ihrem blonden Haar und dem auffälligen Make-up um Jahre älter aus, und sie übernahm gewöhnlich die Führung, wenn es galt, ein neues gesellschaftliches Abenteuer, zu wagen.
„Puh, ist das ein kalter Abend!" Jennifer schlug gegen den rauhen Wind ihren Mantelkragen hoch. „Nicht länger als zehn Minuten bleibe ich hier frierend stehen!"
„Sie können ja noch kommen", sagte Doreen hoffnungsvoll, „ich weiß es - komm, wir warten hier - da stehen wir nicht so im Wind." Sie stellten sich dicht beieinander in den Eingang einer kleinen wettergeschützten Vorhalle, die nicht weit von der Straßenecke entfernt war. Die inneren Türen waren geschlossen, aber der Klang von Musik war deutlich zu hören.
„Klingt so, als sollten wir hier beim Warten Unterhaltung bekommen", bemerkte Jennifer trocken, „hör mal"
„Vielleicht ist es Gemeinschaftssingen", meinte Doreen heiter, „wenn sie nicht bald kommen, könnten wir ja hineingehen."

„Warum eigentlich nicht", unterbrach, sie eine angenehme, freundliche Stimme, „drinnen ist es nämlich wärmer!" Sie waren so völlig überrascht durch das Erscheinen eines jungen Mannes mit einem Gesangbuch in der Hand, daß sie gar keine Worte fanden, um Einwände zu erheben; sie ließen sich durch die grünen Türen hineinfuhren und fanden sich auf der hintersten Bank im Saal einer Missionsgemeinde wieder.
„Wir sind jetzt richtig drin", flüsterte Doreen, „es ist eine Kirche."
Es war so etwas wie ein Gottesdienst, zweifellos. Jennifer reizte es zum Lachen. Was würden die zu Hause wohl sagen, wenn sie sie hier sehen könnten? Hier war nichts von der reichen, prunkvollen Kathedrale, an die sie sich aus Kindheitstagen erinnerte, aber über dem Podest war in großen, deutlichen Lettern zu lesen: „CHRISTUS STARB FÜR UNS".
Der Saal war nahezu besetzt, meistens junge Leute, wie Jennifer bei einem kurzen Blick in die Runde bemerkte.
Vorne erhob sich gerade ein Mann; offensichtlich wollte er eine Predigt halten. Seine suchenden Augen glitten in einem Augenblick über seine Zuhörer, und Jennifer fühlte plötzlich, daß sein fester Blick auf sie gerichtet war. In dem Augenblick kam ihr die Gewißheit, daß alles, was er jetzt sagen würde, für sie persönlich bestimmt war.
„Wir könnten geradesogut hierbleiben", flüsterte sie ihrer Begleiterin zu. Da begann der Mann vorn auch schon zu sprechen.

„Ich habe nicht die Absicht, euch heute abend eine Predigt zu halten, Freunde", begann er in einer schlichten, ernsten Art, die Jennifer sofort ergriff und sie zu aufmerksamem Zuhören zwang, „ich möchte nur einige Minuten lang über einige der herrlichsten Worte in der Bibel zu euch sprechen. Der Apostel Johannes hat sie vor vielen, vielen Jahren geschrieben, aber sie sind heute genauso wahr wie damals: ‚Wir lieben ihn, weil er uns zuerst geliebt hat'. Und heute abend möchte ich diese Worte zu meinem ganz persönlichen Zeugnis machen und euch sagen: Ich liebe ihn, weil er mich zuerst geliebt hat."
Jennifer hörte wie gebannt zu, wie er kurz die Geschichte seines früheren Lebens erzählte; wie er sich immer weiter von Gott entfernt hatte und in ein selbstsüchtiges Trachten geriet. Dann hatte er eines Tages in einer ähnlichen Versammlung wie dieser hier erfahren, daß er trotz aller seiner Sünden von dem Herrn Jesus Christus, dem Sohn Gottes, geliebt wurde. Aus Liebe habe Jesus sich selbst am Kreuz auf Golgatha für die Sünden des jungen Mannes dahingegeben.
Jennifer vergaß alle Verabredungen für diesen Abend, ja, sie vergaß auch das Mädchen neben sich, so hörte sie diesem Mann zu, der den wahren Sinn des Kreuzes zu erklären versuchte.

Natürlich hatte sie von Christus gehört - sie glaubte sogar, daß er auf Erden gelebt hatte und von denen, die ihn haßten, hingerichtet wurde. Aber niemals hatte sie bisher gehört, daß er bei seiner Kreuzigung die Sünde der Welt auf sich nahm,und daß er tatsächlich sein Leben dahingab, um die Welt zu retten, weil er die Welt liebte •... weil er diesen Mann liebte, der da vorn sprach . . . diese Leute, die in dieser Halle saßen . . . weil er sie, Jennifer Deane, liebte!
„Nun frage ich euch: Liebt ihr ihn?" fuhr der Prediger fort. „Selbst wenn ihr auf diese Frage mit Nein antworten müßtet, ändert das nichts an der Tatsache, daß er euch liebt und daß er auch eurer Sünden wegen ans Kreuz ging. 

Bisher habt ihr für die Freuden der Sünde gelebt; ihr habt ihm in seiner Liebe und Barmherzigkeit den Rücken gekehrt Vielleicht habt ihr es wirklich nicht besser gewußt und es bisher niemals erfahren, daß der Herr Jesus euch so sehr geliebt hat."
Jennifer mußte hart schlucken. Das war die Wahrheit, was er gesagt hatte, jedes Wort. Sie hatte sich manchmal gefragt, was sie wohl tun würde, wenn sie Gott Auge in Auge begegnen müßte, aber sie hatte es im betäubenden Wirbel der Vergnügungen zu vergessen gesucht. Sie war bis zu ihrer Schulentlassung regelmäßig zur Kirche und Sonntagsschule gegangen, aber niemals hatte sie etwas Derartiges gehört. Dies war für sie etwas völlig Neues.

Und während der Prediger versuchte, das Leiden des Heilandes am Kreuz, das makellose Lamm Gottes, „zur Sünde gemacht", um eine sündige Welt zu erlösen, seinen Hörern bildhaft deutlich zu machen, wurden Jennifer die Augen geöffnet. Sie sah sich entblößt von all ihrem Glanz, den sie bei Menschen genoß, als ein durch und durch schuldiger Mensch im Angesichte Gottes. Dort am • Kreuz streckten sich zwei Arme nach ihr aus, um sie zu retten. Jennifer verlor jeden Sinn für Zeit und Raum; ihr Herz pochte rasend,und die Gedanken jagten sich in ihrem Hirn.
Der Prediger war zum Schluß gekommen, und eine junge Frau stand auf, um zu singen. Jennifer hatte noch nie eine Stimme gehört, die sie so tief angerührt hätte, und diese Worte - diese Worte:
„Da war eine; der wollte für mich sterben,
daß ich Unwürdiger sollte Leben erben,
den Pfad des Kreuzes wollte er beschreiten,
alle Schulden meines Lebens zu begleichen."
Die Versammlung war zu Ende. Der Prediger ging zum Ausgang, um den Leuten beim Hinausgehen noch die Hand zu geben.
„Komm schon, Jennifer", sagte Doreen ungeduldig, „daß wir nur bald hier rauskommen!"
Jennifer erhob sich und folgte ihrer Freundin in dem Strom der Menge, die sich langsam zur Tür hin bewegte.
„Guten Abend." Der Prediger nahm ihre Hand und drückte sie freundlich. „Sie sind fremd hier?"
Seine leuchtenden Augen schauten sie durchdringend an. Ihr Blick wurde unsicher.
„J-ja", stammelte sie, „aber Sie müssen gewußt haben, daß ich heute hierherkomme; denn alles, was Sie in Ihrer Predigt sagten, war auf mich gemünzt."
Er zog sie beiseite. „Ich wußte nicht, daß Sie kommen", sagte er schlicht, aber bestimmt, „der Herr aber wußte es; er gab mir diese Botschaft für Sie. Der Herr hat heute abend zu Ihnen geredet. Sagen Sie, haben Sie ihn als Ihren Heiland angenommen?"

Jennifer schaute blaß und gequält zu ihm auf und begegnete seinen forschenden Augen.
„Das ist mir alles so neu", sagte sie unsicher. „Ich habe es vorher nie gehört. Ich wußte nie, daß Jesus für mich starb. Ich möchte wissen - ich möchte Sie fragen, ob Sie eine Bibel für mich hätten, so daß ich das alles für mich selbst noch einmal lesen kann? Natürlich haben wir zu Hause irgendwo eine", fügte sie hastig hinzu, „aber ich glaube, ich weiß nicht, wo ich sie finden könnte."
Er lächelte, als er ein Neues Testament, mit einer besonderen Aufschrift versehen, vom Bücherregal nahm. „Dieses hier können Sie gern haben. Die Verse, die Sie suchen, sind alle besonders gekennzeichnet Wenn Sie über all diese Fragen irgendwann einmal mit mir sprechen wollen; würde ich mich freuen, Ihnen helfen zu dürfen. Ich heiße Ransome, Pastor Ransome."
„Danke"; sagte Jennifer und griff hastig nach dem Buch.
„Morgen abend findet hier wieder eine Versammlung statt, wenn Ihnen daran liegt, zu kommen", fuhr er fort. „Ich werde für Sie beten. Leben Sie wohl. Gute Nacht, und Gott segne Sie!"
„Ich danke Ihnen!" sagte Jennifer noch einmal
Draußen auf der Straße, eilte sie zu Doreen hinüber, die ungeduldig am Bordstein stand. „Komm doch endlich, Jennifer", sagte sie schroff. „Diese Bude geht mir auf die Nerven. Was in aller Welt hast du dort noch zu tun gehabt?"
„0, ich habe ihn um eine Bibel gebeten, daß ich das alles noch einmal für mich lesen kann. Doreen, war es nicht wunderbar, was er uns heute abend gesagt hat?"
Doreen zuckte mit den Schultern. „Das hat mich nicht getroffen" sagte sie leichthin. „Komm, wir trinken ein Glas Malzmilch und vergessen das alles. Und wenn ich diese Jungens das nächste Mal sehe - - !"
Sie gingen in die Milchbar und Doreen bestellte. Aber Jennifer machte keinen Versuch, ihr Glas auch nur anzurühren; so sehr war sie in ihr aufgeblättertes Testament vertieft.
„Doreen, hier ist es - schau her!" rief sie plötzlich aus. „Hier steht es schwarz auf weiß: ‚Christus Jesus kam in die Welt, Sünder zu retten, unter denen ich der erste bin'. Doreen, das gilt mir!"
Doreen stellte ihr Glas hin und schaute ihre Freundin fragend an. Auf deren Gesicht lag ein Glanz, den sie noch nie gesehen hatte, und ihre Stimme klang ungewohnt heftig. Doreen war plötzlich beunruhigt.
„Jennifer, du denkst doch nicht ernstlich daran, fromm zu werden? " fragte sie bestürzt.
Nach einer Pause antwortete Jennifer. „Nein, Doreen", sagte sie langsam, „es ist mehr als das. Es geht darum, daß ich Jesus Christus als meinen Retter annehme."
„Jennifer, sei doch nicht dumm!" rief die andere erregt. „Das kannst du doch nicht machen. Was werden die Leute sagen? Was werden deine Freunde von dir denken? Und was werden deine Eltern sagen? Wenn du wirklich tust, was dieser Prediger da sagt, wirst du noch eine richtige alte ‚Betschwester' werden. Ein Mädchen wie du kann doch gar nicht leben ohne Tanz und Parties und andere schöne Dinge!"
Jennifer stand auf und sah der anderen offen ins Gesicht.
„Ja", sagte sie ruhig, „bisher meinte ich auch immer, ich könnte ohne meine Vergnügungen nicht leben, aber das scheint mir jetzt gar nicht wesentlich zu sein. Doreen, ich habe es mir gründlich überlegt. Ich werde jetzt heimgehen."
Doreen sah, daß hier jeder Einwand zwecklos war; verärgert begleitete sie ihre Freundin an die Tür.
„Vielleicht ist es das beste, was du tun kannst", wagte sie noch zu äußern, „schlaf erst mal drüber, morgen läßt es sich wahrscheinlich vernünftiger mit dir reden."
Schweigend gingen sie zur Haltestelle.
„Ich warte noch, bis deine Bahn kommt, Doreen", begann Jennifer. aber ihre Begleiterin schnitt ihr mit einer ungeduldigen Handbewegung das Wort ab.
„Laß mich in Ruhe" sagte sie kühl, „geh lieber nach Hause und lies deine Bibel."
Jennifer zuckte unter dieser spöttischen Bemerkung zusammen, aber im Augenblick hatte sie keine Antwort darauf. Ihr Herz war zu voll. Ein unangenehmes Schweigen stand zwischen ihnen.
„Na schön", sagte sie schließlich, „gute Nacht!" Sie wandte sich rasch um und eilte nach Hause.

2
Als Jennifer die Pforte öffnete, bemerkte sie, daß das Licht im Wohnzimmer noch brannte. Die Familie mußte noch
auf sein. Aber natürlich, es war noch früh - etwas nach
neun Uhr. Rodger und Philip waren wohl zu Hause und unterhielten sich mit ihren Freunden. Sie fühlte sich nicht
imstande, ihnen gerade jetzt zu begegnen. Allein wollte sie sein. Vielleicht konnte sie leise hinaufgehen, ohne gesehen zu' werden; denn niemand würde sie jetzt erwarten. Sie öffnete leise die Haustür und trat in den Flur. Die Tür zum Wohnzimmer stand offen; nun wußte sie, daß sie die Ihrigen nun doch begrüßen mußte; denn es war unmöglich, die Treppe ungesehen zu erreichen.
„Wer ist da? " hörte sie ihren Vater rufen.
‚Ach, ich bin es nur", antwortete Jennifer und kam näher. Alle waren da - Rodger und seine Freundin, Philip und einer von seinen Klassenkameraden, und Vater und Mutter.
„Jennifer, was ist denn los?" rief Frau Deane erstaunt. „Fehlt dir etwas?"
Jennifer versuchte zu lachen. „Ach was, natürlich nichts. Du hast doch selbst gesagt, ich sollte früh zurück sein, nicht wahr, Mutter?
Frau Deane lehnte sich in die Polster zurück. „Na ja, aber—"
„Wohl zuviel für dich, Mutti? "meinte Rodger, in einem Tonfall, der dem seines Vaters sehr ähnlich war. Er drehte sich in der gönnerhaften Art des „großen Bruders", die Jennifer immer in Wut brachte, zu ihr um. „Was ist denn passiert, Schwesterlein? Wolltest du heute ein braves, kleines Mädchen sein - oder ist die Party ins Wasser gefallen?" Bei diesen Worten zwinkerte er dem Mädchen, das neben ihm auf dem Sofa saß, bedeutungsvoll zu.
Jennifer merkte, wie sie rot wurde. „Ach nein," - sie suchte einen gleichgültigen Tonfall zu heucheln - „es hat überhaupt keine Party stattgefunden."
„Wo bist du denn dann gewesen? " fragte ihr Vater neugierig dazwischen.
Jennifer ging hinüber zum Kimin und wärmte ihre Hände am offenen Feuer; sie wollte es sich gut überlegen, ehe sie zu antworten versuchte. Sie sah, wie Glaire Neilson hinter der vorgehaltenen Hand Rodger eine Bemerkung zuflüsterte, während die Eltern vielsagende Blicke tauschten. Philip und Peter Thompson erwarteten mit jungenhafter Begeisterung das lustige Schauspiel, das nun folgen würde.
„Nun, um ehrlich zu sein, ich bin in der Kirche gewesen." Jennifer wandte sich wn und blickte sie bei diesen Worten fest an.
„Kirche?"
Das Wort kam unwillkürlich von allen, die im Zimmer waren, als wollten sie es nicht glauben, während Rodger lauthals lachte.
„Hoffentlich hast du auch für mich gebetet, meine Liebe", sagte er in gespielter Demut.
„Nein, ich habe noch nicht einmal an dich gedacht, Rodger", antwortete sie ruhig, „ich war zu sehr damit beschäftigt, für mich selbst zu beten." Es lag etwas- Ungewöhnliches in ihrem Tonfall; darum richteten sich jetzt wieder alle Blicke mit besonderem Interesse auf sie. Philip, der Jüngste, brach als erster das Schweigen.
„Das Gebetbuch hast du dir wohl als Andenken mitgenommen", sagte er erheitert und wies dabei auf das Buch in-ihrer Hand. -
Jennifer hielt es hoch, daß es alle sehen konnten.
„Es ist eine Bibel, ein Neues Testament", erklärte sie. „Ich habe es -bekommen, um einiges für mich nachzulesen. Ihr könnt euch gar nicht denken, was da alles drinsteht. Bis..

Die englische Ausgabe erschien unter dem Titel
"In all these things" im Verlag Oliphants Ltd., London
© 1953 by Marjorie Buckingham
© der deutschen Ausgabe 1969 beim
Verlag Hermann Schulte Wetzlar
Aus dem Englischen von Joachim Hoene
ISBN 3-87739-206-7

Darlene Deibler Rose Gottes Hand im Dschungel des Zweiten Weltkrieges

04/02/2023
von Christ-und-Buch Günter Arhelger

Kapitel 1BV13362-1.jpg?1680464123554

Nachdem wir sechs Monate lang in Holland die niederländische Sprache gelernt hatten, gingen mein Mann Russell Deibler, ein Missionar mit langen Jahren Missionserfahrung, und ich, seine junge Frau, an Bord der RMS  Volendam, die uns zu den ostindischen
Inseln bringen sollte.
Auf den ersten Blick zeigten sich die Inseln mir als ein Garten Eden mit heißem Klima und hoher Luftfeuchtigkeit. Die mehr als 13 500 Inseln, die sich vom Südchinesischen Meer bis zum Indischen Ozean hin erstreckten, wurden zweimal im Jahr von starken Monsunregenfällen heimgesucht, die die meisten größeren Inseln in ein Meer von Schlamm verwandelten. Verschieden geartete Sümpfe und undurchdringliche Dschungel waren überall zu finden. Auf vielen Inseln gab es noch aktive Vulkane, die hin und wieder Flammen und glühende Lava ausspien. An den Inseln entlang zogen sich Korallenriffe, stille Lagunen und weiße Sandstrände, auf denen sich Kokospalmen und Hibiskuspflanzen sachte im Wind wiegten. »Wie herrlich«, jubelte ich, »ein Inselparadies.«

Am 18.  August  1938, an unserem ersten Hochzeitstag, landeten wir in Batavia(3)
 auf Java. Die Düfte meines neuen Heimatlandes waren fremdartig und doch verlockend, so ganz anders als alles, was ich vorher gekannt hatte. Jede Insel war einzigartig und unterschied sich von ihrer Nachbarinsel in vielerlei Hinsicht. Auf einigen gab es schwefelhaltige Mangrovensümpfe, die einen modrigen Geruch verbreiteten. Andere stanken nach Kopra, dem getrockneten Mark der Kokosnuss. Auf den Gewürzinseln konnte ich auch den Duft von Zimt, Muskatnuss und Nelken ausmachen. Und überall mischte sich der Geruch von Meersalz mit dem schweren Duft des in der Nacht blühenden Jasmin. Über die Märkte zu schlendern – ein buntes Treiben mit provisorischen Ständen, auf denen sich bunte Früchte und Gemüsesorten, von Eingeborenen gewebte Stoffe, Tontöpfe, wunderschöne Sarongs und Nippes-Sachen aus Gold und Silber türmten  –, war viel interessanter als das Einkaufen in einem amerikanischen Supermarkt.

Die Kaufleute schlugen zwei Holzstückchen aufeinander und priesen mit monotoner Stimme ihre Waren an. Es gab keinen Marktpreis. Als ich das erste Mal einen Preis hörte, der doppelt so hoch war wie der Wert der Ware, ging ich davon … »Boleh tawar! Boleh tawar!«(4)
riefen die Kaufleute immer wieder und luden mich ein zu handeln.
Das tat ich dann auch! Das Leben dort war sehr interessant und fesselnd. Ich fühlte mich sofort zu den Leuten und dem Ort hingezogen. Unablässig quälte ich Russell mit tausend Fragen. In dem offenen Stadtkanal badeten Männer, Frauen und Kinder, fröhlich miteinander plaudernd, dort wuschen sie ihre Kleider oder ihr Gemüse, spritzten sich gegenseitig nass oder verrichteten ihre Notdurft – alles in unmittelbarer Nähe.
Mit dem Zug fuhren wir nach Surabaya weiter. Wir kamen vorüber an vielen terrassenförmig angelegten Reisfeldern und Teeplantagen. Drei Tage später setzten Russell und ich unsere Reise mit einem Dampfschiff nach Celebes fort, wo sich die Missionsstation befand.
Makassar, die Haupt- und Hafenstadt von Celebes, war eine wundervolle tropische Stadt. Weiße Sandstrände erstreckten sich rechts der Reisfelder. Eine große, sehr alte Festung mit einer altmodischen Kanone wachte über dem Hafen. Ozeanriesen gingen vor Anker und entluden ihre importierten Waren im Austausch gegen eine Ladung Kopra, Kaffee, Reis, Korn, Salz oder exotischer Gewürze.
Russell, der Schiffsreisen noch nie besonders gut vertragen konnte, hatte sich so weit erholt, dass er mir, nachdem die Gangway heruntergelassen worden war, an der Reling Gesellschaft leisten konnte: Er lenkte meine Aufmerksamkeit auf eine Gruppe, die sich auf der rechten Seite der Gangway versammelt hatte.

»Die große Dame ist Margaret Kemp aus Endicott im Bundesstaat New York«, erklärte er. »Sie und die anderen alleinstehenden Damen arbeiten im Büro der Station und unterrichten in der Bibelschule.« Ich erkannte Lilian Marsh, denn sie sah ihrer Schwester Ethel – einer freundlichen Engländerin, die ich in London kennengelernt hatte – verblüffend ähnlich. Ihr Vater war der bekannte britische Prediger und Schriftsteller F.E. Marsh. Sowohl Ethel als auch Lilian hatten schon viele Jahre im umkämpften China Dienst getan, bevor Lilian nach Niederländisch-Ostindien versetzt worden war. Während ich die kleine Dame mit dem lockigen, im Nacken zusammengesteckten Haar betrachtete, konnte ich kaum glauben, dass sie all die Härten des Dienstes in Südchina durchlebt hatte. Neben ihr stand Philoma Seely.

Philoma, die Russell mir als ein wenig exzentrisch beschrieben hatte, war kleiner als Lilian. Ihr graues Haar glänzte wie Silber in der tropischen Sonne. Philoma war völlig taub, beherrschte seltsamerweise jedoch fließend die chinesische Sprache. Sie führte die Bücher der Missionsstation, unterrichtete in der Bibelschule und tat auch hin und wieder Dienst in der chinesischen Gemeinde.
Am Ende der Reihe der alleinstehenden Damen stand Margaret Jaffray. Sie war die Tochter von Dr. Jaffray, dem Vorsitzenden der Niederländisch-Ostindien-Mission. Ihr dunkles Haar war durchzogen von weißen Strähnen; eine randlose Brille saß auf ihrer dicken Nase, die jedoch dem fröhlichen Funkeln ihrer haselnussbraunen Augen keinen Abbruch tat.
»Willkommen daheim, Fremder!«, rief einer aus der Gruppe. Die anderen begannen zu winken.
»Das ist Wesley Brill, der Leiter der Bibelschule, begleitet von seiner Frau Ruby und der kleinen Tochter Donna«, erklärte Russell.
Vollkommen verzagt und voller Furcht schritt ich die Gangway hinab. Die Brills erreichten Russell als Erste und hießen ihn herzlich willkommen. Etwas unsicher stand ich abseits, doch die beiden Margarets, Lilian und Philoma kamen auf mich zu. Etwas zögernd schaute ich sie an und fürchtete, dass sie ein so junges Mädchen wie mich nicht so leicht akzeptieren würden; doch sie nahmen mich sehr herzlich auf. Ihre Freundlichkeit tat mir gut. Von diesem Augenblick an empfand ich Respekt und Liebe für sie, die auch während unserer gemeinsamen Arbeit, während des Krieges und des gemeinsamen Leidens nicht schwand.
Die Brills informierten uns darüber, dass Russell und ich in dem am Stadtrand gelegenen Gästehaus der Mission wohnen würden. Das Gästehaus verfügte über große, luftige, spärlich möblierte Schlafräume, die in ein Gemeinschaftsesszimmer und das Wohnzimmer mündeten. Der Kochbereich, das Badezimmer, die Toilette und die Zimmer für das Personal waren in einem separaten, durch einen Weg mit dem Haupthaus verbundenen Gebäude untergebracht.

Die Keramikfliesen waren angenehm kühl unter den Füßen. Nach dem Mittagessen zogen wir uns alle zurück – es war Zeit für die Mittagsruhe. Erschöpft kroch ich unter mein Moskitonetz. Es gab keinen elektrischen Ventilator, und die Hitze war überaus drückend. Ich schlief ein wenig, wachte jedoch schweißgebadet und unausgeruht wieder auf. Wie angenehm war jetzt ein erfrischendes Bad!
Nach einer belebenden Tasse Tee leerte sich das Haus. Jeder ging seinen Pflichten nach. Russell und Wesley gingen zum Büro der Schifffahrtslinie, um nach unseren Koffern zu fragen. Ich packte das Handgepäck aus, danach setzte ich mich auf unser Bett, schaute zum
Fenster hinaus und versuchte, all die vielen neuen und unterschiedlichen Geräusche und Düfte einzuordnen. Wie schön war es doch, hier zu sein, welch ein Vorrecht!
Beim Abendessen informierte mich Mr. Brill darüber, dass mein Sprachlehrer mich am nächsten Morgen um halb neun erwarten würde. Schon bald würde ich mich mit den Eingeborenen unterhalten können. Gott hatte mich in seinen Dienst berufen, und er würde mich auch für die mir zugedachte Aufgabe zurüsten. Die Sprache war ein Werkzeug, das zu gebrauchen ich lernen musste – und wenn er mir die Kraft dazu gab, dann würde ich sie gut einsetzen können.
Pünktlich um halb neun am nächsten Morgen wurde ich einem Indonesier mittleren Alters vorgestellt. Er nickte mir zu, und ich nickte zurück. Dann verließ Russell den Raum. Ich sprach kein einziges Wort Indonesisch, und der Sprachlehrer kein einziges Wort Englisch.

Er erhob sich vom Stuhl und verließ den Raum. Doch sofort kam er zurück, verbeugte sich und sagte: »Selamat pagi, Njonja!« Ich starrte ihn schweigend an. ›Ja, sicher‹, dachte ich bei mir. ›Was hat er jetzt nur gesagt?‹
Als ich nicht antwortete, verließ mein Lehrer abermals das Zimmer, kam wieder zurück und sprach diesmal ganz deutlich: »Selamat pagi, Njonja.«
Meine Gedanken überschlugen sich. Das war bestimmt eine Begrüßungsformel! Als er nun zum dritten Mal vor die Tür ging, war ich vorbereitet. Er kam zurück, verbeugte sich und wiederholte den Gruß.
Ich erhob mich von meinem Stuhl, verbeugte mich und erwiderte: »Selamat pagi, Njonja.«
Der kleine, korpulente Mann in dem gestärkten Baumwollanzug gestikulierte wild mit den Händen und schüttelte den Kopf. Er zeigte Das Bild der Deiblers auf ihrer offiziellen Arbeitserlaubnis auf sich und sagte immer wieder: »Tuan, Tuan.« Dann zeigte er auf
mich und sagte: »Njonja, Njonja.«
Ich musste schrecklich lachen, denn ich hatte gerade zu meinem Lehrer gesagt: »Guten Morgen, meine Dame!« Um ihm zu versichern, dass ich verstanden hatte, verbeugte ich mich und sagte:
»Selamat pagi, Tuan«, worauf er lächelnd erwiderte: »Baik, baik!«
(»Gut, gut!«) Diese erste Lektion hatte ich gelernt, und nie wieder sprach ich einen Mann mit »meine Dame« an.
Jeden Tag lernte ich mit meinem Lehrer die Sprache. Er machte seine Sache ausgezeichnet, forderte aber auch eine Menge von mir. Wenn er sich nachmittags mit einer Verbeugung von mir verabschiedet hatte, schlenderte ich in das Quartier der Dienstboten hinüber. Die Köchin, eine junge Frau, und der Wäschejunge lachten über mein Indonesisch und korrigierten mich. Wenn ich ein Wort falsch aussprach oder sie bat, etwas zu wiederholen, wurden sie immer lauter. Doch schließlich lernte ich, ihnen zu sagen, dass mein Gehör ausgezeichnet sei und dass ich nur Probleme mit der indonesischen Sprache hätte.
Celebes war eine Insel voller Gegensätze. Mehrere Tausend Meter hohe Berge erstreckten sich im Norden und Süden des Landes, und die geheimnisvollen blauen Seen waren Hunderte Meter tief. Dazwischen bedeckte üppige, tropische Vegetation die Landschaft. Auf den Bergen im Landesinnern waren viele Kalksteinhöhlen zu finden.
Ich liebte die Insel und ihre Bewohner. Doch ich wusste auch, dass mein Aufenthalt zeitlich begrenzt war. Schon bald würden wir weiterreisen in das »große unbekannte Land«, nach Neuguinea, und ich war sicher, dass die Gebete der Menschen hier auf der Insel Celebes uns dorthin begleiten würden. An einem Septembermorgen lernte ich einen von diesen Menschen kennen, Dr. Robert A. Jaffray.
»Da, neben Margaret, das ist Mr. Jaffray«, erklärte Russell, als das Schiff anlegte. Ich erkannte ihn sofort. Wie hätte man ihn übersehen können? Er überragte seine Mitreisenden um Haupteslänge und winkte uns mit seinem Tropenhelm zu. Sein kurzes, weißes Haar war ordentlich gekämmt, und er war glattrasiert. Sein Oberlippenbart war sorgfältig gestutzt. Er stand an der Reling mit der Würde eines Mannes von vornehmer Herkunft.

Margaret – er nannte sie zärtlich Muggins oder Muggie – half ihm von Bord. Sie trug die vielen Päckchen, die er als Geschenke für die Missionare mitgebracht hatte, und sah aus wie ein reich geschmückter Weihnachtsbaum. Dr. Jaffray kam auf mich zu und drückte mir herzlich die Hand.
»Das muss Darlene sein. Jetzt kann ich verstehen, warum Russell seinen Urlaub verlängert hat.« Seiner Größe und auffallenden Erscheinung nach zu urteilen, hätte ich ihn für einen sehr strengen Mann gehalten, doch sein warmes Lächeln und seine blitzenden Augen zeigten mir sehr schnell, dass ich mich geirrt hatte.
»Ich fürchte, wir haben Ihr Haus immer noch mit Beschlag belegt«, entschuldigte ich mich nervös.
»Das macht doch nichts. Mutter besucht noch Freunde in Singapur und Java. Sie wird vermutlich erst nach der Konferenz eintreffen.«
Die Konferenz für die Missionare in Niederländisch-Ostindien würde erst im November stattfinden; es blieb viel Zeit, sich von Mr.  Jaffrays Begeisterung für Neuguinea anstecken zu lassen. Er trug eine zerknitterte Landkarte bei sich, auf der die Strecke von Oeta(5)  bis zu den Wisselseen zu sehen war. Sobald sie ausgepackt hatten, begannen wir, Listen mit Ausrüstungsgegenständen und Versorgungsgütern zusammenzustellen und die Kosten zu überschlagen. Wir drei waren begeistert von dem Plan, das Innere Neuguineas für Gott zu gewinnen. Jede Information, die wir bekommen konnten, überprüften wir sehr sorgfältig.

Wir erfuhren, dass am 1. Januar 1937 ein holländischer Pilot mit Namen Mr. Wissel und sein amerikanischer Kopilot, Mr. Jack Atkinson, für die Babo-Ölgesellschaft einen Erkundungsflug über Neuguinea gemacht hatten. Das neue Jahr war gerade erst angebrochen,
und die Wolken hatten sich gelichtet, sodass die Piloten das schneebedeckte Zentralgebirge sehen konnten. Etwa 50  Kilometer weit erstreckten sich die Schneefelder, die hier und da von zerklüfteten, schneebedeckten Gipfeln und Gletscherseen unterbrochen wurden.
Ehrfürchtig betrachteten sie die unberührte Natur. Als sie über die Nordseite des Gebirgszuges flogen, entdeckten sie unter sich etwas, das aussah wie drei runde Wolken, die sich in die Berge schmiegten. Sie flogen etwas niedriger und erkannten, dass es sich nicht um eine Wolkenformation, sondern um drei kristallklare Seen handelte, und auf dem größten davon ruderten Männer und Frauen in Kanus. Und das in einem Teil der Welt, der als unbewohnt galt!

Als ich mit Russell zusammen die Luftberichte studierte, erfuhren wir, dass der Oeta, der in die Bandasee an Neuguineas Südküste fließt, im größten der Wisselseen, dem Paniaisee, entspringt. Wenn man dem Oeta zu seiner Quelle folgte, würde man ganz sicher auch noch andere Dörfer und bisher unbekannte Völker entdecken. Die niederländische Regierung, die die Ostindischen Inseln kontrollierte, stellte schon bald Geldmittel und Begleitmannschaften für diese Expedition zur Verfügung. Die Gruppe kämpfte sich am Fluss entlang durch den dichten tropischen Dschungel. Sie bestieg mit dichten Wäldern bewachsene Berge, um am Gipfel feststellen
zu müssen, dass ein neuer Gebirgszug sie erwartete, der noch steiler und noch zerklüfteter war als der vorige. Am Ende eines jeden ermüdenden Tages wurde schnell ein Schutzdach errichtet, worunter sie lagerte. Viele der Träger, vorwiegend Eingeborene der Küstenregionen, starben und wurden in flachen Gräbern entlang des nächtlichen Lagerplatzes begraben. Alle litten unter Hunger, da die Nahrungsmittel knapp waren, und unter der Kälte in den höheren Regionen. Als etwa einen Monat nach ihrem Aufbruch von der Küste die Überlebenden den letzten Gebirgszug ins Steinzeitalter hinabstiegen, folgte ihnen eine große Horde fast nackter Eingeborener
zum Paniaisee.

Einige Polizeibeamte, mehrere Gefangene und ein Offizier wurden in Enarotali zurückgelassen, wobei sie die hastig errichteten Zelte auf einem Bergabhang bewohnten, von dem man auf den
See blicken konnte. Die einzige Verbindung zwischen diesem primitiven Außenposten und der Außenwelt war ein batteriebetriebenes Radio.
Je mehr wir erfuhren, desto lieber wurden uns die Landkarte und die Geschichte Neuguineas. 1545 hatten die Spanier Anspruch auf die zweitgrößte Insel der Welt erhoben und ihr den Namen Neuguinea gegeben, weil ihre Bewohner den Volksstämmen an Afrikas Westküste ähnelten. Anfang des 19. Jahrhunderts etablierten holländische Händler die ersten europäischen Außenposten auf der Insel, und 1828 annektierten die Niederlande den westlichen Teil der Insel.
Intensiv studierten wir die Karte Neuguineas. Die Insel ähnelte einem riesigen paläozoischen Beutevogel  –  mit erhobenem Kopf und offenem Schnabel bereit, mit der hereinströmenden Flut die kleineren Molukkeninseln zu verschlingen. Der Brustteil Neuguineas liegt über dem obersten Zipfel von Australien und sein Schwanz in der Korallensee. Die ungeheuer lange Küstenlinie, die undurchdringlichen, die fast überall von Krokodilen und giftigen
Schlangen bewachten Mangrovensümpfe und die Kannibalenstämme hatten schon über die Jahrhunderte hinweg selbst die wagemutigsten Seefahrer davon abgeschreckt, das Land einzunehmen.

Am 21. Juni 1938 folgten Angehörige einer vom amerikanischen Museum of Natural History gesponserten Expedition unter der Führung von Richard Archbold dem Flusslauf des Baliem durch ein ca. 400 Kilometer östlich der Wisselseen gelegenes Tal. Sie wollten
Proben der Flora und Fauna am Fuß des Mount Wilhelm, eines der höchsten Gipfel Neuguineas, sammeln. Dort trafen sie auf ein dichtbesiedeltes Gebiet von Steinzeit-Kannibalen.
Immer wieder lasen wir die Berichte über die Ergebnisse der
Expedition und waren aufs Neue beeindruckt von der riesigen Aufgabe, die unzähligen Volksstämme Neuguineas zu erreichen, die im Gebirge lebten.
Die Missionskonferenz fand im November in Benteng Tinggi statt, einem Anwesen in den Bergen, etwa 60 Kilometer von Makassar entfernt gelegen. Benteng Tinggi bedeutet »hohe Festung«, und in der Tat war es ein Zufluchtsort vor der sengenden Hitze der Küste. Die Versammlungen wurden in einem riesigen, achteckigen Gebäude abgehalten, an das sich die Unterbringungsmöglichkeiten der Teilnehmer anschlossen. Zum ersten Mal lernte ich die anderen Missionarsfamilien kennen. Wir lachten viel zusammen, und die Konferenz verlief sehr harmonisch.
Einstimmig wurde beschlossen, dass Russell und ich zusammen mit einem anderen Ehepaar, Walter und Viola Post, zu den Wisselseen aufbrechen sollten. Schon vor der Konferenz hatten wir uns eine Arbeitserlaubnis beschafft, doch die Regierung wollte nicht gestatten,
dass Frauen die anstrengende Reise ins Landesinnere antraten. Bis sich die Zustände gebessert hatten, sollten Russell und Walter Post allein zu den Wisselseen reisen. Viola und ich würden in Makassar bleiben.

Anfang Dezember bestiegen Walter Post und Russell den Dampfer nach Ambon, wo sich der Sitz der Regionalregierung der Gewürzinseln befand. Dort kauften sie Schlauchboote, Campingausrüstung und Nahrungsmittel für sich und ihre Träger ein.
Der Gouverneur war sehr hilfsbereit und arrangierte für sie, dass
sie mit einem Schiff der Regierung nach Oeta an Neuguineas Südküste reisen konnten. Sie kamen sicher dort an und entluden ihre
Vorräte. Dann kehrte Walter Post nach Ambon zurück. Am Tag nach Weihnachten fuhren Russell und seine zehn eingeborenen Träger mit den Vorräten in einem Regierungsdampfer, ein Kanu im Schlepptau, stromaufwärts bis dorthin, wo die Stromschnellen begannen.
Von dort aus würden die Vorräte und das Kanu getragen werden müssen. Sie erreichten das Lager am späten Nachmittag des dritten Tages. Dies erfuhr ich aus einem Brief, den der Regierungsbeamte
mir freundlicherweise mitbrachte.
Ich erinnerte mich an das, was ich in dem Bericht der Pioniermissionare gelesen hatte, und unaufhörlich bat ich Gott um Hilfe und Kraft, um Sicherheit, Mut und Geduld für Russell. Zusammen mit den anderen Missionaren betete ich, dass Gott seine Hand über
ihn halten möge, damit er die Wisselseen erreiche. Wie sehr er litt und wie notwendig unsere Fürbitte war, sollte ich erst viele Wochen später erfahren.
Während Russells Abwesenheit drängte und ermutigte Margaret Kemp mich, mehr zu tun, als ich jemals für möglich gehalten hätte. Die wöchentlichen Lektionen der Sonntagschule für die Jüngeren zu übersetzen und mehreren Lehrern zur Seite zu stehen – und das nach nur wenigen Monaten des Sprachstudiums –, war ihre Idee.
In regelmäßigen Abständen wurde ich dafür eingeteilt, mich in der Gemeindearbeit einzubringen, und man bat mich auch, im Kindergarten für die Kinder der Lehrer und Studenten auszuhelfen. Das war eine wertvolle Erfahrung für mich.
Auch weiterhin betrieb ich mein Sprachstudium, jetzt mit einem Lehrer der Schule für Angehörige der Kolonialverwaltung in Menado (Manado). Sein ausgezeichnetes Indonesisch spornte mich an, meine Sprachkenntnisse zu vervollkommnen. Schon nach wenigen Wochen kann jeder sich in Pasar, dem Umgangsmalaiisch, verständlich machen. Doch das richtige Indonesisch ist eine sehr schöne Sprache, es hat keine harten, kehligen Laute. Diese Sprache so gut ausgesprochen zu hören, ist, als würde man einer Sinfonie lauschen, die auf Wortinstrumenten gespielt wird – als würde man einen Renoir anschauen, ein Meisterwerk von Licht und Schatten.

Zu Beginn des neuen Schuljahres gab man mir ein englischsprachiges Buch für Kirchengeschichte und fragte, ob ich die Studenten des zweiten Jahrgangs unterrichten könnte. Gern war ich
dazu bereit, doch nachdem ich mich durch die ersten Kapitel gekämpft hatte, kam ich immer mehr zu der Überzeugung, dass ich mehr Begeisterung als Vernunft hatte walten lassen. Wie vermittelt man Kirchengeschichte an Studenten, die frisch aus dem Dschungel kamen und nur ihre eigene Küstenlinie und den Ozean kannten und erst seit einem Jahr wussten, dass überhaupt eine Welt außerhalb ihres begrenzten Horizonts existierte? 

Das war eine anspruchsvolle Aufgabe! Die meisten Studenten in meinen Klassen waren Dyaks (Dayaks) aus Borneo. Da alle Stunden in Indonesisch abgehalten wurden, mussten sie sich ein Arbeitswissen in einer Sprache aneignen, die ihnen vollkommen fremd war. Viele von ihnen hatten noch nie einen Stift in der Hand gehalten. Neben ihren Sprachstunden brachte man ihnen Lesen, Schreiben, Mathematik, Musik und Geschichten aus dem Alten und Neuen Testament bei. Allein schon still in einem Klassenzimmer sitzen zu müssen, war eine schwere Prüfung für sie; sie waren ein freies Volk, das am Rand der Zivilisation gelebt hatte. Nie hatten sie sich einem Zeitplan unterwerfen müssen. Ich liebte und bewunderte sie, wenn sie mit gerunzelter Stirn über ihre Bücher gebeugt im Klassenzimmer saßen und ihnen angesichts der extremen Hitze und der Konzentration Schweißtropfen die Wangen herunterliefen.

Ich fand Erfüllung, Freude und außerordentliche Befriedigung in all meinen Aufgaben. Dies war eines von Gottes wertvollen Geschenken an mich – schon als kleines Kind hatte ich Verantwortung übernehmen müssen. Niemals hatte ich Zeit gehabt, mich zu langweilen! Die Trennung von Russell hätte ich mir auch nie selbst ausgesucht, doch der Herr hatte mir, als ich auf seinen Ruf in die Mission antwortete, versprochen: »Geh … ich werde immer bei dir sein!« Die Gegenwart Gottes und seines Volkes machte mich ruhig.
Im Februar erhielten wir die Nachricht, dass Russell aus Manokwari ankommen würde. Meine Aufregung steigerte sich ins Unermessliche. Aber warum aus Manokwari, einem Ort an der Nordküste Neuguineas? Als das Schiff in den Hafen Makassars einlief, konnte ich es kaum noch erwarten. Ich stand ganz vorn unter den Leuten, die sich versammelt hatten, um die ankommenden Reisenden zu begrüßen. Doch wie erschrak ich, als ich einen ausgezehrten, verfallenen Fremden an der Seite von Walter Post entdeckte.
Die anderen Missionare erkannten den abgemagerten Russell als den Mann, den sie vor seiner Reise gekannt hatten. Doch wo war der Mann, den ich geheiratet hatte – der Mann, der nach Neuguinea aufgebrochen war? In nur 18 Tagen im Dschungel und wenigen Monaten spärlicher Ernährung hatte er mehr als 30 Kilogramm verloren! Darlene als frisch gebackene Missionarin (kurz nach ihrer Hochzeit).

»Darlene?« Als ich seine Stimme hörte, wusste ich, dass es Russell war, doch diese Stimme sollte nicht diesem ausgemergelten Fremden gehören. Schnell schlug ich die Augen nieder; ich wollte nicht, dass er mein Unbehagen bemerkte. Meine Zurückhaltung amüsierte ihn, doch der Schock, den ich empfand bei dem Gedanken, was er erlitten haben musste, saß sehr tief.
Nur mit Mühe konnte er gehen, und als er zu Hause die Schuhe und Strümpfe auszog, wusste ich auch, warum. Er hatte keine Haut mehr an den Fußsohlen und an den Zehen und litt unter fortgeschrittener Dschungelfäule.
Dr. Jaffray verständigte sofort einen Arzt. Nachdem dieser Russells Füße untersucht hatte, wandte er sich an mich und sagte: »Sehen Sie dieses Gewebe, das sich ablöst? Nehmen Sie jeden Morgen eine
Pinzette und reißen Sie es ab, bis das rohe Fleisch sichtbar wird.
Wenden Sie die Salbe, die ich Ihnen gebe, erst an, wenn Sie das verfaulte Gewebe entfernt haben. Das wird sehr schmerzhaft sein, doch es gibt keinen anderen Weg, den Pilz zu entfernen, der die Ursache für Mr. Deiblers Zustand ist.«
Jeden Morgen saß ich auf dem Bett und verband Russells Füße.
In meine unerfreuliche Aufgabe mischte sich noch das Gefühl der Fremdheit, die ich diesem abgemagerten Mann gegenüber empfand.
Russell lachte immer, wenn ich scheu zu ihm hochsah, während ich seine Füße versorgte. Es amüsierte ihn, dass mein überschäumendes Temperament gezügelt worden war.
Dr.  Jaffray, seine Tochter Margaret und ich hörten stundenlang Russells Berichten über seine Erlebnisse bei dem Marsch zu den Wisselseen zu. Ich begann, mich darüber zu wundem, dass er dieses Abenteuer überhaupt überlebt hatte.
Während der ersten drei Tage hatten sich die Träger flussaufwärts gekämpft, und Russell erzählte, er habe sich bei allen seinen Reisen auf Borneos tückischen Flüssen niemals so unbehaglich gefühlt
wie angesichts dieser unfähigen Ruderer, die einmal mitten auf dem Fluss das Boot fast zum Kentern gebracht hätten. Russell hatte kein gutes Gefühl gehabt, als man ihm seine Träger vorstellte, und nun wusste er, dass er seiner Intuition hätte trauen sollen. Wie viele der Küstenbewohner Neuguineas bewegten sie sich lethargisch und langsam. Russell führte das auf die Auswirkungen des Dschungellebens zurück. 

Die Küstenbewohner waren geschwächt vom Denguefieber und von immer wiederkehrenden Malariaanfällen. Sie kannten noch kein Chinin, das ihnen Linderung hätte schaffen können.
In Orawaja erwarteten sie, ein stabiles Basislager vorzufinden. Sie fanden jedoch nur eine Bambuskonstruktion mit einem Grasdach vor, das kaum Schutz vor dem Regen bot. Krankheitsbedingt standen Russell nur noch sieben Träger zur Verfügung. Die drei Kranken kehrten mit dem Kanu nach Oeta zurück. Nachdem sie sich hastig eine Mahlzeit bereitet hatten, teilten Russell und die übrigen Männer die Vorräte unter sich auf, packten ihre Rucksäcke, weil sie früh am nächsten Morgen aufbrechen wollten. Die Träger streckten sich auf dem Boden aus und waren bald eingeschlafen. Russell holte seine Bibel und sein Tagebuch aus seinem Rucksack. Er zündete eine Kerze an, las in der Bibel und schrieb die Ereignisse der vergangenen drei Tage nieder.

Der Weg war so gefährlich, wie er beschrieben worden war. Den ganzen Tag bahnten sich die Träger den Weg durch das dichte Dschungelunterholz. Jeder Tag führte sie tiefer ins Zentralgebirge
hinein, jeder Gebirgszug war höher als der vorhergehende. Sie überquerten vorsichtig schmale, über tiefe Schluchten ragende Felsvorsprünge, die der Oeta in den Felsen gegraben hatte. Der
Fluss tobte drohend unter ihnen hinweg, diente ihnen jedoch als Orientierung, damit sie den Weg zu seiner Quelle, den Wisselseen, finden konnten.

Die mit dichtem Dschungel bewachsenen Berge gaben nur ungern den Weg frei zu den Gebirgszügen, die mit teilweise unter Moos versteckten Tonscherben bedeckt waren. Diese gezackten Scherben schnitten sich durch die Ledersohlen von Russells Stiefeln. Am Neujahrstag erwachte Russell mit dem Gefühl, körperlich vollkommen erschöpft zu sein. Außerdem war er besorgt. Er hatte nur noch wenige Träger, zu wenige. Würden die Vorräte ausreichen?
Er brauchte Ermutigung für den Marsch hinein in die unbekannte Wildnis und öffnete seine Bibel an einer Stelle, wo es hieß: »Habe ich dir nicht geboten: Sei stark und mutig? Erschrick nicht und fürchte dich nicht! Denn der HERR, dein Gott, ist mit dir überall, wohin du gehst« (Josua 1,9). In seiner unnachahmlichen Weise hatte Gott Russell mit diesem Zuspruch gestärkt für die schrecklichen Tage, die noch vor ihm lagen.

Die vorausgehenden Träger mussten sehr sorgfältig darauf achten, die Steine und Felsbrocken, die ihnen im Weg lagen, nicht loszutreten, denn auf diese Weise konnte leicht ein Erdrutsch entstehen. Beim Hochklettern der fast senkrechten Berge mussten die Männer zuerst überprüfen, ob die Steine auch festsaßen, damit sich nicht ein Stein lockerte und die Nachkommenden verletzte.
Und dann immer der Monsunregen! 

Spät am Nachmittag schlugen sie ihr Lager auf. Obwohl Russell bereits sehr erschöpft war, ging er zurück, um den Trägern zu helfen. Sie nahmen die notwendigen
Reparaturen an den Biwaks vor, doch es regnete trotzdem durch. Die Biwaks bestanden aus vier Pfählen, die in die Erde geschlagen und mit Rattan zusammengebunden wurden, mit einem Dach aus Gras oder Rinde. Die Kleidung der Männer war immer nass. Sie kauerten sich vors Feuer, um warm zu werden, und aßen apathisch ihren Reis, getrocknete Erbsen und gesalzenen Fisch.

Russell nahm sein Tagebuch zur Hand und las uns vor: »Dies war ein schrecklicher Tag; ich zwang mich, etwas zu essen und Wasser abzukochen, um etwas zu trinken, doch ich habe keinen Hunger.
Den ganzen Tag bin ich am Ende der Reihe geblieben und habe versucht, die Träger im Auge zu behalten. Aus ihren flüchtigen Blicken in meine Richtung und ihren geflüsterten Unterhaltungen schließe ich, dass sie planen zu verschwinden. Nachdem wir an diesem Abend unser Lager aufgeschlagen hatten, habe ich gebetet und mit ihnen gesprochen. Ich habe ihnen gesagt, dass wir nur durchkommen können, wenn wir zusammenbleiben, und dass wir auf Gott vertrauen
und weitergehen müssen …«
Die Nacht verbrachte er im Gebet. Er bat Gott, er möge die Träger davon abhalten, die Flucht zu ergreifen. In den frühen Morgenstunden fiel er in einen unruhigen Schlaf. Das Geräusch der im Lager hin und her gehenden Träger weckte ihn auf. Wunder über Wunder, sie waren alle noch da.
Er konnte die Männer verstehen. Sechs Träger waren bei einer früheren Expedition auf dieser Route schon gestorben. Jeden Abend half Russell denen, die unter ihrer Last taumelten, das Lager aufzuschlagen. Er fühlte sich körperlich ausgelaugt durch den ständig steigenden Druck, während seine Kräfte schnell schwanden. Dies war keine Expedition mit einer großen Mannschaft, genügend Trägern und Vorräten; er war allein, erschöpft in einem unwirtlichen Dschungel, zusammen mit sieben ebenfalls erschöpften Trägern.
Jetzt aufzugeben, wo sie ein Drittel des Weges bereits hinter sich hatten, wäre ihr sicherer Tod gewesen. Immerhin konnte er die Träger überreden, ihn auch weiterhin zu begleiten, indem er ihnen versprach, einen Teil ihrer Vorräte zurückzulassen. Dennoch wusste Russell, dass es gut möglich war, eines Morgens aufzuwachen und festzustellen, dass seine Männer ihn während der Nacht im Stich gelassen und seine Vorräte mitgenommen hatten. 

Seine einzige Zuflucht war das Gebet. So verbrachte er nach dem anstrengenden Tag die Nacht im Gebet um göttlichen Schutz. Er ermutigte sich immer wieder selbst mit dem Zuspruch vom Neujahrstag, wo es hieß: »Habe ich dir nicht geboten: Sei stark und mutig? … Denn der
HERR, dein Gott, ist mit dir …« – und machte weiter.
Eine Woche später stellte Russell fest, dass es unumgänglich war, die zurückgelassenen Vorräte zu holen. Er und einige der stärkeren Männer gingen zurück. Nach dieser Pause waren die Träger wieder
in besserer Gemütsverfassung.
Als die Männer immer höher stiegen, waren die Tage zwar warm, nachts jedoch war es sehr kalt. Russell und die Männer kauerten sich in Decken gehüllt um das Feuer und hofften, durch die körperliche Nähe noch zusätzliche Wärme zu bekommen. Die Eingeborenen waren Küstenbewohner und die Kälte der höheren Lagen nicht gewöhnt. Sie litten sehr, einige weinten, weil sie glaubten, dass der Tod auf sie lauere. Es gab keinen Schutz vor den kalten Winden, die alles durchdrangen. Sie begannen, den Sonnenuntergang zu fürchten.

Dann kam dieser letzte schreckliche Tag, der 18. Tag – ein Tag, an dem die Expedition bald in einer Katastrophe geendet hätte, was nur durch die Gnade und Güte Gottes abgewendet wurde!
Sie bestiegen den vierzehnten Gebirgszug und kamen ins Land der Kapauku. Das Gebiet war relativ eben, und ein Pfad wand sich durch Gärten, in denen Süßkartoffeln angebaut wurden. Manchmal
steckten die Männer bis zu den Hüften im Schlamm.
Gegen 15  Uhr führte der Pfad sie zum Flussufer, wo sie Kanus fanden, die offensichtlich von Vertretern der Kolonialverwaltung benutzt worden waren. Sie waren noch nicht weit gekommen, als sie erkannten, dass es Selbstmord war, auf dem Fluss weiterzufahren.
Ein Sturm auf dem Paniaisee verursachte hohen Wellengang und gefährliche Stromschnellen an der Stelle, wo der See ins schmale Flussbett des Oeta drängte. Sechs Stunden lang warteten sie in den Kanus, dass der Sturm sich beruhigte. Gegen 21  Uhr zitterten sie alle vor Kälte, und Russell hatte das Gefühl, dass er nicht mehr länger warten konnte. Sie ruderten gegen die Wellen an, und die körperliche Anstrengung half ihnen, die Kälte zu ertragen. Dankbaren Herzensjubelten sie, als der Fluss sich endlich in den See öffnete. Sie mussten den See noch teilweise überqueren, um Enarotali, den Regierungsposten, zu erreichen.
Am Ufer waren schwache Lichter zu erkennen. Als sie gerade anfingen, sich zu entspannen, stieß Russells Kanu gegen einen aus dem Wasser ragenden Felsen und kenterte. Alle Männer und Teile
der Ausrüstung fielen in den aufgewühlten, eiskalten See. Die durchdringenden Hilferufe der Träger weckten das Personal des Regierungspostens auf. Russell und die Träger kämpften gegen die Strömung an, und es gelang ihnen, das zweite Kanu zu erreichen. Verzweifelt schöpften sie das Wasser aus dem Kanu. Fackeln tauchten am Ufer auf, und hilfreiche Hände zogen das Kanu ans Ufer. Zwar waren sie vollkommen durchnässt, doch alle Männer und das meiste Gepäck waren gerettet worden.

Am 13. Januar 1939 um Mitternacht setzte Russell, ein einsamer Pioniermissionar, seinen Fuß auf das Land, wie damals Josua in der Bibel, um den einheimischen Stämmen im Innern Neuguineas das
Evangelium von Jesus Christus zu verkündigen. Bei Tagesanbruch schaute Russell aus der provisorischen Hütte des Regierungspostens. Er hatte sich noch nicht richtig erholt, doch er konnte es kaum erwarten, die Eingeborenen kennenzulernen. Dutzende brauner, sehr kleiner Menschen mit vollen Lippen und breiten Nasen drängten sich im Lager. Sie waren neugierig und wollten die Neuankömmlinge sehen. Ein ganz mutiger Mann bot Russell seinen gekrümmten Zeigefinger. Russell trat zurück und beobachtete, wie einer der Angestellten des Postens vortrat und den Finger des
Eingeborenen mit seinem ebenfalls gekrümmten Zeigefinger ergriff.

Beide Männer zogen ihre Hand nun fort, wobei sie einen scharfen Knall verursachten. Diese Zeremonie wurde mehrmals wiederholt je mehr und je lauter die Knalle, desto tiefer die Freundschaftsbande. Mutig trat nun auch Russell mit seinem neu gelernten Gruß vor und mischte sich unter die Stammesangehörigen. Ihr drahtiges Haar war mit einer Kruste aus Schmutz und Asche überzogen, und ihre kleinen Körper waren mit einer Mischung aus Schlamm und Schweinefett eingerieben, die die Poren verschloss und so die Kleidung ersetzte. Das einzige »Kleidungsstück«, das die Männer an ihrem Körper trugen, war ein Flaschenkürbis, der mit einer Schnur um die Lenden gebunden wurde und von einer anderen Schnur um den Hodensack festgehalten wurde. 

Die kleinen Mädchen trugen Grasröcke, die Frauen kurze Röcke, die aus Bändern gefertigt waren. Von den Köpfen der Frauen und Mädchen hingen Netze, in denen sie bei Tag alles trugen, was nötig war, und die sie nachts sozusagen als steinzeitalterliche Thermounterwäsche um ihre kleinen Körper wickelten.
Schon im Kindesalter wurde bei Jungen und Mädchen die Nasenwand durchstochen. Man steckte einen Strohhalm hinein, bis die Wunde heilte, danach ersetzte ein kleines Schilfrohr den Strohhalm.
Von Zeit zu Zeit wurde das Schilfrohr gegen ein etwas größeres ausgetauscht, bis das Loch groß genug war, dass die Männer den Hauer eines Wildschweins oder ein Bambusstück und die Frauen einen an beiden Enden angespitzten Stock hineinstecken konnten. Auch die Ohrläppchen waren durchstochen  –  nicht für Ohrringe, sondern für einen Federkiel. Manchmal dienten die Löcher auch als Aufbewahrungsort für selbst gedrehte Zigaretten oder Bambuspfeifen.

Da sie keine Hosen und Hemden trugen, mussten sie einen anderen Weg finden, um verschiedene Dinge aufzubewahren! Ketten, die man aus Schneckengehäusen oder den Zähnen von Hunden und Ratten angefertigt hatte, wurden von beiden Geschlechtern getragen. Haarschmuck aus Federn zierten die kahl werdenden Köpfe der älteren Männer.

Die Hütten der Kapauku bestanden aus handgefertigten Holzlatten, die an einem Ende spitz zuliefen. Die Bäume wurden mit Steinäxten gefällt, die Stämme mit einem steinernen Krummbeil bearbeitet. Das Dach bestand aus Baumrinde, der Boden war die blanke Erde. Drei Steine bildeten die Feuerstelle. Die Familie schlief dicht gedrängt um das Feuer herum, zusammen mit den Schweinen, vor allem den Ferkeln. Starb eine Muttersau, wurden die Ferkel von den Frauen gesäugt.
Die Frauen bauten mehr als dreißig verschiedene Sorten Süßkartoffeln in dem Gebiet um den See herum an. Da sie kein Kochgeschirr besaßen, wurden die Kartoffeln manchmal draußen an der Feuerstelle mit heißen Steinen gedämpft, doch vorwiegend röstete man sie in der heißen Asche unter der Kohle auf der Feuerstelle im Innern der Hütte.

Schweine, Ratten, Langusten, Kaulquappen, Vögel, Raupen sowie Bienen- und Wespenlarven, Grashüpfer, Stinkwanzen und andere Insekten lieferten ihrem Speiseplan eine interessante Mischung zusätzlicher Proteine.
Muschelgeld diente den Kapauku als Zahlungsmittel. Russell stellte fest, dass man ein fettes Schwein für denselben Betrag bekommen konnte wie eine junge, kräftige Frau – mit einer Schnur von 40 bis 60 yo (die alten, dünnen Kaurimuscheln). Es war ein schwerer Schlag für meine weibliche Eitelkeit zu erfahren, dass ich bei diesem Stamm nicht wertvoller sein sollte als ein schmutziges fettes Schwein! Obwohl Russell einen Großteil seiner Zeit den Kapauku widmete, verbrachte er auch viele Stunden mit den freundlichen und sehr erfahrenen Angestellten des Regierungspostens. Auf diese Weise konnte er eine Liste mit Dingen zusammenstellen, die nötig waren, um eine Missionsstation hier an diesem Ort einzurichten. 

Russell stand vor dem vollkommenen körperlichen Zusammenbruch. Er wusste nicht, wie er den gefährlichen und anstrengenden Rückmarsch zur Küste schaffen sollte. Doch da griff der Herr
ein: Während seines Aufenthalts bei verschiedenen Außenposten wurde ein Angestellter ernstlich krank. Der Gouverneur ließ ein Wasserflugzeug kommen, um den Mann fortbringen zu lassen.

Der Offizier von Enarotali bat um die Erlaubnis, dass entgegen den Gepflogenheiten Russell ihn begleiten dürfe. »Sehen Sie nur seine Füße an! Er wird es niemals bis Oeta schaffen!« Drei Stunden später landeten sie in Manokwari. Von dort buchte er eine Passage nach Ambon, wo Mr. Post zu ihm stieß. Zusammen fuhren sie nach Makassar weiter. Dieser Flug bewahrte Russell vor dem mörderischen Marsch zurück nach Oeta und sparte einen Monat Zeit.
Am Morgen, nachdem Russell uns die letzte Episode seiner Geschichte erzählt hatte, kam Dr. Jaffray in unser Schlafzimmer und sah, wie ich das abgefaulte Gewebe von Russells Füßen riss. Das Blut und der Eiter liefen mir die Arme hinunter. Eine Welle von Übelkeit ergriff Dr. Jaffray, und er drehte sich um und verließ wortlos das Zimmer. Er schloss sich in seinem Schlafzimmer ein, und als ich ihn mittags zum Essen rief, sagte er, er wolle nichts essen. Gegen 16 Uhr
kam er heraus und legte ein Manuskript vor mich hin.
Ich nahm es zur Hand und las das Vorwort für unsere Feldzeitschrift, The Pioneer (Der Pionier):
»An diesem Morgen schaute ich auf die blutenden Füße eines Missionars, sah seine Frau, die ihn versorgte, sah das Blut und den Eiter herausströmen, und ich dachte bei mir: Was für ein schrecklicher Anblick! Doch als ich das Zimmer verließ, sagte der Herr immer wieder zu mir: ›In meinen Augen sind es wunderschöne Füße!‹
Dann erinnerte ich mich an das Wort: ›Wie lieblich sind auf den Bergen die Füße dessen, der frohe Botschaft bringt, der Frieden verkündigt‹(6)  – Frieden und Gutes den Männern und Frauen wie jenen in Neuguinea, die in Dunkelheit und im Schatten des Todes sitzen. Eines Tages wird alles vorüber sein. Eines Tages werden die müden, blutenden Füße der Missionare zum letzten Mal diese mit Tonscherben übersäten Berge überqueren. Eines Tages werden sie zum letzten Mal in eines jener neu entdeckten Täler hinabsteigen und die Frohe Botschaft der Erlösung durch Jesus Christus, unseren Herrn, verkündigen. Eines Tages wird sich dieser Letzte zu Jesus
bekehren. Dann werden sich die Wolken teilen, und unser Heiland wird erscheinen.«

Ehrfürchtig legte ich das Manuskript auf den Tisch und schaute mit meinen tränennassen Augen in Richtung Osten. Ich wusste, bald würde auch ich mich in die lange Reihe unerschrockener Missionare einreihen, die ins Unbekannte aufgebrochen waren, um Gottes Frohe Botschaft zu verkündigen. Von jenem Tag an musste ich immer, wenn ich Russells Füße verband, an diese Bibelstelle denken. Ich stellte mir vor, wie unser Herr auf seine Füße blickte und sagte: »In meinen Augen sind das wunderschöne Füße!« Diese Erfahrung steigerte meine Sehnsucht,
Russell beim nächsten Mal zu den Wisselseen zu begleiten. Ich war ungeduldig. Dr. Jaffray hatte in seinem Artikel den Blick auf den Tag gelenkt, an dem alles vorüber sein würde. Doch ich wollte gerade erst anfangen! »Wann, Herr, wann?«

Kapitel 2
Unser Schlafzimmer wurde unser »Büro«, von wo aus alles, was zum Aufbau einer Missionsstation in Neuguinea gehörte, geplant und durchgesprochen wurde – das Problem der Träger, des Transports, der Vorräte und der Unterbringung. Russell konnte noch immer
nicht aufstehen. Eines Morgens kam Dr.  Jaffray zu uns und verkündete: »Rus

(3) A.d.H.: Heute Jakarta, die Hauptstadt Indonesiens.(4) A.d.H.: Svw. »Sie können feilschen! Sie können feilschen!« (5) A.d.H.: Heute meist als »Uta« bezeichnet. Damit ist sowohl der entsprechende Fluss als auch der gleichnamige Küstenort an dessen Mündung gemeint. (6) A.d.H.: Vgl. Jesaja 52,7.