Ich will den HERRN preisen mit meinem ganzen Herzen, will erzählen alle seine Wundertaten.
Psalm 9,1
Groß sind die Taten des HERRN,sie werden erforscht, von allen, die Lust an ihnen haben.
Psalm 111,2
Es werden dich loben, HERR, alle deine Werke,und deine Frommen dich preisen.
Psalm 145,10
Die ganze Erde ist voll seiner Herrlichkeit.
Jesaja 6,3
Die Werke des Herrn sind unbeschreiblich schön. Jedes einzelne Seiner Geschöpfe ist ein Wunder. Eine winzige Zelle erregt mit ihrem sinnvollen Aufbau und ihrer Komplexität genauso unser Staunen wie der gestirnte Himmel über uns. Der große englische Prediger Charles Haddon Spurgeon hat das so gesagt:
»Gottes Werke sind allesamt großartig, betrachtet man ihre Planung, ihre Ausdehnung, ihre Anzahl oder die Vortrefflichkeit ihres Baus. Auf irgendeine Weise wird sich jedes Werk Seiner Macht, Seiner Schöpfung oder Seiner Weisheit dem weisen Herzen als großartig erweisen. Alle, die den Schöpfer lieben, freuen sich über Seiner Hinde Werk; sie verstehen, daß sie mehr beinhalten, als was man oberflächlich erkennt, und darum wenden sie alle Kraft daran, sie zu studieren und verstehen zu lernen. Der ehrfürchtige Naturwissenschaftler durchforscht die Natur.., und bewahrt jedes Körnchen ihrer goldenen Wahrheiten.«'
cLv Ein Gott der Wunder tut ISBN 3893973761
Leseprobe
Kapitel 1
„Bist du dir sicher, dass das hier nicht gefährlich ist?“
Edward ignorierte Annas ängstliche Stimme, die dumpf durch die Luke über seinem Kopf drang.
Langsam ließ er sich am Seil in die Dunkelheit gleiten. Beim Räumen des alten Schuppens hatten sie die Öffnung im Boden unter einem Schrank entdeckt – kaum groß genug für einen Mann.
„Und wenn das ein Grab ist?“
Sie versuchte ihn offensichtlich aufzuhalten. Aber das würde sie nicht können. Nicht ihn.
Außerdem spielte es keine Rolle, ob er tot oder lebendig war. Wen kümmerte das schon? Er war so unbedeutend wie Millionen Menschen vor ihm.
Seine Turnschuhe berührten harten Lehmboden und moderiger, feuchter Geruch schlug ihm entgegen.
Er ließ das raue Seil los und kramte sein Handy aus der Tasche seiner Lieblingsjeans.
„Edward, hörst du mich?“
Annas furchtsame Stimme war extrem nervig.
„Das ist bestimmt kein Grab, bloß ein weiterer Stauraum oder ein alter Bunker“, erwiderte er etwas unwirsch.
Er ließ das Licht seines Samsungs durch das Gewölbe gleiten. Dicke Bollersteine ragten aus den Wänden, doch das spärliche Licht konnte den Raum nicht ganz ausleuchten.
Eine Maus huschte erschreckt von der plötzlichen Helligkeit hinter einen Stein.
„Was siehst du?“
„Nicht viel, einen leeren Raum“, gab er zurück und bewegte sich tiefer in die Höhle hinein, weg von dem lästigen Mädchen, der Tochter des Gärtners, die nichts mit einem der zierlichen französischen Supermodels gemein hatte, die er aus englischen Zeitschriften kannte – nicht, dass sie hässlich war. Sie war einfach gewöhnlich. Nichts als gewöhnlich.
Er hatte bestimmt nicht darum gebeten, mit ihr zusammen den Schuppen seiner Großeltern zu entrümpeln. Überhaupt wäre er jetzt nicht in diesem gottverlassenen Kaff namens Onet-le-Château, wenn alles richtig gelaufen wäre.
Ein unförmiger Gegenstand tauchte an der hinteren Wand im Lichtkegel auf. Edward trat näher.
Es war eine hölzerne Kiste mit gewölbtem Deckel und Eisenbeschlägen, wie man sie aus Piratenfilmen kannte.
„Sieht aus, als hätte der Alte hier einen Schatz versteckt“, rief er über die Schulter. Seine Stimme wurde von der Erde beinahe verschluckt, aber Anna schien ihn trotzdem gehört zu haben.
„Grandpère? Du machst Witze.“
Edward verdrehte die Augen. Die Kleine hatte einen Narren an dem Alten gefressen, als ob es ihr eigener Großvater wäre. Dabei war er nur der Arbeitgeber ihres Vaters.
Er legte das Handy auf den Boden und versuchte, den Deckel anzuheben. Aber er saß fest.
„Mist!“
„Brauchst du Hilfe?“
Hilfe? Nein danke. Schon gar nicht von der grauen Maus. Er hatte es schon mit ganz anderen Sachen aufgenommen, wie jeder aus seiner Londoner Gang hätte bestätigen können. Nicht dass sie davon wusste.
Mit ganzer Kraft stemmte er sich gegen den Deckel. Umsonst.
Plötzlich landete Anna mit einem dumpfen Geräusch hinter ihm auf dem Höhlenboden. Offenbar konnte sie es nicht unterlassen, ihn weiter zu belästigen. Erstaunlich, dass der Hasenfuß es gewagt hatte, ihm in die „gefährliche Mission“ zu folgen.
Edward wischte sich mit dem Unterarm über die nasse Stirn. Hier drinnen war es wenigstens angenehm kühl, im Gegensatz zur brütenden Sommerhitze draußen.
„Gibst du mir mal Licht? Ich will nicht hinfallen.“
Ohne sich umzudrehen, leuchtete er über die Schulter nach hinten.
Kurz darauf kniete sie neben ihm und fuhr andächtig mit der Hand über das Holz.
„Die muss unglaublich alt sein. Und sie ist nicht einmal verschlossen.“
„Du kriegst sie trotzdem nicht auf.“
Die Jahre hatten ihr Werk vollbracht. Wie bei seinen Gefühlen.
Sicher verwahrt. Unerreichbar.
„Das glaube ich nicht. Zusammen schaffen wir es.“
So einfach würde das bestimmt nicht klappen. Aber er hatte auch keine Lust mehr, weitere Schränke und Berge von kaputten Stühlen in den Entrümpelungscontainer vor dem Schuppen zu werfen. Ein Versuch konnte daher nicht schaden.
Er legte das Handy auf einen der Steine, die aus der Wand herausragten, und stemmte sich gemeinsam mit Anna gegen den Deckel.
Schweiß mischte sich mit dem erdigen Geruch, aber Edward nahm es kaum wahr, da sich der Deckel tatsächlich mit einem Stöhnen und Ächzen hob. Allerdings ganz langsam, als sei er sich nicht sicher, ob er sein Geheimnis preisgeben wollte.
Etwas Goldenes blitzte auf. Ein überreich mit Edelsteinen besetzter Dolch! Er lag zusammen mit einem Gegenstand, der mit Leder umwickelt war, und einem halb verrosteten Schwert auf einem Haufen vergilbter Klamotten.
Keine Truhe voller Gold, aber immerhin ein wertvoller Gegenstand.
Edward griff nach dem Messer, aber Annas Hand hielt ihn zurück.
„Ich denke nicht, dass wir diese Dinge anfassen sollten.“
Er verengte seine Augen und schüttelte ihre Hand ab.
„Ich habe die Kiste gefunden, somit gehört der Inhalt mir – oder doch zumindest meinem Alten.“
„Trotzdem …“
Oh Mann, war das unscheinbare Ding immer so ein Feigling und so überkorrekt? Genau deshalb wollte er die Dinge allein machen – damit ihm niemand dreinreden konnte.
Er ging nicht weiter auf sie ein, sondern nahm den Dolch in die Hand, der sich erstaunlich schwer anfühlte, und zog ihn aus der mit roten und grünen Edelsteinen besetzten Scheide. Die Klinge war ebenfalls aus Gold und nicht wirklich scharf. Ein symbolisches Messer? Er steckte es zurück in die Scheide und schob diese in seinen Gürtel. Auch wenn es als Waffe nicht viel taugte, war es zweifellos ein Hingucker, der eines Gangleaders würdig war. Aber es würde auch jede Menge Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Aufmerksamkeit, die er sich nicht leisten konnte. Was, wenn er dadurch wieder ins Visier der „Grauen Hoodies“ geriet?
Es war vielleicht besser, das Teil für eine hübsche Summe zu verkaufen.
Er legte es zurück in die Kiste.
„Persönliche Notizen Malta 1563.“
Er schielte zu Anna hinüber, die es nun auch gewagt hatte, sich zu bedienen, und aus dem Leder ein Buch ausgewickelt hatte.
Ihre wirren, braunen Haare verdeckten einen Teil ihres Gesichtes, als sie sich über das Fundstück beugte. Das uralte Pergament raschelte, als sie darin herumblätterte.
„Das neue Schwert, ein Rapier, ist von vorzüglicher Qualität. Ein Meisterstück von Raniero. Das war die 50 Scudos wert.“
Sie blickte auf und er konnte ihre Augen leuchten sehen. Sie spielte mit den Lederbändeln.
„Ein Tagebuch, das vor mehr als 450 Jahren geschrieben wurde! Ich habe noch nie ein derart altes Dokument in den Händen gehalten.“
Edward verzog spöttisch den Mund. Mit Büchern hatte er nichts am Hut.
„Ich ziehe das Schwert vor.“
„Das könnte einer deiner Vorfahren geschrieben haben!“ Anna schaute ihn vorwurfsvoll an.
„Und wer soll das bitte schön gewesen sein?“
Er hakte seine Daumen in den Schlaufen seiner Jeans ein und zog spöttisch eine Augenbraue nach oben.
Aber sie schien es nicht zu bemerken, sondern entzifferte weiter die Worte auf den vergilbten Seiten.
„Hier steht eine Widmung: Für meinen geliebten Bruder J. P. V. Vergiss mich nicht, G.“
„Ein geheimnisvoller Unbekannter, aber offensichtlich keiner aus der Linie der de la Martignières.“
„Ach komm schon, streng deine grauen Hirnzellen mal ein bisschen an. Es muss ja auch noch Menschen mit anderen Namen gegeben haben, die mit euch verwandt waren.“
„Ja bestimmt. Wie dieser Ritter ,Jean Was-auch-Immer‘, von dem Grandpère uns heute Abend mehr erzählen will.“ Seine Stimme triefte vor Sarkasmus. Dieser berühmte Mann sollte angeblich zu seinen Vorfahren zählen.
„Warum nicht? Das J würde jedenfalls schon mal stimmen. Ich wäre stolz, wenn ich eine so bekannte Persönlichkeit in meinem Stammbaum hätte.“
Sie strich sich eine Strähne hinter das Ohr.
„Tja, da sind wir eben verschieden. Ich lebe im Jetzt. Es kümmert mich nicht, ob irgendwann ein Ritter auf einer kleinen Insel gelebt hat. Solange er mir kein echtes Erbe hinterlassen hat, ist mir das egal.“
„Aber er war nicht nur ein Ritter, er war der Großmeister des Ritterordens der Johanniter!“
„Ganz toll, dieser Mönchsorden. Keuschheit, Armut und Gehorsam. Nein danke. Das mag ja gut für dich sein, aber ich kann mit dem religiösen Gequatsche nichts anfangen.“
Anna senkte verletzt den Blick. Aber das ließ ihn kalt. Warum sollten ihn ihre Emotionen kümmern? Schließlich nahm auch niemand auf seine Gefühle Rücksicht. Oder wie sollte er sich sonst den Umstand erklären, dass er einen Sommer lang bei den fast unbekannten Großeltern mitten im Nirgendwo für nichts schuften musste?
Anna wickelte sorgfältig das Leder wieder um das Buch.
„Ich werde es jedenfalls lesen, wenn Grandpère es mir erlaubt.“
„Verkriech du dich nur in Büchern. Echte Männer brauchen echte Schwerter!“
Edward nahm die Waffe in die Hand. Die Eisenringe um den Griff waren so gemacht, dass sie die Finger schützten. Sie war überraschend leicht. Die Klinge war schmaler als die der Schwerter, die er in Museen gesehen hatte. Nicht dass er da regelmäßiger Besucher gewesen wäre. Im Gegenteil.
„Und du meinst, du bist ein echter Mann?“, konterte sie.
Er fixierte sie mit diesem „Leg-dich-ja-nicht-mit-mir-an“-Blick, mit dem es ihm gewöhnlich gelang, jeden einzuschüchtern und zum Schweigen zu bringen.
Doch diesmal überraschte ihn die graue Maus.
Ihre Augen blitzten und hielten seinem Blick furchtlos stand. Steckte in ihr etwa doch mehr, als er vermutet hatte?
„Ich bin jedenfalls zwanzig, was man von dir sicherlich nicht behaupten kann. Und schon allein dieser Umstand macht mich zu einem Mann.“
Er machte einen Ausfallschritt und richtete sein Schwert demonstrativ auf ihre Brust. Anna hob die Arme und wich zurück.
„Schon gut, krieg dich ein. Du bist ein paar Monate älter als ich. Aber ob dich das zu einem echten Mann macht, sei dahingestellt.“
Er grinste siegessicher, als er plötzlich eine brennende Hitze in seiner Handfläche spürte. Es fühlte sich an, als würde seine Hand von einem Blitz durchbohrt.
Instinktiv öffnete er die Finger und konnte nur mit Mühe einen Aufschrei unterdrücken. Scheppernd fiel das Schwert zu Boden.
„Was ist los?“
Was war das eben gewesen? Hatte er halluziniert? Ein Schwert, das seit Hunderten von Jahren in dieser kalten Höhle vor sich hinrostete, konnte nicht heiß sein. Edwards Blick glitt auf seine schmerzende Hand. Augenblicklich lief ihm ein kalter Schauer vom Nacken bis zu den Füßen, der aber nicht im Geringsten dazu beitrug, seine Handfläche zu kühlen. Er ballte sie zu einer Faust und atmete tief ein, um seinen rasenden Herzschlag zu beruhigen.
„Meine Hand … das Schwert … etwas war plötzlich total heiß“, brachte er schließlich hervor. Seine Stimme klang merkwürdig hohl.
Anna runzelte die Stirn. Sie hatte ihre Arme verschränkt und starrte ihn an.
„Ich hab doch gesagt, wir sollten nichts anfassen. Aber warm kann das Schwert unmöglich sein. Schließlich kann die Sonne es nicht aufgeheizt haben.“
Er ignorierte sein Unbehagen und setzte wieder sein cooles Gesicht auf. Schließlich war er ein Meister darin, seine Emotionen zu verbergen. Nicht umsonst hatte John ihn zum Anführer der Gang bestimmt. So schnell konnte ihn ein komischer Gegenstand nicht aus der Ruhe bringen. Schon gar nicht vor dem Angsthasen.
„So viel weiß ich auch, Kleine. Aber was sagst du dazu?“
Er nahm das Handy in seine linke Hand und öffnete die Rechte, sodass sie im Schein der Lampe die roten Stellen deutlich sehen konnte, die sich schon zu Blasen ausbildeten.
Ihr Blick huschte unsicher von seinen Händen zum Schwert.
„Probier es doch selbst aus, wenn du mir nicht glaubst.“
Anna zögerte einen Moment, doch dann griff sie nach dem Rapier, nur um ihn augenblicklich wieder fallen zu lassen. Sie rieb sich die Hand.
Trotz des dämmerigen Lichtes sah er, dass die Farbe aus ihrem Gesicht gewichen war.
Er verzog triumphierend den Mund.
„Es kann unmöglich warm sein, nicht wahr?“, äffte er sie nach.
Sie starrte ihn wortlos an, so etwas wie Schock in ihren Augen.
„Was machen wir denn jetzt?“ Ihre Stimme war nicht viel mehr als ein Piepsen. Definitiv eine Maus, die sich nun zitternd in ihre Höhle verkroch. Edward grinste bei dieser Vorstellung. Zum Glück war er längst nicht so leicht einzuschüchtern.
„Easy. Ich wickle mein T-Shirt um das Schwert und lege es wieder in die Kiste zurück.“
Während er sein Lieblings-T-Shirt auszog, das dunkelblaue mit dem verwaschenen Gang-Emblem, bemerkte er, wie Anna sich peinlich berührt umdrehte und zum Schwert niederkniete.
„Noch nie einen nackten Männeroberkörper gesehen?“
„Das geht dich nichts an.“
Er konnte ihr Gesicht nicht sehen, aber das leichte Schwanken in ihrer Stimme ließ ihn ungläubig die Augenbrauen heben. Die war doch beinahe so alt wie er? Hatte sie irgendwelche veralteten Moralvorstellungen oder was?
Edward verdrehte die Augen. Das konnte ja ein heiterer Sommer werden.
„Auf dem Schwert stehen die gleichen Initialen wie im Buch“, sagte Anna.
Unterhalb des Knubbels konnte er tatsächlich den feinen Schriftzug „Jean P. V.“ erkennen.
Er hatte das T-Shirt ein paarmal gefaltet, sodass es nun wie ein Ofenhandschuh in seiner Hand lag. So geschützt griff er nach dem Schwert.
Die Hitze drang augenblicklich durch den Stoff hindurch und schien seine Hand auf das Rapier zu schmelzen, sodass er es nicht mehr loslassen konnte. Der Schmerz jagte seinen Arm hoch und raubte ihm beinahe den Atem. Ein Blitz erhellte die dunkle Höhle, als hätte jemand ein überdimensionales Streichholz angezündet, das nun immer heller leuchtete. Zugleich erfüllte ein Rauschen wie das eines Wasserfalls den Raum und ein Lufthauch wirbelte seine halblangen Haare durcheinander. Der Lärm war so groß, dass er Annas Schrei nur schwach wahrnahm. Sie hatte sich hinter seinen Rücken geflüchtet und klammerte sich an seine Schulter.
„Lass es los!“, hörte er ihre Stimme nahe an seinem Ohr.
„Es geht nicht!“
Das Licht war nun so hell, dass es selbst durch die geschlossenen Augen schmerzte.
„Bitte, versuch es!“
Was glaubte die denn, was er machte? Aber er war schlichtweg unfähig, seine Hand zu öffnen. Es war, als wäre sie mit dem Stahl verschmolzen. Mit aller Kraft schüttelte er seinen ganzen Arm.
Und dann war es plötzlich wieder dunkel und still. Benommen öffnete er die Augen und starrte auf seine Hand. Sie war leer.
Anna versuchte, ruhig ein- und auszuatmen. Warum nur war sie nicht oben in der Sicherheit des Schuppens geblieben? Die Enge in ihrem Hals nahm wieder zu. Nur ruhig. Einatmen. Ausatmen.
Sie zwang sich, den Blick von Edwards muskulösen Schultern abzuwenden. Sie hatte sich doch tatsächlich an ihn geklammert wie ein dreijähriges Kind an den Rockzipfel seiner Mutter, nur dass sie sich an seine – nackte! – Schulter gehängt hatte. Doch mehr als ihre unüberlegte Panikreaktion hatten ihr die vergangenen Minuten den Atem verschlagen.
Sie machte einen Schritt zur Seite und blickte Edward an, der wie versteinert auf seine Hände starrte.
Komisch, das Licht in der Höhle war nun heller. Was war passiert?
„Alles klar?“ Ihre Stimme klang kläglich.
„Hu, ähm, ja …“, erwiderte Edward, scheinbar unfähig, eine sinnvolle Antwort zu geben. Sie folgte seinem Blick auf die Hand, die immer noch vom T-Shirt umwickelt war. Ein leichter Brandgeruch stieg ihr in die Nase und ein schwarzes Loch zeugte von der großen Hitze.
„Bist du verletzt?“
Er hob die Schulter und wickelte den Stoff vorsichtig ab. Als ihr Blick von seiner Hand zu seinem Waschbrettbauch huschte, schoss ihr die Hitze in die Wangen. Warum nur fühlten sich ihre Beine plötzlich wie Wackelpudding an?
„Nein. Nur der Stoff ist verbrannt. Aber wo ist das Schwert?“
Er hob die Augen und sog scharf die Luft ein. Sie folgte seinem Blick, drehte sich um und keuchte auf. Hinter ihr war die Wand durchbrochen und Tageslicht stahl sich in die Höhle. Eine Höhle, die nun eine Nische war. Oder eine Muschel. Leicht geöffnet, um sie mit Haut und Haaren zu verschlingen. Nur nicht bewegen. Vielleicht würden sie dann nicht bemerkt.
„Wo sind wir?“
Edwards dunkle, etwas rauchige Stimme riss sie aus ihrer Starre. Die Muschel schnappte nicht zu. Logisch. Es war eine Höhle und sie verhielt sich einmal mehr einfach nur kindisch. Übervorsichtig, wie Dr. Mallet es genannt hatte.
Anna schielte in Edwards gut aussehendes breites Gesicht mit den markanten Wangenknochen. Gut aussehend war die Untertreibung des Jahrhunderts. Die dunkelblonden Haare hatte er an der Seite kurz geschnitten und das längere Deckhaar unterstrich seinen wilden Charme.
Nicht, dass so einer sie je beachtet hätte. Und eigentlich war ihr das auch ziemlich egal. Erste Priorität hatte das Medizinstudium, das sie demnächst beginnen würde, und eine Beziehung wäre dann ohnehin nur hinderlich. Außerdem wollte sie einen Mann, der Gott liebte, und das war bei ihm offensichtlich nicht der Fall. Und tanzen musste er können. Schwer vorstellbar bei Edward, der nur auf Machogehabe und Muskeln zu setzen schien anstatt auf Intelligenz und Freundlichkeit. Anna schüttelte diese Gedanken ab und folgte Edward zögernd zum Ausgang.
Der Vorplatz war klein und wurde von Felsen begrenzt, die steil in eine Bucht hinabfielen.
Auf der anderen Landseite erhob sich eine mächtige Burg, in deren Schatten sich unzählige flache Häuser bargen. Farbige Fischerboote tanzten auf dem graublauen Wasser am Ufer.
Anna schluckte und biss sich auf ihre Unterlippe, bis sie Blut schmeckte. Das war nicht das wunderschöne Landgut, auf dem sie ihr ganzes bisheriges Leben verbracht hatte.
Warum nur hatte sie Edward geholfen, diese Kiste zu öffnen? Sie hätte auf ihr Sicherheitsgefühl hören sollen, auf den Knoten in ihrem Magen, als er in der Luke verschwunden war, die sie unter einem uralten, schweren Schrank entdeckt hatten.
Ihr Blick wanderte nach rechts. Hier ragte eine Landzunge quer zu ihrer Bucht ins Meer, an deren Ende wiederum eine Festung stand. Die Sonne tauchte das Wasser und die hellen Felsen in flüssiges Gold.
Ihr Hals fühlte sich ganz trocken und eng an, ihre Beine schwach.
„Ich kenne diese Gegend nicht.“ Ihre Stimme war kaum mehr als ein Flüstern, als sie Edward endlich eine Antwort gab.
„Offensichtlich ein Geheimgang zum Meer. Willst du baden gehen oder weiter Schränke schleppen?“ Sein Grinsen erreichte seine Augen nicht und seine linke Hand hielt die rechte so fest, dass die Knöchel weiß hervortraten.
„Gehen wir lieber zurück. Grandmère wollte uns doch noch Kuchen bringen.“ Als Anna sich umwandte, um zurück zur Luke zu gehen, beschlich sie jedoch eine dunkle Vorahnung.
Über ihnen wölbte sich die Decke ohne einen einzigen Hinweis auf eine Öffnung.
Sie fröstelte. Ihr blaues T-Shirt mit den Spitzensäumen, das sie früher so geliebt hatte, das nun aber zwecks unzähliger kleiner Löcher zum Arbeits-T-Shirt avanciert war, gab ihr kaum Wärme. Warum war es so kalt? Sie schlang die Arme um ihren Oberkörper.
Edward zog sich sein halb verbranntes T-Shirt über den Kopf und suchte die Wände nach der verschwundenen Öffnung ab.
Annas Kopf war leer. Auch wenn die „Muschel“ eine Höhlennische war, hatte sie ihr dennoch alle klaren Gedanken geraubt. Sie ließ sich an der Höhlenwand nieder. Wie Tentakel kroch die kalte Feuchte durch die Kleider an ihren Rücken. Und vom Rücken zum Herzen, um es mit eiserner Hand zu umklammern.
Das Blut rauschte in ihren Ohren. Atmen. Ein. Aus. Wie sie es gelernt hatte.
Langsam lockerte sich der Griff um ihr Herz und die Gedanken kamen zurück.
Vielleicht war sie einfach in einen jener realistischen Träume hineingetappt, in denen man nicht weiß, dass man schläft, aber irgendwann aufwacht. Bestimmt würden sie gleich aus der Höhle klettern, aus dem Schuppen ins gleißende Sonnenlicht treten und zum herrschaftlichen Anwesen der Martignières hinüberblicken. Zu dem weißen Haus mit den dunkelgrünen Sprossenfenstern, der hellen Kiesauffahrt und den unzähligen üppigen Blumenbeeten, die ihr Vater mit viel Liebe hegte und pflegte. Und rechts zum kleinen Häuschen, das sich im Schatten einer Trauerweide an eine Mauer schmiegte und das sie zusammen mit ihren Eltern bewohnte.
Einfach atmen. Ein. Aus.
Sie verfolgte, wie Edward die Wände abklopfte, bevor er sich schließlich resigniert der ominösen Kiste zuwandte.
Ihre Mutter würde am Fenster stehen und ihr zulächeln …
„Vielleicht gibt es noch etwas in der Truhe.“ Edwards Stimme ließ das Bild verschwinden.
Einfach atmen. Gleich war es vorbei. Ein. Aus.
Er kramte eine Weile darin herum. „Komisch, der Dolch und das Buch sind auch weg. Nur die Kleider und ein kleiner Beutel mit Münzen sind hier.“
„Vielleicht ist das alles nur ein Traum …“
Ein spöttisches Grinsen überzog sein Gesicht. „Dann kneif mich mal. Es wäre schön, daraus zu erwachen.“
Doch sie war unfähig aufzustehen. Die Tentakel der Angst umklammerten ihr Herz wieder fester und wanderten hinauf zu ihrer Kehle.
Einfach atmen. Ein, aus, ein, aus, ein, aus.
Ihr Atem kam stoßweise, sie fürchtete zu ersticken. Die Welt begann, sich zu drehen. Sie hatte den Kampf gegen die Ohnmacht verloren. Sie schloss die Augen.
Zwei starke Arme packten sie an der Schulter und schüttelten sie.
„Anna! Hörst du mich?“
Sie war nicht fähig zu reagieren.
Ein Schlag ins Gesicht brachte sie wieder in die Wirklichkeit zurück. Sie atmete tief ein. Ihre Wange brannte. Entsetzt starrte sie den Engländer an, der vor ihr in die Hocke gegangen war. Er hatte sie geschlagen?!
Ein überlegenes Lächeln umspielte seine Mundwinkel.
„Zumindest wissen wir nun, dass es kein Traum ist.“
Ihr Blick wanderte zur Höhlendecke hinauf, deren Steine und Erde immer noch keine einzige Öffnung freigaben.
Das Blut hatte ihr Hirn wieder erreicht.
„Du hast mich geschlagen!“
Warum nur erinnerten seine grau-grünen Augen sie an Bergseen? Das war nicht fair.
„Sorry, Kleine. Dachte, du kippst gleich weg.“
„Nenn mich nicht immer Kleine.“ Sie verengte die Augen. Seine blöden Ausdrücke konnte er sich für seine Groupies in London aufsparen.
„Lass uns herausfinden, wo wir sind und wie wir wieder zurückkommen.“
Anna rappelte sich auf und putzte ihre Hände an ihren heiß geliebten Jeans ab. Sie waren ebenfalls so zerschlissen, dass sie sie nur noch als Arbeitshosen trug. Wie heute. Sie stolperte hinter Edward den schmalen Pfad entlang, der vom Vorplatz wegführte, ihre Beine immer noch wackelig. Aber wenigstens hatte die Angst ihre Tentakel in der Höhle gelassen. Hoffte sie jedenfalls.
Der Weg schlängelte sich einige Meter über dem Wasser an der Küste entlang, bis die zwei Landzungen zu einer Fläche aus Gras und Felsen verschmolzen.
Ein Felsbrocken versperrte ihnen den weiteren Weg.
Edward blieb so abrupt stehen, dass sie gegen ihn stieß.
„Pscht“, machte er und drängte sie zurück.
Anna runzelte die Stirn und schaute ihn fragend an. Sein Finger lag auf seinem Mund. Er stand so dicht bei ihr, dass sie seinen Duft riechen konnte. Thymian, etwas Maskulines und … Bevor sie noch weiter darüber nachdenken konnte, hörte sie Stimmen. Sie sprachen kein normales Französisch, sondern so, als würden sie ein altes Theaterstück aus einem anderen Jahrhundert aufführen.
Sie stellte sich auf die Zehenspitzen, um über Edwards Schultern einen Blick auf die Gestalten zu erhaschen. Der schmale Pfad, auf dem sie sich befanden, mündete in einen breiteren Weg, der links über die Höhen zur Landspitze führte und rechts zum Wasser in Richtung Dorf. Zwei Männer befanden sich auf dem Abstieg.
„England hat fürwahr keine Stellung bezogen?“
Sie trugen komische schwarze Kutten, auf denen vorne ein weißes, viereckiges, gezacktes Kreuz prangte. Darunter trugen sie eine Art Pluderhose und Stiefel. Schwerter, ähnlich demjenigen, das Edward in der Hand gehabt hatte, baumelten an ihren Hüften.
„Nein, mein Freund. Wie es auch Eurer Kenntnis entspricht, hat sich Königin Elisabeth dem Protestantismus zugewandt. Sie wird uns keinen Beistand entsenden.“
Der Mann, der geantwortet hatte, war um einiges älter. Er hatte grau melierte Haare, die über die Wangen in Locken zu einem spitzen Bart ausliefen, was seine gerade, prominente Nase betonte. Die etwas eingefallenen Wangen ließen darauf schließen, dass er bestimmt schon sechzig Jahre alt war.
„Warum setzen sich unsere Länder nicht mit uns für die gerechte Sache Gottes ein?“
Der junge Mann war von schlanker Statur, hatte glattes, dunkelblondes Haar und ebenfalls einen leichten Bart, der sein schmales Gesicht voller wirken ließ. Obwohl er einwandfrei Französisch sprach, hatte er einen ähnlichen englischen Akzent, wie Ed ihn hatte.
„Euer Land hat sich der neuen Lehre angeschlossen und mein Land sieht in uns nur noch ein Relikt aus alter Zeit. Aber Don García de Toledo hat versprochen, noch vor dem Winter hier zu sein.“
„Ihr glaubt, die Osmanen wagen es, vor den Herbststürmen anzugreifen?“
Die zwei Männer gingen an ihnen vorüber, die Stiefel knirschten auf den Steinen. Anna duckte sich hinter Edwards Schulter.
„Mitnichten, das bezweifle ich. Sie mögen das Meer und die Schiffe nicht.“
Sie musste sich nun anstrengen, um die Männer weiter zu verstehen.
„Die Ladungslisten verraten nur, dass sie sich fieberhaft vorbereiten. Wir sollten uns auf eine längere Belagerung einstellen. Wir müssen Vorkehrungen treffen, um …“
Die Stimmen wurden vom Wind davongetragen.
Edward drehte sich um und deutete mit einer Nickbewegung zur Höhle zurück. Leise und geduckt schlichen sie zurück.
Anna setzte sich auf einen Stein im Eingang der Höhle und starrte auf das Wasser. Was war das eben gewesen?
Wo um alles in der Welt befanden sie sich?
Sie blickte zu Edward hinüber, der lässig an der Wand lehnte, sich aber wieder an die rechte Hand fasste, so als hätte er noch Schmerzen.
„Irgendeine Erklärung?“
Wortlos schüttelte sie den Kopf.
„Eben doch ein Geheimgang zum Meer.“
Sie hob die Augenbrauen.
„Klar, das Meer ist bei uns ja auch grad mal um die Ecke. Zwei, drei Schritte und du fällst hinein.“
Anscheinend hatte Mister Ich-weiß-alles-besser keine Ahnung von französischer Geografie.
Er zuckte nur lässig mit den Schultern.
„Zu deiner Information: Das Landgut deiner Großeltern liegt zwar im Süden von Frankreich, genauer gesagt im Département Aveyron, aber das ist immer noch knappe 200 Kilometer vom Mittelmeer entfernt. Und noch weiter vom Atlantik. Außerdem, wie erklärst du dir diese Männer in ihrer Aufmachung und mit ihrer Sprache?“
Ein Windstoß zerzauste ihre halblangen Haare. Sie stand auf, strich sie sich hinter die Ohren und trat in die Sonne, in der Hoffnung, dort etwas Wärme zu finden. Tief unter ihr sah sie die weißen Schaumkronen unzähliger kleiner Wellen.
„Vielleicht drehen die grad einen Film, Frau Lehrerin.“
Edwards Augen blitzten gefährlich.
Frau Lehrerin? Nur weil sie es gewagt hatte, seine Theorie infrage zu stellen? Spiegelte sich sein attraktives Äußeres denn nicht einmal ansatzweise in seinem Inneren wider? Konnte er nicht wenigstens ein kleines bisschen nett sein?
Anna trat von einem Fuß auf den anderen. Vom Meer her näherten sich dunkle Wolken. Die Haare an ihren Unterarmen stellten sich auf und sie schlang ihre Arme um ihren Oberkörper, in der Hoffnung, etwas Wärme zu speichern.
„Wir waren in der Höhle, die auf dem Grundstück von Grandpère liegt, du hast das – heiße – Schwert angefasst, weil du es wieder in die Kiste legen wolltest, und wir sind dann durch Licht und Wind hier an diese Küste katapultiert worden, direkt auf ein Filmset? Ist es das, was du glaubst?“
Edward hatte sich von der Wand gelöst, sein Blick auf das aufgeschäumte Meer gerichtet, die Daumen in den Taschen seiner Jeans eingehängt.
„Hast du eine bessere Erklärung?“
Ein Vogel erhob sich mit einem heiseren Schrei von einem Felsen in der Nähe, schwang sich in die Lüfte und flog davon.
„Nein, aber ich frage mich, wo sie die ganzen Kameras versteckt haben.“
Sie schaute dem schwarzen Vogel nach, der immer kleiner wurde, bis er mit dem Schwarz-grau des Himmels verschmolz.
„Noch nie was von Drehpausen gehört?“
Sein versengtes T-Shirt unterstrich das verwegene, etwas gefährliche Charisma, das von ihm ausging. Seine Bergseenaugen blitzten angriffslustig unter dem zerzausten Haar hervor.
„Das erklärt aber diesen Ort hier nicht.“
Ihre Gegend kannte sie wie ihre eigene Hosentasche. Dort war sie aufgewachsen, hatte die Wälder durchstreift und die Landschaft mit dem Fahrrad in unzähligen Ferienwochen mit ihrer Freundin Melanie durchfahren. Es gab keine Küste und kein Meer.
„Eine täuschend echte Kulisse.“
Sie schüttelte nur den Kopf und starrte auf die mächtige Burg. Das Meer rauschte zu ihren Füßen und ein salziger Windstoß wirbelte ihre Haare erneut hinter den Ohren hervor. Eine Kulisse mit Wind und Wasser? Nie im Leben. Sie kämpfte gegen die Übelkeit an wie ein kleines Boot gegen einen Orkan. Sie durfte nicht wieder in die Fänge der Angst geraten.
„Vielleicht finden wir in der Kiste einen Hinweis, wo wir sind“, riss Edward sie aus ihrem inneren Kampf.
Sie folgte ihm zögerlich mit immer noch verschränkten Armen zurück in die Höhle und wagte einen Blick in die Truhe.
Etwas war anders. Aber was?
Das Buch, der Dolch und das Schwert waren weg, wie Edward schon bemerkt hatte. Dafür lag ein Beutel auf den Kleidern. Sie ließ den Blick über das Holz gleiten.
Der Rost. Er war weg! Die Scharniere der Truhe glänzten, als wären sie neu. Und auch die Kleider hatten kräftige Farben; waren nicht so vergilbt, wie sie sie in Erinnerung hatte.
Was war geschehen? War das Ding nicht uralt?
Edward nahm das olivgrüne Kleid hoch. Ein einfaches Gewand, aber mit ziemlich viel Stoff. Er legte es auf den Boden und hob ein weißes Kleid heraus, das einem Nachthemd ähnelte mit Rüschen und weitem Ausschnitt.
Seine Augenbrauen glitten spöttisch nach oben. „Mittelalterliche Reizwäsche?“
Sie schüttelte ihren Kopf. War der immer ein solcher Macho?
„Eher ein Unterkleid“, mutmaßte sie.
Strümpfe und eine dunkelgrüne Pluderhose folgten einem weißen langen Hemd mit überdimensional breiten Ärmeln.
Als Anna sich über die Truhe beugte, erspähte sie nur noch zwei Paar flache Lederschuhe, die einen mit reichen Stickereien verziert und einem spitzen Ende versehen, die anderen einfach gehalten.
Sie blickte zu Edward, der sein Handy vom Vorsprung genommen hatte und wie gebannt daraufstarrte.
Langsam sah er auf. „Kein Empfang, kein Datum und keine Uhrzeit.“
Anna schluckte. Die Angst schnürte ihr die Kehle einmal mehr zu.
„Wir müssen das Schwert finden“, sagte Edward schließlich und steckte sein Samsung in die Hosentasche. „Das alles ist erst geschehen, als ich das Schwert angefasst habe. Vielleicht liegt es in der näheren Umgebung der Höhle.“
Anna stand auf und klopfte sich den Schmutz von der Hose. Komisch, die Erde war viel lockerer.
Sie suchten eine ganze Weile schweigend die Umgebung ab, aber das Schwert blieb unauffindbar.
Die dunklen Wolken waren nun bedrohlich nahe und der Wind hatte aufgefrischt.
„Tragen wir mal zusammen, was wir wissen“, fing Edward an, als sie wieder im Höhleneingang standen.
Anna setzte sich wieder auf den Stein vor der Höhle.
„Das Schwert war unnatürlich heiß und hat uns wahrscheinlich hierher gebracht“, fuhr Edward fort.
Sie kratzte mit ihrem Finger an der fadenscheinigen Stelle über dem Knie.
„Oder es hat die Umgebung verändert, denn das Schwert ist unauffindbar, das Buch und der Dolch sind weg und alles sieht anders aus. Auch die Menschen“, ergänzte sie, während sie weiter ihre Hose bearbeitete und es vermied, in sein Gesicht zu blicken.
„Dann hat uns das Schwert auf irgendeine Art und Weise an einen anderen Ort gebeamt.“
Anna blickte auf. „Gebeamt?“
Edwards schiefes Grinsen erreichte seine Augen nicht und er zog etwas hilflos die Schultern hoch.
„Irgend so ein Zauberschwert?“
„Zauberschwert?“
Sie kam sich selbst albern vor, seine Worte zu wiederholen. Aber hatte er den Verstand verloren? Das gab es doch nur in irgendwelchen Märchen!
Doch zum ersten Mal war der überlegene Gesichtsausdruck aus seinem Gesicht gewichen und eine ungewohnte Ernsthaftigkeit lag in seinem Blick.
„Entweder es ist so etwas oder doch ein Filmset.“
Sie hätte so gerne an das Filmset geglaubt, aber das Meer machte diese Theorie zunichte.
Ihre Gedanken rasten. Ein anderer Ort. Auch eine andere Zeit?
Die Jeans zerriss mit einem leisen Ratsch. Entsetzt starrte Anna auf das fünf Zentimeter große Loch, das sie unbewusst in ihre Hose gemacht hatte.
„Kennst du diese Gegend?“, fragte sie, während sie geistesabwesend an den Fäden weiterzupfte.
Edward schüttelte den Kopf. „Nein. Ich weiß auch nicht, wer sich so kleiden würde und so redet. Es sei denn, wir sind nicht nur im Ort, sondern auch in der Zeit verrutscht.“
Annas Hals wurde eng. Konnte er etwa Gedanken lesen?
„Die Männer haben was von Osmanen gesagt“, fügte Edward nachdenklich hinzu.
„Hast du mitgekriegt, was die geredet haben?“ Obwohl Edwards Mutter Französin war und auch er die Sprache recht gut beherrschte, war sie sich nicht sicher, ob er diese alten Worte verstanden hatte.
„Stell dir vor, Frau Lehrerin, das habe ich.“
Sein Gesicht hatte wieder den überheblichen Ausdruck, der sie zu bissigen Bemerkungen anstachelte.
„Kennst du die Osmanen?“
„Nicht persönlich.“
Er grinste schief und sie rollte mit den Augen, während ihre Finger sich in dem Loch verkrallten. Das war nun wirklich keine Situation, um Witze zu reißen.
„Die Osmanen lebten vor sehr langer Zeit und die gibt’s heute nicht mehr, also können sie nicht mehr angreifen.“
„Legt die Theorie nahe, dass wir in der Vergangenheit an einem fremden Ort gelandet sind. Wo es Osmanen und diese Männer in den komischen Kostümen noch gab. Wo es Burgen gab“, er zeigte auf die Burg und die wehenden Fahnen auf der anderen Landseite, „Ritter und Schwerter.“
Annas Fingernägel schnitten ihr in den Oberschenkel, so sehr klammerten sich ihre Finger an den Rand des Risses.
„Mittelalter?“, brachte sie beinahe flüsternd hervor.
Oh Herr, bitte nicht. Das war eine so dunkle Zeit …
Sie blickte Edward entsetzt an, der sich nun mit den Fingern durch die Haare fuhr. Ein Sonnenstrahl, der durch die dunklen Wolken brach, ließ sie golden schimmern.
„Wenn das Schwert, das Buch und der Dolch weg sind, könnte es sein, dass sie zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht existieren oder in Gebrauch sind. Das würde auch die veränderten Farben der Kleider erklären.“
Er hatte doch mehr Verstand, als sie gedacht hätte.
„Der erste Eintrag im Buch war 1563 …“, sie brach ab, als sie sich erinnerte.
„… und der Ort Malta, wenn ich mich nicht irre“, fügte Edward hinzu.
Einen Moment sahen sie sich schweigend an. Sein Blick ging ihr durch Mark und Bein und löste wieder dieses Magenkribbeln aus. Plötzlich drehte er sich um und verschwand in der Höhle, um gleich darauf mit dem Beutel zurückzukommen.
„Vielleicht finden wir hier noch einen Hinweis auf die Zeit.“
Er schüttete den Inhalt vor ihr auf den Boden. Es waren Münzen. Anna nahm eines der unförmigen, silbernen Geldstücke in die Hand.
„E-CLAUD-DE-LA-SENGLE-M-HOSP-H“, las sie laut und drehte die Münze dann um. Die andere Seite zeigte einen Mann mit einem Stab, der wie ein Kreuz aussah, und ein nicht ganz definierbares Tier zu seinen Füßen.
„PARATE UI AM DOMINI“, las sie die Prägung vor. „Auf der einen Seite wahrscheinlich ein Name eines Königs oder Herrschers, auf der anderen Seite was mit ‚fertig‘ und ‚Herr‘?“, kramte sie ihre Lateinkenntnisse hervor.
„Auf meiner Münze steht etwas anderes. F-IOANNES-DE-VALLETTA-M-HOSP-H und hinten IUSTITIA SANCT REDEMPTIO.“
„Gib mal her.“
Auf der einen Seite der Münze war ein Lamm zu sehen, das eine Fahne trug, auf der anderen Seite ein Wappen mit Kreuzen, Adlern und Löwen.
Ihr Herz klopfte, als sie den Namen um das Wappen noch einmal betrachtete.
„Wenn das ein Name ist, dann hieße dieser hier F. Johannes de Valletta. Wie hieß noch mal dein Vorfahre, der Großmeister, von dem dein Grandpère uns erzählen wollte?“
Edward runzelte die Stirn. „Jean Irgendwas. Ich kann mich nicht mehr daran erinnern.“
„Kann es sein, dass er Valletta hieß?“
Er schürzte die Lippen. „Kann sein, so ähnlich jedenfalls.“
„Diese Münze ist mit seinem Namen geprägt, wenn man die Aussprache des Namens Jean oder Johannes nicht so genau nimmt. Im Buch standen zumindest zwei seiner Initialen, das J und das V, und in das Schwert war der Name Jean P. V. eingraviert.“
„Du glaubst, dass das Buch und das Schwert einem Mann gehörten, der Jean Valletta hieß, und dass dieser der Großmeister ist, den mein Großvater erwähnt hat?“, fasste Edward zusammen und zog dabei zweifelnd die Augenbrauen zusammen.
„Möglich wär’s.“
Sie ließ die Münze wieder in den schwarzen Lederbeutel gleiten.
Mit einem klingenden Geräusch warf Edward das restliche Geld ebenfalls zurück in den Beutel und zog ihn zusammen. „Angenommen, das Schwert gehörte tatsächlich diesem Großmeister und wir sind hier in seiner Zeit gelandet, dann müssen wir ihn nur ausfindig machen, ihn bitten, uns das Schwert zu leihen, und schon sind wir wieder zu Hause.“ Er grinste sie an.
War es so einfach? Anna blickte auf den langen Riss in ihrer Lieblingsjeans. Die könnte sie nun wieder tragen, denn das war doch modern … zumindest im Jahr 2017.
„Vielleicht ist es besser, wenn wir uns ebenfalls verkleiden. Keine Ahnung, was die damals mit komischen Leuten gemacht haben“, brachte Edward ihre abschweifenden Gedanken wieder zurück.
Sie schluckte. Ihr Hals war staubtrocken. Obwohl ihr Verstand der Argumentation von Edward recht geben musste, konnte es unmöglich wahr sein.
„1563 ist wahrscheinlich nicht mehr Mittelalter, aber alles, was fremd war, verbrannte man früher auf dem Scheiterhaufen. Als Hexen und so.“ Sie schauderte, als sie an das Referat dachte, das sie mit Melanie zu dem Thema gehalten hatte.
Edward war schon in der Höhle und warf ihr nun das weiße Unterkleid und den grünen Rock zu.
„Dann hoffen wir mal, dass dieses Zeug in diese Zeit passt.“
„Du willst diese Kleider einfach klauen?“
„Willst du lieber verbrannt werden?“
„Und wenn wir uns doch noch im Jahr 2017 befinden und das alles ein Filmset ist?“
„Dann sind wir auf dem Weg zu den Statisten.“
Sie seufzte. Wusste der immer auf alles eine Antwort?
Edward hob die Pluderhose hoch und verzog das Gesicht. Sie war riesig. Unwillkürlich grinste sie und wandte sich ab, um im hinteren Teil der Höhle Schutz zu suchen.
Als sie über die Schultern blickte, stand er immer noch mit seinen Kleidern über dem Arm bei der Kiste und blickte in ihre Richtung.
„Noch nie was von Privatsphäre gehört?“
Mit spöttischem Blick erwiderte er: „Auf diese Show soll ich verzichten?“
„Bitte.“
Sollte er sie doch für altmodisch halten, das war ihr egal. Sie hatte ihre Prinzipien und Grenzen und darüber ging sie nicht hinaus, egal wie gut Mister Ich-weiß-alles-besser aussah oder wie heftig die Schmetterlinge tobten. Außerdem ging ihr sein überhebliches Gehabe ganz schön auf die Nerven.
„Schon gut, ich drehe dir den Rücken zu und ziehe mich ebenfalls um.“
Nachdem Anna sich vergewissert hatte, dass er sein Wort hielt, schlüpfte sie hastig aus ihrem T-Shirt, streifte sich das weiße Unterkleid über und schälte sich erst dann aus ihrer Jeans. Nur zur Sicherheit. Dann stieg sie in das grüne Kleid. Am Rücken befanden sich Bänder.
Mühsam versuchte sie, sie zuzuziehen, aber es gelang ihr nicht.
„Soll ich dir helfen?“
Sie wirbelte herum und hielt sich dabei das Kleid vorne über der Brust zusammen.
„Du hast geguckt!“
Ihr Atem geriet ins Stocken. Edward sah in seinen Kleidern noch um einiges attraktiver aus. Nein, edler. Wie ein Ritter mit seinem weißen Hemd, den grünen, pumpähnlichen Hosen, den Strümpfen und den Lederschuhen. Seine grün-grauen Augen blitzten voller Schalk. Sie biss sich auf die Lippen.
„Krieg dich ein, ich habe nichts gesehen. Soll ich dir nun behilflich sein?“
Sie nickte und kehrte ihm den Rücken zu. Während seine Hände sich an den Bändern zu schaffen machten, fuhr sie nervös mit ihrer Zunge über ihre trockenen Lippen.
„Fertig.“
Sie drehte sich um. Es fühlte sich falsch und zugleich richtig an, in diesem fremden Kleid zu sein, das nach Lilien duftete. Das Unterkleid kratzte ein wenig – es war ein grober Stoff. Sie bückte sich, um in die flachen Lederschuhe zu steigen, die ihr Edward gebracht hatte. Sie waren – oh Wunder – nur ein wenig zu groß. Das Kleid raschelte, als sie sich wieder erhob. Sie strich darüber und straffte die Schultern.
Edward streckte ihr mit einer galanten Bewegung die Hand hin und bluffte: „Mylady, Ihr seht heute umwerfend aus. Darf ich?“
Nun gut, bis sie eine passende Erklärung für dieses ganze Phänomen gefunden hatten, konnte sie genauso gut mitspielen. Seine gespielte Freundlichkeit war immer noch besser als das überhebliche Macho-Getue. Sie legte ihre Hand auf die seine und seine warmen Finger umschlossen sie sachte. Hitze stieg in ihre Wangen. Noch nie hatte ein Mann ihre Hand gehalten. Peinlich, aber wahr.
Sie schüttelte den Gedanken ab. Das hier zählte ebenfalls nicht, denn es war nicht echt.
Sie atmete hörbar aus, als könnte sie damit die Schmetterlinge vertreiben und ihre Knie wieder fest werden lassen.
„Ihr, mein edler Herr, schaut aber auch nicht schlecht aus.“
„Ich bin Edward de la Martignière aus Frankreich, habe aber längere Zeit in England gelebt. Ihr, edle Dame, dürft mich Ed nennen.“
Sie rümpfte die Nase. Seit wann verwendete er den Nachnamen seiner Großeltern?
„Ed de la Martignière?“
„Meine Freunde nennen mich Ed und de la Martignière ist klangvoller als Crowe. Wie ist Euer Name, Mylady?“
„Ich bin Anna Ravin aus Frankreich.“
Er ließ ihre Hand los und sie vermisste seine Wärme sofort.
„Wir sollten uns eine glaubwürdige Geschichte zulegen.“
Sie trat vor die Höhle und ließ ihren Blick über das aufgeschäumte Meer gleiten. Hinter der Burg mit der roten Kreuzfahne drehte eine Windmühle ihre gemächlichen Runden.
Edward schritt vor ihr auf und ab.
„Warum kommt eine so junge, reizende Dame allein auf die Insel?“
Jung und reizend? Wollte er sie veräppeln?
„Keine Ahnung. Verwandte besuchen?“
Die Blätter der Windmühle waren breit und erinnerten sie an Hollands alte Mühlen. Vielleicht war das gar nicht Malta? Aber in Holland sprach man nicht Französisch … Aber auf der kleinen Mittelmeerinsel doch auch nicht, oder doch?
„Wie heißen deine Leute und wo wohnen sie?“
Sie zuckte mit den Schultern. „Ravin wie ich und sie wohnen irgendwo im Dorf. Weiß auch nicht genau wo.“
„Und wenn es da keine Ravins gibt?“
„Tja …“
Sie schürzte die Lippen. Ed kickte einen Stein ins Wasser und drehte sich dann zu ihr.
„Wenn wir Geschwister oder ein Ehepaar spielen, dann können wir einigen unangenehmen Fragen aus dem Weg gehen.“
Ehepaar? Wellen von Hitze und Kälte wallten durch ihren Körper. Niemals!
„Geschwister.“
„Dann musst du aber mit einigen Verehrern rechnen.“
„Das bezweifle ich.“
Kein Junge hatte je mehr als einen loyalen Kumpel in ihr gesehen. Sie hatte nicht das „gewisse Etwas“, das Männer anzog. Aber zur Sicherheit fügte sie hinzu: „Außerdem sind wir in einigen Stunden wieder zurück.“
Ihre Augen trafen sich und in den seinen glitzerte etwas Undefinierbares.
„Ich will dir ja nicht die Hoffnung rauben, aber falls es länger dauert, bis wir wieder zu Hause sind, dann kann es durchaus sein, dass du dich mit Verehrern treffen musst, um nicht aufzufliegen. Und ein guter Bruder muss seine Schwester einem ehrbaren Ritter zur Frau geben.“
Im Ernst jetzt? Wollte sie mit fremden Männern in einem fremden Land ausgehen? Nein danke, dann doch lieber mit Edward …
„Okay, darauf kann ich verzichten.“
„Wir sind also ein Ehepaar?“ Seine Mundwinkel zuckten belustigt.
„Ja, aber wir spielen es nur.“ Sie betonte das Wort spielen.
„Das heißt?“
Im Gegenlicht hoben sich seine breiten Wangenknochen scharf ab und verstärkten sein attraktives Aussehen. Oh Mann, wie formulierte man das? Anna seufzte, kniff die Augen zusammen und verzog den Mund zu einer gequälten Grimasse.
„Ich kann mir nicht vorstellen, mit dir eine Ehe zu führen, ich meine so richtig, verstehst du?“
Sie blinzelte und sah, wie Ed mit seinem umwerfenden, breiten Grinsen dastand, seine Hände in die Seiten gestemmt.
„Du meinst, du kannst dir nicht vorstellen, Sex zu haben.“
Sie nickte und die Hitze in ihren Wangen verriet ihr, dass sie feuerrot war.
„Und“, sie räusperte sich, um die Enge in ihrem Hals frei zu bekommen, „auch nicht zu küssen.“
Sein Grinsen verstärkte sich.
„Eine edle, unantastbare Jungfrau als Ehefrau? Ich hoffe echt, dass wir nicht zu lange hier sind.“
Das sah ihm wieder ähnlich. Wahrscheinlich konnte Edward sich in London gar nicht retten vor Mädchen, die ihm zu Füßen lagen und alles tun würden, was er wollte. Aber sie war keine von denen.
Grandmère hatte ihr erzählt, dass Eds Arbeitseinsatz eine Art Therapie sei, um wieder auf die „richtige Bahn zu kommen“.
„Ich meine es ernst, Ed.“
„Schon gut. Deal.“ Er machte eine beschwichtigende Handbewegung.
„Und weshalb reist ein so edles Paar nach Malta?“, nahm er den Faden wieder auf.
Sie überlegte. „Wir machen eine Reise oder wollen hier wohnen.“
Der Wind zerrte an ihren Haaren. Wenigstens war ihr nicht mehr so kalt in diesen Kleidern.
„Gut. Woher kommen wir?“
„Woher wohl? Aus Frankreich.“
Welche Sprache sollten sie sonst sprechen?
„Und mein Akzent?“
Sie kräuselte die Nase. Tja, das stimmte. Er war zwar nicht so stark … Ein Satz aus dem Gespräch der beiden Männer fiel ihr wieder ein.
„Haben die Männer nicht etwas von der Reformation gesagt, die in England Fuß gefasst hat? Du könntest dort aufgewachsen sein, bist aber irgendwie in Bedrängnis geraten und als guter Katholik zu deinen Verwandten nach Frankreich geflüchtet.“
„Und dort haben wir uns kennengelernt, ich habe mich unsterblich in dich verliebt und wir haben geheiratet.“ Eds Augenbrauen bewegten sich hoch und runter.
Was? Flirtete er etwa mit ihr? Oder spottete er nur?
„Komm schon, hör auf.“ Das Ganze war ihr immer noch äußerst peinlich.
„Falls es hart auf hart kommt, können wir immer noch Englisch reden, in der Hoffnung, dass uns hier niemand versteht. Du kannst doch Englisch, oder?“
Sie nickte.
„Okay, dann lass mal hören, was du so draufhast.“
Es war ungewohnt, ihn in seiner Muttersprache reden zu hören. Anna kramte ihre Englischkenntnisse hervor und sagte: „We don’t speak about the future and our real lifes.“
„Never.“ Er schüttelte den Kopf und seine Mundwinkel zuckten verräterisch.
„Was ist?“
„Du hast ein süßes Englisch. Mit Akzent.“
Für einen kurzen Moment sah sie etwas Sanftes in seinen Augen aufblitzen. Ihr Herzschlag beschleunigte sich. Vielleicht versteckte sich hinter der coolen Fassade doch noch ein weicher Kern?
„Gehen wir nun?“, versuchte sie abzulenken.
„Klar, Mylady. Doch zuerst müssen wir uns noch um die hier kümmern.“ Er zeigte in die Höhle auf die verstreuten Kleider.
Sie steckten die Jeans und T-Shirts in die Truhe und traten den Weg in Richtung Dorf an.
Esthers Vater, der auf der Veranda gemächlich hin- und hergeschaukelt hatte, ließ die Hollywoodschaukel ausschwingen. „Hört zu“, sagte er. „Es gibt etwas, das ich euch allen sagen muss.“ Seine Stimme klang so düster, dass Esther eine Gänsehaut bekam. Die gleiche Formulierung,
den gleichen Tonfall hatte er gebraucht, als er ihr gesagt hatte,
dass Mama von jetzt an im Himmel leben würde.
„Ich habe nachgedacht …“ Er zögerte und massierte seine Stirn, als habe er Kopfschmerzen. Er sah furchtbar traurig aus. Esther wünschte, sie wüsste, wie sie ihn wieder zum Lächeln bringen könnte.
Sie waren nach dem Gottesdienst zum Essen zu Oma Shaffers Haus gegangen, und Papa hatte den ganzen Nachmittag kaum etwas gesagt.
Aber das war nicht ungewöhnlich. Oma hatte die langen Pausen mit Neuigkeiten über Onkel Steve gefüllt, der gegen die Japaner kämpfte, und über Onkel Joe, der bald mit dem Schiff nach Nordafrika fahren würde. Omas Nachbarin von nebenan, Penny Goodrich, war auch gekommen,
um mit ihnen auf der Veranda zu sitzen, und sie alle hatten zugesehen, wie Esthers Bruder Peter, Omas Hündin durch den Garten gejagt hatte. Es war ein schöner Nachmittag gewesen – bis jetzt. Papa räusperte sich. „Ich … also … ich habe eine Entscheidung gefällt.“
Wieder hielt er inne, und es war ganz windstill, als wäre selbst die Brise verstummt, um zu lauschen. Woofer hörte auf zu bellen, und selbst der Verkehr auf dem Brooklyn Boulevards einige Häuserblocks weiter schien zum Stillstand gekommen zu sein.
„Was denn, Eddie?“, fragte Oma. „Du siehst so ernst aus. Geht es dir gut?“
„Ich werde mich freiwillig melden, Ma.“
„Was?“
„Ich sagte, ich werde mich freiwillig zum Militärdienst melden.“
Diesmal sprach er lauter, weil Oma schwerhörig war, aber Esther war sich sicher, dass Oma ihn auch schon beim ersten Mal verstanden hatte.
Esther schlang die dünnen Arme um ihren Oberkörper und fröstelte.
Mit ihren zwölf Jahren war sie alt genug um zu wissen, was es bedeutete, sich beim Militär zu melden. Sie lauschte jeden Abend im Radio den Nachrichten über den Krieg. Sie sah die Wochenschau in Loew’s Brooklyn Theater, bevor der Samstagsfilm begann. Oh ja. Sie wusste,
es bedeutete, dass ihr Papa weit fort sein würde, so wie ihre beiden Onkel – und dass er vielleicht niemals zurückkam. Der Nachmittag schien plötzlich um zehn Grad kälter geworden zu sein, als hätte sich eine Wolke vor die Sonne geschoben.
„Bei allen Heiligen, Eddie!“, rief Oma. „Hast du den Verstand verloren?
Du kannst nicht zum Militär gehen! Du musst an deine beiden Kinder denken. Wer soll sich denn um sie kümmern?“
„Also … darüber müssen wir eben reden. Ich hatte gehofft, du würdest für sie sorgen. Du hast gesagt, wenn ich etwas brauche …“
„Bist du verrückt? Was denkst du dir nur? Wie in aller Welt …“
„Der Krieg kann doch nicht ewig dauern. Ich komme bald wieder.“
Großmutter hieb ihm mit der Faust gegen die Schulter. „Und was ist, wenn du nicht zurückkommst? Hm? Was ist dann? Was ist, wenn du auf dem Grunde des Pazifiks landest wie Millie Barkers Sohn? Was dann? Willst du, dass diese armen Kinder Waisen werden?“
Esther verstand die Endgültigkeit des Todes. Sie wusste, dass sie Mama nicht wiedersehen würde, bis sie selbst starb und in den Himmel kam. Sie wusste auch, dass viele Männer im Krieg getötet wurden.
Oma hatte eine kleine Flagge mit zwei Sternen in ihr Fenster gehängt, einen für Onkel Joe und einen für Onkel Steve, und sie hatte Esther erklärt, warum Mrs Barker auf der anderen Straßenseite jetzt eine Flagge mit einem goldenen Stern im Fenster hängen hatte.
Esther hätte am liebsten geweint und Papa gebeten nicht zu gehen, aber sie wollte ihn nicht verärgern. Die Liebe zwischen ihnen war so zerbrechlich wie Spinnweben, und Esther wusste nie so recht, ob sie sich seiner Aufmerksamkeit sicher sein konnte, geschweige denn seiner
Zuneigung. Manchmal schien es, als wäre Papa nicht zu Hause, selbst wenn er da war. Sie beschloss, ihre Großmutter mit ihm streiten zu lassen.
„Mir wird nichts passieren, Ma. Ich werde beim Heer sein, an Land.“
„Meinst du, an Land sterben keine Soldaten?“
„Hör zu, ich hatte gehofft, Esther und Peter könnten hier bei dir wohnen, bis ich wiederkomme.“
Großmutter starrte Papa mit offenem Mund an, als wäre sie kurz davor, in irgendetwas hineinzubeißen. Esther versuchte sich vorzustellen, wie es wäre, hier zu wohnen, und bei dem Gedanken drehte sich ihr der Magen um. Oma hatte schrecklich viele Regeln, wie zum Beispiel:
„Lass die Tür nicht offen stehen, sonst entwischt der Hund“,
und: „Lass meinen Sittich in Ruhe“, und: „Fass meine Sachen nicht an“ – die überall stapelweise herumlagen. Esther hatte nichts gegen die Besuche am Sonntag, aber wenn sie mit Papa und Peter anschließend in den Bus stiegen und nach Hause fuhren, hatte sie immer das Gefühl,
als hätte sie drei Stunden lang die Luft angehalten.
„Wie können sie hier wohnen?“, fragte Oma Papa. „Was ist mit der Schule? Hast du daran gedacht? Sie müssten in eine andere Schule wechseln, wenn sie hier bei mir leben sollen. Außerdem ist in diesem Haus gar kein Platz für sie.“
„Was meinst du damit, kein Platz? Du und Pa, ihr habt hier drei Jungs großgezogen.“ Esther hatte sich immer gefragt, wie Papa und
ihre Onkel in das Haus gepasst hatten. Oma behielt Dinge, die von
den meisten anderen Menschen in den Müll geworfen wurden – riesige
Stapel mit Sachen, zwischen denen man sich kaum von einem Zimmer
zum nächsten bewegen konnte.
„Das ist Jahre her, Eddie. Eure Etagenbetten sind längst fort, und
das Zimmer benutze ich jetzt für meine eigenen Sachen. Ich wüsste gar
nicht, wo ich anfangen sollte, wenn ich das alles ausräumen müsste.
Und wohin sollte ich damit?“
„Du könntest doch in unsere Wohnung ziehen.“
„Und was ist dann mit meinem Hund, hm? Und mit meinem Vogel?
Dort, wo ihr lebt, sind doch keine Haustiere erlaubt. Außerdem gibt es
bei eurer Wohnung zu viele Treppen.“
„Ma, hör zu –“
„Nein, du hörst mir zu. Ich liebe Peter und Esther, das weißt du genau …“ Großmutter warf die Bemerkung in Esthers Richtung wie einen Ausball beim Baseball. Er klang großartig, wenn er gegen den Schläger prallte, aber am Ende zählte er nicht.
„Aber bei allen Heiligen, Eddie, ich bin zu alt, um Kinder großzuziehen! Ihnen bei den Hausaufgaben zu helfen und mir Sorgen wegen Masern und Windpocken zu machen … Das ist einfach zu viel! Tag und Nacht für sie zu sorgen, das wäre zu viel für mich. Lass andere
Leute gegen die Nazis kämpfen. Du bist dreiunddreißig, um Himmels
willen. Du hast hier zu Hause deine Aufgaben.“
Esther blickte zu Papa auf, um zu sehen, ob Omas Argumente ihn überzeugt hatten, aber der Ausdruck, den sie in seinem Gesicht sah,
jagte ihr einen neuerlichen Schauer über den Rücken. Seine Lippen
waren ganz weiß und er schien die Luft anzuhalten. Oma musste es
auch bemerkt haben. „Was? Was ist los?“, fragte sie ihn.
„Es ist zu spät. Ich habe mich schon verpflichtet.“
„Du hast – was?!“ Großmutter explodierte wie eine Mineralwasserflasche,
die geschüttelt wurde, und streckte die Hand aus, um Papa eine
Ohrfeige zu verpassen, als wäre er ein kleiner Junge. „Warum hast du so
etwas Dummes getan? Etwas Verantwortungsloseres … Idiotischeres …“
„Hör mir zu, Ma. Ich kann nicht so weitermachen wie bisher. Ich
kann einfach nicht.“ Seine Stimme klang so kalt und hart wie eine metallene
Eiswürfelform direkt aus der Tiefkühltruhe. „Es gibt zu vieles,
das mich an sie erinnert. Zu viele Dinge, die nie wieder so sein werden
wie vorher. Rachel ist überall in der Wohnung – und sie ist es doch
nicht.“
„Dann such dir eine andere Wohnung, Menschenskind. Nur weil
du einen Tapetenwechsel brauchst, musst du doch nicht gleich in den
Krieg ziehen! Fang woanders noch einmal von vorne an. New York ist
eine große Stadt. In Brooklyn gibt es jede Menge andere Wohnungen,
die du mieten kannst. Deine Kinder brauchen dich!“
Papa rieb sich die schmerzende Wange. „Ich nütze ihnen doch nichts,
Ma. Ich bin noch nicht einmal ein guter Vater, von einer guten Mutter
ganz zu schweigen.“
Esther versuchte etwas zu sagen, aber ihre Brust schmerzte, so wie damals, als sie in der Schule vom Klettergerüst gefallen war. Sie konnte
kaum Luft holen. Sie wollte ihm sagen, dass er doch ein guter Vater
war. Er kochte ihr Essen und hörte sich jeden Abend mit ihnen zusammen
Sportübertragungen im Radio an. Er packte jeden Tag ihre
Brotdosen für die Schule und half ihnen, für Diktate zu üben, und ging
sonntags mit ihnen in die Kirche. Das Haus schien viel zu still, und
er sang nie und spielte auch nicht Klavier, wie ihre Mutter es früher
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getan hatte. Und er erzählte ihnen auch keine Gutenachtgeschichten
über Personen aus der Bibel. Sie aßen eine Menge Dosensuppe anstatt
Fleisch und Kartoffeln, aber das war Esther egal. Sie wollte nur, dass ihr
Papa in ihrer eigenen Wohnung bei ihnen blieb und nicht in den Krieg
ging und sie mit Großmutter zurückließ.
Sie legte eine Hand auf seinen Arm, während sie krampfhaft überlegte,
was sie sagen sollte. Aber als er sich ihr zuwandte und sie Tränen
in seinen Augen sah, konnte sie kein Wort herausbringen. Was, wenn
sie etwas Falsches sagte und er mitten in der Nacht zu weinen anfing,
so wie damals, als Mama gestorben war? Esther erinnerte sich an das
schreckliche, hilflose Gefühl, das sie gehabt hatte, als sie ihren Vater in
jener Nacht weinen hörte. Auch sie selbst hatte nicht aufhören können
zu weinen und da war niemand gewesen, der sie oder ihn getröstet hätte.
Papa hatte sich bemüht, sie zu beruhigen, aber seine Umarmungen
hatten sich kurz und steif angefühlt, so als hätte er Angst, sie zu zerbrechen,
wenn er sie zu fest drückte. Er war groß und schlank, und seine
schwieligen Hände waren immer von Schmiere geschwärzt, weil er den
ganzen Tag Autos reparierte. Mama war weich und warm gewesen, und
sie hatte Esther immer ganz lange im Arm gehalten.
„Bitte tu es nicht, Eddie“, flehte Oma. „Denk an deine Kinder. Geh
morgen früh hin und sag der Armee, dass du es dir anders überlegt
hast.“
„Das kann ich nicht. Es ist zu spät.“ Er sprach so leise, dass Esther
dachte, sie hätte es sich eingebildet. Großmutter hatte ihn bestimmt
nicht gehört. Aber dann räusperte er sich und sagte mit lauterer Stimme.
„Ich habe meine Arbeit bereits gekündigt. In zwei Wochen breche
ich zur Grundausbildung auf.“
Seine Worte lösten in Esther dasselbe leere, schwebende Gefühl aus,
das sie nach Mamas Tod empfunden hatte. Was würde mit ihr geschehen?
Sie hatte Angst, dass der leiseste Windhauch sie davontragen
könnte.
„Bei allen Heiligen, Eddie! Zwei Wochen? Wie konntest du nur so
dumm sein?“
Peter musste Oma schreien gehört haben, denn er hörte auf, mit
Woofer im Garten herumzutoben und kam zur Veranda geeilt. Er war
drei Jahre jünger als Esther und so dünn wie ein Strichmännchen –
überhaupt nicht wie die meisten raubeinigen Jungen in seinem Alter.
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Seine Haare hatten die gleiche glänzende rotbraune Farbe, wie Mamas
Haare sie gehabt hatten. Wenn Esther sich an Mama erinnern wollte,
brauchte sie nur Peter anzusehen. Er stolperte mit geröteten Wangen
und schweißnassem Haar die Treppe zur Veranda hinauf und blickte
von einem zum anderen. „Was ist passiert?“
Papa schien ihn gar nicht zu hören. „Ich muss das tun, Ma. Verstehst
du nicht?“
„Nein. Das verstehe ich ganz und gar nicht. Wie kannst du das deinen
Kindern antun? Nach allem, was sie durchgemacht haben? Bist du
verrückt?“
„Nein … aber das werde ich vielleicht, wenn ich noch länger hierbleibe.“
„Ich habe dir nichts mehr zu sagen.“ Oma erhob sich mühsam aus
ihrem Schaukelstuhl, stapfte ins Haus und schlug die Fliegengittertür
zu – etwas, wofür sie Esther und Peter ausschimpfte, wenn sie es taten.
Der Stuhl schaukelte noch eine Weile weiter, nachdem sie daraus aufgestanden
war, und Esther streckte die Hand über Papas Schoß hinweg
aus, um ihn anzuhalten. Mrs Mendel aus der Wohnung unter ihnen
hatte immer gesagt, es bringe Unglück, wenn ein Stuhl schaukelte,
ohne dass jemand darin saß – und noch mehr Unglück konnten sie
nun wirklich nicht gebrauchen, so viel stand fest. Wieder legte sich eine
unheimliche Stille über den Garten. Dann durchbrach Großmutters
Nachbarin Penny Goodrich die Stille.
„Eddie?“
„Ja?“
„Ich werde mich um die beiden kümmern.“
Esther hatte ganz vergessen, dass Penny da war. Alle hatten sie vergessen.
Aber so war Penny eben – so still und unwichtig, dass man sie
ansehen konnte, ohne sie wahrzunehmen. Esther hatte keine Ahnung,
warum Penny sonntagnachmittags immer bei Großmutter erschien,
wenn sie zu Besuch waren. Sie war nur eine von diesen neugierigen
Nachbarinnen, die kein eigenes Leben hatten und das Leben anderer
beobachteten, als würden sie einen Film anschauen.
Penny war jünger als Papa, aber sie sah aus, als wäre sie alt genug zum
Heiraten. Papa sagte, sie habe mit ihren Eltern in der anderen Hälfte
von Omas Doppelhaus gewohnt, seit er ein Junge war und Penny ein
Baby. Mr und Mrs Goodrich mussten sehr alt gewesen sein, als Penny
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geboren wurde – wie Sara und Abraham in der Bibel –, denn jetzt waren
sie uralt, noch älter sogar als Großmutter. Sie saßen nur sehr selten
auf ihrer Veranda, und ihre Hälfte des winzigen Gartens benutzten sie
nie. Papa sagte, er habe Penny viel geärgert, als sie Kinder waren, weil
sie so eine kleine Nervensäge gewesen sei. Jetzt sah er sie an, als hätte
auch er vergessen, dass sie da war.
„Was hast du gesagt, Penny?“
„Ich werde für dich nach den Kindern sehen. Ich meine, ich wünschte,
du würdest nicht in den Krieg ziehen, weil es so gefährlich ist, aber
ich könnte zu ihnen in deine Wohnung ziehen, damit sie nicht die
Schule wechseln müssen.“ Papa starrte sie erstaunt an, antwortete aber
nicht. „Ich weiß, ich bin keine richtige Mutter“, fuhr Penny fort, „aber
ich kann kochen und einen Haushalt führen.“
„Aber was ist mit deiner Arbeit? Wo arbeitest du noch mal?“
„Ich verkaufe Fahrkarten am Busbahnhof.“ Sie zeigte mit dem Daumen
über ihre Schulter. „Aber du könntest mir helfen herauszufinden,
wie ich mit dem Bus von eurer Wohnung aus dorthin komme, nicht
wahr?“
„Brauchen deine Eltern dich nicht?“
„Oh, sie kommen ohne mich klar“, sagte sie mit einer lässigen Handbewegung.
„Mutter sagt sowieso immer, dass ich ihr auf die Nerven
gehe. Außerdem könnte ich nach der Arbeit und am Wochenende bei
ihnen vorbeischauen. Das geht schon.“
Esther sah, in welche Richtung die Unterhaltung lief, und es gefiel
ihr überhaupt nicht. Sie musste etwas sagen und diese Idee unterbinden,
bevor Papa im Krieg war und sie mit Penny Goodrich in ihrer
Wohnung saß. Penny war ganz nett, und sie brachte immer Süßigkeiten
oder Kaugummi für Peter und sie mit, aber irgendetwas an ihr ärgerte
Esther. Sie fasste in ihre Rocktasche und berührte das rot-weiß gestreifte
Pfefferminzbonbon, das Penny ihr heute gegeben hatte. Esther
hatte „Nein, danke“ gesagt, aber Penny hatte ihr das Bonbon trotzdem
in die Hand gedrückt und gesagt: „Nun nimm schon, dein Vater hat
bestimmt nichts dagegen.“
Großmutter sagte, wann immer sie versuchte, Penny etwas zu geben,
um sich zu revanchieren, tat Penny beim nächsten Mal doppelt so viel
für Oma. „Wenn du zu ihr sagen würdest, dass dir ihre Schuhe gefallen“,
hatte Oma einmal gesagt, „würde Penny sie auf der Stelle ausziehen, sie
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dir in die Hand drücken und keinen Widerspruch dulden.“ Aber Esther
würde Pennys Kleider niemals haben wollen. Sie kleidete sich wie eine
alte Frau in sackartigen Kittelkleidern, gemusterten Schürzen und klobigen
Schuhen.
„Ich könnte weiterhin einmal die Woche für meine Eltern einkaufen
gehen“, sagte Penny, „und ihre Wäsche und alles machen, wenn ich
hier bin – und deine Kinder könnten ihre Großmutter besuchen.“
„Das klingt, als wäre es eine Menge Arbeit für dich“, sagte Papa.
„Ach, das macht mir nichts aus. Ich bin manchmal ziemlich einsam,
weißt du. Es wäre schön, zur Abwechslung einmal etwas anderes zu
tun.“
„Ich verstehe nur nicht, warum Ma mir nicht helfen will.“
„Vielleicht liegt es daran, dass deine Brüder schon an der Front sind
und du alles bist, was sie noch hat. Sie hat wahrscheinlich Angst, euch
alle drei zu verlieren, und das kann man ihr nicht verübeln, oder?“
„Ich werde wahrscheinlich nicht einmal zum Kämpfen kommen. Die
Armee braucht Mechaniker, die ihre Jeeps in Ordnung halten. Vielleicht
zeigen sie mir, wie man Panzer repariert, haben sie gesagt. Flugzeuge
würde ich auch gerne ausprobieren.“
„Das wäre nett. Und du wärst dann in Sicherheit, oder?“
„Ich muss einfach nur raus, Penny. Hier gibt es zu viele Erinnerungen
und … ich halte es einfach nicht mehr aus. Warum kann Ma das nicht
verstehen?“
„Armer Eddie. Ich verstehe es. Es muss wirklich schwer für dich
sein.“ Penny legte eine Hand auf seine. Er blickte überrascht auf ihre
Hand hinunter und dann in ihr Gesicht. Mit ihren großen, traurigen
Augen und dem schief gelegten Kopf erinnerte sie Esther an Großmutters
Cockerspaniel.
„Das würdest du wirklich tun?“, fragte Papa. „Du würdest in unsere
Wohnung ziehen und dich um die Kinder kümmern, während ich fort
bin?“
„Natürlich würde ich das. Ich möchte dir helfen.“
Esther sah, dass er über das Angebot nachdachte. Sie wollte Papa
den Ellenbogen in die Rippen stoßen und sagen: He! Was ist mit mir?
Warum fragst du mich nicht nach meiner Meinung? Aber irgendetwas
Schweres drückte wieder auf ihre Brust, sodass sie kaum atmen konnte.
„Papa?“, sagte sie leise.
15
„Du brauchst wahrscheinlich nicht lange dort zu wohnen“, fuhr Papa
fort. „Ich bin sicher, dass Ma es sich anders überlegt und die Kinder zu
sich nimmt, wenn sie sich erst einmal an den Gedanken gewöhnt hat.“
„Papa?“ Diesmal sprach Esther lauter.
„Und ich weiß, dass du Ma auch dann helfen würdest, wenn es nötig
ist, nicht wahr? Wenn sie eine Pause braucht?“
„Natürlich. Wir werden gut zurechtkommen. Du wirst sehen.“
Panik presste Esthers Rippen zusammen. Diese Abmachung würde
tatsächlich Wirklichkeit werden, und sie wusste nicht, wie sie es verhindern
sollte. Sie wollte nicht, dass Papa fortging – und schon gar
nicht wollte sie, dass die langweilige Penny Goodrich zu ihnen zog und
Mamas Platz einnahm. „Papa!“
„Ja, Püppchen?“ Seine Antwort klang geistesabwesend, während er
in den winzigen Hof hinausstarrte, ohne sie anzusehen. Er nahm ihre
Hand und rieb sanft mit dem Daumen darüber, aber sie wusste, dass er
ihr nicht richtig zuhörte. Es war, als wäre er schon an Bord eines Schiffes
mit Onkel Joe und Onkel Steve und meilenweit entfernt.
Esther überlegte, ob sie ihre Meinung sagen sollte, aber sie hatte
Angst, dass Papa dann böse werden und ihre Hand loslassen würde.
Und sie wollte auf keinen Fall, dass er losließ.
„Ach, nichts“, murmelte sie.
Denn das war der Fehler gewesen, den sie bei Mama gemacht hatte.
Esther hatte ihre Hand losgelassen, weil sie fand, dass sie schon viel zu
erwachsen war, um an der Hand zu gehen. Und jetzt würde sie Mamas
Hand nie wieder halten.
Einband: Paperback
Datentraeger: Buch
Erscheinungsdatum: 06/2011
Verlag: Francke-Buch GmbH
Autor: Lynn Austin
Erscheinungsdatum / Erfassungsdatum 01.06.2011
Gewicht 0.426 kg
Verlag / Hersteller Francke-Buch GmbH
Seiten 457
ISBN / EAN 9783868272628
Abmessung 30 x 135 x 205 mm
Kapitel 1
Vom Schnee zum Licht
Meine Geschichte beginnt im Januar 1964 in dem kleinen Dorf Bab al-Hadid im Nordosten Syriens. Bei Syrien denkt man zunächst an brennend heiße Wüstensonne und nicht an Schneestürme und Eiseskälte. Doch in diesem Januar zeigte sich der Winter von seiner kältesten Seite, so, wie er in dieser Region nur selten vorkommt. Tagelang hatte es geschneit und inzwischen lag der Schnee über einen halben Meter hoch. Es gab kaum noch ein Durchkommen.
Schneeräumfahrzeuge gab es keine. Die Menschen versuchten, die Wege mit Schaufeln passierbar zu halten und die Eingänge zu ihren Häusern frei zu machen, damit man überhaupt die Türen öffnen konnte.
Abends saß meine Familie wie jeden Tag in dem von einer Petroleumlampe erleuchteten Zimmer, in dem ein Ofen seine wohlige Wärme verbreitete. Dies war jedoch kein Abend wie jeder andere. Alle waren sehr aufgeregt. Mein Vater rannte immer wieder zum Fenster und schaute in die Dunkelheit hinaus. Doch außer Schneeflocken, die immer noch vom Himmel fielen, konnte er nichts entdecken. Inzwischen war es schon Mitternacht, doch von der erwarteten Person fehlte immer noch jede Spur.
Da rief meine Mutter auf einmal: „Jetzt ist es so weit. Das Kind kommt! Wir können nicht länger auf die Hebamme warten. Wir müssen es alleine schaffen.“ Unter den Anweisungen meiner Mutter packten alle mit an und ich kam auf die Welt, noch bevor die Hebamme sich ihren Weg durch das verschneite Dorf gebahnt hatte. Was für eine turbulente Geburt, doch das sollte noch nicht alles sein. „Ein kleines Mädchen!“, freuten sich alle. „Wir wollen sie Berfe nennen“, sagte mein Vater „weil sie in dieser schneereichen Nacht geboren wurde.“ (Berfe kommt aus dem Kurdischen und heißt „Schnee“.)
Die Freude meines Vaters über meine Geburt war nicht selbstverständlich, denn in muslimisch geprägten Ländern hält sich die Freude über ein Mädchen im Allgemeinen in Grenzen. Alle warten eigentlich auf einen Jungen, dessen Geburt dann stolz verkündet wird. Doch bei meinen Eltern war das zum Glück anders. Mein Vater erzählte überall voller Stolz, dass ihm eine Tochter geboren wurde.
Schon bald hatte sich die Nachricht meiner Geburt im ganzen Dorf verbreitet. Da Geburten in der arabischen Kultur immer auch ein Ereignis der sozialen Zusammenkunft darstellen (und nicht, wie in Europa üblich, in der Abgeschiedenheit eines Krankenhauszimmers stattfinden), fanden sich immer mehr Dorfbewohner im Haus meiner Eltern ein, um ihnen zu gratulieren. Alle Freunde und Bekannten und vor allem die Kinder kamen vorbei. Das war ein Riesentrubel.
Den ganzen Tag über gaben sich die Besucher die Klinke in die Hand und auch am nächsten Tag war es nicht anders. Für die Kinder war es ein riesiger Spaß, denn es gab viele Süßigkeiten. Sie aßen so lange, bis die Erwachsenen mahnten, dass es genug sei. Mein Vater hatte säckeweise die besten Bonbons eingekauft und verblüffte damit alle Besucher. Es war doch „nur“ ein Mädchen geboren worden. Für meinen Vater waren jedoch alle seine Kinder gleich wichtig. Um dieses nach außen ganz deutlich zu machen, bevorzugte er sogar uns Mädchen. Das hat sich auch auf unser späteres Leben ausgewirkt und mein Vater hat sein Verhalten nie bereuen müssen. Es waren nicht in erster Linie die Jungen der Familie, die auf ihn gehört haben und auf die er sich verlassen konnte, sondern wir Mädchen waren seine rechte Hand und unterstützten ihn, wo wir nur konnten.
Für meine Mutter waren diese ersten Tage nach der Geburt sehr anstrengend. Gerade erst hatte sie ein Kind zur Welt gebracht und schon war das ganze Haus voller Besucher, die sie versorgen musste.
Und so saß sie am Abend müde auf einer Matratze, die am Boden lag und als Sitzgelegenheit diente. Sie hatte mich auf dem Arm sanft in den Schlaft gewiegt und war dabei selbst eingeschlafen. Mein damals drei Jahre alter Bruder sah nun seine Chance gekommen, sich noch einmal mit Bonbons zu versorgen, ohne dass Mama das mitbekam. Die Süßigkeiten standen in der Ecke des Zimmers. Wenn er nur schnell genug war, würde keiner merken, dass er sich welche stibitzte. Der Kleine sah sich um, aber Papa befand sich nicht im Raum, also war die Luft rein. Es war bereits recht dunkel. Nur eine kleine Lampe brannte in einer Ecke. Mein Bruder lief schnell los, hatte aber die Beine meiner Mutter übersehen. Er stolperte und fiel so unglücklich auf ihren Unterleib, dass meine Mutter nicht nur aufwachte, sondern schwer verletzt mit Blutungen in ein Krankenhaus gebracht werden musste.
Doch was sollte aus mir werden? Ich war jetzt ohne Mama. Ins Krankenhaus konnte ich nicht mitkommen. Babynahrung aus Pulver, wie sie in Europa benutzt wird, gab es in unserem Dorf nicht. Wovon sollte ich nun leben? Doch da fand sich eine wunderbare Lösung. Zwei unserer Nachbarinnen hatten vor Kurzem ebenfalls ein Kind geboren. Diese beiden Frauen kümmerten sich nun um mich und säugten mich abwechselnd an ihrer Brust. So war ich dann schon recht kräftig, als Mama nach einiger Zeit wieder aus dem Krankenhaus zurückkam.
Auch in den Tagen, in denen meine Mutter im Krankenhaus war, kamen weitere Leute aus dem Dorf, um meinem Vater zu gratulieren und mich, das neugeborene Baby, zu sehen. Ich war gerade fünf Tage alt, da kam der Lehrer aus unserer Dorfschule, ein junger Mann, der gerade seine Ausbildung beendet hatte und aus der großen Stadt Homs in unser kleines Dorf versetzt worden war. Zum ersten Mal war er allein so weit von zu Hause entfernt und fühlte sich sehr einsam. Während der Schulzeit bestand für ihn keine Möglichkeit, nach Hause zu fahren. Und die Sommerferien waren noch weit entfernt. Er vermisste seine Familie und besonders seine Verlobte. So kam es zu folgender Szene: Er sah mich an und rief dann zu meinem Vater gewandt aus: „Was für ein süßes Mädchen! Ich gratuliere dir. Habt ihr dem Kind schon einen Namen gegeben?“
Mein Vater antwortete: „Ja, wegen des vielen Schnees haben wir sie Berfe genannt. Ich hatte aber noch keine Zeit, zur Behörde zu gehen und das Kind anzumelden“, fügte er entschuldigend hinzu. Da bekam der Lehrer leuchtende Augen und begann herumzudrucksen: „Du, Onkel …“, Onkel ist bei uns eine respektvolle Anrede für ältere Leute. Dabei ist es egal, wie viel älter der andere ist. Es können auch nur zwei oder drei Jahre sein. „… ich habe eine etwas ungewöhnliche Bitte. Dein kleines Mädchen sieht so niedlich aus, sodass ich gleich an meine Verlobte denken musste. Du weißt, ich vermisse sie so sehr. Wäre es möglich, dass du deine Tochter nach meiner Verlobten benennst? Sie heißt Menawar. Dann ist ein Teil meiner Verlobten hier im Dorf und ich fühle mich nicht mehr so einsam.“ Mein Vater überlegte kurz und sagte dann: „Ja, ich will das dir zuliebe tun. Das Kind soll nicht mehr Berfe, sondern Menawar heißen.“ Und so bin ich zu meinem Namen gekommen: Menawar, das Licht.
Einband: gebunden
Datentraeger: Buch
Erscheinungsdatum: 06/2017
Verlag: Francke-Buch GmbH
Autor: Birgit Meitrodt, Menawar Youssef-Safar
Erscheinungsdatum / Erfassungsdatum 01.06.2017
Gewicht 0.33 kg
Verlag / Hersteller Francke-Buch GmbH
Seiten 224
ISBN / EAN 9783868276732
Abmessung 25 x 135 x 195 mm
Die orthopädische Klinik in Wiehlstein war vollbelegt, als ein junger Mann von etwa einundzwanzig Jahren eingeliefert wurde.
»Es tut mir leid«, sagte die alte Johanniterschwester bedauernd, »daß ich kein anderes Zimmer für Sie habe.«
Der junge Mann sah sich schweigend um. Das Zimmer war kahl. Außer den acht Metallbetten und den Nachtschränkchen neben jedem Bett stand nur noch ein Schrank an der Stirnseite des rechteckigen Raumes. Von den acht Betten war noch eines frei, darauf steuerte er zu. Er hatte sich längst damit abgefunden, daß er keine Ansprüche stellen durfte. Drei Jahre Krankenhausaufenthalt in seiner Vaterstadt hatten ihn darüber belehrt.
Als die Schwester das Zimmer verlassen hatte, begann das große Fragen. Aber es war nur einer, der den Mund auftat. Die andern schienen zu schlafen.
»Hast du auch Motten?« fragte ihn der etwa Sechzehnjährige. Mit Motten meinte er Tuberkel. Ohne die Antwort abzuwarten, begann er zu erzählen:
»Ich heiße Theo, bin schon sechs Jahre hier und werde wohl nicht mehr hier rauskommen. Wunder geschehen ja nicht mehr. Der Jesus, von dem sie uns jeden Sonntag erzählen, ist entweder tot oder es liegt ihm nichts an uns.
Hier neben mir liegt der Fritz, er ist noch länger hier als ich. Er hat noch Hoffnung, aber die redet ihm sein Vater ein. Er ist schlimmer dran als ich. Der macht nicht mehr lang.
Da rechts von mir liegt der Nagel. Er liest den halben Tag Karl May und fühlt sich stark wie Winnetou. Dabei wiegt er mit seinen sechzehn Jahren kaum sechzig Pfund. Der geht bald. Der Rote hinten in der Ecke heißt Willi. Er ist von einem Auto überfahren worden. Motten hat er nicht, aber er ist gelähmt und braucht immer Hilfe. Wenn er nicht schläft, raucht er eine alte Pfeife. Wenn du Geld hast, dann schenk ihm etwas Tabak. Uber Tabak freut er sich wie ein Kind. Der Helmut hier neben mir ist der Ärmste unter uns. Er hat sieben Fisteln. Der Eiter stinkt wie die Pest, aber ich bin nicht so, wenn er immer neben mir liegen will. Lange dauert das sowieso nicht mehr. Wenn er in den Verbandsraum gebracht wird, macht ihn der Dicke fertig, weil er angeblich nicht still genug gelegen hat, deshalb eitere das so.«
Wäre die Schwester nicht gekommen, hätte Theo wohl noch lange geredet. Dem Neuen, er hieß Emil Bach, surrte der Kopf. Die Schwester nickte ihm zu, und kaum war sie aus dem Zimmer, fing Theo wieder am
»Um diese Zeit schlafen die alle. Die können immer schlafen.«
»Und du, schläfst du mittags nicht?« fragte Emil.
»Doch, sonst schon«, sagte Theo. »Aber ich spreche auch mal gern. Möchtest du, daß ich still bin?«
»Nein, nein, sprich nur«, sagte Emil und bereute es sogleich, denn nun legte Theo erst richtig los:
»Weißt du«, sagte er, »wenn man so lange hier liegt, dann lernt
- man es, halb wach und halb weg zu sein. Die meisten hier machen sich nicht viel Gedanken. Sie dämmern immer so dahin. Essen, schlafen, essen, schlafen. Das ist alles. Nur der kleine Helmut und ich werden morgens in die Schule gefahren. Das ist nämlich freiwillig. Und wir sind auch die einzigen, die etwas arbeiten. Manchmal machen wir auch Scherenschnitte, die der Helmut entwirft und aufzeichnet. Er ist ein kleiner Künstler.«
»Und was machen die anderen den ganzen Tag?«
Theo zuckte mit den Schultern.
»Der Nagel liest wenigstens noch. Die anderen dösen so dahin. Wie sollen sie da gesund werden?«
»Ja, wie sollen sie da gesund werden«, wiederholte Emil.
Theo sah auf. Der Neue war müde, das konnte man ihm ansehen. »Mach dir's bequem«, sagte er und legte sich zurück.
Für Emil begannen wieder einmal die Untersuchungen. Nach einer der ersten Untersuchungen mußte er Tag und Nacht auf dem Bauch liegen
»Wie lange muß das sein?« fragte er den Arzt.
Dr. Dicke zuckte die Achseln. »Zwei bis drei Wochen«, sagte er, »dann können wir dir ein Gipsbett verpassen.«
Emil sah den Arzt verärgert an. Nicht, weil er ihm soeben eröffnet hatte, daß er zunächst zwei bis drei Wochen auf dem Bauch liegen müßte. Er ärgerte sich darüber, daß der Arzt ihn duzte. Wenn es ein alter Mann gewesen wäre, hätte er vielleicht geschwiegen, aber jetzt, da der junge Arzt vor ihm stand, fragte er:
»Duzt du alle Patienten so schnell?«
Der Arzt drehte sich ruckartig um und verließ still das Zimmer. »Donnerwetter!« schrie Theo begeistert. »Du hast Mut. Dem habe ich sowas schon lange gegönnt, aber keiner hat's gewagt.
Der Doktor Dicke ist ein Biest. Den lernst du noch kennen. Irgendwann erwischt er dich, und dann gibt er's dir, verlaß dich drauf. Uns alle hat er schon reingelegt.«
»Und habt ihr euch nicht gewehrt?«
Theo hob resignierend die Hände. »Wir sind doch alle lebenslänglich! Nach den ersten Wochen, die du hier bist, kräht kein Hahn mehr nach dir, kommt kaum noch Besuch. Wenn sich dann einer beschwert, wird's nur noch schlimmer. Mit uns kann man doch keinen Blumentopf mehr gewinnen. Glaubst du, da könnte man 'ne große Lippe riskieren?«
Also auch hier, dachte Emil
»Trotzdem kann man was machen, wenn man klug ist.«
»Und das bist du ja?«
»Hör zu«, sagte Theo eifrig. »Auf mich hat's der Dicke besonders abgesehen. Aber ich hab's ihm einmal gegeben.«
»So, wie denn?« fragte Emil gespannt.
»Das war vor zwei Wochen«, sagte Theo. »Ich wollte schreiben, da fiel mir der Federhalter aus der Hand. Gerade, als ich versuchte, die Tinte von der Bettdecke abzulöschen, kam der Dicke. 'So dämlich kannst auch nur du sein<, sagte er und gab mir einen Schlag Her auf die Backe.«
»Und was dann?« fragte Emil gespannt. -
»Und dann«, sagte Theo stolz, »habe ich ihm das Gesicht hingehalten und gesagt: >Wenn dir jemand einen Schlag auf die rechte Wange gibt, so biete ihm auch die linke an<.«
»Und was hat er getan?«
»Er hat mir in seiner Wut noch eine geklebt. Aber das habe ich zuerst gar nicht gespürt. Ob du's glaubst oder nicht - ich fühlte mich plötzlich so überlegen. Ich habe hier 'nen Spiegel. Als ich die Ohrfeigen bekommen hatte, habe ich besonders lange in den Spiegel gesehen. Ich glaube, an dem Tag war ich ein ganz besonderer Kerl. 'Theo<, habe ich in den Spiegel gesagt, >so müßtest du immer aussehen.<«
»Und der Doktor?« fragte Emil.
»Ich habe mich seitdem vorbildlich benommen. Aber wenn er mich eines Tages noch einmal schlägt, mach' ich es wieder so. Als mir abends noch die Backen weh taten, habe ich wieder in den Spiegel gesehen und feierlich gelobt: 'Wenn du gesund wirst, Theo, wenn du einmal nicht mehr hier sein mußt, dann lauerst du dem Dicke auf und gibst ihm mindestens zehn Ohrfeigen.<«
»Dabei dürftest du dann aber nicht mehr so gut ausgesehen haben, denke ich.«
»Ich habe viele Gesichter«, antwortete Theo weise. »Aber du hast recht. Als ich die Stelle sah, wo sein Ring abgebildet war, geriet ich so in Wut, daß ich den Dicke am liebsten sofort verprügelt hätte. Warum müssen wir hier so wehrlos liegen!«
Am nächsten Sonntag hatten sich Emil und Theo schon früh in die Kirche fahren lassen. Es war ein schlichter Raum im oberen Stockwerk der Klinik.
»Der Pastor wiegt bestimmt zwei Zentner«, sagte Theo. »Im Talar wirkt er schlank. Aber mittwochs, wenn er unten im Flur die Bibelstunde hält, siehst du, wie dick er ist.«
»Ist er krank?« fragte Emil.
»Ich weiß nicht. Aber vielleicht müßte er einmal unser Essen haben. Nur für ein Jahr. Beim Predigen hebt er den Bauch immer auf die Stuhllehne, sonst kann er nicht so lange stehen.«
»Predigt er heute?«
»Ja, heute ist er dran. Er kommt alle vierzehn Tage und mittwochs.«
Der Organist begann zu spielen. Emil nahm das Gesangbuch und schlug das angegebene Lied auf, als Theo krampfhaft das Taschentuch vor den Mund preßte. Emil folgte Theos Zeigefinger und sah ein kleines schwächliches Männlein im Mittelgang feierlich und gemessenen Schrittes auf den Altar zugehen. Da er absolut nicht zu der Beschreibung des Pastors paßte, im übrigen aber pastoral und würdig daher schritt, glaubte Emil, Theo habe ihn angeschmiert und sei deshalb so heiter. Als dann aber im letzten Moment zwei Krankenpfleger aufsprangen und den »Pastor« vor dem Altar abfingen, war er für einen Moment verwirrt.
»Wer ist das?« flüsterte er.
»Das ist der Petri«, stammelte Theo mühsam. »Der hat zu viel studiert. Jetzt liest er wie verrückt in der Bibel und meint manchmal, er müsse den Leuten was vor predigen.«
»Ist das denn ein Kranker, ein Patient, Theo?«
»Ja, einer aus einem anderen Haus. Ein Psychopath oder wie man das nennt. Den lernst du noch kennen! «
Inzwischen war der richtige Pastor an den Altar getreten. Er mußte den Vorgang beobachtet haben. Denn er rief den Petri wieder nach vorn und begrüßte ihn mit fröhlicher Herzlichkeit. Der Mann hatte
Humor, stellte Emil befriedigt fest. Von der Predigt bekam er nicht soviel mit.
Es War alles zu neu für ihn. -
In den folgenden Wochen hatte Emil Gelegenheit, den >inneren Betrieb< der Anstalten zu studieren. Er lernte nicht nur Theo kennen, sondern auch die anderen Jungen, vor allem den Meinen Helmut.
Der Junge war kaum größer als ein achtjähriges Kind. Er war sehr scheu und ängstlich. Anfangs sagte er kaum ein Wort. Als er aber einmal Kontakt gefunden hatte, ließ er sich immer in die Nähe von Emil schieben. Weil die Kranken nach Möglichkeit auf dem Balkon liegen sollten, waren alle Betten mit Rädern versehen. So verursachte das wenig Mühe. Wenn gerade kein Pfleger da war, schoben die Kranken, die teilweise noch aufstehen durften, die Betten; Emil war sehr lufthungrig, so stand er morgens immer zuerst draußen. Und als es auf die Mitte des Jahres zuging, blieb er auch nachts auf der Terrasse.
Helmut war erst fünfzehn und lag schon zehn Jahre imGipsver-band. Obwohl er täglich neu verbunden wurde, drang der Eiter doch manchmal durch die Verbände. Er klagte nie, aber er fragte unaufhörlich, weil ihn beinahe alles interessierte.
»Was meinst du, Emil, werde ich wohl wieder gesund?«
»Das will ich doch hoffen!«
»Wir haben hier auch Lehrwerkstätten. Ich möchte gern etwas lernen. In der Schule komme ich gut voran. Ob ich wohl eine Stelle bekomme, wenn ich hier gelernt habe?«
»Warum denn nicht?«
»Ja, jetzt soll es ja wieder Arbeit geben. Aber sicher nur für ganz Gesunde. Was meinst du?«
»Ich denke, daß man fleißige und tüchtige Menschen immer gebrauchen kann, Helmut. Wir werden eines Tages sicher wieder gesund sein und arbeiten können.«
»Ach Mensch, das wäre schön!«
Emil sah den Wolken nach, die dunkel und schwer heraufzogen. War es richtig, dem kleinen Helmut noch Hoffnung zu machen, wo doch jeder wußte, daß er nach menschlichem Ermessen nicht mehr gesund werden konnte? Ja, wenn er reiche Eltern gehabt hätte, wenn er irgendwo in der Schweiz liegen könnte, wer weiß, ob er dann nicht noch eine Chance gehabt hätte. Aber er war das Kind armer Leute, die kaum in der Lage waren, ihren Sohn und Bruder zu besuchen.
Wie immer, wenn Emil solche Gedanken hatte, kam ein bitterer Zug in sein Gesicht. Er hatte in den vergangenen drei Jahren viel gegrübelt, warum es gerade ihn getroffen hatte, daß er so liegen mußte, während andere in seinem Alter gesund und frisch herumliefen.
Hier in der orthopädischen Klinik wurden seine Gedanken abgelenkt; das Elend seiner Bettnachbarn quälte ihn. Bei ihrem Anblick wurde ihm bewußt, daß auch sie alle nach menschlichem Ermessen nichts mehr vom Leben zu erwarten hatten. Und wenn er es schon nicht über's Herz brachte, dem Meinen Jungen die Wahrheit zu sagen, dann wollte er wenigstens sich selbst nichts vormachen. Seit einigen Tagen hatte er das Gipsbett, die Schale, wie man das hier nannte. Er durfte also wieder auf dem Rücken liegen. Es ging viel besser, als er gedacht hatte. Er fühlte noch einige Druckstellen, aber das war anfangs wohl immer so.
Da ihm der Arzt nur ausweichende Antworten gab, wandte er sich mit seinen Fragen an die alte Jöhanniterschwester. Schwester Erna war für ihn der ruhende Pol hier im Hause. Anscheinend schätzte sie auch Emil richtig ein, denn sie sagte:
»Ich möchte Ihnen keine falschen Hoffnungen machen, Herr Bach. Ihr Leiden ist schwer. Aber wie Sie die Hüftgelenkentzündung überwunden haben, könnte Ihr Körper auch mit der Wirbelsäulen-Tb fertig werden. Sie müssen auf Gott vertrauen und hoffen! Nach meinen Erfahrungen werden Sie aber wenigstens ein Jahr in der Schale liegen müssen.«
An diese Worte dachte Emil jetzt. Merkwürdig, daß er so ruhig daran denken konnte!
»Ist dir nicht gut?« fragte Helmut.
»Ja, doch.« Wie scharf der Kleine beobachtete!
»Aber du siehst so traurig aus.«
»Ach, das sieht nur so aus, Helmut.«
Der Junge wollte noch etwas sagen, als im Garten unter ihnen plötzlich jemand laut brüllte: »Halunken ihr, was fällt euch ein!«
Ehe Emil ahnte, was da vorging, war der Mann auf ihrem Balkon. »Wer von euch hat mir Wasser auf den Buckel geschüttet?« fragte er erbost. »Immer, wenn ich da unten arbeite, schüttet einer Wasser
wnter. Wer war es?«
»Der Petri«,-flüsterte Helmut seinem Nachbarn zu.
Während alle beteuerten, kein Wasser geschüttet zu haben, stellte sich Theo schlafend. Das schien dem Erbosten verdächtig. Wie ein Pfeil sauste er an Theos Bett und versetzte ihm eine Ohrfeige.
»Was fällt dir ein? Hast du das dem Doktor abgesehen?«
»Ich wette, du warst es. Sieh hier, mein Rücken ist ganz naß. Und am hellen Tag schläfst du .. «
»Unsinn«, fiel ihm Theo ins Wort. »Warum soll ich nicht schlafen? Ich hab' doch gar kein Glas. Woher soll ich denn das Wasser haben? Frag doch mal auf der Frauenstation. Vielleicht ist das Wasser von da oben gekommen. -Außerdem - du solltest dich schämen, einen Freund zu schlagen. Ja, staune nur. Ich habe dich immer für meinen Freund gehalten, auch wenn du das nicht gemerkt haben solltest.«
Petri stand einen Augenblick wie versteinert da. Er hielt viel von schönen Worten. Das wußte niemand besser als der listige Theo, der das Wasserglas sorgfältig versteckt hielt.
- »Theo«, sagte Petri kleinlaut, »ich schäme mich wirklich. Ich hätte mich nicht so aufregen sollen.«
»Ich wußte, daß du es bereuen würdest«, sagte Theo gnädig. »Es ist schon wieder gut. Vergiß das Tröpfchen Wasser. Es wird dir keinen Schaden bringen.«
»Tröpfchen?! « fuhr Petri herum.
»Na ja, so viel wird's schon nicht gewesen sein. Tu mir einen Gefallen und mach jetzt nicht auch noch bei den Frauen Krach. Wann zeigst du mir übrigens deine neuen Bilder?«
»Heute abend«, sagte Petri erfreut. »Aber jetzt muß ich schnell noch das letzte Beet umgraben.«
Als er gegangen war, herrschte ein paar Sekunden Stille, bis Petris Schritte verhallt waren. Als erster platzte Emil heraus. Er hustete vor Lachen.
»Wer ist eigentlich dieser Petri?« fragte er.
»Der macht hier die Gärtner arbeiten und sonst alles, was kein anderer tun will. Sein Vater ist Professor seine Brüder sollen Pfarrer sein. Er war auch auf der höheren Schule- Er soll zuviel gelernt haben. Jetzt kann er nicht mehr studieren, aber er ist sehr klug«, sagte Helmut-
»Etwas zu klug ist der«, warf Theo clii. »Er hat einen Tick oder zwei. Immer denkt er an Eisenbahnen und alte Gebäude. Wenn er frei hat, sitzt er irgendwo unten im Bahnhof, studiert die Fahrpläne und besieht sich die Züge. Er kennt alle Züge und hat den ganzen Fahrplan im Kopf.«
»Ja«, ergänzte Helmut, »wenn jemand mit dem Zug fahren will, braucht er keine Auskunft einzuholen. Er braucht nur den Petri zu fragen. Wenn er nicht krank geworden wäre, hätte er sicher auch schon einen Titel wie sein Vater und seine Brüder. Jetzt ist er hier so was wie ein Hilfsgärtner und Laufbursche mit ein paar Mark Taschengeld.«
»Schrecklich!« entschlüpfte es Emil.
»Oh«, sagte Theo, »ich wäre froh, wenn ich Gärtner sein könnte. Du nicht auch, Helmut?«
Der Kleine nickte begeistert. »Ja«, sagte er, »laufen können, draußen sein können in der frischen Luft, arbeiten, richtig laufen und arbeiten können. .
Wochen und Monate vergingen. Emil hatte längst gelernt, auch an ganz kleinen Dingen Freude zu haben.
Während die Jungen kaum Besuch bekamen, wurde er fast jeden Sonntag besucht. Und wenn er dann Obst, Schokolade oder andere Süßigkeiten verteilte, hatten die anderen auch ein bißchen Besuch gehabt. Emil wurde eine Art großer Bruder für sie, dem sie vertrauten. Er konnte stundenlang zuhören, er unterbrach sie nicht. Er wußte, wie eng der Denkkreis wird, wenn man viele Jahre zwischen vier Wänden liegt. Vermutlich war auch seine Vorstellungswelt schon kleiner geworden, obwohl er viel las und schrieb. Besonders wenn ihn die Not und der Jammer hier erdrücken wollten, nahm er seine Kladde und schrieb und schrieb.
»Emil«, sagte Theo eines Tages, »morgen findet hier eine Besichtigung statt.«
»Was wird denn besichtigt?«
»Das kennst du noch nicht. Hier die Anstalten sind auf milde Gaben angewiesen. Sie kriegen viele Spenden. Manche Spender wollen die Anstalten besichtigen. Solch eine Besichtigung findet morgen statt.«
»Woher weißt du das?« wollte Helmut wissen.
»Ich halte meine Ohren offen.«
»Wie willst du die großen Lappen auch zumachen?« grinste Helmut.
»Ein Frauenverein aus Düsseldorf soll morgen nachmittag durch die Anstalten geführt werden«, berichtete Theo weiter. »Er kommt auch zu uns.
Diese Besichtigungen waren den Kranken ein Greuel.
»Stell dir vor«, fuhr Theo fort, »da kommen so ein Dutzend Frauen und gaffen dich an wie 'nen Affen im Zoo. Die andern stellen sich dann immer schlafend, um nicht auf die dummen Fragen antworten zu müssen. Aber ich bin immer hellwach und berste. vor Zorn Kannst du das verstehen' Emil« -
»Und ob ich das verstehen kann! Aber sagtest du nicht, daß die Anstalten auf Gaben angewiesen sind? Was soll der Pastor denn tun, wenn die Spender kommen wollen? Er kann sie ja nicht abweisen.«
»Aber ich bin kein Affe«, sagte Theo, »und ich habe nicht umsonst meinen Verstand im Kopf.«
Die Besichtigungen oder auch Führungen, wie man das hier nannte, fanden in der Regel unter der Leitung des Anstalts-Direktors statt. Der Pastor ließ es sich nicht nehmen, die Herrschaften höchstpersönlich durch die Häuser zu führen.
Dabei kam die orthopädische Klinik meistens zuletzt dran. Nur die Lehrwerkstätten folgten noch hinterher. Das war logisch, denn dann nahmen die Besucher den Eindruck mit, daß viele dieser behinderten Menschen am Ende doch noch einer angemessenen Tätigkeit zugeführt werden könnten.
Es war gegen 14 Uhr, als die Besucher das Zimmer betraten.
Wie Theo es vorausgesagt hatte, stellten sich außer ihm und Emil alle schlafend. Das war ihr stummer Protest.
Der Pastor glaubte allen Ernstes, die Jungen schliefen, als er die Damen durch das Zimmer führte.
»Sie müssen bitte entschuldigen, meine Damen«, sagte er, »die Jungen sind alle schwerkrank.«
Da man von diesem Zimmer über die Terrasse in das anliegende gelangen konnte, machte es der Pastor hier kurz. Nach wenigen Minuten war er mit den meisten Frauen schon im nächsten Zimmer.
Nur zwei Frauen, die anscheinend alles recht gründlich sehen und erfahren wollten, waren hier im Zimmer geblieben. Eine von ihnen schien nach Art und Auftreten eine reiche Frau zu sein. Wenn Theo etwas von gutem Schmuck verstanden hätte, wäre er leicht darauf gekommen, daß diese Frau wahrscheinlich reich genug war, um den Anstalten mit kräftigen Spenden unter die Arme zu greifen. Und da für ihn arm und zugleich krank sein das denkbar Schlimmste war, ist leicht zu folgern, welche Bedeutung für ihn Gesundheit und Reichtum hatten.
Die reiche Dame ging von Bett zu Bett, um jeden einzelnen genau zu betrachten.
Als sie jetzt an Theos Bett kam und sah, daß er nicht schlief, reichte sie ihm die Hand und fragte:
ISBN-13: 9783417121704
Autor: Willi Morsbach
Titel: Die Antwort aus dem Sturm
Verlag: Brockhaus R. Verlag Gmbh
Jahr: 1979
Einband: Taschenbuch
Seitenzahl: 231
Format: 13,5 x 20,5 cm
SELBSTVERSTÄNDLICH EIN BUB
Frühling war's, herzerfreuender Frühling. Die Sonne gab sich jede Mühe, mit ihren wärmenden Strahlen die allerletzten Schneerestchen schmelzen zu lassen. Die Vögel probten eifrig ihr. Osterlied. Doch der werdende Vater merkte nicht viel von diesen Herrlichkeiten. Besorgt und leicht benommen drehte er immerzu seine Runden um den rechteckigen Wohnzimmer-Tisch. Manchmal starrte er gedankenverloren auf den Boden, hie und da schweifte sein Blick durch die kleinen Fenster mit den weißen Vorhängchen hinaus ins Weite.
Eigentlich war diese Wohnung wirklich sehr klein, aber dennoch besaß sie einen recht großen Vorteil: Von hier oben konnte man nämlich das ganze Tal bestens überblicken. Unten lag das Dorf mit seinem übermütigen Dorfbach. Allerdings plätscherte er meist brav, sanft und .einschläfernd in seinem Bett dahin. Aber nach einem langen Regen etwa, da stürmte und brauste er daher wie ein Großer. Und wenn es gar zu schlimm war mit den Wassermassen, die vom Himmel fielen, dann, ja dann verließ er einfach sein gewohntes Bett und suchte sich egoistisch einen eigenen Weg - so wie es ihm gerade gefiel.
Drüben, auf einem kleinen Hügel, thronte die kleine Kirche. Mit ihrem spitzen, gen Himmel weisenden Turm, war sie nicht zu übersehen. Auf der anderen Talseite fiel der Blick auf einen Höhenzug mit jenen dunklen Tannen, die dem Schwarzwald zu seinem berühmten Namen verhalfen.
Plötzlich ertönte der lang ersehnte erste Schrei des neuen Erdenbürgers. Der nagelneue Vater strahlte über das ganze Gesicht. Sein Sohn entwickelte ja eine auffallende Lautstärke. Und schon hörte man die fröhliche Stimme der Hebamme vom Nebenzimmer her:
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„Heü Huber, kommen Sie. Ich darf Ihnen Ihr erstes Kindlein zeigen.”
Mit dem gebührenden Ernst, den der wichtige Augenblick erforderte, betrat er langsam das Schlafzimmer. Er war sehr bewegt, denn soeben würde er seinen erstgeborenen Sohn erblicken! Der sollte später ein tüchtiger Soldat werden und dem über alles bewunderten Kaiser siegen helfen. Aber nicht nur er allein; sein Erstgeborener sollte noch sechs weitere Brüder erhalten. So hatten sie, die beiden jungen Leutchen, sich immer wieder die Zukunft vorgestellt und damit ganz den Alltag vergessen. Und das war eigentlich gut so.
Karl hatte die unerhörte Frechheit besessen, sich ein Jüngferchen vom Nachbardorf anzulachen.
„Was fällt dir eigentlich ein? Du willst die Mami vom Nachbardorf heiraten? Je schneller du dir diese Idee- aus dem Kopf treibst, desto besser", entschied die früh verwitwete Mutter mit scharfer und bestimmter Stimme.
„Das ist für uns eine Fremde, die hier nichts zu suchen hat!"
Doch das war nur ein Vorwand. Denn insgeheim hatte sie ihre Fäden schon zu einer hablichen Familie mit einer heiratsfähigen Tochter vom Dorf gesponnen. Das Geld, das diese als Hochzeitsgabe einbringen würde, könnte man gut zum Ausbau des Hauses und des Lebensmittelladens brauchen! Doch beide, Mutter und Sohn, hatten harte Schwabenschädel. Keines gab nach.
„Wenn du diese Erbschleicherin heiraten willst, werde ich euch beiden die Suppe gründlich versalzen, da kannst du sicher sein", schrie die Mutter ihren trotzig dastehenden Sohn an. „Sucht euch eine Wohnung zur Miete. Hier in diesem Haus ist kein Platz für solche Leute." Und damit war das Gespräch beendet. Die Mutter antwortete nichts mehr auf die beschwichtigenden Worte des angehenden Ehemannes.
Karl heiratete sein Mareili trotzdem. Sie fanden eine winzige Wohnung, etwas oberhalb des Dorfes. Nun hatten die
8 Dorfweiber wieder einmal genug Stoff zum Klatschen:
„Denkt euch, diese Schande! Sie wohnen als Untermieter bei den alten Kleins!"
Die Dörfler teilten sich rasch in zwei Lager. Die einen fanden es außerordentlich hartherzig von Frau Huber, ihrem einzigen Sohn das Dach über dem Kopf zu verwehren - die andern rügten den Starrsinn und die Unnachsichtigkeit von iCeri:
--,‚Welch bösen Zeiten würden wir entgegengehen, wenn die Eltern in solchen Sachen nicht mehr bestimmen könn-n, sondern die Jungen ihre eigene Meinung einfach nur so durchsetzen wollten!"
Die beiden Liebenden ließen sich aber durch das dumme Gerede nicht stören.. Auch den Spott der Leute, daß die Braut ja einen ganzen Kopf größer sei als der Bräutigam, Ubersahen sie beinahe amüsiert. Sie wußten es besser, oder meinten es wenigstens.
- Der klein gewachsene Karl hatte seinem geliebten Mareili oft genug ins Ohr geflüstert:
„Mein herziges, mein herzallerliebstes Mareili, wie schön du doch bist! Die Allerschönste auf Erden! Und so kräftig und gut gebaut! Ich wünsche mir von dir sieben Söhne, alles tapfere und tüchtige Soldaten für meinen verehrten Kaiser. Was meinst du dazu?"
„Ja, mein lieber Schatz, mein Goldiger. Ich werde dir die gewünschten und ersehnten sieben Söhne schenken", flüsterte Mareili mit roten Backen zurück, und vor ihrem inneren Auge erstand eine wunderschöne Zukunftsvision: Sie in dem großen, geräumigen Hause unten im Dorf, Platz genug für die Kinder, genug Geld -und genug zu essen dank des gut rentierenden Geschäftes! Dem von Haus aus armen Mareili glänzten die Augen vor Freude, und Karl fand seine zukünftige Ehefrau hinreißend schön. -
Wir kennen jedoch bereits die Reaktion von Karls Mutter. Das ganze, schöne Zukunftsgebäude stürzte damit krachend ein. Aber Karl hielt auch als armer Untermieter an seinem Wunsche fest, dem Kaiser sieben Soldaten zu liefern.
Nun also war der große Augenblick gekommen. Die Hebamme legte ihm sein erstgeborenes Kind in den Arm und meinte anerkennend: „Für ein Mädelchen hat es eine ausgesprochen kräftige Stimme. Das wird bestimmt ein gesundes, starkes Kind."
Der Vater ließ die Kleine beinahe fallen und stotterte enttäuscht: „Ein Mädel? Haben Sie ‚ein Mädel' gesagt? Das kann doch nicht wahr sein!"
Fassungslos starrte er zu seiner blassen Frau in den Kissen: „Mareii, sag, daß es nicht wahr ist!"
Aber seine Frau erwiderte kein Wörtchen; sie brach vielmehr in ein trostloses Schluchzen aus, so daß die tapfere Hebamme erschrocken vom einen zum andern schaute. Daß Bauersleute sich unbedingt einen Erben wünschten, das hatte sie schon oft erlebt. Aber daß arme Schlucker .. nein, das war ihr neu.
Sie besaß jedoch ein warmes Herz und wußte, wie fragen. Schnell hatte sie herar'gefunden, wo hier der Schuh drückte.
„Ihr kennt doch das Sprichwort, daß Gott zuerst ein Mädchen als Kinderbetreuerin schickt, wem Er nachher einige Buben schenken will?"
Mit diesem Argument brachte sie die enttäuschten Eltern endlich doch noch zum Schmunzeln. Sie nannten die Kleine einfach Wilhelmine, anstatt Wilhelm wie vorgesehen.
Die Kunde flog auf unsichtbaren Flügeln durch das Dorf, gaßauf und gaßab. Jedermann lächelte spöttisch. Leider hatte Karl seinen Wunsch nach sieben strammen Söhnen eben nicht nur dem Mareii ins Ohr geflüstert! Die Nachricht drang auch zur frischgebackenen Großmutter im Dorf unten. Sie grollte immer noch, vor allem der Schwiegertochter. Als fromme Frau, als die sie überall bekannt war, wußte sie
was sich gehörte. Sie schickte die Ladentochter mit einem Korb voll Lebensmittel in die kleine Wohnung hinauf. - Aber gratulieren? Im neuen Haushalt nach dem Rechen sehen? Nein, dazu konnte sie sich nicht überwinden.
Die Schadenfreude im Dorf über den Wilhelm, der eine Wilhelmine wurde, war groß. Noch größer wurde sie, als beim nächsten Mal eine Albertine statt ein Albert anrückte, ,später eine Pauline statt ein Paul, und statt einem Otto gab aea gar eine Ottilie. Aber endlich konnte die Dorfchronik
doch noch die Geburt eines Wilhelm Huber melden. Die Phantasie von Vater Karl, hatte durch all die Mädchen-Ankunften einen argen Knacks erlitten. Aber jetzt schoß sie wieder kräftig ins Kraut. Vor seinen inneren Augen sah er seinen Sohn als strammen Soldaten. Er würde Heldentaten am laufenden Band vollbringen, und der Kaiser würde seinen Sohn - und natürlich auch den Vater - vor allen Leuten ehren. Der Meine hielt sich aber nicht an dieses Wunschbild. Er war und blieb als rachitisches Asthma-Bub-lein ein Sorgenkind.
Nach einigen Jahren erblickten zwar noch drei weitere Söhne das Licht der Welt. Sie schlugen aber allesamt dem Vater nach; sie blieben kleingewachsen.
Und doch vollbrachte Albert, der zweite Sohn, als 14jähriger eine Heldentat, aber auf eine andere Weise, als die Phantasie von Vater Karl sie sich ausgedacht hatte.
Der erste Weltkrieg neigte sich dem Ende zu. Verzweifelt übersah 4r Kaiser seine schlimme militärische Lage. Als letzte Reserve mußten eiligst auch noch die Jüngsten einrücken und ein bißchen ausgebildet werden. Dann wurden sie an die Front abkommandiert. Albert war auch dabei.
Laut Befehl mußten die jungen Soldaten einen Unterstand bewachen; keine schwere, dafür eher langweilige Aufgabe. Da wurde eines Tages Albert Huber durch eine verirrte Kugel tödlich getroffen. Er hätte eigentlich Urlaub gehabt, war aber auf das instäl)dige Bitten eines brandneuen Vaters eingesprungen. - Nie vernahm der Kaiser etwas von dieser stillen Heldentat. Er hatte genug damit zu tun, seinen Kopf und einige Mark ins Ausland zu retten.
WALDGEISTER
HELMA ESSELBORN
Urgroßtantens Raritätenschrank
Der Raritätenschrank
„Ruhig, die Urgroßtante zankt sonst!" Das war der Zauberspruch meiner Mutter, wenn sie mich still halten wollte und das nimmermüde Plappermäulchen auf Minuten wenigstens aufhören sollte, alle möglichen und unmöglichen Fragen zu stellen. Urgroßtante Luise wohnte bei uns im Hinterstübchen. Mit sicherem Gefühl empfanden wir Kinder, dass sie uns nicht leiden konnte; denn sie war jedem kindlichen Spiel abhold und mäkelte griesgrämig an uns herum.
Gleichwohl hatte Großtantens Persönlichkeit eine gewisse Anziehungskraft für mich; hauptsächlich deshalb, weil sie so ganz anders war als andere Leute. Unbewusst zog mich das Originelle ihrer ganzen Persönlichkeit mehr an, als sich das weiche Kindergemüt von der rauen Schale abgestoßen fühlte.
Schon ihr Gesicht hatte etwas männlich Herbes. Eine kurze Hakennase, zwei stahlblaue Augen, ein zahnloser großer Mund machten es nicht gerade sehr anziehend. Zwei schneeweiße Locken waren kunstvoll über die Ohren gelegt und pendelten bald leise, bald heftiger, hin und her, je nach der Gemütsbewegung, worin sich ihre Besitzerin befand. Die Gestalt war groß und stark. Die Last der Jahre hatte die Haltung etwas gebeugt. Die Beine wollten nicht mehr so recht ihren Dienst tun, und der Krückstock gab
der ganzen Erscheinung etwas Schwerfälliges. Das waren aber auch die einzigen Gebrechen, worüber „Tante Luise"—so wurde sie allgemein genannt - mit ihren einundachtzig Jahren zu klagen hatte. Sonst war sie kerngesund.
Wenn sie gut gelaunt war, so erzählte sie gern aus vergangenen Tagen. Sie wusste noch, was die Eile Kattun vor fünfzig Jahren gekostet hatte, und die Jungen mussten oft das gute Gedächtnis der Alten bewundern. Ihre Stube betraten wir Kinder stets mit gemischten Gefühlen: Neugierde, Angst und eine gewisse Bewunderung hielten sich die Waagschale. Liebe haben wir ihr eigentlich nicht entgegengebracht, die hatte sie sich zu oft selbst verscherzt durch ihr leicht keifendes, mürrisches Wesen, das einer gewissen Eifersucht entsprungen sein mochte.
Sie hätte gern in dem Leben meiner Mutter, die sie mit großgezogen hatte und abgöttisch liebte und verehrte, die Hauptrolle gespielt, und das machten wir Kinder ihr
unmöglich. Auch meiner Mutter hat sie diese Anhänglichkeit nie gezeigt. Im Haus übte sie an uns allen unbarmherzig Kritik, kam aber jemand Fremdes und erlaubte sich ein abfälliges Urteil, dann sah sie uns mit einem Male mit ganz anderen Augen an. Dann waren wir die aufgewecktesten, artigsten, fleißigsten Kinder der Welt und unsere Mutter die beste und bedeutendste Frau, die überhaupt auf Erden wandelte. Diese Widersprüche konnten wir Kinder nicht rund bfingen, und deshalb standen wir innerlich der alten Tante fremd gegenüber.
Zum Mittags- und Abendtisch kam sie täglich zu uns. Ihren Kaffs dagegen kochte sie sich selbst in ihrem Zimmer auf einem Spiritusflämmchen und bestrich ihre Brötchen mit selbst eingekochtem Gelee, da ihr der unsrige, nach dem selben Rezept bereitete, nicht gut genug war. Das wurde auch jede Woche ein paarmal besonders betont und von meiner Mutter stets nur mit nachsichtigem Lächeln quittiert. Kam es einmal vor, dass meine Mutter nachmittags ausgegangen war und vergessen hatte, uns unsre Brote, mit Mus oder Butter bestrichen, bereitzulegen, dann zogen wir brüllend zur Urgroßtante und klagten ihr unser Leid. Sie war dann ganz entrüstet über diese Unpünktlichkeit einer Mutter, die die armen „Bälge" hungern ließ, und holte triumphierend ein Glas ihres extrafeinen Eingemachten. Wir feierten dann bei ihr eine Orgie in Geleebroten erster Güte.
Ihr Wohnzimmer, das sie mit einem grauen Kater und einem Kanarienvogel teilte, war urgemütlich eingerichtet. Über dem großen, breiten, mit grünem Rips bezogenen Sofa hingen einige Silhouetten, umkränzt von Efeu, der in zwei links und rechts auf Konsolen stehenden Töpfen gepflanzt war. Eine wundervolle alte eingelegte Kommode, ein kleiner Nähtisch, davor ein bequemer aus Rohr geflochtener Sorgenstuhl, ein gemütlicher runder Tisch, woran man in unglaublicher Anzahl sitzen konnte - das alles bildete ein harmonisches Ganzes und passte zu der Erscheinung, die dazwischen hauste. Der Glanzpunkt war jedoch der Glasschrank in der Ecke. Bekrönt von einer alten Standuhr und zwei großen Chinesinnen aus Porzellan, war er eine Fundgrube für die Kinderphantasie, wie man sie besser nicht finden konnte.
Um dieses Glasschranks willen gingen wir alle gern zur alten Tante, und wenn sie wollte, so konnte sie prachtvolle Geschichten über die dort verwahrten Schätze erzählen; denn jedes Ding darin hatte seine Geschichte. Wir wollen einmal sehen, ob die Tante heute gut gelaunt ist.
„Tante Luise, wie war doch die Geschichte von der alten Standuhr?”
Die alte Standuhr
Liebevoll blickt die Urgroßtante zu der alten Pendule empor, die auf vier zierlichen Alabastersäulchen auf dem alten Glasschrank steht und ihr trauliches eintöniges Ticktack gar heimlich durch die Stube tönen lässt.
‚ja, die Urgroßmutter, so nannten wir zu Hause scherzhaft die Uhr, die hat schon viel gesehen. Sie hing schon in meinem Elternhaus und hat dort Freud und Leid miterlebt", so erzählt uns die heute gut aufgelegte Tante Luise. „Aber eine Merkwürdigkeit hatte die Uhr damals schon wie heute: Im Herbst beginnt ihr Schlagen immer heiserer und leiser zu werden, bis es im Winter gar nicht mehr hörbar ist; und wenn das Frühjahr kommt, dann beginnt die Urgroßmutter wieder lauter und kräftiger die abgelaufenen Stunden zu verkünden. Wir haben oft über sie gelacht, aber einmal, da haben wir nicht gelacht, da war die Sache bitter ernst, und die Urgroßmutter war es, die meinem Vater das Leben gerettet hat."
„Erzähle, Tante Luise, erzähle! Ja, das musst du uns erzählen!", so schrien wir alle durcheinander.
Es war dämmerig geworden. Nur im gemütlichen Kachelofen glühten noch ein paar Scheite, und das schön geschliffene Pendel der Urgroßmutter warf seinen Widerschein zurück, wenn es ticktack, ticktack langsam hin- und herging. Die Ofenglut beleuchtete der Tante strenges Gesicht und milderte die Züge, so dass sie fast weich wurden.
Oder war es der Schein der Erinnerung, der sie so glücklich veränderte? Sie setzte sich in ihren bequemen Lehnstuhl zurecht, band die Haubenhänder fester - das war immer ein Zeichen, dass sie sich nicht vergeblich bitten ließ - und begann.
‚ja, das mag kurios klingen, aber es ist so: Ohne unsre alte Standuhr daheim wäre euer Urgroßvater nicht alt geworden, sondern in jungen Jahren von einem Malefiz-buben umgebracht worden. Es war im Jahre 1848. Da wollten die Leute Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit haben, gerade wie in dem sauberen Frankreich drüben. In der Schule habt ihr doch von der Französischen Revolution gehört? Na, die hatte in Deutschland die Leute ein bisschen angesteckt, und unsre Bauern hatten die Köpfe voll Ideen: Es sollte keine reichen und keine armen Leute mehr geben, sondern alle Güter sollten gleichmäßig verteilt werden und die Reichen den Armen alles abgeben. Das wäre ja auch ganz schön, wenn's nur immer so bliebe. Da aber der eine doch schneller als der andre sein Geld ausgibt, auch nicht alle gleich sparsam sind, so müsste man nach ein paar Wochen schon wieder teilen, gerade wie wenn eins von euch, das sein Stück Kuchen langsamer isst als das andre, den Rest mit dem teilen müsste, der das seinige auf einen Satz verschlungen hatte. Aber daran dachten die unzufriedenen Leute nicht; sie wollten vor allen Dingen Geld haben, das Recht besitzen, alles zu tun, was ihnen genehm war.
Und deshalb hegten sie auch Groll gegen alle Beamten, die ihnen seither so manches verboten hatten.
Da war nun mein Vater, der Revierförster, am schlimmsten daran. Denn vor allem wollten sie in dem Wald jagen und Holz holen dürfen, kurz alles tun, was ihnen seither überaus geschmackvolles Stück, und der, der es geschenkt hatte, musste ein Mann von auserlesenem Geschmack gewesen sein.
„Denn ein Er war es doch, gelt Tante?" Damit brachten wir die schon schmunzelnde Alte zum Reden. Die Geschichte erzählte sie gern, die war ja aus der eigenen Jugend, da sie achtzehn Jahre alt war ... Und von dieser Zeit erzählen alle Frauen gern.
Ja damals, da hing einem der Himmel noch voller Bassgeigen! Die sind einstweilen heruntergekommen und haben gebrummt, tüchtig gebrummt. Aber das glaubt man nicht, wenn man jung ist und tüchtig anzuschauen, so wie wir beide waren, die Base Lina und ich.
An jenem Morgen, da wir mit der Postkutsche nach Gießen zur Tante Christine fahren sollten, da war uns der Himmel blauer als blau. Und wer uns gesagt hätte, dass er einmal anders sein könnte, den hätten wir hell ausgelacht.
Wir sahen aber auch niedlich aus in unsern braunen Baregekleidern mit den grasgrünen Mänteln und rosa Seidenkapuzen, ganz wie Schwestern, eine wie die andere. So hatten wir es uns gewünscht. Linas Mutter war es gewesen, die die Herrlichkeiten besorgt hatte für ganze vierzig Gulden.
„Eine teure Ausstaffierung", brummte zwar mein guter Vater darüber, aber es war auch für die Reise nach der Stadt, und seine Schwester hatte geschrieben, dass sie mit den Nichten Staat machen wolle. Da musste schon ein Übriges geschehen.
Es war noch früh im Jahr, ein frischer Morgen, als wir erwartungsvoll vorm Löwen standen und auf die Post warteten. Vater war mit uns gegangen, ebenso die Magd, beladen mit den fein gestickten Reisetaschen, die sich nur dadurch voneinander unterschieden, dass die meine eine Miezekatze, die der Base Lina aber einen Dackel im Dessin hatte. Außerdem noch Hutschachteln, Fußsäcke und Umschlagtücher; denn es war kalt in der Postkutsche, und unsre vorsorglichen Mütter hatten Angst, wir würden uns erkälten.
Endlich tönt das Posthorn, der alte Kasten humpelt langsam heran. In den melodischsten Misstönen bläst der Schwager das Lied von dem ungetreuen Müller und dem zersprungenen Ringlein.
„Das ist ein schlechtes Omen, Fräulein", meinte die alte Babette, die trotz ihrer Schwerhörigkeit das Lied erkannt hatte. „Aber wie rührend, wie schön er das bläst, gerade wie mein Sel'ger." Sie hatte einen Postillion als Liebsten gehabt; er war ihr irgendwie abhanden gekommen. Sie bildete sich aber im Laufe der Jahre ein, er sei gestorben, und sprach von ihm als von ihrem Sel'gen.
Inzwischen waren die Postsachen abgegeben worden. Der Schwager hatte sich mit einem Schnäpslein gestärkt. Vater, der leutselig ein paar Worte mit ihm gewechselt hatte, empfahl uns noch besondere Vorsicht. Die mannigfachen Gepäckstücke wurden verstaut, zuletzt wir beide noch, von der Babette selber mit Tüchern und Fußsäcken vollständig zu Mumien eingewickelt. Ein letztes Winken, und holterdipolter setzte sich die Kutsche in Bewegung Fort ging's ins Leben hinaus, zum ersten Mal los von Mutters Schürzenbändel. Zwei Kiek-in-die-Welt, die sich unbändig wichtig vorkamen - und im Grund genommen doch das Herzklopfen hatten vor allem, was da kommen sollte.
Als die Postkutsche langsam ins nächste Dorf hinein-rumpelte, da zog schon vor den ersten Häusern eine umgestürzte Reisekalesche unsre Aufmerksamkeit auf sich. Das eine Rad schien gebrochen, und die herrliche Extrapost lag halb im Graben, halb auf der Chaussee und wartete geduldig, dass man ihr aufhülfe. Das schien aber nicht so einfach, denn sie war mutterseelenallein. Sowohl Fahrgäste wie auch Postillion und Pferde hatten sich davongemacht.
Mit Hörnerklang fuhren wir beim Gasthaus »Zum Rappen" vor, und siehe, da fand sich alles, was zu der verunglückten Kalesche gehörte: Zwei Gäule taten sich gütlich am vorgebundenen Hafersack. Ein Postillion saß schimpfend, aber trotzdem gemütlich kauend vor der Haustür. Soweit schien sich alles ins Unabänderliche gefunden zu haben und mit einem längeren Aufenthalt im „Rappen" ganz zufrieden zu sein.
Da wurde mit Heftigkeit die Tür des Gasthofs aufgerissen, und heraus stürzte ein junger Mann, der beim Anblick unserer Kutsche in den hellsten Freudenjubel ausbrach. Er beschwor in einem Atemzug unseren Postillion, ihn doch ja mitzunehmen, und im nächsten die beiden jungen Damen mit tausend Komplimenten, die Hand aufs Herz gedrückt, die Störung zu exküsieren.
»Aber Sie werden verstehen, ich bin Auteur des neuen Stückes, man spielt es heute Abend, ich will zugegen sein, man wird Beifall klatschen, und nun dieses Unglück! Ich müsste hier warten, eine, zwei, viele Stunden, wenn die verehrten-Damen nicht Erbarmen haben und mich mitnehmen."
Nun, wir ließen uns erweichen, und zwar nicht ungern. Lina seufzte sogar: »Wie interessant, er schreibt sicher auch Gedichte. Ob ich ihm mein Stammbuch gebe?" Aber ich verwies ihr das. Lina war immer ein bisschen leicht und
schnell begeistert. Solch wildfremden Menschen gegenüber hieß es Haltung bewahren, aber interessant fand ich ihn auch.
Sein Äußeres war sehr honett, obgleich die Kleidung durch das Malheur mit der Kutsche ein bisschen ramponiert war. Der feine graue Kragenmantel wies Spuren der Straße auf, und auch der weiche Kalabreserhut, der ihm einen etwas künstlerischen Anstrich gab, schien die Bekanntschaft des gewöhnlichen Erdenstaubes gemacht zu haben.
Das Gesicht war wohl gebildet; zwei feurige dunkle Augen, brünettes Haar und eine fahle Gesichtsfarbe gaben ihm einen etwas fremdländischen Ausdruck. Man hätte ihn für einen Italiener oder Spanier halten können. Um so enttäuschter waren wir, als er sich mit „Bastian Meyer aus Kinzig" vorstellte. „Schnitt und Kurzwaren, erstes Geschäft am Orte, aber die Seele lebt nur der Kunst, meine Damen, nur der Kunst."
Bastian Meyer stieg also zu uns ein Lina und ich, obwohl schon etwas abgekühlt durch das Schnitt- und Kurz-warengeschäft, waren doch voll hochgespannter Erwartung, was die Reise zu dreien jetzt bringen werde. Lina, das kokette Ding, fing natürlich sofort an, sich des hässlichen großen Umschlagtuches zu entledigen, damit ihr neuer grüner Damastmantel und die rote Haube besser zur Geltung kämen. Sie behauptete, es sei ihr zu heiß. Auch der Fußsack musste abgestreift werden, damit man die neuen Saffian-stiefel nur ja sähe, die ihr solch kleinen Fuß machten, dass meine Füße wie Elefantenpratzen daneben aussahen.
Der, dem diese Manöver galten, schien aber gar keine Notiz davon zu nehmen. Nachdem er sich hereinkompli-mentiert hatte und endlich uns gegenübersaß, kramte er in seinen Taschen eifrig nach irgendetwas, was er sehr nötig zu haben schien, denn sein Gesicht wurde zusehends enttäuschter, röter und erregter.
Er untersucht die rechte Tasche, dann die linke; er greift in die innere Manteltasche, kurz, er untersucht alle nur denkbaren Behälter im Mantel, Jackett und Hose, dreht und wendet sich und die Taschen und befördert alles Mög-licke und Unmögliche zu Tag, nur allem Anschein nach nicht das, was er sucht. Da, bei einer erneuten, fast spiralförmigen Drehung des Oberkörpers ein Krach, und schreckensbleich mit dem schmerzlichen Ausruf:,, Auch das noch!" sinkt Bastian Meyer ganz erschöpft auf die fadenscheinigen Polster der Postkutsche zurück. Die dicken Schweißtropfen geben Zeugnis von der gehabten Anstrengung und Alteration. Er wischt sich die Stirn und starrt ganz erschöpft in eine Ecke, bis er plötzlich unseren erstaunten Gesichtern begegnet, die das unterdrückte Lachen jedenfalls nicht gerade geistreich erscheinen lässt.
Da endlich scheint er zu sich zu kommen, und mit verzweiflungsvoller Geste ruft er klagend: „Meine Damen, mein Manuskript, mein Prolog - er ist weg, er ist verschwunden! Ich hatte ihn übernommen, ich bin der schmeichelhaften Aufforderung des Gesangvereins „Hu-manitas" gefolgt und habe ein Stück verfasst, ein Stück, meine Damen, es hat mich einen Teil meiner Seele gekostet. Sie finden darin die Gefühlsskala eines Künstlers, der verurteilt ist, in der Prosa des Lebens zu stehen und .
Hier stockte er.
»Kurz- und Schnittwaren", warf ich trocken dazwischen, wofür mich ein strafender Blick traf. Ach, Sie - verstehen mich!" Damit wendete er sich zu Lina, die ihn mit ihren blauen Vergissmeinnicht-Augen anhimmelte, dass es nicht mehr schön war.
„Ich bin unglücklich, unglücklich. Den Musen habe ich meine innerste Seele geweiht, aber anstatt Apollos Leier zu rühren, bin ich dazu verurteilt, zeitlebens die verdammte Elle zu schwingen. Und jetzt dieses Unglück!" Hastig fuhr er mit beiden Händen in die Taschen: „Ich habe es übernommen, den Prolog zu sprechen, und nun ... Wo ist er, wo? Er muss mir bei dem Unfall abhanden gekommen sein, vielleicht liegt er gar im Schmutz der Straße. Ich bin verzweifelt, einfach verzweifelt."
Bei diesen Worten hopste er auf den Polstern hin und her, als sei es mit Nadeln gespickt. Plötzlich ein verdächtiges Krachen, und ein ganz gemeiner beinerner Hosenknopf lag poesielos vor unseren Füßen. Allgemeines Schweigen. Starr vor Entsetzen stierte unser Gegenüber vor sich hin. Sein Gesicht wurde bald purpurrot, bald leichenblass. Wir hatten Mühe, nicht vor Lachen loszuprusten, was denn auch in dem Augenblick nicht mehr zu halten war, da er, hilflos und verlegen uns ansehend, die geistreiche Feststellung machte: „Meine Damen, es ist nur ein Hornknopf!"
Die verzweiflungsvolle Ratlosigkeit unseres Mitreisenden kam ihm aber erst zum vollen Bewusstsein, als er nach ängstlichem Tasten bemerkte, dass sich bei dem ersten Krach wohl schon der Zwillingsbruder des Hornknopfs empfohlen hatte, dem jetzt der letzte Stützpfeiler gefolgt war.
Bastian Meyer, der Musensohn, konnte sich trotz Kurz-und Schnittwaren auf die Dauerhaftigkeit seiner Beinbekleidung nicht mehr verlassen. Ohne Prolog, ohne Hosenknöpfe, was nun? Es war eine höchst peinliche aber zugleich verteufelt komische Lage, wir bissen in unsere Taschentücher, während das Opfer sich drehte und wendete und nicht aus noch ein wusste.
Er tat mir Leid. Ohne mir dabei etwas zu denken, holte ich aus meiner Handtasche Nadel und Faden und sagte, indem ich mich zu der Arbeit anschickte, ganz ruhig: „Wir nähen die Knöpfe wieder an." Lina sah mich an, als ob ich verrückt geworden wäre. Bastian Meyer aber warf mir einen Blick zu wie ein großer treuer Hund, der erst Schläge und dann einen Wurstzipfel bekommen hat.
Aber die Schwierigkeit begann jetzt erst. Zunächst galt es, den langen Taillenrock vorsichtig auszuziehen. Lina lüpfte dann das Jackett sorgsam und diskret, und nun konnte ich energisch darangehen, die beiden Ausreißer wieder dingfest zu machen. Es war allerdings ein sonderbares Beginnen!
Wenn uns meine gute Mutter dabei gesehen hätte, ein Unwetter des Zorns hätte sich über uns nichtsnutzige Mädchen ergossen, die so ohne weiteres in der Postkutsche fremden Mannsbildern Hosenknöpfe annähten. So etwas schickte sich durchaus nicht! Wir sollten überhaupt nicht wissen, dass es Knöpfe an andern Hosen als denen des gestrengen Herrn Vaters gab.
Als nach einer Weile das Werk vollbracht war und die Knöpfe saßen, war Bastian Meyer glücklich, rein glücklich.
Dass ein Mensch so leicht zu beglücken ist, hätte ich nie gedacht. Er küsste mir galant die Hand, aber der Lina mach-
te er dabei schmachtende Augen, obgleich sie ihn doch ausgelacht hatte und er bis zum jüngsten Tag in der Postkutsche hätte sitzen bleiben können, wenn er hätte warten wollen, bis sie ihm die Knöpfe angenäht hätte; denn aufzustehen war ihm doch schlechterdings unmöglich.
Es war aber höchste Zeit, denn eben fuhren wir in Gießen ein, und unser Postillion blies gefühlvoll „Nach Sevilla, nach Sevilla". Tante Christine nahm uns gleich bei dem Posthaus in Empfang, so dass der Abschied von Bastian Meyer kurz und schmerzlos verlief. Nachdem er uns noch feierlich beschworen hatte, doch ja am Abend der Aufführung seines Musenkindes beizuwohnen.
Dazu kam es aber nicht. Tante Christine machte einen Strich durch die Rechnung; denn sie hielt den Gesangverein Humanitas nicht für standesgemäß. Wie erstaunte sie aber, als jede von uns am folgenden Sonntag ein kleines Paket erhielt und der Inhalt sich als ein Nähkästchen entpuppte, so elegant und fein, wie man es damals selten zu sehen bekam. Die beigelegten Gedichte ließen wir beide wohlweislich verschwinden; denn die darin angesprochene Dankbarkeit, die von „Rosen" und „Hosen", von „Kopf" und „Knopf" durchsetzt war, hätte ja zu mancherlei unbequemen Fragen Veranlassung gegeben. Tante Christine war so schon entsetzt. „Bastian Meyer, Kurz- und Schnittwaren" - das war keine Partie für ihre Nichten.
Die alte Kaffeekanne
Heute ist Geburtstagsfest bei Tante Luise. Ein großer Tag, einundachtzig Jahre, das ist kein Pappenstiel. Staunend blicken die Kinder auf diese Zahl, und Karlchen meint: „Einundachtzig Lichter, das geht nicht, das ist ja wie hundert Weihnachtsbäume auf einmal."
Nein, einundachtzig Lichter waren nicht angesteckt. Aber der runde gemütliche Tisch war schon festlich...
ISBN: 9783765541469
Format: 18,5 x 12 cm
Seiten: 270
Verlag: Brunnen
Erschienen: 2011
Einband: Paperback
Mutterstress
Jamila beugte sich mit einer Tasse über mich „Trink das, das ist gut."
Nach drei Schlucken schüttelte es mich. „Was ist das für ein fürchterliches Gebräu? Schmeckt ja - widerlich brachte ich heraus.
..„Milchbildungstee. Der Doktor hat ihn bei mir bestellt. Du musst sechs Tassen davon trinken, damit die Milch einschießt." ‚ -
„Aber mir graust davor .....‚ wandte ich ein.'
es Spielt keine Rolle, runter damit, der Doktor hat es angeordnet."
»Du führst dich auf wie ein Oberhäuptling", fand ich,, aber sie lachte nur. Mit energischen Bürstenstrichen striegelte sie mein Haar und holte einen frischen Sarong aus dem Einbauschrank. Bevor ich mich wehren konnte, hatte, sie mich gewaschen und in das neue Tuch gehüllt. Sie schüttelte die Decke frisch auf und räumte alle Spuren der Geburt weg: die Schüsseln und Tücher und was so alles noch herumlag. Die ganze Zeit über trällerte sie vor sich hin. Aus dem Badezimmer hörte ich lautes Protestgeschrei.
„Ich frage mich, was David da drinnen mit ihm anstellt,, dass der Kleine so weint - ach, ich hätte ihn so gern noch eine Weile im Arm gehalten", flüsterte ich.
J amila warf mir einen strengen Blick zu. „Aber Jati, er muss doch untersucht werden! Vielleicht hat er eine Krankheit und
wenn man sie gleich entdeckt -" -
‚Jaja, ist schon gut!", warf ich ein. Ich wollte jetzt nicht über die möglichen Krankheiten und Behinderungen meines Kindes nachdenken. Ich sehnte mich nach David, nach seiner zärtlichen Berührung, ich wollte von ihm hören, dass er glücklich war und unser Kind lieb hatte - auch wenn ihm eine „Tochter, doppelt so schön wie Bagus", vorerst nicht vergönnt war.
„Warum dauert es denn so lange .....‚jammerte ich.
„Der Doktor weiß schon, was er tut", sagte Jamila Seit neustem war David für 'sie „der Doktor" - ein höheres Wesen, an dessen Entscheidungen nicht zu rütteln war. 'Seufzend legte ich mich in die Kissen zurück.
Es klopfte an der Tür. Mutter 'steckte den Kopf durch den Spalt.
‚ja, ist es denn wahr? Ich bin schon Großmama?", fragte sie und schielte verstohlen auf meinen Bauch Es war- so schön, ihr Gesicht zu sehen —voller Spannung und Vorfreude. Hinter ihr stand Vater und wagte aus lauter Taktgefühl nicht, Sich anzuschauen - wahrscheinlich sah ich grauenhaft aus!
„Kommt herein, liebe Eltern", sagte ich, und ich spürte eine neue Wärme in' mir aufsteigen gegenüber diesen Menschen, 'die mich so selbstverständlich in ihre Familie aufgenommen hatten - von Anfang an.
In diesem Augenblick flog die Tür zum' Badezimmer auf und David stand da, von Kopf bis Fuß stolzer' Vater, seinen Sohn im Arm. Er machte ein Gesicht, als hoffte er, eine Musikkapelle 'würde zu seiner Ehre einen Tusch anstimmen oder ein heller Scheinwerfer würde seinen Strahl auf ihn richten. Vielleicht erwartete er auch, dass wir alle „Ah" und „Oh" rufen, in einen tiefen Hofknicks versinken und ihm huldigen würden. Doch die Eltern schenkten ihm nur einen kurzen Blick, dann setzte sich Mutter an meine Bettkante. 'Ohne' ihren Sohn und ihren Enkel zu beachten, nahm sie meine Hand und legte ihre Wange hinein.
„Ich bin so glücklich, Jati! Ich danke dir für dieses Kind
Du machst uns alle sehr froh", sagte sie. '
Vater nickte: „Wir sind heilfroh, dass du eine so leichte Geburt hattest. Wir haben Wen Tag dafür gebetet!"
'Ich war sprachlos und die Augen wurden mir feucht: ' so viel Liebe, so viel Wärme! Ich war ihnen wichtig!
David war inzwischen zu uns gestoßen und legte flur das Baby in die Arme. Jetzt konnte ich es zum ersten Mal richtig
betrachten, Unser Sohn hatte ein Büschel kohlschwarzes Haar auf seinem runden Kopf. Er war kaum zerknautscht, der Mund hatte schon eine Nuckelbiase, und der kleine Daumen eine dicke Schwiele. Der Kleine öffnete ein Auge und schmatzte genießerisch.
Alle lachten.
Jamila sagte: „Er riecht wohl schon die Milch!"
„Komm, leg ihn gleich an', drängte David. „Damit die Milch einschießt."
„Das höre ich heute schon zum zweiten Mal. Bin ich eine Kuh oder was?", sagte ich.
Wieder lachten alle.
„Ich möchte ihn erst ein bisschen anschauen", sagte ich. „Ich muss doch seine Finger nachzählen, am Ende fehlt einer."
„Das ist schon erledigt', sagte David und ließ sich am Fußende nieder. Er strich sich die feuchten Haare aus der Stirn, und erst jetzt sah ich, wie erschöpft er war. Ich streckte die Arme nach ihm aus, und er rutschte ein Stück näher, doch er wich meinem Blick aus.
„Ist irgendetwas mit dem Kind nicht in Ordnung, David?", schaltete sich der Vater ein.
„Der Kleine ist gesund und normal entwickelt, aber.
„Was aber?", bohrte Mutter.
„Ich hatte ja eigentlich mit einem Mädchen gerechnet."
‚jetzt mach dich aber nicht lächerlich!", tadelte der Vater. „Du weißt genau, dass man darüber keine Kontrolle hat, und das ist auch sehr gut so. Wir haben um ein gesundes Kind gebetet, und Gott hat uns erhört."
„Wir würden es auch lieben, wenn es krank oder behindert wäre", widersprach die Mutter. „Kind ist Kind!"
David kaute auf seinem Fingerknöchel. „Vielleicht muss ich mich erst an den Gedanken gewöhnen — ich habe mir das alles etwas anders vorgestellt." Er seufzte und ging mit schweren Schritten hinaus.
Vater hob die Schultern und meinte: „Wahrscheinlich sind ihm die Nerven durchgegangen. Bei vielen frisch gebackenen Vätern setzt der Verstand aus. Ich gehe mal nachsehen, vielleicht kann ich mit ihm reden."
Mutter verdrehte die Augen.,, Männer!", sagte sie mit Nachdruck,
Als Vater hinausgegangen war, wandte sich Mutter dem Meinen zu, und ihr Gesicht verklärte sich.
„Komm, Jati, pack ihn noch mal aus, wir wollen ihn anschauen!", sagte sie, und Jamila machte einen langen Hals.
„Schwester, komm her, du siehst ja kaum etwas!", rief ich ihr zu, und sie lächelte und setzte sich auf einen niedrigen Hocker, den sie ans Bett geschoben hatte.
Vorsichtig wickelten wir das Baby aus den Tüchern. Es hatte einen hübschen Meinen Trommelbauch und schon zwei Speckfalten an den Beinchen. Da sah ich es: Der Kleine hatte an Brust und Bauch helle und dunkle Flecken, als wäre er schmutzig und nur teilweise gewaschen worden. Ich feuchtete einen Tuchzipfel mit der Zunge an und rieb ein wenig, doch die Farbe war echt. Am Rücken waren die dunklen Stellen noch deutlicher zu sehen als vorne, und auch die Beine hatten helle und dunkle Zonen.
»Pigmentflecken", sagte Mutter und zuckte die Achseln. „Na und?"
Sie drückte dem Baby einen herzhaften Kuss auf die Nase, worauf es niesen musste. Jamila half mir beim Einpacken; sie hat durch Muncak viel Übung im Wickeln, dann legte ich meinen Sohn an die Brust. Er wusste sofort, was er zu tun hatte und saugte kräftig. Mir wurde dabei schwindelig, aber nach einer Weile konnte ich es aushalten. Noch einmal schmatzte der Kleine, dann schmiegte er sich enger an mich und schlief ein. Auch mir fielen die Augen zu. Mutter erhob sich und schlich hinaus, Jamila rückte hier und dort noch etwas zurecht, dann löschte sie das Licht, und ich sank in einen wohligen Dämmerschlaf.
Am nächsten Morgen erwachte ich zeitig. David saß auf dem Boden neben meinem Bett und untersuchte das Baby, das• nackt auf einer Decke lag und wimmerte.
„Der Meine friert', gähnte ich. „Deck ihn wenigstens zu." David nickte und wickelte das Kind in Tücher. „Es - es ist nicht so arg, wie ich gestern dachte", murmelte er.
„Was macht dir Unruhe, mein Liebster?"
„Ich weiß nicht - ich dachte, es wird so aussehen wie du, oder auch ein bisschen wie ich, aber.
„Es ist eben ein Mischlingskind, was hast du denn erwartet?", fragte ich.
Er schwieg.
„Wolltest du lieber ein Kind mit goldenen Haaren und meerblauen Augen?", stichelte ich. ‚;Darm hättest du Irene heiraten sollen."
Er warf mir einen gekränkten Blick zu und brummte: „Aber Jati.,."
„Also? Was ist jetzt? Krieg ich einen Kuss oder nicht? Ich weiß schon gar nicht mehr, wie du schmeckst!"
Er seufzte und beugte sich über mich. Seine Wangen waren feucht. Hatte er etwa geweint? Aus Zorn oder Enttäuschung?
„David???"
Da nahm er mich in die Arme und sagte: „Ich bin so froh, dass du alles gut überstanden hast. Was meinst du, wie viel Angst ich hatte!"
„Aber dafür gab es doch keinen Anlass! Es ging alles so leicht und
‚ja .... Er holte tief Luft. „Dafür bin ich unendlich dankbar. Trotzdem, du glaubst nicht, wie aufgeregt ich war, als das Kind dann kam."
Ich rückte ein Stück von ihm ab. „Du? Aufgeregt? Du hast doch schon mehr Kinder geholt, als ich Finger und Zehen habe!"
„Weißt du, bei fremden Frauen ist es anders. Total anders. Ich hatte solche Angst, dass ich etwas falsch mache und du und das Kind. . . aber jetzt ist alles gut."
„Und deshalb hast du so ein Theater gemacht wegen der Pigmentflecken?"
„Ach, die Flecken. .. das spielt keine Rolle. Ich war einfach nur durcheinander. Ich wusste selbst nicht, was in mir abläuft. Freude und Erleichterung und Angst und Sorge Ich bin ja so glücklich
Ich schloss die Augen und lehnte mich an meinen dummen, klugen Mann. Wunderdoktor oder nicht, von Gefühlen hatte er keine Ahnung.
Aus dem inneren Lebensgang eines Christen
Botschafter des Heils in Christo 1853, S. 24ff
(Von ihm selbst erzählt)
Es ist jetzt schon eine Reihe von Jahren, als ich zuerst auf den Zustand meiner Seele aufmerksam wurde. Bis dahin hatte ich mir nie so viel Zeit genommen, um einmal mit Ruhe darüber nachzudenken; es genügte mir, dass ich vor den Augen der Welt unsträflich war. Jetzt aber erkannte ich, dass der heilige und gerechte Gott dereinst mein Richter sein würde, und wie wollte ich dann bestehen? Ich nahm mir vor, gewisse Sünden, die mir besonders offenbar geworden waren, zu lassen und recht viel Gutes zu tun. Ich bemühte mich in meinem Vornehmen, aber die Gerechtigkeit Gottes trat mir immer greller entgegen.
Die Sünde wurde durchaus sündig durchs Gebot und selbst das vermeintliche Gute sank vor der Majestät Gottes in den Staub. Ich zerarbeitete mich sehr und betete viel; doch ich lernte nur, dass das Gesetz geistlich ist, ich aber fleischlich, unter die Sünde verkauft. Ich erkannte das Gute an, war ernstlich beflissen, dasselbe zu tun, aber alles wurde durch die Sünde befleckt; ich blieb nach allen Seiten ein Knecht der Sünde und lag unter deren Herrschaft gefangen. Dieser Zustand dauerte eine lange Zeit und ich suchte vergebens alle Mittel zu meiner Erlösung auf, bis ich endlich den rechten Erlöser fand.
Ich kannte Ihn bis dahin nicht und dennoch sehnte ich mich nach Ihm unbewusst; Ich hungerte und dürstete nach Seiner Gerechtigkeit. Es war der Zug des Vaters zum Sühne. Es wurde mir auch bald das Herz aufgetan und ich glaubte an Seinen Namen. Ich erkannte in Wahrheit, dass das Lamm Gottes auf Golgatha alles bezahlt, mich erlöst und innig mit Gott versöhnt hatte. Meine Sünden waren mir vergeben, weil Jesus die Schuld entrichtet; von ihrem Dienste war ich befreit, weil der Sohn Gottes mich frei gemacht hatte.
Die Not war verschwunden und stiller Friede wohnte in meinem Herzen. Ich lebte in der innigsten Gemeinschaft mit meinem Jesu und ging unter stetem Gebet einher. Er war nun meine Gerechtigkeit, Weisheit, Heiligung und Erlösung geworden; in Ihm wohnte ja die ganze Fülle der Gottheit leibhaftig; in Ihm lag meine Kraft, mein Sieg wider Welt, Sünde, Tod und Teufel. Ihn zu lieben, mich selbst zum Opfer Ihm darzubringen, vor Ihm in kindlicher Einfalt zu wandeln, war meine Lust und Freude. Dieser selige Zustand dauerte viele Monate.
Mein Herz war noch unbefestigt; ich kannte nicht die geheimen Schlingen des Satans, der sich sogar zu einem Engel des Lichts verstellt, um uns das Ziel zu verrücken. Ein väterlicher Freund und Führer in christlichen Dingen fehlte mir. Mein Umgang mit andern Brüdern war unbedeutend, weil in meiner nächsten Umgebung keine wohnten. Traf ich aber hie und da mit etlichen zusammen, die schon länger auf diesem Wege waren, so freute ich mich; doch konnte ich es anfangs nicht begreifen, wenn jene Brüder klagten, wie sie so sehr unter der Last gewisser Sünden lägen; wenn ich sah, wie sie oft noch so im Feinen mit der Welt buhlten und sich so gern mit den Dingen dieser Welt beschäftigten. Meine Kraft wider alle Sünde und Unreinigkeit, mein Freund, meine Lust und Freude war Jesus allein.
Alles andere war mir fremd geworden. Wenn ich nun oft der Brüder Missmut, Unruhe und Verzagtheit mit meinem Frieden verglich, so glaubte ich, sie müssten nicht so entschieden zum Durchbruch gekommen sein. Versicherten sie mir aber dann, dass ich in der ersten Liebe stehe, worin auch sie einst gestanden, dass dies jedoch hauptsächlich ein Gefühlschristentum sei, worin man sich noch nicht recht kenne, und das müsse man nachher erfahren, dass Alles Sünde sei, was man tue und lasse, selbst Beten und Singen, Loben und Danken, Reden und Schweigen, Alles würde durch Sünde befleckt.
Die Brüder vergaßen den Unterschied zu machen, zwischen dem natürlichen Menschen, der sein Leben nur in sich sucht und hat, und einem Gläubigen, der in Christo lebt und nur Dessen Gerechtigkeit will. Ich fing an, über ihre Reden nachzudenken; ich konnte bald meinem Glauben so recht nicht mehr trauen, und nicht Lange dauerte es, da verließ ich meine sichere und feste Burg in Christo Jesu und kehrte mehr oder weniger in die so entschieden verlassene frühere Art und Weise zurück. Mein gläubiges Aufsehen auf Jesum verwandelte sich in ein ungläubiges Herabsehen auf mich selbst und auf die Welt. Mein Gewissen war dabei sehr unruhig und nur das tröstete mich, dass ich jetzt Erfahrungen machte wie andere Brüder, dass jene sich mit mir freuten, wenn ich von der furchtbaren Last und Kraft der Sünde und von der Ohnmacht des Fleisches sprach. Beides wusste ich aber schon, ehe ich zum Glauben an Christo Jesu kam. Das Ziel war mir also verrückt, und zwar durch die Unwissenheit der Brüder, die selbst nicht anders belehrt waren; darum zürne ich ihnen keinen Augenblick.
Eine neue Periode in meinem Lebensgange hatte begonnen. In meinem Innern lag viel Unruhe und Kampf. Mancherlei Sünden, besonders solche, unter denen ich früher gelegen, drängten mit Macht auf mich ein; ich suchte eine Zeitlang zu widerstehen; aber bald unterlag ich. Meine Waffen waren fleischlich und nicht geistlich; ich kämpfte nicht in der Waffenrüstung Gottes, hatte nicht den Brustharnisch der Gerechtigkeit und den Helm des Heils angelegt; hatte nicht den Schild des Glaubens und das Schwert des Geistes ergriffen, darum unterlag ich bei allem Bitten und Flehen. Nur in Jesu sind wir stark, außer Ihm ohnmächtig; nur in Ihm werden unsere Gebete erhört, außer Ihm kennt der Vater keine Kinder.
So wie ich nun wieder unter der Gewalt und Herrschaft der Sünde lag, kam ich auch wieder unter den Fluch und das verdammende Gesetz, Als ich nun sah, dass all mein Arbeiten, Kämpfen und Beten, womit ich es ernstlich meinte, vergeblich war, kam ich der Verzweiflung nahe; eine lange Zeit gab ich alles dran und ging mit dem sichern Bewusstsein einher, dass ich trotz all meiner Erkenntnis für die Verdammnis bestimmt sei. Ach, es war nur das unergründliche Erbarmen Gottes, was mich in jener Zeit und später gehalten hat. Welchen Einfluss Andere in diesen Jahren auf mich gehabt haben, will ich unerwähnt lassen; es entschuldigt dies mich nicht, denn ich. hatte Gottes Wort, hatte Zeit und Gelegenheit darin zu forschen und wusste auch, dass uns darin der göttliche Ratschluss und Wille geoffenbart war. Allein die Nüchternheit, der Ernst und die Einfalt dieses Wortes sprachen mich nicht sehr an. Was mich zunächst beruhigte, war, dass viele alte Christen ähnliche Erfahrungen von der Gewalt und dem Betrug der Sünde machten. Ich hielt dafür, dass eine tiefere Sünden- und Selbsterkenntnis die alleinige Aufgabe und das Ziel eines Christen sei, damit er am Ende zu der gewissen Überzeugung komme, dass er nur aus Gnaden selig werden könne. Mehrere Ausdrücke und Redensarten, die sich schon lange unter den Gläubigen eingebürgert hatten, wurden auch bei mir in dieser Zeit das geheime Mittel, um das anklagende Gewissen zu beruhigen und den mahnenden und strafenden Geist zu dämpfen. Da hieß es unter dem Joche der Sünde: „Der Mensch ist hier in der Warteschule. Man muss alle Tage Buße tun. Ich kann nichts; ich kann mir keinen Glauben geben; wenn mir aber der Herr Glauben schenkt, will ich glauben, dass es eine Art hat. Ich will vom Tun nichts wissen; Christus hat alles getan; an Ihm soll man meine Frucht sehen.
Man muss sich kennen lernen, muss immer kleiner werden. Der neue Mensch tut keine Sünde, der alte Mensch sündigt immer. Der Apostel selbst sagt: „Ich bin fleischlich, unter die Sünde verkauft. Das Gute, das ich will, tue ich nicht, sondern das Böse, das ich hasse, tue ich. Ich sehe ein anderes Gesetz in meinen Gliedern, das da widerstreitet dem Gesetz meines Gemüts und nimmt mich gefangen in der Sünde Gesetz, welches ist in meinen Gliedern (Röm. 7, 14. 19. 23). Dem Apostel ward ja auch ein Pfahl ins Fleisch gegeben (2. Kor. 12. 7), und er bekennt: Ich sterbe täglich (1. Kor. 15. 31); und: nicht, dass ich es schon ergriffen hätte, oder schon vollkommen (vollendet) sei usw. (Phil. 3. 12).
Denn das Fleisch gelüstet wider den Geist und den Geist wider das Fleisch. Diese aber sind einander entgegengesetzt, auf dass ihr nicht das tut, was ihr wollt (Gal. 5. 17). Wer einmal erwählt ist, kann nicht verloren gehen. Alle Heilige sind große Sünder gewesen. Der Gerechte fällt täglich siebenmal" (Spr. Sal. 24. 16) usw. Mit diesen und noch vielen andern Ausdrücken wusste ich mein selbstgemachtes System zu verteidigen; war auch sehr geschickt, die Worte der Heiligen Schrift so Zange zu drehen und zu wenden und so zu vergeistigen, bis sie zu meinen Erfahrungen passten.. O der treue Herr hat große Geduld und Langmut ah mir bewiesen und meine Unwissenheit lange Zeit übersehen.
Ehe ich mit meinen Erlebnissen weiter fortfahre, will ich etwas näher auf die oben erwähnten Ausdrücke eingehen und mit wenigen Worten dartun, wie ich sie später nach anhaltendem Gebet und Forschen in der Heiligen Schrift erkannt habe.
Es ist wahr, wir sind hier recht in der Warteschule; es geht durch viel Trübsal ins Reich Gottes und ausharrende Geduld tut uns not, auf dass unser bewährter Glaube viel köstlicher erfunden werde, denn das vergängliche Gold, das durch's Feuer bewährt wird, zu Lob, Preis und Ehre, bei der Offenbarung Jesu Christi. Doch dem, der unter der Sünde liegt, heißt es nicht: Warte noch; bleib noch ein wenig liegen; sondern: „Heute, heute, so du Seine Stimme hörst, verstocke dein Herz nicht, und wache auf, der du schläfst und stehe auf von den Toten, so wird dich Christus erleuchten" (Eph. 5. 14). —
Unter dem Wort Buße versteht die Heilige Schrift nicht das katholische Büßen, eine Schuld selbst abtragen, nicht durch Schmerz und Reue über seine Sünden. Jesus allein hat unsere Schuld gebüßt. „T u e Buße" ist die einfache Aufforderung Gottes an jeden Menschen und heißt: Ändere deinen Sinn! Bekehre dich? Diese Sinnesänderung und Bekehrung ist aber bei einem jeden wahrhaft wiedergeborenen Menschen geschehen; er hat seine frühere Gemeinschaft in jeder Beziehung verlassen und lebt nun ganz in der Gemeinschaft Jesu Christi; wozu er auch berufen ist. — Der Mensch ist zu allem Guten untüchtig; er kann nichts. Das ist das Bekenntnis eines jeden Gläubigen. Dies muss er wahrhaftig erkannt haben, ehe er seine Hoffnung auf den lebendigen Gott setzt.
Als Kind des Glaubens hat er auf sich verzichtet. Wollte aber Jemand dieses Nichtskönnen auch auf den von Gott in ihm gewirkten Glauben ausdehnen, so würde er damit beweisen, dass er das Wesen des Glaubens nicht verstehe. „Alles ist möglich, dem, der da glaubt. „Der Glaube ist der Sieg, der die Welt überwunden hat" (1. Joh. 5, 4). „In dem Allen überwinden wir weit, durch Den, Der uns geliebt hat" (Röm. 8, 37). W i r können uns diesen Glauben selber nicht geben, darum hat Gott ihn in uns gewirkt (1. Kor. 2, 12) und unter uns den Gehorsam des Glaubens aufrichten lassen zur Verherrlichung Seines Namens (Röm. 1, 5). Wo aber kein Glaube ist, da ist Unglaube; da stehen wir nicht in der Gemeinschaft mit Christo, sondern mit dem Sichtbaren; wo sich dieser Glaube nicht im Leben und Wandel offenbart, wo er die Gesinnung Jesu Christi nicht beweist, ist er eitel und tot. Wir werden überall. zum Glauben aufgefordert und ermahnt, aber nirgends steht, dass er uns für eine Zeitlang entzogen werden soll. Gott ist es aber, der uns so ernstlich ermahnen lässt.
Weiter: Ich will vom Tun nichts wissen; Christus hat alles getan; an Ihm soll ich meine Frucht sehe n. Wir unterscheiden so wenig, was wir früher waren und was wir in Christo Jesu geworden sind. Früher Knechte der Sünde und jetzt Knechte der Gerechtigkeit; früher Verfluchte, unter die Sünde Verkaufte, Feinde Gottes; jetzt befreite, versöhnte und erlöste Kinder Gottes; früher tot in Sünden und Übertretungen, jetzt lebendig gemacht durch die Auferstehung Jesu Christi.
Als Gläubige dürfen wir bekennen, dass wir mit Christo gestorben, begraben und zu einem neuen Leben auferstanden sind; dafür dürfen und sollen wir uns stets halten, auf dass wir Gott leben; wir sollen Gutes tun und nicht müde werden; wir sind geschaffen in Christo Jesu zu guten Werken, und sollen reich daran sein. Dazu werden wir im ganzen Evangelium ermahnt; denn das ist die Liebe zu Gott, dass wir Seine Gebote halten und Seine Gebote sind nicht schwer (1. Joh. 5, 3). In Christo Jesu wohnt die ganze Fülle der Gottheit leibhaftig. Er ist uns gemacht zur Weisheit, zur Gerechtigkeit, zur Heiligung und zur Erlösung; und darum eben, weil wir in Ihm alles haben, weil Er unser Leben ist, weil Er in uns wohnt, leben wir Gott. Er ist in uns und wir in Ihm, darum soll sein Innewohnen, die Frucht Seiner Liebe und Gnade sich auch durch uns offenbaren, denn dadurch wird der Vater geehrt, dass wir viel Frucht bringen (Joh. 15. 8).
Man muss sich immer mehr kennen lernen und immer kleiner werden. Wer sich als verlorener Sünder in Wahrheit erkannt hat, gibt sich ganz auf und ergreift Jesum Christum im lebendigen Glauben. So lange er Ihn festhält, bekennt er, dass er außer Ihm kein Heil zu finden weiß und unsere Aufgabe, ja unser steter Kampf ist, in diesem Glauben zu beharren. Gewahren wir neue Bosheit und List des Satans, der Welt und unseres natürlichen Lebens, so ermahnt uns dies um so viel mehr zum Wachen und Beten.
Wer auf sich selbst verzichtet hat, der hat sich kennen gelernt, der hält sich für gering, ja für nichts. Das Leben in Christo befestigt ihn in dieser Erkenntnis. Man glaubt oft, dass man in der Selbsterkenntnis und in dem Kleinerwerden Fortschritte mache, während man doch nicht einmal dahin kommt, sich ganz aufzugeben und sich für nichts mehr zu achten, wozu wir doch ermahnt sind, und lernt also das köstliche Werk der Erlösung in Christo Jesu nie recht verstehen. —
Der neue Mensch sündigt nicht; der alte kann nicht anders. Der alte und der neue Mensch werden auch in der Heiligen Schrift streng geschieden. Sie haben keine Gemeinschaft untereinander. Bei dem wahrhaft Gläubigen lebte der alte Mensch einst, der neue jetzt; jener ist mit Christo gekreuzigt, auf dass der sündliche Leib aufhöre, damit wir hinfort der Sünde nicht dienen. Wo der neue Mensch lebt, muss jener abgelegt sein; wo aber bald dieser, bald jener lebt und regiert, da ist ein krankhafter Zustand, da ist der Glaube schwach und die Erkenntnis Jesu Christi und Seines Erlösungswerkes gering. Wer sich aber von dem Satan, der Welt und der Sünde, von seinem früheren Leben und der Gemeinschaft, der er jetzt abgestorben und mit Christo entschieden gegenüber steht, überrumpeln lässt, soll sich dadurch zu größerem Ernst und Anhalten im Wachen und Beten ermahnen lassen. Meine Kindlein, solches schreibe ich euch, auf dass ihr nicht sündigt.
Und wenn jemand gesündigt hat, so haben wir einen Fürsprecher bei dem Vater, Jesum Christum, den Gerechten (1. Joh. 2, 1). In Röm. 7. 14 heißt es: „Ich bin fleischlich, unter die Sünde verkauft." Kapitel 8, 8. 9: „Die aber fleischlich sind, mögen Gott nicht gefallen. Ihr aber seid nicht fleischlich, sondern geistlich, so anders Gottes Geist in euch wohnt. Wer aber Christi Geist nicht hat, der ist nicht Sein." — Hatte Gott keinen Gefallen an Paulus? Hatte dieser den Geist Gottes nicht? War er nicht Sein? In Kapitel 7, 15. 19 usw. lesen wir: das Gute, das ich will, tue ich nicht, sondern das Böse, das ich hasse, das tue ich usw. Kapitel 6, 2. 12. 14: „Wie sollten wir in der Sünde leben wollen, der wir abgestorben sind. So lasst nun die Sünde nicht herrschen in eurem sterblichen Leibe, ihr Gehorsam zu leisten in seinen Lüsten.
Denn die Sünde wird nicht herrschen können über euch, sintemal ihr nicht unter Gesetz seid, sondern unter der Gnad e". Predigte der Apostel Andern und war selbst verwerflich? Weiter in Kapitel 7, 23: „Ich sehe aber ein anderes Gesetz in meinen Gliedern, das da widerstreitet dem Gesetz meines Gemüts, und nimmt mich gefangen in der Sünde Gesetz usw." In Kapitel 8, 2 sagt der Apostel: „Das Gesetz des Geistes, der da lebendig macht in Christo Jesu, h a t mich frei gemacht vom Gesetz der Sünde und des Tode s" (Kapitel 6, 17.18):
„Gott aber sei Dank, dass ihr Knechte der Sünde gewesen seid usw. Nun ihr aber frei geworden seid von der Sünde; seid ihr Knechte der Gerechtigkeit geworden". (Kapitel 7, 6): „Nun aber sind wir von dem Gesetze los, und ihm abgestorben, das uns gefangen hielt usw." Sobald man in Nüchternheit und ohne Vorurteil die drei angeführten Kapitel prüft, so wird man finden, dass der Apostel im siebenten Kapitel durchschnittlich nur von dem Menschen gegenüber dem göttlichen Gesetze redet und nicht von sich oder überhaupt von einem wahrhaft Gläubigen.
Mit dem Pfahl im Fleische des Apostels habe ich mich oft getröstet, und dachte, es müsse darunter wohl die Sünde verstanden sein, unter welcher ich am meisten seufzte. Es fiel mir aber nicht einmal ein, dass ich zu dieser Erklärung gar keinen Grund in der Schrift hatte, um so weniger, da mir so hohe, außerordentliche Offenbarungen nicht geworden waren, deren ich mich überheben konnte; ich dachte auch nicht daran, dass so viele ihre Hauptsünden mit diesem Pfahl entschuldigten. Doch so viel weiß ich jetzt, dass alle Worte des Apostels keinen Raum geben für die Auffassung dieser Stelle, als habe er unter irgend einer Sünde noch gefangen gelegen.
Das Wörtchen: „Ich sterbe täglich"; was ich oft verkehrt anwandte und vergeistigte, hat beim genauem Durchlesen keinen andern Sinn, als wie es (Röm. 8, 36) ausgedrückt ist: „Um deinetwillen werden wir getötet den ganzen Tag; wir sind geachtet wie Schlachtschafe." —
Im dritten Kapitel des Briefes an die Philipper, wo der Apostel im 12. und 13. Verse bekennt, dass er es noch nicht ergriffen habe oder schon vollkommen (vollendet) sei, müssen wir vor allen Dingen wissen, was er denn zu ergreifen suchte. Dies drückt der Apostel in Vers 11 und 12 aus: „Ob ich möchte entgegen kommen zur Ausauferstehung der Toten". „Und jage nach dem vorgesteckten Ziel, nach dem Kleinod der himmlischen Berufung Gottes in Christo Jesu". An der ersten Auferstehung, an der Auferstehung der Gerechten, wünscht der Apostel Teil zu haben, dazu er auch von Christo ergriffen ist.
Das ist das Ziel seiner Wünsche und Hoffnungen; dort findet er das Kleinod seiner Berufung, die Krone der Gerechtigkeit; da den Lohn seiner Mühe und Arbeit; an dem Tage verwandelt sich der kämpfende Glaube in ein seliges Schauen. Dies Ziel hat er noch nicht erreicht, den Lauf bis dahin noch nicht vollendet; aber er arbeitet mit allem Ernst, es zu erreichen; er vergisst Alles und wirft Alles von sich, um nur dahin zu gelangen; er gibt sich ganz ihm hin und ermahnt auch die Philipper zu gleichem Ernste mit den Worten Vers 15: „Wie viele unser nun vollkommen sind, lasst uns also gesinnt sein. —"
Was nun die Stelle betrifft, die der Apostel an die Galater, die zum Teil Christum verloren hatten und von der Gnade abgefallen waren, schreibt: „Denn das Fleisch gelüstet wider den Geist und den Geist wider das Fleisch. Dieselbigen sind wider einander, dass ihr nicht tun könnt, was ihr auch wollt" (Gal. 5. 17), so braucht man zur rechten Anwendung und Auffassung nur Vers 16 und 18 zu lesen: „Ich sage aber: Wandelt im Geist, so werdet ihr die Lüste des Fleisches nicht vollbringe n. Regiert euch aber der Geist, so seid ihr nicht unter Gesetz." Wer in Christo lebt, ist frei; wer ohne Ihn kämpft, bleibt gefangen und ein Knecht der Sünde. —
Die Erwählung in Christo Jesu vor Grundlegung der Welt ist eine Wahrheit, die niemand antasten darf. Wenn wir sie recht verstehen, so beugt sie uns in den Staub und drängt uns zu]. Ehre und Anbetung unseres Gottes; aber nie darf sie zu einem Ruhekissen unseres Fleisches werden; und uns taub gegen alle Ermahnungen des Geistes machen.
Alle Heilige sind große Sünder gewesen. Das ist wahr; sie sind nur als Gottlose gerecht geworden. Es ist auch wahr, dass einige Männer Gottes tief gefallen sind. Lesen wir aber solche Mitteilungen in der rechten Weise, so bemerken wir überall die große Barmherzigkeit und den Ernst Gottes. Es ist uns solches zum Trost und zur Warnung geschrieben; aber sehr oft habe ich mich leichtsinniger Weise dadurch beruhigt und. meine Sünden entschuldigt. „Sollten wir aber, die da suchten, durch Christum gerecht zu werden, auch noch selbst als Sünder erfunden zu werden, so wäre Christus ein Sündendiener. Das sei ferne?" (Gal. 2, 17). Diese Worte sind wohl zu beherzigen. —
Der Spruch Salomos: „Der Gerechte fällt täglich siebenmal", hat mir auch oft einen falschen Trost bereitet, bis ich endlich diese Stelle einmal selbst las; sie heißt: „der Gerechte fällt siebenmal und steht wieder auf; aber die Gottlosen versinken im Unglück." Da fand ich denn, dass da nicht vom Sündigen, sondern vom Unglück die Rede war und dass das Wörtchen täglich gar nicht da stand. —
Jetzt will ich zu der Mitteilung meiner weiteren Erfahrungen zurückkehren.
Es verflossen mehrere Jahre und es fiel mir nicht einmal ein, zu denken,' dass ich in meinem Glauben nicht recht gesund Und fest stände. Ich hatte einen tiefen Blick in mein Verderben getan und täglich gewahrte ich neue Seiten der Bosheit meines Herzens. Ich wusste, dass allein in Jesu Heil und außer Ihm nur Sünde und Ohnmacht war. Und wenn oft, niedergeworfen durch Betrug und Macht der Sünde, meine selbstgemachten und von anderen gehörten Trostgründe nicht mehr haften wollten, so warf ich mich zu den Füßen Jesu, und trotz meines unwürdigen Wandels vor Ihm, hat Er Seine Gnade nicht von mir genommen.
Ich preise jetzt Seine große Liebe und Geduld, welche die Zeit meiner Unwissenheit übersehen hat; die Zeit, wo ich so wenig mit Ernst in Seinem uns geoffenbarten Worte forschte, wo ich so oft Seinen Geist betrübte und Dessen Ermahnungen kein Gehör gab. Was mir zunächst die Augen öffnete, waren die Worte: „Du hast noch nicht mit der Sünde in Wahrheit gebrochen; du hast dich noch nicht selbst aufgegeben." Das schrieb der Geist tief in mein Herz, so dass es mich immer verfolgte. Ich fühlte, welch einen Hass ich gegen die Sünde und mich selbst hatte, welch furchtbare Kämpfe ich durchgemacht und nun sollte ich noch nicht gebrochen und mich noch nicht selbst aufgegeben haben? Ich will hier nicht weiter darauf eingehen, in welch ein Meer von Anklagen und Entschuldigungen ich geriet; nur will ich das Resultat meiner Betrachtungen und Gebete in wenigen Worten mitteilen.
Ich entdeckte bei allem Kampf wider die Sünde doch noch eine verborgene Lust zu derselben und eine geheime Liebe zu ihrer Gemeinschaft; ich sprach von meiner Verderbtheit und Ohnmacht des Fleisches, ich wußte dies bei Andern, besonders wenn diese so etwas gern zu ihrem eigenen Troste hörten, ins grellste Licht zu stellen und dennoch war ich nicht bereit, mich selbst zu verleugnen und von mir abzulassen; ich erkannte, dass die Welt verging mit all ihrer Lust, und dennoch wollte ich nicht allem absagen und alles verlassen, woran das Herz von Natur gehangen; ich bekannte, dass in Jesu die Reinigung, die Kraft und der Sieg wider alle Unreinigkeit und alle Feinde liege, und doch hatte ich nicht Lust, durch Glauben und Geduld in Seiner Gemeinschaft zu beharren.
Diese und ähnliche Wahrheiten waren mir auch früher oft durch den Geist vorgehalten worden, aber immer wieder hatte ich sie durch allerlei Scheingründe, wie die oben angeführten, zu dämpfen gesucht; wozu ich auch ein volles Recht zu haben glaubte. Doch jetzt konnte ich dies nicht mehr, denn ich erkannte, dass ich zu teuer erkauft war. Ich fing an, fleißig in der Schrift zu forschen; lange konnte ich über das 6. und 8. Kapitel des Briefes an die Römer nicht wegkommen. Ich las sie immer wieder und unter viel Gebet; meine Vorurteile schwanden nach und nach und dieser Abschnitt war es, der großes Licht auf mein bisheriges geistliches Leben verbreitete. Ich suchte und forschte dann immer weiter und am längsten verweilte ich bei der 1. Epistel Johannes.
Es war mir in diesem Briefe alles so neu und fremd, dass ich bei jedem einzelnen Verse stehen bleiben und um Erleuchtung und Aufschluss durch den Heiligen Geist bitten musste. Bald konnte ich diesen, wie auch den Römerbrief auswendig; es war mir, als sei ich zu einem neuen Leben erwacht. Jetzt erst konnte ich mit dem Psalmisten singen: „Herr, dein Wort ist meines Fußes Leuchte und ein Licht auf meinem Wege; dein Wort ist köstlicher denn Gold und viel feines Gold und süßer denn Honig und Honigseim!" Nun erst verstand ich, dass Jesus Christus nicht allein um unserer Sünden willen dahin gegeben, sondern auch um unserer Gerechtigkeit willen auferweckt ist.
Er wurde um meinetwillen angesehen als der Übeltäter und musste sterben, und ich werde nun um Seinetwillen als der Gerechte betrachtet und lebe. Denn Gott hat Den, der von keiner Sünde wusste, für uns zur Sünde gemacht, auf dass wir würden in Ihm die Gerechtigkeit, die vor Gott gilt (1. Kor. 5. 21). „Der selbst unsere Sünden an seinem Leibe getragen hat an das Holz; auf dass wir, den Sünden abgestorben, der Gerechtigkeit leben sollen; durch dessen Wunden ihr heil geworden seid" (1. Petri 2. 24). Es ist mein Trost, meine Kraft und die Freude meines Glaubens, dass Jesus auferweckt ist und sitzet zur Rechten Gottes und vertritt mich.
Mein Leben ist mit Ihm in Gott verborgen; durch den Glauben stehe ich mit Ihm in der innigsten Gemeinschaft, verbunden durch das Band des Geistes und der Liebe. Er lebet in mir, und wenn Er wiederkommt, werde ich Ihn sehen, wie Er ist und Ihm gleich sein. Mit großem Verlangen harre ich auf den Tag Seiner Ankunft, auf das Ziel meiner Hoffnung, auf das Kleinod meiner Berufung in Christo Jesu. Preis aber und Ehre und Anbetung sei dem Gott, der Sich meiner so herzlich angenommen, der uns eine so vollkommene Erlösung geschenkt hat in Seinem eingeborenen Sohn, unserm Herrn und Heiland.
Vor einer Reihe von Jahren ging ich eines abends in ein Dorf, um daselbst Gottes frohe Botschaft zu verkündigen. Da ich noch ein Stündchen Zeit hatte bis zur Versammlung, machte ich bei einer mir bekannten Familie einen Besuch. Kaum hatte ich dort Platz genommen, als der etwa siebzehnjährige Sohn des Hauses von seiner Arbeit aus der Fabrik zurückkehrte. Ich kannte ihn, dass er Gottes Wort nicht liebte und darum auch nicht das Volk Gottes, deshalb auch nicht sonderlich erbaut sein konnte, mich zu sehen. Nachdem er sich Hände und Gesicht gewaschen, setzte er sich an sein Abendbrot, an ein einfaches Mahl aus Kartoffeln und «Dickmilch», das ihm trefflich mundete, ohne dass er jedoch das Bedürfnis gefühlt hätte, Gott für die Gaben zu danken. Es war indessen ein wahres Vergnügen zu sehen, mit welch regem Appetit der kräftige Bursche zugriff; und ich dachte bei mir, welch köstliche Gabe Gottes doch die Gesundheit sei und wie wenig doch Gott dafür gedankt wird.
«Es schmeckt Ihnen wohl recht gut?» sagte ich nun nach einigen Minuten zu dem wackren Esser. «0 ja!» entgegnete dieser lebhaft, «wenn man den ganzen Tag tüchtig gearbeitet hat, dann schmeckt's am Abend ganz vortrefflich.» Er sagte dies mit einem besonderen Ton» woraus ich schliessen konnte, dass er den mühevollen Beruf eines Evangelisten für eitlen Müssiggang hielt; doch entgegnete ich nichts darauf, tat vielmehr einige Fragen über seine Arbeit in der Fabrik, auf die er mir auch ordentlich Bescheid gab.
Alsdann fragte ich ihn weiter: «Haben Sie nun auch heute schon einmal an Gott gedacht?» Ich bemerkte, er schlug die Augen nieder, als er mir zögernd antwortete: «Nein!» «0», sagte ich, «wie gut, dass aber Gott an Sie gedacht hat. Denken Sie einmal» Gott hätte Sie heute vergessen, wo würden Sie jetzt sein? Er ist es, der Sie in Ihrer gefahrvollen Arbeit bewahrt hat, hat Ihnen Leben und Odem erhalten und die Gesundheit. Ohne Seine Güte würde es Ihnen auch jetzt nicht so gut schmecken. Und was haben Sie getan? Für alle Seine Güte haben Sie Gott noch nicht einmal gedankt. Schon aus dieser Undankbarkeit müssen Sie erkennen, dass es wahr ist, was Sie von früher Jugend an gehört haben, dass Sie ein Sünder sind vor Gott.
Und nicht allein ist Ihr Herz bis heute undankbar gewesen; wie viel Böses mag der gütige Gott an dem einen Tag allein bei Ihnen wahrgenommen haben! Auch hat Er alle Ihre Sünden gesehen, die Sie je bei Tag und Nacht getan. Nun denken Sie sich doch nur, wo wird das Ende Ihres Weges sein, wenn Sie so vorangehen? Ich bitte Sie, erwägen Sie dies doch!» Dann reichte ich ihm die Hand und verabschiedete mich, um in die Versammlung zu gehen.
Nach ungefähr vier Wochen führte mich der gleiche Zweck, das Evangelium zu verkündigen, in das Dorf. Als ich in die Nähe der ersten Häuser kam, kam ein junger Mann auf mich zu, um mich abzuholen. Da es schon etwas dunkel war, erkannte ich ihn nicht. Er aber sagte: «Sie kennen mich wohl nicht mehr? Ich bin jener junge Mann, dem heute vor vier Wochen bei Ihrem letzten Hiersein die Kartoffeln so gut schmeckten; und ich kann Ihnen zu Ihrer Freude mitteilen, dass Gott Ihre Worte von jenem Abend gesegnet hat; ich habe Frieden mit Gott».
Dann erzählte er mir, welchen Eindruck die Worte auf ihn gemacht, wie er mir im Innern hätte recht geben müssen, wie er sich gesagt hätte: «Ja, so böse und undankbar bist du wirklich!» Er habe sieh aber gleich vorgenommen, sieh zu bessern. Seine guten Vorsätze habe er indessen bald wieder vergessen; nur wenn er am Abend nach Hause gegangen, sei ihm alles wieder eingefallen, und er habe sich dann immer recht elend gefühlt und sich dann jedesmal neu sagen müssen: «Heute, wie immer, böse und undankbar!» So seien mehrere Tage vergangen mit immer neuen guten Vorsätzen, aber ohne Erfolg. Seine Unruhe sei darum immer grösser geworden, sodass er den Tag über mit Furcht an den Abend gedacht hätte.
Ja, er hätte sieh schliesslich lieber hungrig zu Bett legen wollen, als wieder seinen gewohnten Platz am Tisch einzunehmen, um sein Abendbrot zu essen; denn dann sei ihm besonders sein sündhafter Zustand vor die Augen getreten. Zuletzt sei er wegen der Undankbarkeit und Bosheit seines Herzens an sich verzweifelt und habe sich um Gnade und Erbarmen zum Heiland gewandt, der für Gottlose gestorben ist; so sei er glücklich geworden, ja er sei gewiss, dass Jesu Blut auch alle seine Sünden abgewaschen habe und ihm nun gewisslich auch die Kraft geben würde, für Gott zu leben.
Jahre sind seitdem verflossen, und aus dem einstmaligen undankbaren und bösen Jüngling ist ein Mann geworden, der bis heute noch ein Zeugnis für die Gnade und Wahrheit des Herrn ist. Durch Gottes Gnade hat er nun schon viele Jahre mit denen gewandelt, die die Erscheinung des Herrn lieb haben.
Eine Lebenserinnerung
Der berühmte Maler Ludwig Richter teilt folgenden Fall mit, den er als junger Mann auf seiner Reise nach Rom im Jahre 1823 in Salzburg erlebt hat: «Bei schlechtem Wetter sass ich eines abends in meinem Stübchen; mein Wunsch, einen Reisegefährten zu finden und all mein Suchen darnach war vergebens gewesen, und verstimmt darüber war mein Entschluss gefasst, am andern Morgen allein weiter zu reisen; da klopfte es an meine Türe. Auf mein «Herein» trat ein Mann ein, der bereits in den Fünfzigen sein mochte, eine gedrungene, breite Gestalt, sehr sauber in seiner Kleidung und mit einem Gesicht, auf welchem Tüchtigkeit und ehrenhaftes Wesen geschrieben stand. Er erzählte, er komme von Triest und wolle nach Holland zu Frau und Kind. Er sei Steuermann auf einem holländischen Fahrzeuge, welches Schiffbruch gelitten habe; und zur Bestätigung des esag-teil legte er mehrere Zeugnisse von dcxi betreffenden Behörden vor.
Der Mann hatte für mich etwas Anziehendes in seiner festen, ruhigen und bescheidenen Weise, und so gab ich ihm auch gern ein paar Zwanziger, was in Betracht meiner schwachen Kasse viel genannt werden konnte. Er dankte, nahm seine Papiere wieder zusammen, sah mich mit einem dankbaren Blick an, als möchte er mir auch etwas Liebes erzeigen, und sagte: «Ich habe einen laugen Weg vor mir, aber ich habe einen guten Reisegefährten t» - «0, das ist ja ein Gluckt» erwiderte ich lebhaft, im Gefühl, dass ich einen solchen schmerzlich entbehrte «Wer, ist es denn?» -
«Es ist unser Gott und Herrselber; und hier» - er zog ein kleines Neues Testament aus der Brusttasche - «hier habe ich Seine Worte, wenn ich mit Ihm rede, so ant-wortet Er mir daraus. So wandere ich getrost, lieber junger Herr -,Nochmals dankte er und ging. Mich aber hatte die Rede wie ein Pfeil getroffen, und ein Stachel davon blieb in meinem Herzen sitzen. Ich hatte an Gott nicht ge-. dacht, für mich war Er eine ferne, unbestimmte Macht, und dieser arme Mann sprach so, als keime er Ihn recht wohl, als stehe er in lebendigem Verkehr mit Ihm, woraus ihm ein so getroster Mut, eine so freudige Zuversicht erwuchs. Sein kleiner Schatz, das Bächlein von unnennbarem Werte war mir völlig fremd; •ich hatte ja nie eine Bibel gelesen«»
Welche unendliche Bedeutung diese kleine Begebenheit auf die Entwicklung des innern Lebens von Ludwig Richter gehabt, das teilt uns der Künstler selber, mit Er wurde vom Tod zum Leben geführt durch die Wiedergeburt Gottes Wort und-Heiliger Geist haben ihn zu Jesu gezogen; und «ist jemand in Jesus Christus, da ist eine neue Schöpfung; das Alte ist vergangen, siehe, alles ist neu' geworden.
'Der reiche Kombauer Lukas 12,13-21
Eines Tages kam ein Mensch zum Herrn Jesus mit der Bitte, ihm in einem Erbteilungssti eit zu hellen, aber der
- Herr bedeutete ihm, dass Er damit nichts zu tun haben wolle. Mit. Recht, denn Er erkannte, dass Habsucht der Beweggrund der Bitte war; aber der Herr hatte mit den mate-riellenDingen dieser Welt und Zeit nichts zu tun Es sind in Wahrheit nur Fesseln, womit Satan die Menschen gefangen halt Vielmehr war der Herr gekommen, um die Seelen von diesen Fesseln -zu befreien und ihnen den Weg zum. Himmel zu zeigen und zu bahnen Deshalb antwortet der Herr dem Fragenden mit einem Gleichnis, welches den wahren Wert der irdischen Dinge, vor allem des Mammons, treffend dartut. ‚Er schildert 'einen Grundbesitzer, welcher 'eine Rekord-Ernte gemacht hatte, aber nichts anderes damit zu tun weiss, als sie f il r sieh aufzuhäufen,' seine Speicher damit füllend..
Dieser Mann dachte nicht im geringsten 'daran, dass Gott im Himmel ihm diese reiche Ernte geschenkt und dass er Ihm deshalb zu danken hätte und auch als Zeugnis seiner Dankbarkeit 'einen gefällten Korb hätte darbringen sollen. Er dachte auch nicht daran, von seinem Ueberfluss denen zu geben, die Mangel hatten Nein, er hamstert nur für sich selber. Auch denkt er nicht an 'die Möglichkeit, dass er plötzlich abgerufen werden konnte und alles zurücklassen müsste, da' er ja nichts ‚mitnehmen konnte 'und leer und bloss vor dem Richterstuhl des Christus erscheinen musste Eben diesen Fall setzt der Herr voraus,' um darzutun, was ‚irdische Güter, nach dem unfehlbaren Mass Gottes gemessen, wert sind - nur vergängliche Guter, ohne Ewigkeitswert. Würde er von seinem Ueberfluss Gott gegeben, d. h. zum Besten seiner Mitmenschen verwendet haben, so wurde ihm dies zum himmlischen Lohn angerechnet worden
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sein. Auch lili- seine Seele hatte er nicht vorgesorgt, so stand er vor dem Richterstuhl Gottes mit - fl i c h t s
Ach, wie viele gleichen diesem reichen Narren auch in der Christenheit, und dies gerade kurz vor dem Kommen des Herrn, da Er erscheinen wird in den Wolken des Himmels! Jakobus schildert diese Tatsache, die er ausdrücklich auf das Ende der Tage bezieht, recht anschaulich und mit tiefem Ernst, sowohl die selbstsüchtige Gesinnung dieser Reichen, als auch ihr Gericht (Jakobus 5, 1-6). In der Tat, heute erleben wir es immer wieder, nicht nur was Jesus hier andeutet, sondern, dass tatsächlich «Gold und Silber verfault und verrostet», d. h. durch politische Ereignisse, Kriege, Spekulation und Katastrophen ihren Wert verlieren. Es bleiben nur noch wertlose Papiere übrig, auf denen wie zum Hohn der nominelle Wert weiter prangt. Dies meint ohne Frage Jakobus, darum fügt er bei, dass dies in der Seele brenne wie ein Feuer. Vom Reichtum, auf den man sein ganzes Sinnen und Rechnen gesetzt hat, bleibt nichts mehr. übrig, als der leere Name.
Darum hat derjenige recht, der sich sagt: «Das, was ich dem Herrn gebe, sei es direkt für Sein Werk, oder an bedürftige Mitmenschen in Seinem Namen, dies ist allein wirklicher Besitz, denn er bleibt zum ewigen Gewinn». Auch bleibt Gott niemanden etwas schuldig. Was man Ihm gibt, vergilt Er reichlich. Wir werden dabei niemals Mangel haben und dazu ungemessenen Segen in geistlichem Sinn empfangen.
Gott lässt sich nichtspotten!
Ein gottesfürchtiger Kohlengräber in E. glaubte dem heiligen Worte Gottes, . so auch der Bibelstelle: «Denen, die Gott lieben, müssen alle Dinge zum Besten dienen». So kam es auch, dass man diese Worte öfters hören konnte in Kampf und den Mühen des wechselvollen Lebens, Seine Arbeitskollegen hatten es auch schon öfters aus seinem Munde vernommen, aber sie verachteten Gottes Wort.
Eines Tages, als er im Begriff stand, mit seinen Kameraden in die über fünfhundert Meter tiefe Grube zu fahren. ergriff ein Hund sein wohleingewickeltes Frühstück, und er musste, wollte er nach saurer Arbeit nicht hungern, hinter dem Hunde herlaufen, um es ihm abzujagen. Der Obersteiger konnte aber nicht mehr warten, und hinunter ging es lii die Tiefe, wobei di& Bergarbeiter dem hinter dem Hunde Herlaufenden im Spott zuriefen: «Alle Dinge müssen zum Resten dienen!»
Ja, der Vorfall hat ihm zum Besten . gedient, denn die ganze Mannschaft .kam nicht mehr lebend aus der Grube; das Seil des Förderkorbes riss und sie stürzten in ihm hinab in die Tiefe. Ja, Gott lässt sich nicht spotten.
Feurige Kohlen
Als ein pommerscher Bauer an einem dunklen Abend, in seine Scheune kam; um zu sehen, ob alles in Ordnung sei, früf er hier einen Mann, der damit beschäftigt war, einen Sack mit Korn zu fällen. Als der Mann mit seinem vollen Sack die Scheune verlassen wollte; trat er ihm entgegen. Der Mann liess vor Schreck seinen Sack fallen. Der Bauer aber bedeutete ihm, den Sack wieder auf den Rücken zu nehmen und ihm zu folgen. Stumm und verlegen folgte er dem Bauer, nichts anderes denkend, als dass der Bauer mit ihm
Es ist schon längere Zeit her, als eine alte Chinesin müde und gebückt nach der Stadt Huang-yen wanderte Sie wohnte ungefähr dreißig Kilometer von der Stadt entfernt in einem kleinen Dorfe, wo ihr Mann Polizeidiener war. Als fromme Buddhistin hatte sie alles versucht, um für ihre Seele Frieden zu finden, aber vergeblich. Sie hatte manche Wallfahrt nach berühmten Heiligtümern gemacht und sich redlich mit tausenderlei religiösen Verrichtungen abgeplagt, aber' ihr Herz war unglücklicher denn je. Nun kam das Alter, und wenn all ihre Kasteiungen und Bußübungen nichts fruchteten, was soll dann mit ihr geschehen)
Heute nun war Markttag in Huang-yen, da hatte sie manches zu besorgen Als sie mitten unter den Leuten auf dem Markte stand, horte sie auf einmal von den «Jesus-Leuten» reden und von Missionaren, welche diese neue Lehre verkündigten. Die Missionare hatten vor kurzem in der Stadt eine Station gegründet. Sie lauschte dem Gespräch eine geraume Weile und wurde bestärkt in dem Gefühl: «Ich muß zu diesen Jesus-Leuten gehen.
» Sie fragt nach deren Station und eilte so schnell sie konnte und ihre alten Fuße sie zu tragen vermochten, in die bezeichnete Straße. Dort wurde sie von dem eingeborenen Missionar Tschu Sienjeng freundlich aufgenommen Er merkte bald, daß er es mit einer tiefbetrübten. Seele zu tun hatte und machte sie mit der wunderbaren Liebe Gottes bekannt und dem vollbrachten Erlösungswerk des Herrn. Jesu. «Du brauchst nichts mehr für deine Errettung zu tun, Lao-Nai-Nai, der Herr Jesus hat schon alles für dich getan. Im Kreuze findest du volle Erlösung und. Frieden für deine Seele«, erklärte ihr Tschu Sienjen. Das war wirklich Balsam für ihre heilsverlangende Seele Wie verwundert und wie beglückt war die arme Alte, als . sie hier zum erstenmal in ihrem Leben hörte, daß man ohne Geld und ohne Kaufpreis, ohne schwere Werke und ohne Mar-
tyrium, frei und umsonst Vergebung der Sünden .und das ewige Leben erlangen kann. Voll Glück und Frieden kehrte Lao-Nai-Nai in ihr Dorf zurück.
Bald darauf durfte sie eine wunderbare Erfahrung davon machen, wie der große Gott, den sie kennengelernt, mächtig ist zu helfen. In dem Landbezirk, für den ihr Mann verantwortlich war, wurde ein Mord verübt. Der Verbrecher entkam und konnte nicht ausfindig gemacht werden. Der Mandarin wurde deshalb sehr erzürnt und verhängte über den Polizeibeamten, den Gatten unserer Lao-Nai-Nai, eine Strafe, weil derselbe, wie er meinte, den Verbrecher hatte laufen lassen. <'Laßt ihn den Mörder suchen», rief er wütend, <'und verhaftet unterdessen seinen Sohn, bis der Uebeltäter selbst gefunden ist!»
So wurde der einzige Sohn des armen, alten Elternpaares, ein hoffnungsvoller, braver junger Mensch ins Gefängnis geliefert und ihm sogar die Todesstrafe angedroht, wenn der eigentliche Uebcltäter nicht bald zum Vorschein käme. Zu diesem letzteren war nun gar keine Aussicht, und so brach den armen alten Leuten fast das Herz. Tief betrübt wanderte die Mutter nach Huang-yen, um sich bei dem Missionar Trost zu holen. Als er ihre Sache hörte, sagte er: «Liebe Frau, es steht uns kein anderes Mittel zu Gebote, als uns mit dieser Not an den großen Gott und Vater im Himmel zu wenden; Er hat die Herzen aller Menschen in Seiner allmächtigen Hand; Er kann auch das Herz des Mandarins lenken, daß er deinen Sohn los gibt.
'> Dann betete er in aller Einfalt und Zuversicht mit ihr uni die Freilassung des Sohnes. '<So, Lao-Nai-Nai», sagte er dann, «jetzt haben wir die Sache in Gottes Hand gelegt. Geh' nun nach Hause, gehe in Frieden! Deinen Kummer, dein Anliegn hast du jetzt dem Herrn übergeben, da mußt du es nun auch lassen.>' Völlig getröstet ging Lao-Nai-Nai davon, und als sie in ihrem Dorfe ankam, erzählte sie voll Freude, ihr Sohn werde bald aus dem Gefängnis befreit werden. Die Nachbarn, die den harten und ungerechten Mandarin kannten, glaubten ihr das natürlich nicht, warteten, aber doch neugierig den Ausgang der Sache ab.
Als jedoch nach wenigen Tagen wirklich der Mandarin den jungen Mann, nachdem er ihn fast zu Tode geprügelt, freiließ, kannte ihre Verwunderung keine Grenzen. Die dankbare Mutter indessen kniete inmitten der aufgeregten Bekannten mit ihrem Schrie nieder und dankte dem großen Gott, ihrem guten Gott und Vater, öffentlich für Seine wunderbare Erhörung und Rettung. Die Nachbarn bekamen nun auch Verlangen, das Evangelium zu hören, und Gott segnete es. -
Aus <'Geschichte der China-Inland-Mission».
Ein Gewitter im Gebirge
Zwei Kinder spielten am Abhang eines Berges, als ein schreckliches Gewitter losbrach. Bald darauf begann es auch zu schneien und tiefer Schnee bedeckte in kurzer 'Zeit die Erde, so daß die Kinder die Wegrichtung verloren und sich verirrten. Schließlich wurde es derart kalt, daß sie nicht weitergehen konnten. Durchnäßt und vom Schlaf überwältigt legten sie sich an einen Felsblock geschmiegt nieder, der ihnen ein wenig Schutz bot. Vor dem Einschlafen sagte der jüngere zu seinem Bruder:
«Beten wir, so wie wir es bisher jeden Abend getan haben!»
Beide knieten nieder und begannen zu beten. In demselben Augenblick ging nahe an der Stelle, wo sich die Kinder befanden, ein Mann vorüber. Da er fürchtete, sich in der Nacht zu verirren, beschleunigte er seine Schritte, um bald sein Haus zu erreichen, hatte aber heftig gegen Wind und Schnee zu kämpfen; da hörte er in nächster Nähe eine sanfte Stimme sprechen. Er blieb stehen, horchte und folgte der Richtung, aus welcher die Stimme herkam. Und gleich darauf entdeckte er die vor Kälte fast erstarrten Kinder.
Er nahm sofort das, kleinere der beiden Kinder auf seinen Arm und führte das andere an der Hand. Nach kurzer Zeit mußte er aber beide Kinder tragen, weil auch das ältere vor Kälte nicht mehr zu gehen imstande war.
Unter einer solchen Last konnte er nur ganz langsam vorwärts kommen, begegnete aber glücklicherweise dem Vater der Kinder, der sich mit einer Laterne versehen hatte und sie zu suchen ausgegangen war. Welch eine glückliche Begegnung! Alle dankten Gott an diesem Abend, daß der Retter die Stimme des kleineren Knaben gehört hatte, als er vor dem Einschlafen betete.
Aus der Dunkelheit zum Licht
«Begraben im Schutt der Augenlust und Eitelkeit», so erzählt uns eine Freundin, «lag immer ein stiller Zug zu Gott in meinem Herzen, denn treue Muttergebete hauen meine Kindheit umhegt, und sie war mir ein Vorbild gewesen, diese gute Mutter, der ich treuer hätte nachfolgen sollen. Abe'r zunächst war ich darauf aus, die Welt zu sehen und zu geniessen. Ich ging als Erzieherin nach England und fand sehr angenehme Stellung und viel freie Zeit, lernte die Großstadt kennen mit all ihrem bunten Leben und Treiben, vertiefte mich in Kunst und Wissenschaft, fatid aber auch liebe, ernste Freunde, die einen tiefgreifenden Einfluß auf mich ausübten. Eine liebe Dame besonders war's, eine entschiedene freundliche Christin, die mich oft
einlud und mir viel erwies.
«Kind», sagte sie einmal und schaute mich so ernst und eindringlich an, «Kind, ich möchte es dir doch so gerne wün$hen, daß du eine wahre Christin würdest!»
«Wie? Sie meinen, das sei ich nicht? Ich gehe doch oft zur Kirche und tue doch wirklich nichts Böses?»
«Wohl, aber wenn ich deine Eitelkeit sehe, dein ganzes Wesen und Leben betrachte. .
Ich war ihr erMtlich böse und wollte sie nicht wieder besuchen, wenn sie nur nicht so gut, so herzensgut gewesen wäre! Sie brachte mich doch zum Nachdenken. ich wollte gerne fromm und gut werden und brachte es aber nicht fertig. Oft nahm ich mir morgens vor, während ich mir die Locken brannte und ausgedehnte Toilette machte: «Heute willst du einmal ganz für Gott leben», und wenn ich dann abends mein Tagewerk überblickte, war wieder mit allem nichts geworden und ich fühlte mich sündig, unrein und unglücklich.
Da wechselte ich meine Stellung und wurde Reisebegleiterin bei einer anderen Dame. Sie war vornehm, klug und liebenswürdig, an Mitteln fehlte es nicht, nichts brauchte sie sich zu versagen. An Gott und den Himmel glaubte sie nicht, sie wollte sich den Himmel auf Erden schaffen. Wir reisten durch Frankreich, die Schweiz und Italien und ich sah ein herrlich Stück Gottesnatur. Dann gings nach Spanien. Mir aber wuchs trotz allen Lebensgenusses still und tief im Herzen die Sehnsucht nach Gott. Ich liebte die grossen spanischen Kathedralen und flüchtete mich gerne in ihr geheimnisvolles Halbdunkel; all die bunten Sehenswürdigkeiten liessen mich unberührt ich versuchte zu beten - o, hätte ich's nur gekonnt!
Aber «Gott wohnt nicht in Tempeln mit Menschenhänden gemacht«. Dann fuhren wir von Gibraltar hinüber nach Marokko. Es war ein zauberhaftes land und jeder Tag brachte neue Eindrücke. Aber was ich suchte, fand ich nicht. Eines Abends vor Sonnenuntergang stand ich allein auf der Veranda unseres Hotels; in purpurner Glut sank die Sonne im Westen ins Meer und beleuchtete tausendfarbig den stillen Hafen mit seinen vielmastigen Schiffen, die Stadt mit ihen vielen Türmen, die Felsen, die weite feierliche See.
Es war mir so wunderbar, so heimwehvoll zu Mut und meine Seele spannte ihre Flügel aus, der unbekannten Ewigkeit entgegen. Da trat aus einem Hause ein Araberjunge heraus in langem weißen Gewand, der Ausdruck seines Gesichtes war ernst und voll echter Andacht, und er warf sich in dem kleinen Hofraum zum Gebet nieder, das Antlitz nach C*ten gewandt. Die letzten Sonnenstrahlen vergoldeten seine jugendliche Gestalt. ich wußte, er betete wirklich zu seinem unbekannten Gott, und ich eine «Chri-
stin», die soviel vom wahren Gott wußte, von Jugend an auf Jesus hingewiesen war, konnte nicht beten Ein bitterer Schmerz durchdrang meine Seele, ein Strom von Tranen brach mir aus dem Auge - die Sonne war gesunken, schnell folgte die Dunkelheit. Ich aber schlüpfte allein hinauf in mein Stübchen; ich horte nicht die lärmende Tanzmusik, die von unten heraufdrang; ich warf mich vor Gott nieder wie jener Araberjunge und versuchte zu beten Ich meinte Ihn finden zu müssen, meine Seele schrie nach Ihm.
Aber ich fand keinen Durchbruch! Ich litt und schwieg
Wir reisten zurück nach England und verbrachten den Winter in den Vergnügungen der Hauptstadt Von da an las ich aber viel in der Bibel, ging von einer Kirche zur anderen und wartete vergeblich auf das erlösende Wort. Wie leer schienen mir jetzt all die Dinge, die mich früher so angezogen haften. Nur aus Pflicht begleitete ich meine Dame an all die Orte des Glanzes und der Pracht Sie mußte wohl viel Geduld mit mir haben in jener Zeit.
Aber Gott war nahe und suchte meine Seele. Ein Herr, der viel in unserem Hause verkehrte, schlug mir einmal vor, ihn doch in eine Versammlung zu begleiten, die nicht weit von unserer Wohnung gehalten wurde und der am Sonntag Tausende zuströmten. Ich hielt diesen Vorschlag erst für Scherz und wies ihn ab. Es schien mir nicht schicklich und fein für eine Dame, an einen Ort zu gehen, wo die Masse des Volks sich drängte! Aber mein Begleiter war ein so freundlicher und geachteter Mann, daß ich schließlich meine Zustimmung gab Eine Freundin schloß sich uns an und er verschaffte uns Plätze in der vordersten Reihe.
Tief traf mich der Blick des Redners, eines würdigen älteren Mannes; es ging Kraft und Geist von ihm aus und eine brennende Jesusliebe sprach aus all seinen Worten. Schon als er das Lied ausgab: «Du gnadenreicher Gott, Du Zuflucht aller Armen», erzitterte ich im tiefsten Herzen; ich wußte, er redete ftir mich, und das Bild des Gekreuzigten stand mir vor der Seele wie nie zuvor; der Feuerfunke des Heiligen Geistes fiel auch in mein Herz in jener Stunde.
Daheim habe ich lange gekämpft und gerungen, ehe ich Frieden fand, es war eine Nacht, in der Satans Macht auf dem Plan war, um mich zurückzuhalten und irre zu machen. Endlich aber schrie ich aus tiefster Not: «Herr, erbarme Dich meiner! Rette mich, denn Du starbst für Sünder!»
Da endlich wurde es licht in meinem Herzen und göttliche Freude überflutete mich, Freude, die mich nie mehr verlassen hat. Es war, wie wenn in einer lauen Nacht die grüne Frühlingsknospe am Baum die braune Schale sprengt und mit Macht hervorbricht. Ich war gerettet, und in mir erklang ein Dankespsalm Seither hat es mich immer wieder zur Arbeit an den Gefallenen und Verlorenen gezogen, mein Leben genießen, das war nicht mehr meines Daseins Zweck, nein, leben mit Gott und 9hm dienen und arbeiten zur Ehre meines Herrn, das wurde meine höchste Freude.»
Der Landpfleger Pontius Pilatus
In Bezug auf die Stellungnahme zu der Person des Herrn gibt es keine Neutralität. Entweder bekennt man sich zu Jesus Christus, oder man tut es nicht Das mußte auch der romische Landpfleger, Pontius Pilatus, erfahren Er hafte zu entscheiden, ob Christus schuldig oder nicht schuldig war. Vergeblich versuchte er durch allerhand Ranke dieser Entscheidung auszuweichen Wenn auch der ganze Leidensweg des Herrn nach der göttlichen Vorausschau diesen Weg nehmen mußte, so war doch Pilatus für alles, was er tat, voll verantwortlich. Aus den Berichten der Evangelien geht klar hervor, dass der Landpfleger die wahre Absicht der Juden, Jesus zu töten, wohl erkannte, und daß sie also einen gemeinen Justizmord von ihm verlangten. Cceirnal bestätigte Pilatus die Unschuld des Herrn. Aber warum gab er denn den Herrn dennoch nicht. frei! Einerseits mußten die Gedanken Gottes der
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Wie meine Eltern mir erzählt haben, bin ich nicht blind von Geburt, sondern habe erst einige Tage nach meiner Geburt das Augenlicht verloren. Ich war sieben Jahre alt, als man mich nach Hannover brachte, üm tirt, wo im Jahre 1840 König Georg erblindete und operiert werden sollte, auch operiert zu werden. Der Professor, der die Operation vollziehen sollte, war aus Berlin; ihm wurde ich vorgestellt. Er nahm mich auf die Knie und bedauerte mich, dass ich so lange blind gewesen sei. Bald sollte ich wieder sehen können; er wolle mich glücklich machen, nur müsste ich nach Berlin kommen in seine Anstalt.
Meine Eltern, obwohl nicht bemittelt, brachten das Opfer und führen mit mir nach Berlin. Dort wurde ich bald operiert; doch als man mich nach einigen Tagen untersuchte, wurde meinen betrübten Eltern mitgeteilt, dass meine Blindheit unheilbar sei. Es war dies eine Mitteilung, die uns tief niederbeugte.
Mehrere Jahre nachher starben meine lieben Eltern, und so stand ich als blinde Waise allein in der Welt. Verwandte brachten mich nach Hannover in die Blindenanstalt. Dort schloss sich ein blinder Knabe von neun Jahren innig an mich. Wir teilten Leid und Freud miteinander wie Bruder und Schwester.
Eines Sonntags sprach der Prediger in der Anstalt sehr ernst über den Richterstuhl Jesu Christi, vor welchem alle einst erscheinen müssten (2. Kor. 5, 10). Mich hatte die Predigt nicht berührt. Anders aber war es mit meinem kleinen Freunde. Er kam nachher an meine Seite und sagte: «Liebe Gesina, wie ist mir so bange vor dem Richterstuhl! Wie wird's uns gehen, wenn wir einmal dahin kommen? 0, liebe Gesinü, ich bin ein böser Junge. Ich gehe verloren.
» In diesen und ähnlichen Worten klagte der Kleine noch lange vor mir, bis ich's müde und ärgerlich wurde. «Ach!» sagte ich, «nun hör' auf damit. Für uns Blinde ist das Gericht nicht schlimm. Wir können nicht viel böses tun. Und wenn wir arme Blinde auch noch in die Hölle kommen sollten, das wäre ungerecht. Nein, wir kommen in den Himmel.» - Dies schien meinen Freund zu beruhigen. Er schwieg und ging seines Weges.
Am andern Morgen aber schon kam der Knabe wieder und sagte: «Liebe Gesina, ich habe die Nacht nicht schlafen können vor Angst. Ich bin ein böser Junge und komme gewiss nicht in den Himmel. Sage mir, was ich anfangen soll. Mir ist so bange vor dem Gericht.»
Nun wurde ich zornig und stiess den Kleinen von mir weg. «Fort!» rief ich, «belästige mich nicht mehr mit deinem Kram, sonst sind wir Freunde gewesen!» Aber der Knabe liess nicht nach, er kam immer wieder und wollte wissen, was er anfangen müsse, um dereinst vor dem Richterstuhl Christi bestehen zu können.
Das ging so mehrere Tage weiter. Allmählich aber merkte ich, dass er ruhiger wurde, obwohl er immer noch viele Fragen hatte, die ich nicht beantworten konnte. Eines Morgens nun kam er voller Freude zu mir und sagte: €0, liebe Gesina, wie glücklich bin ich jetzt! Jetzt habe ich keine Furcht mehr. Du kennst doch den Spruch; «Also hat Gott die Welt gelidbt, dass Er Seinen eingeborenen Sohn gab, auf dass alle, die an Ihn glauben, nicht verloren werden, sondern ewiges Leben haben.» Verstehst du das?. Man geht nicht verloren, man hat ewiges Leben, wenn man an den Herrn Jesus glaubt. Ich glaube an Ihn. Darum gehe ich nicht verloren. Nun ist mir nicht mehr Angst vor dem Richterstuhl. Der Herr Jesus hat sich für mich strafen lassen. 0, wie glücklich bin ich! Gesina, bist du nicht auch glücklich? Glaube doch auch all den Herrn Jesus, der rettet dich, und dann bist du auch glücklich.»
So war ich neunzehn Jahre alt geworden, ohne einmal ernstlich um das Heil meiner Seele bekümmert gewesen zu sein. Aber das wurde jetzt anders. Ich musste von da ab viel an die Ewigkeit denken und an meine Begegnung mit Gott. Niemand hatte mich je persönlich auf die Notwendigkeit der Errettung meiner Seele hingewiesen; aber Gott hatte sich meines kleinen Freundes dazu bedient, mich aus meiner Gleichgültigkeit und aus meinem Todesschlaf aufzuwecken. Nun gingmir's wie zuvor ihm, ich musste mir sagen, dass ich nicht im Gericht bestehen könne.
Der Gedanke an den Richterstuhl war mir jetzt furchtbar. Ich betete zu Gott, fasste gute Vorsätze, aber meine Not wurde nur grösser. Je länger ich mein Leben betrachtete, desto unglücklicher wurde ich. Ich strengte mich an, «b e s s e r z u wer d e n», indem ich das offenbar Böse vermied. Aber dabei hin noch immer keine Ruhe und kein Frieden in meine Seele. Ich weinte oft ganze Nächte lang und sagte alle Gebete her; die ich daheim oder in der Anstalt gelernt hatte. Und ;in meiner Not wandte ich mich bald an diesen, bald an jenen in der Anstalt, aber sie waren alle schlechte Berater.
Der eine sagte mir: «Man muss tun was San kann und das ist genug», und der andere lachte mich aus. Mein kleiner Freund aber war nicht mehr in der Anstalt; er war bald, nachdem er den Herrn Jesum als seinen Heiland erkannt hatte, heimgeholt worden. Ach, wie sehr fehlte er mir jetzt!
«Ach!» seufzte ich oft, «dass ich doch sehen und lesen könnte!» Denn, dass die Bibel Gottes Wort sei, hatte ich oft gehört. Und es war mir gesagt worden, dass man in den Himmel komme, wenn man tue, was darin geschrieben sei. Aber ich armes Mädchen war blind. Was sollte ich tun?
Ja, je mehr ich mich anstrengte, um in meinem Herzen heilig zu werden und mir dadurch den Himmel zu verdienen, um so elender und erbärmlicher kam ich mir vor, sündhaft und verderbt. Zuletzt wurde ich überzeugt, dass ich den Himmel nicht verdiene, dass ich verloren gehen müsse. Doch hörte ich trotzdem nicht auf, zu ringen und zu kämpfen, wenn auch keine Aussicht zu sein schien, dass ich je selig werden
würde. -
In diesem uuglüskllchen Zustande verbrachte ich zehn lange Jahre. Da fiel meinem armen kampfesmüden Herzen eines Tages der kostbare Spruch aus -Gottes Wort ein:
«Also hat Gott die Welt geliebt, dass ErSeinen eingeborenen Sohn gab, auf dass alle, die an Ihn glauben, nicht verloren gehen, sondern ewiges Leben haben.» Es war derselbe Spruch, der einst meinem kleinen Freunde Ruhe und Frieden gebracht hatte. 0, wie wurde mir dieses herrliche Wort nun auf einmal so klar und kostbar. Also Gott lieb t e mich, die Unwürdige, die Verlorene! Er liebte mich, so wie ich war! Und was hatte Er für mich zu tun vermocht? 0, Er hatte Seinen eingeborenen Sohn für mich dahingegeben, um mich zu retten; ich sollte nicht verloren geben, sondern ewiges Leben haben. Ich Torin aber, hatte zehn Jahre lang gekämpft, um mich selbst zu retten. Kein Wunder, dass es nicht gelang. Wozu wäre der Sohn Gottes gestorben, wenn es für irgend jemand auf
- der Erde möglich wäre, sich selbst zu retten? Ich wollte mir den Himmel verdienen und- der Herr Jesus hatte mir ihn verdienen müssen und langst verdient. Er hatte meine Schuld auf sich genommen und am Kreuze bezahlt Er litt und starb -dort als der Gerechte für mich, die Ungerechte. Und durch den Glauben an Ihn, indem ich auf Ihn und auf Sein Werk mein ganzes Vertrauen setzte, sollte ich gerettet werden! Ja, und ich vertraute auf Ihn. Eine andere Hoffnung hatte ich ja nicht mehr.
Auf Ihn, auf J h n allein, musste ich mein Heil gründen, wenn ich gerettet werden sollte. Weil ich aber auf Ihn vertraute, konnte ich - nicht verloren gehen, sondern war gerettet und hatte Teil am Himmel. Dies machte Gott meinem Herzen klar.
0, welch ein Friede zog da ein in mein Herz! Es wallte über vor Freude und Glück mi Blick auf das unendliche Meer der Liebe Gottes für die verlorenen Menschenkinder' Ein Strom von Freudentränen floss über meine Wangen, und meine Seele nute Gott preisen und erheben, der Seinen eingeborenen Sohn dahingegeben und mich, die Sünderin,
errettet hatte-! -. - - -
Nach nicht langer Zeit verliess ich die Anstalt, indem Verwandte mich zu sich holten. Dort besuchte mich nach Jahren ein gläubiger Christ, der mir die freudige Mitteilung machte, dass- für blinde das Wort Gottes auf erhabener Schrift -gedruckt worden sei, so dass diese -es mit den Fingern lesen könnten. -
Einige Tage später schon schickte mir der Freund das Evangelium Johannes zu m Blindenschrift Ich druckte das Büchlein an mein Herz und küsste es vor Freude. Nachdem ich dann auf den Knieen um Seinen Beistand angerufen, dass ich lesen -lernen möchte, machte ich mich - mit Eifer ans Buchstabieren. Oft blieb ich nachts auf und las bis morgens 2-3 Uhr und länger noch und lernte. 0, wie glücklich war ich, als ich dann das 3 Kapitel im Evangelium Johannes lesen durfte und - den kostbaren Spruch fand:
«Also hat Gottdie Welt geliebt!» -
Jetzt besitze ich das ganze Neue Testament und das 1. Buch Mose und den Propheten Daniel in Blindenschrift. Kann ich nachts nicht schlafen, dann nehme ich mir das teure Gotteswort zur Hand und lese -- ohne dass ich erst Licht anzünden müsste - was Gott uns in Seinem ewigen Wort hat schreiben lassen. So hat Gott mir Licht geschenkt, das da leuchtet in's ewige Leben. Ja, ich bin es inne geworden: «Gott ist Licht» und «Gott ist Liebe». -
Wiedergeboren oder- nicht?
Missionar Wilkinson reiste, von einigen seiner bekehrten Hindus begleitet, in den Vierzigerjahren durch die wilden Gegenden Orissa's, einer ostindischen Provinz. Nachdem er lange durch eine Einöde gewandert war, in welcher mir Raubtiere und gefährliche Schlangenarten hausten, stiess er eines Tages zu seiner -grossen Freude - auf eine - englische - Militärstation und wurde vom kommandierenden Offizier freundlich in sein Zelt geführt und zum- Essen eingeladen. Als nun der Missionar im Laufe des Gesprächs seinen Gastwirt mit dem Zwecke sjner Reise bekannt -machte, sagte dieser: «Sie sind also desa1h den weiten Weg von England hergekommen, um die -Hindus zu bekehren?»-
Kapitel 1 New York, 1890
Rexall Hume stützte seine Hände auf den Schreibtisch und beugte sich mit wutverzerrtem Gesicht nach vorne. „Sie haben meine Geduld lange genug strapaziert, Lady Hathwell. Ein Jahr und einen Tag warte ich nun schon.“
Sydney Hathwell erwiderte unerschrocken seinen Blick. „Sie wollen damit sicher nicht andeuten, dass mein Vater nicht das angemessene Trauerjahr verdient hätte?“
„Welches vor zehn Tagen vorbei war.“ Hume schritt über den aufwendig gewebten Teppich und blieb am anderen Ende des Raumes stehen. Dann drehte er sich wieder zu Sydney um. Mit zusammengekniffenen Augen musterte er sie, als sehe er sie gerade zum ersten Mal.
Sydney stand ruhig da und erwiderte seinen Blick mit Selbstbewusstsein und Offenheit. In der Woche, die sie nun schon hier war, hatten sie gerade einmal drei steife Mahlzeiten miteinander eingenommen.
Nachdem er die Anordnung gegeben hatte, dass seine Angestellten Sydney und ihrer Tante jederzeit zur Verfügung stehen sollten, hatte er die meiste Zeit mit Geschäften außer Haus zu tun gehabt. Kein Wunder, dass er sie nun anstarrte, als kenne er sie gar nicht.
Was wussten sie schon voneinander? Rein gar nichts. Im vergangenen
Jahr hatte er sich nicht darum gekümmert, mit ihr Kontakt aufzunehmen. Oh, natürlich hatte er nach dem Tod ihres Vaters eine Beileidsbekundung per Telegramm geschickt. Sie hatte ihm, wie es sich gehörte, mit einer kleinen Dankeskarte geantwortet. Danach hatte jedoch wieder absolute Funkstille zwischen ihnen geherrscht. Sie selbst hatte dieses Schweigen natürlich nicht brechen dürfen. Eine Frau knüpfte nicht von sich aus Kontakt zu einem Mann. Das gehörte sich einfach nicht.
Ein ganzes Jahr ohne jegliche Begegnung oder Kontaktaufnahme – und dann hatte er ihr plötzlich telegrafiert, dass sie zu ihm kommen sollte. Sie war mehr als überrascht darüber gewesen, aber sie hatte auch gewusst, dass sie dazu verpflichtet war, Hume um sich werben zu lassen.
Sydney war es allerdings schwergefallen, ihm auf seine Aufforderung hin mehr als nur ihre Ankunftsdaten zu schreiben. Sie hatte niemals ein Bild von ihm gesehen, kannte den Klang seiner Stimme nicht und hatte nicht einmal seine Handschrift gesehen – trotzdem war sie ihrer
Verpflichtung nachgekommen. Jetzt, wo sie den weiten Ozean überquert und zu ihm nach Amerika gekommen war, sogar unter seinem Dach wohnte, hatte er keinen Versuch mehr unternommen, um sie zu werben. Wie konnte er nur erwarten, dass sie ihre Herzen für immer
miteinander verbinden würden?
Hume stolzierte mit einem steifen Lächeln im Gesicht auf sie zu. Seine Hände waren genauso kalt wie die ihren, als er sie ergriff. „Sie müssen sich doch nicht aufregen, meine liebe Cindy.“
Cindy! Er will mich heiraten und kennt nicht einmal meinen Namen!
„Ruhig. Ich sehe ja, Sie sind … verstört.“ Er drückte ihre Hand.
„Manchmal ergeben sich für jemanden wie mich eben unerwartete Geschäftsreisen. So ist das nun einmal, wenn man erfolgreich sein will. Ich hatte gehofft, Sie würden es als Flitterwochen ansehen.“
Vielleicht hatte ich Unrecht. Vielleicht schätzt Hume mich als Beraterin. Vater hat Mutters Meinung immer respektiert und geschätzt. „Soll ich Ihnen etwa bei Ihren Verhandlungen helfen?“„Sie?“ Hume lachte kurz und hart auf. „Natürlich nicht. Wir können
morgen auf dem Weg zum Bahnhof an der Kirche anhalten. Da Sie
hier ja niemanden kennen und gerade die Trauerzeit hinter sich haben,
tut Ihnen eine ruhige Hochzeit sicher gut. In Boston und Philadelphia können Sie dann Museen und dergleichen besuchen, während ich
mich um meine Geschäfte kümmere. Wäre das nicht wundervoll?“
Sydney befreite sich aus Humes Griff. „Mr Hume, ich habe Ihnen schon einmal gesagt, dass ich befürchte, dass wir nicht zusammenpassen.“
Er stieß einen langen Seufzer aus. „Vielleicht sollten wir das mit der Geschäftsreise vergessen.“
Stellt er mich doch über seine Geschäftsinteressen?
„Wenn ich von der Reise zurückkomme, werden wir heiraten. Das wird Ihnen genug Zeit geben, sich einzuleben und sich um all die unwichtigen Dinge zu kümmern, mit denen Frauen sich eben beschäftigen.“ Er wirkte unendlich zufrieden mit seiner großartigen Idee.
Sydney hatte nicht zum ersten Mal das Gefühl, dass sie hier einem kaltherzigen Mann gegenüberstand. „Mr Hume, es tut mir wirklich leid –“
„Nein, nein.“ Er hob abwehrend seine Hände. „Sie brauchen sich
nicht bei mir zu bedanken, liebe Cindy.“
Der Butler trat leise ein und räusperte sich. „Entschuldigen Sie, Sir.
Mr Boland wäre jetzt hier.“
„Ah ja.“ Hume warf Sydney noch einen abwesenden Blick zu. „Sie entschuldigen mich jetzt bitte. Ich muss mich um wichtigere Dinge kümmern.“
Abgewimmelt, als sei sie ein kleines Kind, das um eine Süßigkeit
gebeten hatte, nickte Sydney kurz und ging die Treppe zu ihren Zimmern hinauf. Sie hatte nun schon zweimal versucht, Mr Hume zu erklären, dass sie ihn nicht heiraten konnte. Er hatte ihre Einwände beide Male ignoriert und sie beiseitegeschoben, als seien sie lediglich lästige
Nebensächlichkeiten. Sie hatte versucht, ihre Verbindung ehrenhaft zu lösen – jetzt musste sie zu wirksameren Mitteln greifen.
* * *
Fünf Tage später wollte Sydney endlich ihren Plan in die Tat umsetzen. Mitten in der Nacht hörte sie ein leises Klopfen an ihrer Tür und gleich darauf betrat Serena Hathwell das Zimmer. „Tante Serena! Warum bist du um diese Uhrzeit noch wach?“
Serena starrte auf die Hutschachteln, den großen Schrankkoffer und die kleineren Taschen, die im ganzen Raum verstreut waren. „Das Telegramm, das du gestern erhalten hast! Genauso hat es dein Vater mit deiner Mutter gemacht! Hume will seinen Anspruch auf dich geltend
machen. Wie romantisch! Ich hätte niemals gedacht, dass er der Typ Mann ist, der mit seiner Verlobten durchbrennt. Aber du weißt ja, was man sagt: Stille Wasser sind tief.“
„Romantisch und Hume sollte man nicht im gleichen Atemzug verwenden. Ich kann ihn nicht heiraten.“ Sydney nahm das Kleid, das eigentlich ihr Hochzeitskleid hätte sein sollen, und stopfte es in den großen Schrankkoffer.
„Du reagierst über!“ Tante Serena nahm das mit Spitze besetzte wunderschöne Seidenkleid wieder aus dem Koffer. „Mr Hume ist natürlich nicht der perfekte Traummann, aber welcher
Mann ist das schon?“ Serena wandte sich zu Sydney und tätschelte ihr die Wangen. „Du bist nur nervös vor der Hochzeit. Das ist alles.“
„Nein!“ Sydney ergriff die Hände ihrer Tante. „Am Montagabend bin ich noch einmal zu ihm gegangen, um einen letzten Versuch zu wagen, mich ihm zu erklären. Ich wusste nicht, dass Mr Jameson noch da war. Zufällig habe ich gehört –“
„Du hast sie belauscht? Sydney!“ Serenas vorwurfsvoller Unterton wich schnell einer gewissen Neugierde. „Was hast du erfahren?“
Hitze stieg Sydney in die Wangen. „Hume hat seinem Freund erzählt, dass ich nur seinen Zwecken diene. Alles, was er will, ist Zugang zum Adelsstand und einen legitimen Erben.“
„Natürlich will er einen Sohn. Das wollen doch alle Männer.“ Serenas Gesicht wurde plötzlich so rot wie das Kleid, das sie trug. „Oh Liebes, ist es das, wovor du dich fürchtest? Deine ehelichen Pflichten?“
Immer noch schockiert von dem, was sie ansonsten gehört hatte, flüsterte Sydney weiter: „Er hat eine Geliebte und will sie behalten.“
„Er ist ein Mann, Liebes. Alle Männer sind Streuner. Das wird dir nichts ausmachen. Du hast seinen guten Namen, seine Kinder und sein Geld. Tu das, was andere Ehefrauen auch tun: Ignoriere seine Taktlosigkeiten.“
Sydney schüttelte ihren Kopf so vehement, dass sich einige Strähnen aus ihren sorgfältig frisierten Haaren lösten. „Ich werde keinen Mann heiraten, der sein Eheversprechen nicht hält. Ich kann es einfach nicht. Außerdem wollte er mir weder eine schöne Hochzeit noch eine
Hochzeitsreise gönnen. Er wollte auf dem Weg zu einer Geschäftsreise schnell nebenher in einer Kirche heiraten. Während er dann mit seinen Partnern verhandelt hätte, hätte ich mir allein Boston und Philadelphia anschauen müssen. Ist das nicht schrecklich?“
„Dieser Schuft!“ Die stets anständige Serena musste sich zusammenreißen, nicht üblere Schimpfwörter zu verwenden. „Dieser schreckliche Mann verweigert dir eine angemessene Hochzeit? Jede einzelne meiner Verkupplungen hat bisher in einem rauschenden Fest geendet!
Was für ein Mann würde seiner Frau den wichtigsten Tag ihres Lebens verderben? Du armes Kind! Kein Wunder, dass du das Hochzeitskleid zuerst eingepackt hast. Ich werde dich hier herausholen.“ Eine Sekunde später hatte sie das elegante Kleid in den Tiefen des Schrankkoffers verschwinden lassen.Erleichterung durchflutete Sydney.
„Wie konntest du etwas so Schreckliches so lange für dich behalten?“
„Ich habe so lange nichts gesagt, bis ich Maßnahmen getroffen hatte,
die uns beiden weiterhelfen werden. Du erinnerst dich doch daran,
dass Mutter einen älteren Bruder hat, nicht wahr? Ich habe Kontakt zu
ihm aufgenommen. Onkel Fuller erwartet mich bereits.“
Serena seufzte. „Das kann ich nicht zulassen. Ich bin für dich verantwortlich und ich sage, du kommst mit mir nach Hause. Das ist das einzig Richtige.“
„Immer das einzig Richtige zu tun hat mich doch überhaupt erst in
diese Situation gebracht. Wäre es nicht an der Zeit, endlich einmal
etwas Unvernünftiges zu tun?“, warf Sydney ein.
Serena hörte auf, Sydneys Kleidung zu verstauen. „Oh nein, ich kenne diesen Blick. Du siehst genauso aus wie deine Mutter, wenn sie eine
ihrer haarsträubenden Ideen hatte. Also, was hast du vor?“
Ihre Tante war wirklich nicht hinters Licht zu führen. Sydney war
klar, dass sie nun offenbaren musste, was sie eigentlich geheim zu halten gehofft hatte. „Es gab nur ein kleines Missverständnis, das ist alles.“
„Was für ein Missverständnis?“
Sydney zuckte mit den Schultern. „Onkel Fuller dachte, dass ich ein
Mann bin. Wahrscheinlich wegen meines Namens.“
„Aber du hast ihn natürlich aufgeklärt –“ Serena schnappte nach
Luft. „Sydney!“
„Warte bitte einen Moment. Hör mir zu.“ Sydney ließ ihrer Tante
keine Zeit zum Nachdenken. „Als Frau alleine zu reisen wäre schwierig.
Als mein Onkel mich jedoch verwechselte, wusste ich sofort, was zu
tun ist, um dieses Problem zu lösen.“
Entsetzen breitete sich auf dem Gesicht ihrer Tante aus. „Du kannst
doch nicht … du würdest doch nicht … Eine Frau aus gutem Hause
würde niemals Männersachen tragen. Wenn sich das zu Hause herumspricht, wird nie wieder jemand etwas mit dir zu tun haben wollen.
Dein guter Ruf –“
„Tante Serena, so einem Gerücht würde zu Hause niemals jemand Glauben schenken. Ich muss diese Maskerade doch nur für kurze Zeit aufrechterhalten. Du musst zugeben, dass es mich schützen wird, in Verkleidung zu reisen.“
„Liebling, wie wirst du das nur anstellen? Du hast doch keine Ahnung von Männern und der Welt, in der sie leben.“
Sydney wandte sich ab, um ihr Lächeln zu verbergen. Tante Serena schwankte schon. Noch ein bisschen Überzeugungsarbeit und sie würde nachgeben. „Es kann nicht so schwierig sein. Niemand wird von
einem Gentleman aus der britischen Aristokratie erwarten, dass er sein
Gepäck selber trägt oder irgendeine andere schwere Arbeit verrichtet.“
„Selbst wenn du mit diesem skandalösen Plan durchkommst, was
wirst du dann tun?“
„Ich habe alles schon geplant. Onkel Fuller hat versprochen, dass er
sich um mein Wohlergehen kümmern wird. Du musst zugeben, dass
er näher mit mir verwandt ist als Harold. Wenn sich jemand aus meiner Familie um mich kümmern sollte, dann doch wohl er. Ich werde
im Januar volljährig. Bis dahin werde ich wissen, ob ich wirklich nach
England gehöre oder nach Amerika, und egal, wie ich mich dann entscheide, werde ich auf jeden Fall endlich finanziell unabhängig sein.“
„Es dauert noch Monate, bis es Januar ist.“
Die ältere Frau schüttelte den Kopf. „Selbst wenn ich deinem Plan zustimmen sollte, würde dir doch nie jemand Hosen verkaufen.“
Wieder musste Sydney lächeln. „Es muss mir auch niemand mehr
welche verkaufen.“ Sie öffnete eine Schublade und zog drei Hosen und
doppelt so viele Hemden heraus. „Diese seltsamen Amerikaner haben
sich nicht einmal gewundert, als ich Männerkleidung gekauft habe.“
Sydney packte die Kleidungsstücke ordentlich in eine Reisetasche,
die sie unter dem Bett hervorzog. Männerkleidung ist so viel einfacher zu
handhaben. „Wie schwer kann es schon werden? Männer müssen sich
nicht der Mode und Etikette unterwerfen. Sie machen, was sie wollen,
und gehen dahin, wo sie es wünschen. Sicher kann ich die Rolle des
reichen Neffen eines Gentlemans aus dem Landadel übernehmen.“
Serena starrte die Hemden an. „Was ist mit deinen … äh … hm.“
Sydney sah ihre Tante einen Moment lang an und wartete darauf,
dass sie zu Ende sprach. Serena tippte sich schnell auf die Brust. Sydney
ignorierte die Hitze, die ihr in die Wangen stieg. „Ich werde meinen
Brustkorb mit einer Bandage umwickeln“, sagte sie schnell. „Es kann nicht unbequemer sein, als ein Korsett zu tragen.“
Serena sah sie schockiert an, ließ sich in einen Stuhl fallen und fächelte sich mit der Hand Luft zu. „Es ist schlimm genug, dass du dich wie
ein Mann kleiden wirst. Aber dann nicht einmal Damenunterwäsche?“
„Ich schaffe das schon. Schau dir nur einmal diesen Mantel an. Er ist perfekt.“ Sydney zog einen hellgrünen Mantel aus den Tiefen der
Schublade hervor. „Der sieht genauso aus wie der, den Billy Daniels am letzten Weihnachtsfest getragen hat. Also werde ich darin aussehen wie ein Mitglied des Landadels. Die Amerikaner werden bestimmt sogar erwarten, das ich einen solchen Mantel trage.“
„Kind, du rennst in dein Unglück!“
„Tante, ich weiß, was ich tue. Jetzt ist es genug. Wir müssen uns beeilen. Ich habe die Überfahrt für dich schon gebucht. Das Schiff legt erst
morgen ab, aber das muss ja hier keiner wissen. Wir lassen dich nach
dem Mittagessen mit der Kutsche zum Hafen bringen.“
„Ich werde bis zum letzten Augenblick bei dir bleiben.“Sydney legte den Mantel zusammen und legte ihn auf die anderen Kleidungsstücke in ihrer Reisetasche. „Ich danke dir, dass du immer
für mich da bist. Aber dieses Mal wäre es besser, wenn du mir helfen würdest, sie in die Irre zu führen. Stell dir das doch einmal vor – wenn sie merken, dass ich nicht mehr da bin, denken sie, ich bin mit dir nach England zurückgefahren!“
Serena massierte ihre Schläfen. „Irgendetwas stimmt nicht mit mir.
Ich denke mittlerweile, dass dein Plan nicht verrückt ist – er ist brillant.“
„Ich werde nicht schauspielern müssen, wenn ich morgen früh vor den Angestellten so tue, als würde ich dich bald ganz schrecklich vermissen. Nach deiner Abreise gehe ich in mein Zimmer zurück und warte bis Sonnenuntergang. Dann mache ich mich auf zum Bahnhof.
Hume wird erst am nächsten Tag von seiner Geschäftsreise zurückkommen. Dann sind wir beide längst auf und davon.“
* * *
Sydney behielt recht. Sie musste ihre Traurigkeit nicht vortäuschen, als sie ihrer Tante Lebewohl sagte. Da sie Angst hatte, dass eines der Zimmermädchen den leeren Schrank bemerken und seine Schlüsse ziehen könnte, konnte Sydney ihre Tante nicht zum Hafen begleiten.
Sie aß kaum etwas vom Mittag- und Abendessen, das der Koch auf ihr Zimmer schicken ließ. Um Mitternacht klingelte sie dann nach einem Zimmermädchen, das sie sehr befremdet ansah, als Sydney ein Frühstück bestellte. Doch das Mädchen weckte den Koch und der ließ
ihr das Tablett schicken. Sydney aß den Kompott und die Eier auf, den gebratenen Schinken legte sie zwischen die Brotscheiben und wickelte sie in eine Serviette. Das würde ihre erste Mahlzeit im Zug sein.
Kurz vor Sonnenaufgang las Sydney noch einmal Onkel Fullers Telegramm. Geld anbei. Erfreut, einen Neffen zu haben. Kein Bedarf an Frauen hier.
Bring Stiefel, Hosen und Hemden mit. Um den Rest kümmere ich mich. Grüße, Fuller Johnson.
Serena erwartete, dass Sydneys Maskerade auf der Forsaken-Ranch ein Ende haben würde. Sydney wusste es allerdings besser.
Nur ein einziges Detail musste noch geändert werden. Sydney fuhr sich mit der Hand durch ihr Haar. Das ihrer Mutter hatte den gleichen kastanienbraunen Ton gehabt. Sydney war immer mit ihren Haaren
zufrieden gewesen, obwohl in England blonde Haare der Renner waren. In einem kurzen Anflug von Eitelkeit starrte sie ihr Spiegelbild an.
Gentlemen trugen ihr Haar ungefähr bis zum Kinn und strichen es
dann mit Pomade zurück, aber sie konnte es nicht übers Herz bringen,
ihre Haare derart zu kürzen. Als Kompromiss könnte sie ihr Haar bis
kurz unterhalb der Schulter schneiden. Das wäre gerade kurz genug für
einen Mann und zu kurz für eine Frau. Ja, so würde sie es machen. Immerhin hatten Männer wie George Washington, Napoleon und Custard – nein, Custer – ihr Haar auch zurückgebunden getragen. Sydney atmete noch einmal tief durch und fing an zu schneiden.
Nichts.
Sie hatte nicht eine einzige Strähne abgeschnitten. Zumindest dachte
sie das, als sie ihre leere Hand sah. Vorsichtig öffnete sie die Schere wieder. Da rutschte eine lange Strähne an ihrem Arm entlang und landete sanft auf dem Boden. Sydney starrte sie an, dann blickte sie wieder in den Spiegel. Jetzt gibt es kein Zurück mehr. Sie streckte ihr Kinn vor
und schnitt weiter. Als sie die Hälfte ihrer Haare abgeschnitten hatte,
betrachtete sie sich erneut im Spiegel. Lange, lockige Haare auf der linken, kurze, zottig geschnittene auf der rechten Seite. So war ich – und so werde ich sein. Ich schneide mich selbst frei.
Das Feuer sprühte Funken, als Sydney ihre langen Haarsträhnen verbrannte. Nachdem sie die verbliebenen Haare zu einem Pferdeschwanz
gebunden hatte, zog sie sich eine Hose an. Sofort zog sie sie wieder herunter. Ihre lange Unterwäsche schob sich unter der Hose zusammen und bildete einen dicken Knubbel. Hastige Schnitte mit der Schere lösten dieses Problem. Nachdem der Stoff entfernt war, ließ sich die
Hose ohne Probleme hochziehen und saß richtig.
Mit kritischem Blick musterte Sydney sich. „Ich sehe immer noch aus wie eine Frau.“ Da das Hemd länger war, als sie gedacht hatte, rollte sie es hoch und stopfte es in den Hosenbund. Das verdeckte ihre weibliche Figur gut genug. Socken und Stiefel vervollständigten ihre
Verkleidung.
Der dicke, flauschige Teppich dämpfte das Stampfen ihrer etwas zu großen Stiefel, als sie nach unten in die Halle ging. Die schwere Reisetasche legte sie dabei auf das Geländer. Leise rutschte sie neben Sydney entlang.
Zufrieden damit, wie gut ihr Plan funktionierte, erreichte Sydney die Haustür. Der große, eiserne Türknauf fühlte sich kalt an und die Tür wirkte unnachgiebig und schwer. Noch nie hatte Sydney eine andere Tür als die zu ihrem Zimmer öffnen müssen. Überrascht von der
Schwere der Tür, lehnte sich Sydney mit aller Kraft dagegen. Mit einem plötzlichen Ruck öffnete sie sich. Sydney war völlig überrascht und stolperte mit einer sehr uneleganten Bewegung über ihre Tasche.
Ein Laut der Überraschung entfuhr ihr.
Besorgt darüber, dass vielleicht jemand die seltsamen Geräusche in
der Halle gehört haben könnte, rappelte Sydney sich schnellstens wieder auf, packte ihre Tasche und hastete aus der Tür.
Als Sydney schließlich die Zufahrt zu Humes Haus hinuntereilte, war sie nicht mehr alleine. Oscar, Humes Windhund, wich ihr nicht von der Seite. „Geh nach Hause“, befahl sie.
Oscar gehorchte ihr nicht. Er lief weiter neben Sydney her, als habe sie ihn an der Leine. Vielleicht wäre es gar nicht so schlecht, wenn er sie begleitete. Immerhin war es noch dunkel. „Ich laufe davon. Ich könnte verstehen, wenn du das auch tun würdest. Er ignoriert dich genauso, wie er es bei mir getan hat.“
Nach einer Weile gesellte sich ein Terrier zu ihnen. „Kusch, kusch! Verschwinde!“ Er ignorierte Sydneys Befehl und bellte sie freundlich an. Dann schloss sich ihnen ein dritter Hund an. Sydney bog um eine Häuserecke, ging noch ein paar Schritte und blieb dann stehen. Wo
der vierte Kläffer plötzlich hergekommen war, konnte sie nicht sagen.
Verärgert murmelte sie: „Ich versuche, möglichst unauffällig zu sein.“
Vier haarige Hundeschwänze wedelten ihr – unbeeindruckt von ihrem Protest – freudig zu. Der Terrier setzte sich auf ihren Fuß.
„Also ehrlich.“ Sydney beugte sich herab, um ihn zur Seite zu schubsen, kraulte ihn aber schließlich zwischen den Ohren. „Guter Hund.
Jetzt musst du mich aber in Ruhe lassen.“
Er bewegte sich nicht.
Oscar beschnupperte Sydneys Tasche.
„Ach das wollt ihr! Ihr seid nicht mehr als eine Bande Bettler.“ Sie
hörte sich selbst sprechen und zuckte zusammen. Ich höre mich an wie
ein Mädchen. Mit tieferer Stimme sagte sie: „Jetzt reicht es.“
Als sie ihr mit Schinken belegtes Brot aus der Tasche zog, umringten sie die Hunde. Sie verschlangen den gesamten Schinken und einen Großteil des Brotes. Als sie fertig waren, verschwanden alle Hunde bis auf Oscar. „Geh nach Hause, mein Guter.“ Er blickte sie traurig an.
Plötzlich war das Geklapper von Hufen und einer Kutsche auf der Straße zu hören. Als das Gefährt vorbeirollte, rief der Insasse plötzlich seinem Fahrer zu, er solle anhalten.
Sydney gefror das Blut in den Adern.
Kapitel 2
Er ist es! Das darf nicht sein – er ist viel zu früh! Sydney bekämpfte den Wunsch zu fliehen. Sie konnte Hume nicht entkommen – vor allem nicht in diesen Stiefeln. Ihr einstiger Verlobter öffnete die Tür der Kutsche und kam auf sie zu. „Das ist mein Hund.“
Sydney zuckte nur mit den Schultern. Sie konnte sich nicht auf ihre Stimme verlassen.
Hume kam näher. Der Geruch von Zigarren und Brandy strömte ihr entgegen – zusammen mit dem Duft eines blumigen Damenparfums.
„Oscar. Geh nach Hause!“
Oscar trottete mit dem Schwanz zwischen den Beinen von dannen.
„Kenne ich Sie?“ Hume blinzelte sie an.
„Sir“, rief der Fahrer der Kutsche, „kommen Sie?“
„In fünfzig Metern bin ich zu Hause. Das Stück kann ich auch laufen“, rief Hume böse.
„Sie schulden mir einen Dollar.“
Während Hume seine Taschen abklopfte, wagte Sydney einen Blick auf die Kutsche. Sie bemühte sich, barsch zu klingen. „Ich brauche eine Kutsche.“
„Jameson Winthrop! Ich wusste, dass ich Sie kenne. Sie sind Prestons Neffe. Verlassen Sie uns schon wieder?“ Hume klopfte ihr väterlich auf die Schulter. „Bringen Sie den Jungen zum Zug. Hier, nehmen Sie, das wird ja wohl genug sein.“ Mit diesen Worten überreichte Hume dem
Fahrer einen Geldschein.
Sydney tippte sich an den Hut und murmelte: „Danke sehr.“
Für eine Sekunde wartete sie darauf, dass Hume ihr die Tür öffnen
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und beim Einsteigen helfen würde. Sofort fiel ihr ihr Fehler auf. Sie
öffnete die Tür und kletterte plump in die Kutsche. Für die nächsten
sechs Monate würde sie auf die gewohnten Annehmlichkeiten verzichten müssen, aber diese Erkenntnis entfachte ihre Abenteuerlust nur
umso mehr.
Während sie sich zurücklehnte, warf Sydney noch einen letzten
langen Blick auf das, was sie hinter sich ließ. Hume entfernte sich in
der anbrechenden Dämmerung. Eine Hochzeit mit ihm hätte für sie
lebenslanges Unglück bedeutet. Es wäre wie ein Gefängnis gewesen.
Erleichterung durchströmte sie. Sie war entkommen.
* * *
Drei Tage später stand Sydney vor dem Schalter des Chicagoer Bahnhofes und hoffte, ihr Verhalten wäre mittlerweile männlich genug. „Einmal erste Klasse nach Austin. Dann weiter nach Gooding, Texas.“„Wollen Sie einen Schlafplatz?“
Sie nickte.
„Das macht dann einhundertachtzehn Dollar und neunundzwanzig
Cent.“
Sydney kramte in ihrer Hosentasche. Männer hatten ja keine Ahnung, wie praktisch ihre Kleidung war. Man konnte alles in diese Hosentaschen hineinstopfen. Sie zog sieben Banknoten hervor.
Der Mann am Schalter inspizierte jeden Geldschein genauestens.
„Die sind alle in Ordnung. Sie würden nicht glauben, wie viele Menschen mir hier Falschgeld andrehen wollen.“ Er sah ihr direkt in die
Augen. „Mich kann niemand zum Narren halten. Ich erkenne jeden
Betrug.“
Sydney hielt den Atem an. Weiß er es?
„Hier ist Ihr Wechselgeld, junger Mann. Es dauert noch eine gute Stunde, bis Ihr Zug abfährt.“
„Vielen Dank.“ Sie sah sich im Bahnhofsgebäude um, konnte allerdings keinen Kaugummiautomaten erspähen. Obwohl sie der Meinung war, dass Männer, die Tabak oder Kaugummi kauten, aussahen
wie Vieh, das sein Futter verzehrte, schien ein Mann scheinbar dennoch immer etwas kauen zu müssen. Vielleicht würde es sie männlicher
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wirken lassen, wenn sie auch auf etwas kaute. Sie räusperte sich. „Entschuldigung. Gibt es hier keinen Kaugummiautomaten?“
Der Mann am Schalter schüttelte den Kopf. „Dieses neumodische
Zeug haben wir hier nicht. Der Laden auf der anderen Straßenseite
führt Kaugummi.“
Sydney hastete über die Straße und beeilte sich, einer Dame, die
den Laden gerade betreten wollte, die Tür aufzuhalten. „Erlauben
Sie, Ma’am.“
„Vielen Dank, Sir.“ Die Dame stolzierte in den Laden. Während
der Angestellte der Dame bei ihrem Einkauf behilflich war, schlenderte Sydney durch das Geschäft. In London war sie in Boutiquen und
Schneidereien gewesen, aber sie hatte nie die Erlaubnis gehabt, alleine
einkaufen zu gehen. Dieser Ort war voll von wunderbaren, unbekannten Dingen. Sydney blieb einen Moment stehen, um ihre neu gewonnene Freiheit zu genießen.
„Ihre Reisetasche können Sie hier bei mir abstellen.“ Der Ladenbesitzer hielt einen Korb hoch. „Hier können Sie Ihre Waren einräumen.“
„Wunderbar.“ Sydney merkte, dass sie ihre Stimme nicht verstellt
hatte und hustete. „Entschuldigung.“
„Hinter Ihnen steht Dr. Pepper. Das wird Ihnen helfen.“
Sydney griff nach einer Flasche des Getränkes und legte sie in ihren Einkaufskorb. Außerdem erschienen ihr gepökeltes Rindfleisch und Kaugummi als angemessene Dinge für einen echten Mann. Sydney versuchte, nur Nahrungsmittel auszuwählen, die sich auf ihrer Reise
möglichst lange halten würden. Die Erdbeeren, die sie am liebsten gekauft hätte, ließ sie stehen, aber Plätzchen wären eine gute Alternative. Fünf Tage im Zug bedeuteten, dass sie auf jeden Fall auch in den
Speisewagen gehen müsste, aber sie hoffte, einige Mahlzeiten umgehen
zu können, indem sie jetzt klug einkaufte. Die Preise im Zug waren
überhöht und Sydney wollte Geld sparen, wo es nur ging.
Bis jetzt hatte sie nur wenig geredet. Was Frauen sagen konnten und
durften, kam immer darauf an, wer anwesend war. Seit dem ersten Tag,
an dem sie sich verkleidet hatte, war ihr eine Tatsache ins Auge gestochen, die sie so nicht erwartet hätte: Männer änderten ihre Gesprächsthemen und die Art, wie sie redeten, wenn eine Frau anwesend war.
Onkel Fullers Telegramm ließ sie vermuten, dass sie es auf der Farm
ausschließlich mit Männern zu tun haben würde. Wenn ihre Maskerade funktionieren sollte, würde sie lernen müssen, sich wie ein Mann zu unterhalten.
Den Männergesprächen um sie herum zuzuhören erschreckte Sydney. Und was sie für Ausdrücke benutzten! Irgendwie hatte Sydney immer gedacht, Männer würden über Familie, Arbeit und Politik reden.
Sie redeten allerdings kaum über ihre Familien. Männer identifizierten sich nur mit ihrem Handwerk oder Beruf und was die Politik anging – Sydney musste die Zeitung lesen, um überhaupt zu verstehen, worüber die Männer in ihrer Umgebung sprachen. Bis jetzt hatte sie immer nur mit den Schultern gezuckt, wenn man sie nach ihrer Meinung gefragt hatte und geantwortet: „Ich komme aus England.“
Sie ging auf die Kasse zu. „Haben Sie auch Zeitungen?“
„Der Junge an der Ecke verkauft sie.“ Der Ladenbesitzer zeigte in die entsprechende Richtung. „Ich habe aber eine Auswahl an bester Unterhaltungslektüre.“
Sydney wagte das zu bezweifeln. „Das sind doch bestimmt Groschenromane.“
„In der Tat. Sie gehen weg wie heiße Semmeln. Sie sind doch aus England, nicht wahr? Dann werden Sie Westerngeschichten lieben. Buffalo Bill ist ein wahrer Mann.“
„Danke für den Tipp.“ Sydney nahm sich zwei der dünnen Heftchen und legte sie zu ihrem Einkauf in den Korb. Dann räusperte sie sich.
„Was schulde ich Ihnen?“
„Der Tabak ist heute im Angebot, junger Mann.“ Eine hochgezogene
Augenbraue ließ diese Aussage wie eine Frage erscheinen.
„Das Kaugummi reicht, danke.“ Nachdem sie ihren Einkauf in ihre
Tasche gepackt hatte, bestieg Sydney den Zug nach Texas. Eine Meile
nach der anderen flog vorbei, während Sydney von einem kecken Mann
namens Buffalo Bill und seinen haarsträubenden Abenteuern las.
Tapfer erduldete sie den Gestank, der ihre Mitreisenden umgab.
Die Männer achteten nicht sonderlich auf ihre Körperpflege. Trotzdem wunderte sich Sydney, dass es ihr so leicht fiel, die Rolle des
jungen englischen Adligen zu spielen. Fast war es zu einem Spiel geworden. Durch das Beobachten und Imitieren der anderen hatte sie
gelernt, wie sie sich zu verhalten hatte. Allerdings zog sie eine Grenze,
wenn es darum ging, auf den Boden zu spucken oder den Mund am
Ärmel abzuwischen.
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Je weiter der Zug fuhr, desto weiter schienen sie sich auch von der Zivilisation zu entfernen. Sie hatte die Amerikaner immer für unkultiviert und undiszipliniert gehalten, aber als die Meilen an ihr vorbeiflogen, fand sie ihr Verhalten und ihre seltsamen Ausdrücke immer
faszinierender. Wo auch immer sie war – jedes Mal, wenn ihr etwas Seltsames passierte, was sie eigentlich als Frau hätte verraten müssen, schoben die Männer es darauf, dass sie aus England kam.
Sydney wusste noch nicht, was sie von dieser wilden Umgebung halten sollte. Die Landschaft war wunderschön, offen und unberechenbar.
Als die Tage vergingen und Sydney nur noch in der Ferne kleine Inseln der Zivilisation erblickte, verstand sie allmählich, dass Texas eine völlig andere Welt war als die, die sie bisher kannte. Ihre Maskerade würde schwieriger aufrechtzuerhalten sein, als sie gedacht hatte.
* * *
Gooding, Texas
Kopfschüttelnd beobachtete Timothy Creighton von dem Rücken seines Pferdes aus, wie der Junge langsam näher kam. Er streckte sich, nahm seinen Hut ab und schüttelte sein kurzes Haar, um sich ein wenig Abkühlung zu verschaffen. Der Junge ging so langsam, dass er immer noch fast an genau der gleichen Stelle zu sein schien wie vor fünf Minuten. Tim lehnte sich weiter nach vorne und kniff seine Augen zusammen, um den Jungen genauer betrachten zu können.
Das, was er sah, hielt er zuerst für das Ergebnis eines zu arbeitsreichen Tages. Vielleicht hatte Tim zu lange im Sattel gesessen und die Sonne hatte seine Augen geschädigt. Doch auch ein tiefer Schluck aus seiner Wasserflasche änderte nichts an dem Bild, das sich ihm bot.
Fullers Neffe war genau so, wie Tim befürchtet hatte. Schlimmer, wenn das überhaupt noch möglich war. Dieses Kind schien keinen einzigen Muskel am Körper zu haben. Er konnte nicht einmal seine Tasche vernünftig tragen. Er zog seine Füße über die staubige Straße
wie ein lustloser Schuljunge. Und dann diese Aufmachung – die bunte
Kleidung. Wo hatte er nur die gelbe Hose her? Und dieser grüne Mantel! Welcher Mann würde freiwillig so etwas anziehen?
Der Knilch würde es nicht mal innerhalb der nächsten Stunde zur Ranch schaffen, wenn er so weiterschlurfte. Nicht gewillt, dem Jungen den Weg auch nur ein wenig zu erleichtern, zog Tim sanft an den Zügeln seines Palomino und führte ihn so in die entgegengesetzte Richtung. Er hatte noch genug Zeit, um den Wasserstand im Teich zu überprüfen, bevor er nach Hause zurückkehren und den Jungen begrüßen
müsste.
„Herr, wenn es dir nichts ausmacht“, betete Tim und erhob seinen
Kopf gen Himmel, „schick Fuller möglichst schnell hierher zurück. Ich
habe kein gutes Gefühl, was diesen Jungen betrifft.“
* * *
„Was ist das denn für ein Weichei?“, ächzte Bert, als er den neuen
Mann die Straße heraufkommen sah.
Tim blieb im Schatten des Stalles stehen und beobachtete die Szene.
Er war zu dem Entschluss gelangt, dass sein vorschnelles Urteil ungerecht gewesen war. Der Junge verdiente die Chance, sich selbst zu
beweisen. Wenn Tim sah, wie er mit den Farmarbeitern umging, würde
er wissen, wie er Fullers Neffen einzuschätzen hatte.
Die Männer schauten auf und starrten in die Richtung, in die Bert
wies. Anschließend warfen sie sich verstohlene Blicke zu. Dann richteten sie ihre Aufmerksamkeit wieder auf den Jungen. Ungläubigkeit
machte sich unter ihnen breit, dann fingen sie an zu murmeln. Fuller
hatte sie zwar gewarnt, dass sein Neffe in Londons besserer Gesellschaft
aufgewachsen war und nichts über das harte Leben eines Rancharbeiters wusste, aber auf diesen Anblick waren sie doch nicht gefasst gewesen.
„Hab mal einen Leierkastenmann gesehen.“ Pancake spuckte einen
Klumpen Tabak auf den Boden. „Sein Affe hatte genau so ’ne Jacke
an.“
Alle Männer mussten bei dieser Äußerung grinsen. Das sagte mehr
als tausend Worte. Doch Pancake hatte recht. Kein Mann würde freiwillig eine weihnachtsbaumgrüne Jacke mit goldenen Fransen und
Knöpfen tragen. Tim würde jeden erschießen, der ihm dieses Kleidungsstück anböte, und dann das beleidigende Stück verbrennen ...
natürlich nachdem er die goldenen Knöpfe abgetrennt hätte.
„Der Affe hat ziemlich gut getanzt. Und mit ’ner Tasse in der Hand gebettelt. Sonst konnte er nix.“ Pancake kratzte seinen üppigen Bauch und murmelte leise: „Könnten Brüder sein.“
„Der Affe war bestimmt nützlicher, als der hier sein wird.“ Juan starrte immer noch auf den seltsamen Anblick, der sich ihm bot.
„Darauf hat Fuller uns wirklich nich’ vorbereitet, oder?“
Gulp fuhr sich mit der Hand über seinen Dreitagebart. Sein großer Adamsapfel hüpfte, als er schluckte, was ihm auch seinen Spitznamen „Gulp“ – schlucken – eingebracht hatte. „Er konnte ja nich’ ahnen, dass es so schlimm sein würde. Heiliger Strohsack, das konnte niemand ahnen.“
Merle unterbrach ihn. „Ich hab auch schon mal so was Ähnliches
gesehen. Ich bin umgekippt, weil ich ’n bisschen was getrunken hatte,
und als ich wieder aufgewacht bin, hat sich die Witwe O’Toole über
mich gebeugt. Das war ’n Schock!“
Spöttisches Gelächter folgte dieser Äußerung. Es gab nur wenige
Dinge, die schlimmer waren, als von der Witwe O’Toole unter die
Fittiche genommen zu werden. Die Zunge dieser Frau war schärfer
als eine Rasierklinge und sie machte keinen Hehl daraus, was sie vom
Alkoholgenuss hielt.
„Ich sag euch, diese Frau tickt nich’ mehr ganz richtig. Welcher
Mann kann zu ’n paar Bier schon Nein sagen?“ Noch mehr Gelächter
feuerte Merle an weiterzuerzählen. Er schwankte vor und zurück wie
ein Matrose auf Landgang. „Ich sag euch die Wahrheit, Leute. Jeder
Mann, der in den Armen der Witwe O’Toole aufwacht, betet automatisch um Erlösung!“
Der Fremde kam näher. „Ho!“
„Ho!“, riefen die Männer zögernd.
Fullers Neffe schien ihre Erwiderung für Enthusiasmus zu halten,
denn er strahlte vor Stolz. „Was für eine überaus freundliche Begrüßung! Ich bin Lord Sydney Hathwell. Mein Onkel erwartet mich.“
„O Lord, hilf ihm“, murmelte einer der Farmarbeiter in die plötzliche Stille hinein.
„Es ist nicht nötig, meinen Titel zu verwenden. Das machen Amerikaner nicht so häufig, wissen Sie?“ Der Junge lächelte. „Aber ja, ich hoffe tatsächlich, meinem Onkel eine Hilfe zu sein. Wie ich schon sagte, er erwartet mich, meine Herren.“
Einen Moment lang schwiegen alle, verblüfft darüber, dass der Junge die Beleidigung nicht verstanden hatte. „Ich wette, dass er dich nicht erwartet“, murmelte jemand anderes. „Auf manche Dinge kann man
einfach nich’ gefasst sein.“
Mit vorgerecktem Kinn fragte der Junge: „Ist mein Onkel ausgeritten
oder finde ich ihn im Haus?“
„Er is’ in Abilene. Für ’n paar Wochen oder so.“ Pancake kratzte sich
wieder gedankenverloren am Bauch.
„Dann vielleicht meine Tante –“
„Söhnchen, Fuller hatte nie ’ne Frau.“
„Ich verstehe.“ Nachdem er seine Tasche auf den Boden fallen gelassen hatte, musterte der Junge die Männer um sich herum mit hochmütigem Blick. „Hätten die Herren wohl die Güte, wenigstens so höflich
zu sein und sich vorzustellen?“
Immerhin blickten die Männer ein bisschen beschämt drein. Sie drucksten herum. Schließlich zeigte Merle mit dem Daumen auf jeden der Männer und stellte sie vor: „Bert, Pancake, Juan, Boaz, Gulp. Ich bin Merle.“
Anstatt ihnen die Hand zu schütteln, nickte Hathwell den Männern der Reihe nach zu. „Ich bin erfreut, die Angestellten kennenzulernen.“Angestellte?! Tim unterdrückte ein Stöhnen. Der Junge hatte wirklich keine Ahnung vom wahren Leben. Das hatte er in den letzten Minuten
zur Genüge bewiesen.
Die Männer starrten Hathwell an. Endlich brach Merle das Schweigen. „Velma is’ zu Etta Sanders gegangen, um ihr mit dem Baby zu
helfen. Sie is’ seit gestern weg. Wahrscheinlich hatte sie noch keine
Zeit, dein Zimmer vorzubereiten. Aber geh ruhig rein. Creighton muss
jeden Augenblick wiederkommen.“
„Creighton?“
Pancake nickte. „Tim Creighton. Er und Fuller sin’ Geschäftspartner.
Er leitet den Laden hier, wenn der alte Fuller nich’ da is’. Ihm gehört
ein Viertel von dem Land hier.“
„Ich verstehe.“
Das nahm Tim zum Anlass, endlich aus dem Schatten des Stalles
hervorzutreten. „Das ist hier kein Kaffeekränzchen. Geht zurück an
die Arbeit, Männer.“
Sydney Hathwell drehte sich um und starrte ihn an.
Um nicht zu grinsen, wiederholte Tim seine Aufforderung. „Los, an die Arbeit! Ihr werdet nicht fürs Herumstehen bezahlt.“
Die Männer gingen murmelnd davon. Tim zog langsam seine Lederhandschuhe aus, schlug sie gegen seinen Oberschenkel und wischte sich dann mit dem Ärmel den Schweiß von der Stirn. Auch nachdem er das getan hatte, änderte sich der Anblick, der sich ihm bot, nicht. Wenn überhaupt, sah der Junge noch alberner aus als vorher. Bevor Tim etwas sagen konnte, was er später bereute, erklärte er: „Du hast gehört, was die Männer gesagt haben. Geh zum Haus. Velma ist schon wieder da.“
Der Junge streckte sich, sein inn hob sich etwas. Daran gewöhnt, Männern Befehle zu erteilen, starrte Tim ungerührt zurück.
Hathwell sah zur Seite. Er zögerte, nahm seine Tasche und nickte. „Also gut.“
Obwohl er sich dazu entschlossen hatte zu gehorchen, musste der
Junge anscheinend doch das letzte Wort haben. Hathwells Mangel an
Körpergröße, Kraft und Erfahrung in der Landwirtschaft waren große Nachteile. Aber seine Einstellung – Tim schüttelte den Kopf. Ein
Knilch wie er konnte alles durcheinanderbringen. Das Erste, was Tim
tun musste, war, diesem Bürschchen einen Platz und eine Aufgabe zuzuweisen.
Tim Creighton beobachtete den Jungen, wie er zum Haus schlurfte.
Pancake kam zu Tim herüber. „Was war ’n das?“
„Das“, sagte Tim mit Grabesstimme, „ist Fullers Verwandtschaft.“
„Wie zum Henker konnte Fuller sich nur so ’nen Neffen anlachen?“
Der Farmhelfer schüttelte den Kopf. „Der is’ ja zimperlicher als die sechs Richardsonmädchen.“
Tim verzog das Gesicht.„Sein Gesicht is’ immer noch so weich wie ’n Babypopo.“„Habe ich gesehen, Pancake.“Der Arbeiter stichelte weiter: „Wenn der Wind hier mal ’n bisschen
kräftiger weht, haut er das Bürschchen doch um. Hast du seine Hände gesehen, Boss? Weich wie Seide, keine einzige Schwiele zu seh’n. Ich wette, der hat noch nie gearbeitet.“
Tim merkte, dass er diesen Sticheleien ein Ende machen musste. „Er
ist noch jung.“
„Ja. Seine Stimme kiekst noch. Wenn der überhaupt jemals was in seinem Leben erreicht, wird er wohl Pfarrer. Die feinen Ausdrücke hat er jedenfalls schon drauf.“
Tim warf Pancake einen schiefen Blick zu und behielt seine Gedanken für sich. So gerne er auch einen Kommentar zu diesem extravaganten Bürschchen abgegeben hätte, wusste er, dass es nicht richtig wäre.
Immerhin war er der Neffe seines Partners. Tim musste also loyal und diskret sein. „Ich kann nicht riskieren, dass Fuller nach Hause kommt und dann dieses Bürschchen hier vorfindet. Wir müssen uns um den Jungen kümmern und etwas aus ihm machen.“
„Da brauchen wir aber ’n Wunder, sonst wird das nix.“
„Mit Wundern kenne ich mich nicht aus, aber mit Männern schon.“
„Boss, du wirst ziemlich genau hinschauen müssen, wenn du an dem Jungen was finden willst, was man in Form bringen kann. Ich hab schon Frauen gesehen, die männlicher war’n als er!“ Pancake lachte kurz. „Die Witwe O’Toole zum Beispiel.“
Tim konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen. Dann sah er wieder bedrückt in Richtung Haus.
„Wenn Fuller nach Hause kommt und diesen Witz von ’nem Mann
sieht, wird seine Kur umsonst gewesen sein. Er fällt auf der Stelle tot
um“, warnte Pancake.
„Das wird nicht passieren.“ Tim straffte sich. „Ich werde etwas unternehmen.“
„Was willst du tun?“
Tims Gesichtsausdruck wurde entschlossen. „Was auch immer getan werden muss. Für das Bürschchen wird es aber bestimmt mehr als unangenehm.“
„Das kann ich mir denken, Boss.“ Pancake schüttelte wieder fassungslos den Kopf. „Oh Mann, was denkt der sich nur dabei, solche Klamotten zu tragen?“
„Kleidung kann man ablegen.“
Pancake spuckte seinen Kautabak in Richtung eines Löwenzahnes
und bewies erstaunliche Treffsicherheit. „Ich glaub nicht, dass aus dem
noch was wird.“
Tim presste seine Lippen aufeinander. Es gab eben Zeiten, da bot einem das Leben nichts anderes als Gesäßschmerzen, wenn man den ganzen Tag reiten musste. Er hatte zwar keinerlei Lust darauf, aber er war kein Mann, der vor seiner Verantwortung davonlief. Er seufzte tief bei dem Gedanken daran, was ihm die nächsten Tage bringen würden. „Morgen fangen wir damit an, den Jungen zu einem Mann zu machen.“
„Oh nein, Boss!“
„Die Bibel sagt uns, dass wir die Last unseres Nächsten mittragen
sollen.“
Das Gesicht des Farmarbeiters verdüsterte sich. „Das is’ ein Grund
dafür, warum ich mich nich’ in der Kirche blicken lasse. Aber wenn
du schon anfängst, die Bibel zu zitieren, dann denk dran, dass es einen
Unterschied zwischen der Last deines Nächsten und einer ausgewachsenen Katastrophe gibt.“ Pancake deutete mit der Hand in Richtung
Haus. „Dieser Junge is’ eindeutig ’ne Katastrophe.“
„Es liegt jetzt an mir, etwas aus dem Jungen zu machen, bis Fuller
zurückkommt.“
Pancake konnte sich ein Lachen nicht verkneifen. „Soll ich Wetten darüber annehmen, wen von euch wir zuerst beerdigen müssen?“
„Versuch das und du bist der Erste, der hier einen Sarg braucht.“„Is’ ja schon gut, Boss.“
„Hast du nichts mehr zu tun, Pancake? An die Arbeit mit dir.“
Pancake machte sich langsam wieder auf den Weg zur Koppel, doch über seine Schulter hinweg rief er: „Und du hast auch noch was zu tun, Boss. Ich beneide dich nicht um deine Aufgabe. Der Junge wird ’n harter Brocken, denke ich.“
* * *
Sydney ging auf das zweistöckige, mit Schindeln gedeckte Farmhaus zu. Ihr Verstand sagte ihr, dass sie die rauen Kerle hinter sich lassen und sich auf die Aufgaben im Haushalt beschränken sollte, doch ihr Stolz verlangte das Gegenteil von ihr. Sie weigerte sich, den selbst ernannten
Boss dieser Farm zu ernst zu nehmen. Er würde ihr dieses Abenteuer nicht kaputt machen.
Und was würde das für ein Abenteuer werden! Sydney sah sich um
und lächelte. Die Ranch war meilenweit von duftenden Wiesen umgeben, auf denen zahllose Kühe grasten. Einige Kälber drängten sich an
ihre Mütter. Die Luft war vom Gesang der Vögel erfüllt und Tausende
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wilder Blumen zauberten bunte Tupfen in die Landschaft. In so einer
Umgebung zu leben konnte weder Mühsal noch Entbehrung bedeuten.
Das Gewicht ihrer Reisetasche zerrte an ihrem Arm und ihrer Schulter. Den Angestellten hier musste mal jemand Manieren beibringen.
Nicht nur, dass sie sich nicht vorgestellt hatten – sie hatten auch ihr Gepäck geflissentlich übersehen. Und dann dieser letzte Mann, dieser Tim sowieso, dem würde sie schon noch ihre Meinung sagen.
Mama hat immer gesagt, dass selbst die besten Angestellten machen, was sie wollen, wenn der Herr nicht im Haus ist. Dem Aussehen der Ställe und Weiden nach zu urteilen wurde diese Farm vorbildlich geführt.
Doch jetzt war Onkel Fuller nicht da. Vielleicht war das der Grund für das Desinteresse der Angestellten an seinem Neffen. Nun – es würde sich alles regeln.
Sydney bekämpfte den Impuls, sich noch einmal zu dem schwarzhaarigen Mann umzudrehen. Sie hatte sich fast den Hals verrenkt, um
zu ihm aufzusehen. Der Staub auf seinen Hosen ließ darauf schließen,
dass er ein Mann war, der hart arbeitete. Er hatte auch so gerochen,
als habe er gearbeitet – nach Leder und Schweiß. Aber auch er hatte
ihr nicht seine Hand zum Gruß angeboten. Sydney konnte nicht beurteilen, ob es daran lag, dass er schüchtern war, oder ob er sich wegen seiner schmutzigen Kleidung unwohl gefühlt hatte.
Plötzlich traf sie eine Erkenntnis: Der Mann war nicht schüchtern.
Er hatte sich wegen seines Aufzuges auch nicht geschämt. Er war sogar stolz darauf gewesen. Sein Auftreten brachte ihm den Respekt und den Gehorsam der anderen Männer ein. Ein Lächeln umspielte Sydneys Lippen. Ein Mann zu sein war ... einmalig. Und auch ein bisschen
lustig.
Sydney ging weiter auf das Haus zu und schaffte es, noch einen Blick auf diesen Tim zu erhaschen. Sogar aus dieser Entfernung sah er so aus, als könnte er alles schaffen, was Buffalo Bill in den Westerngeschichten tat.
Ihre Stiefel stapften laut über die hölzerne Veranda des Farmhauses. Zu ihrer Linken hing eine gemütliche Schaukel von der Decke. Sydney stellte sich vor, wie es sein würde, dort zu sitzen und ein Glas Limonade zu genießen. Nach der langen Reise konnte sie jetzt endlich ihre schrecklichen Stiefel loswerden, dieser Velma sagen, sie solle ihr einen kühlen Trunk bringen und –
Perri Ich lernte Dobbs an dem Tag'kennen, an dem meine Welt zusammenbrach. Es war das Jahr 1933. Für die meisten von uns im guten alten Amerika war die Welt schon vor Jahren zusammengebrochen. Aber ich hatte die letzten vier Jahre nahezu unversehrt überstanden. Ich war davon überzeugt, dass mir die Weltwirtschaftskrise in meinem kleinen Paradies nichts anhaben konnte.
Aber dann kam meine Welt mit quietschenden Bremsen zum Stehen, zeitgleich mit Herbert Hoover - am letzten Tag seinerPrä-sidentschaft. Die Banken brachen zusammen und rissen um mich alles mit sich.
Eigentlich fing der Tag gut an. Eine positive Spannung lag an diesem Samstag in der Luft. Ich hatte lange geschlafen, war aber trotzdem noch müde von der Feier der Studentenverbindung an der Georgia Tech. Mama weckte mich wie gewünscht um zehn, und nachdem ich Frühstückseier und Maisgrütze hinuntergeschlungen hatte, setzte ich mich zum Rest der Familie ins Wohnzimmer, wo auf der Anrichte unser Radio stand.
Die Kommentatoren beschrieben voller Begeisterung die Szenerie in Washington, D. C. „Menschenmassen drängen sich auf dem gut vier Hektar großen Areal, stehen auf den Bürgersteigen und Rasenflächen und warten auf den zukünftigen Präsidentet.
Mama, Daddy, meine jüngeren Geschwister Barbara und Irvin und ich rutschten so nah wie möglich ans Radio. Jimmy und Del-lareen, unsere schwarzen Diener, waren mit ihren fünf Kindern auch da. Mama hatte sie eingeladen, damit sie hören konnten, wie Mr Roosevelt seinen Amtseid ablegte. Normalerweise arbeiteten sie nur die Woche über bei uns.
Es war, als hielte Amerika die Luft an und wartete darauf, dass dieser neue Präsident uns von uns selbst erlösen würde.
Ich war vor Anspannung ganz nervös und Mama hatte ihr Sonntagslächeln aufgesetzt, aber Daddy machte keinen Hehl aus seiner düsteren Stimmung. Daddy war Banker und an jenem Morgen des 4. März 1933 hatte selbst die letzte Bank in den Vereinigten Staaten ihre Türen geschlossen. Das ganze Land fürchtete sich - na ja, war gelähmt vor Angst, traf es vielleicht besser.
Während wir auf die Antrittsrede warteten, ging Mama zu Dad-dy und gab ihm einen Kuss auf die Wange. „Holden, glaub mir, Mr Roosevelt kriegt das Land wieder auf Kurs."
„Zu spät, Dot", war alles, was er sagte.
Typisch, dachte ich und ärgerte mich, weil er drauf und dran war, diesen historischen Moment zu ruinieren. Auch wenn er Grund hatte, pessimistisch zu sein. Als Vorstandsmitglied der Georgia Trust Bank hatte er angesichts der Wirtschaftslage wenig Hoffnung auf ein Wunder.
„Er wickelt die Leute mit seinen schönen Worten um den Finger, dieser Roosevelt", sagte Daddy. „Aber was er konkret machen will,
hat er noch nicht ein einziges Mal gesagt. Seine Reden bestehen aus blumiger Rhetorik mit einem Schuss Humor. Aber was wirklich dahintersteckt, weiß kein Mensch."
Mama tätschelte Daddys Hand und zuckte verständnisvoll mit den Schultern. Im Hintergrund hörten wir Musik und dann und wann leitete der Ansager kurze Werbepausen ein, in denen für
Coca-Cola, Sears, Roebuck and Company oder Haverty's Furniture geworben wurde. Schließlich kam die Rede des neuen Präsidenten.
Dellareen ermahnte zwei ihrer Jungs, die auf dem Boden saßen und sich zankten. Ich saß auf dem Wohnzimmertisch, die Füße auf Ir-vms Schoß, und niemand scheuchte mich runter.
Ich glaube, wir beteten alle um ein Wunder. Ganz Amerika brauchte eins - vom Banker bis zur Haushaltshilfe Republikaner,
Demokraten, Alte und Junge. Ich war ziemlich froh, dass Herbert Hoover nicht mehr Präsident war. Ich hatte genug von den Elends-
vierteln, die wir nur „Hoovervilles" nannten, und von hundert anderen Sachen, über die wir nur die Köpfe schütteln konnten. Der Gedanke an eineeränderung ließ mein Herz höherschlagen.
Mr Roosevelts Sflrnme kam knisternd durch den Radiolautsprecher und wir beugten uns gespannt vor.
Dieses große Volk wird weiter durchhalten, wie es bisher durchgehalten hat, es wird wieder aujblühen und gedeihen. So lassen Sie mich denn als Allererstes meine feste Überzeugung bekunden, dass das Einzige, was wir zu flirchten haben, die Furcht selbst ist - die namenlose, blinde, sinnlose Angst, die die Anstrengungen lähmt, derer es bedarf um den Rückzug in einen Vormarsch umzuwandeln.
Wir lauschten gebannt, verzückt - außer vielleicht Daddy -‚ ließen uns von seinem väterlichen Ton beruhigen und hörten die zuversichtlichen Ankündigungen, die in meinen Ohren wie der Startpunkt für ein Wunder klangen.
„Und Präsident Roosevelt demonstrierte diese Stärke und den Optimismus höchstpersönlich, indem er sich aus dem Rollstuhl erhob und trotz seiner Gehbehinderung über die Bühne zum Rednerpult schritt", verkündete der begeisterte Radiosprecher nach Roosevelts Rede.
Ich hoffte, dass die Rede des neuen Präsidenten auch Daddys Laune heben würde. Er war im Lauf der letzten Monate imiiier mürrischer geworden. Normalerweise vertraute mir mein Vater vieles an, was seine Arbeit betraf; die mich immer wieder faszinierte. Aber in letzter Zeit war er viel allein im Arbeitszimmer gewesen und gestern Abend hatte ich gehört, wie er sich mit Mama über die Situation in den Banken gestritten hatte.
Mama blickte mit einer Portion Optimismus auf das Leben, was meinen vor sich hin brütenden Vater oft besänftigte. Manchmal machte seine finstere Laune seinen Haaren alle Ehre - sie waren kohlrabenschwarz und es war nicht ein graues dazwischen. Komisch, dass mein Vater, der so oft melancholisch war, jung und frisch aussah, während Mama Ringe unter ihren hübschen grünen Augen hatte und alle zwei Monate ihr dunkelblondes Haar färben lassen musste, ein Luxus, den wir nie als Luxus angesehen hatten, bis Daddy letzten Monat wütend nach Hause gekommen war und der armen Mama den Besuch im Schönheitssalon untersagt hatte.
Aber Mama war erfinderisch und schaffte es auch so, einen neuen Schnitt und neue Farbe zu bekommen - Dellareen kannte sich zum Glück gut damit aus und hatte schon vielen weißen
Damen die Haare gemacht. Ich hatte Dellareen dabei zugesehen, wie sie ihr Gebräu anrührt hatte, und inständig gehofft, dass es funktionieren würde, damit meine Freunde aus Atlanta nicht auf den Gedanken kamen, bei den Singletons wäre die Armut ausgebrochen.
An jenem Samstag Anfang März hatte Präsident Roosevelt die Nation mit seinen Worten besänftigt und ich verspürte so etwas wie Hoffnung.- Ich hatte Freunde, Partyeinladungen und Massen an Verabredungen, und der Präsident würde es schon irgendwie - schaffen, die Wirtschaft wieder auf Trab zu bringen. Und die Banken. Oh, bitte, auch die Banken, vor allem die von Daddy.
„Perri, ich möchte, dass du mich nachher zum Bahnhof begleitest", sagte Mama nach dem Mittagessen. Irvin war schon wieder nach draußen entwischt, um mit seinen Freunden Baseball zu spie- - len. Barbara besuchte ihre Freundin LüIu und Daddy war im Ar-
beitszimmer verschwunden. -
Ich wollte eigentlich meine Freundin Mae Pearl besuchen, um sie zu fragen, was sie von Roosevelts Rede hielt. Missmutig verzog ich das Gesicht. „Och, Mama. Warum?"
‚josephine Chandler holt -ihre Nichte aus Chicago ab. Sie wird den Rest des Jahres bei den Chandlers wohnen und aufs Washington Seminary gehen."
-,‚Sie fängt jetzt mit der Schule an? Im März?"
„Ich glaube, ihre Familie hat es ziemlich hart getroffen und Mrs Chandler hat angeboten, das Mädchen aufzunehmen und für eine
ordentliche Schulbildung zu sorgen." -
Alle hat es hart getroffen, dachte ich und ärgerte mich darüber, dass Mama gerade meine Nachmittagspläne durchkreuzt hatte. - Aber dieses Mädchen hafte echtes Glück. Die Chandlers lebten im größten Haus in unserer Nachbarschaft und veranstalteten fast jede Woche irgendein Fest. Ich kannte jede Menge Mädchen, die ihren - Eistee im August hebend gern gegen einen Besuch im Haus der -
- Chandlers eingetauscht hätten. -
„Holden, wir nehmen den Buick", rief Mama. Mein Vater musste wohl seine Zustimmung gegeben haben, denn kurz darauf fuhren wir schon in Daddys Zweitürer, dem Buick Victory Coup& die Wesley Road hinunter in Richtung Peachtree Street zu den Chand- lers. Daddy liebte sein Auto so sehr, dass er Mama eigentlich fast nie damit fahren ließ.
Dann hat er bestimmt wegen Mr Roosevelt gute Laune, dachte ich.
Mama war wie immer etwas nervös beim Fahren, aber obwohl das auf mich abfärbte, ließ ich mir nichts anmerken. Mrs Chandler wartete schon auf uns und ihr Fahrer stand bereit, um uns im Pierce Arrow Cabriolet zum Balinhöf zu bringen. Oh, was für ein elegantes Auto! Mrs Chandler stieg auf der Beifahrerseite ein und Mama und ich kuschelten uns auf dem Rücksitz aneinander, während der Frühlingswind uns die Haare durcheinanderwirbelte.
„Das Mädchen heißt Mary Dobbs Dillard. Sie ist sechzehn oder siebzehn und wird in deine Klasse gehen, Perri." Mrs Chandler drehte sich beim Reden um und ihr perfekt frisiertes Haar wehte etwas durcheinander. „Ich hatte sie jahrelang nicht gesehen und als ich dann letzten Herbst in Chicago war, musste ich feststellen, wie schwer es meinen Bruder und seine Familie getroffen hat. Ich bestand darauf, dass Mary Dobbs hierherkommt. Sie ist ziemlich intelligent und hat eine gute Schulbildung verdient." Mrs Chandler sah kurz nach vorn.
„Mein Bruder Billy meint es natürlich gut. Er möchte wohltätig sein, aber ich hafte den Eindruck, seine Familie hungert, während er großzügig seine Almosen gibt. Ich wollte ja eigentlich die beiden jüngeren Schwestern auch herholen, aber Billys Frau Ginnie meinte, sie seien zu jung, um von zu Hause wegzugehen."
Ich stellte mir - Mrs Chandlers Nichte vor - dürr, hohläugig, schüchtern und ausgehungert. Mrs Chandlers Bruder sah in meiner Vorstellung aus wie der Mann auf Dorothea Langes Foto mit dem Titel „White Angel Breadline". Darauf waren müde Männer zu sehen, die für Brot anstanden. In der Mitte war ein Mann der Kamera zugewandt Er hatte einen abgewetzten Hut auf dem Kopf und lehnte sich über einen Holzzaun, auf dem eine Blechtasse stand, um die er die Arme gelegt hafte. Er sah bettelarm aus. Dorothea Lange war meine Heldin damals Wie sie wollte ich auch fotografieren können.
Wir hielten vor dem stattlichen Bahnhof mit seinen Bögen und Türmchen.
Mrs Chandler, Mama und ich beeilten uns, das Gleis ausfindig zu machen, an dem das arme Mädchen aus meiner Vorstellung gleich ankommen sollte. Ein paar Minuten Später stieg - Mary Dobbs Dillard in einer Wolke aus Rauch und Dampf aus dem Zug und es verschlug mir den Atem.
Ich war vom ersten Augenblick an von ihrer Erscheinung gefesselt. Mary Dobbs War das hübscheste Mädchen, das ich je gesehen hatte, aber auf eigenartige, unkonventionelle Art. Ihre Haut war leicht gebräunt - und stand damit in starkem Kontrast zu der vornehmen Blässe, die bei uns Mode war. Ihre dichten, schwarzen Locken, die bis zur Taille reichten, trug sie offen. Ihre Augen waren tiefschwarz - wie große, ovalförmige Onyxsteine - und ihr Gesicht war genauso oval, mit hohen Wangenknochen und einer Haut, die noch nie ein Pickelchen verunstaltet hatte, da war ich mir sicher. Sie war zierlich und nicht besonders groß, aber zugleich wirkte sie stark und entschlossen. Das ausgeblichene dunkelblaue Baumwollkleid, das sie trug, hing an ihr herunter.
Vielleicht hatte ihre Familie ganz schön zu kämpfen, aber Mary Dobbs sah weder schüchtern noch kleinlaut aus. Sie stand gerade, die Schultern zurückgeschoben und auf ihrem hübschen Gesicht spiegelte sich Erstaunen.
„Hallo, Mary Dobbs", sagte Mrs Chandler und legte ihr freundlich eine Hand auf die Schulter.
Mary Dobbs stellte ihren kleinen Koffer ab. Er war grauweiß, hatte etliche Schrammen und wies viele Gebrauchsspuren auf, um es positiv auszudrücken. Sie schlang die Arme um Mrs Chandler. „Ich freue mich ja so, endlich hier zu sein, Tante Josie!"
Etwas überrascht löste sich Mrs Chandler vorsichtig aus Mary Dobbs' Umarmung. „Na, na. Schön, dass du heil angekommen bist." Dann wandte sie sich an Mama und mich. „Mary Dobbs, ich möchte dir eine gute Freundin vorstellen. Das ist Mrs Singleton und das ihre Tochter Perri."
Mary Ddbbs begutachtete uns, zeigte ihre perfekten Zähne und griff nach meiner Hand, um sie im nächsten Moment kräftig zu schütteln. „Freucmich", sagte sie, und fügte dann leise hinzu „Mey sagt keiner zu mir. Ich heiße einfach Dobbs.”
Ich wurde rot.
„Also schön, Mary Dobbs", sagte Mrs Chandler, „dann lasse ich den Chauffeur mal deine Taschen holen."
Sie gab dem Fahrerein Zeichej%, aber Dobbs schüttelte den Kopf und zeigte auf ihren alten Koffer. „Mehr habe ich nicht."
Mrs Chandler sah wieder ziemlich überrascht aus, aber nur für einen kurzen Augenblick. „Na schön, wenn das alles ist, dann können wir ja fahren." Der Fahrer nahm den Koffer und ging uns voraus.
Auf dem Weg nach Hause saß ich zwischen Mama und Dobbs. Fasziniert beobachtete ich, wie ihre lange schwarze Mähne wie eine Fahne auf der Maiparade im Wind flatterte. Ich kannte kein anderes Mädchen mit langen Haaren.
Mama stieß mich heimlich an, was wohl so viel bedeuten sollte wie Sag irgendwas, Pen-i! Also fragte ich: „Warst du schon mal in Atlanta?"
„Ein oder zwei Mal, vor langer Zeit. Ich kann mich nicht mehr an viel erinnern, aber mein Vater hat mir einiges über Atlanta erzählt."
„Dann kommt er von hier?"
Dobbs sah mich zweifelnd an. „Natürlich. Mein Vater ist doch Mrs Chandlers Bruder. Er ist in dem Haus aufgewachsen, in dem sie wohnt."
Mir wurde heiß. Natürlich. Was Ar eine dumme Frage!
Ich wollte ihr sagen, was für ein großes Glück sie hatte, in dieses riesige Haus zu ziehen, aber das wäre nicht höflich gewesen.Und egal welche Fehler ich sonst haben mochte, ich wusste wann ich höflich zu sein hatte, vor allem jetzt, wo Mama neben mir saß. Ich wollte Dobbs nach ihrem Leben in Chicago fragen,- aber angesichts dessen, was Mrs Chandler erzählt hatte, wäre das wohl auch unhöf-lich
nhö&lich gewesen.
Also herrschte Schweigen.
Mami versuchte ein Gespräch in Gang zu bringen. „Perri, Liebes, warum erzählst du Mary Dobbs nicht ein wenig von deiner Schule, von den Mädchen in deiner Klasse? Das interessiert sie bestimmt."
Ich machte ein finsteres Gesicht. Es schien sie nicht nur zu interessieren, sie schien geradezu gierig danach zu sein. Ihre Augen waren groß vor Erwartung und das störte mich. „Die Schule heißt Washington Seminary. Das weißt du bestimmt schon
„Oh ja!", unterbrach mich Dobbs. „Washington Seminary, dabei
Dani Pettrey Dü n n e s Ei s
Piper fuhr auf. Trotz der Dezemberkälte war ihr Schlafanzug vom Schweiß ganz feucht.
Was war das?
Ihr verschlafener Blick fiel auf die Uhr – 1:30 Uhr – und dann auf Aurora, die wie eine Wache an der Schlafzimmertür stand. Das weiße Fell des Huskys zuckte auf seinem Rücken, die Ohren waren aufgestellt.
Piper zog die verknoteten, mit Schneeflocken bedruckten FlanellBetttücher fort, in denen ihre Beine sich verfangen hatten, und lauschte.
Da war es wieder. Ein Knarren der Bodendielen im Stockwerk unter ihr. Schwere Schritte. Nicht die von Kayden. Aurora sprang an der Tür hoch und legte die Pfoten an den ramponierten Türrahmen. Ein tiefes Knurren kam aus ihrer Kehle.
Piper stieg aus dem Bett, wobei sie den Kälteschock an den Füßen ignorierte, und durchquerte das Zimmer. Sie zog die Tür einen Spaltbreit auf und spähte in die Dunkelheit hinaus. Wieder drang ein Knarren vom Flur im Erdgeschoss herauf. Die Schritte blieben am Fuß der Treppe stehen.
Aurora winselte und schob ihre Schnauze in die Türöffnung. Piper wollte Auroras Halsband packen, war aber nicht schnell genug. Aurora stieß die Tür auf und lief auf den Gang hinaus.
Piper folgte ihr, aber ihre Schwester hielt sie zurück – mit einem Gewehr in der Hand. Kayden ließ Piper los und hob dann warnend den Zeigefinger an ihre Lippen.
Sie schlichen den Gang entlang, während Aurora knurrend die Treppe hinunterjagte.
Eine männliche Stimme ertönte unter ihnen, eine Art Grunzen.
Dann fiel etwas Schweres zu Boden. Kayden richtete den Gewehrlauf auf das Durcheinander im Untergeschoss. „Mach das Licht an“, flüsterte sie.
Piper betätigte den Schalter.
Aurora stand in Habachtstellung etwa dreißig Zentimeter von
dem Mann auf dem Boden entfernt. Er zog den Arm von seinem
Gesicht und blickte auf.
„Reef?“ Piper starrte ihren Bruder entsetzt an. „Ist das Blut?“
Landon Grainger leerte das Glas mit Rum in einem Schluck und spürte, wie die Flüssigkeit heiß wie Feuer durch seine Brust sickerte. „Sieht aus, als müsstest du Kummer runterspülen, Officer.“ Becky Malone drehte sich auf ihrem Barhocker und beugte sich vor, bis der würzige Duft ihres Parfüms ihn in der Nase kitzelte.
Er stellte das leere Glas auf den Tresen und gab dem Barkeeper ein Zeichen, es wieder aufzufüllen. „Hast du eine Ahnung.“
Sie fuhr mit dem Finger über den Rand ihres Glases. „Oh, du wärest überrascht, was ich alles weiß.“ Ihr selbstbewusster Tonfall erschreckte ihn. War er so leicht zu
durchschauen?
„Liebeskummer ist mir nicht fremd.“
Landon zog eine Grimasse. Offenbar war er so leicht zu durchschauen. „Noch einen?“, fragte der Barkeeper und hielt die Flasche über Landons leeres Glas.
Er zögerte, obwohl er vergessen wollte. Vergessen musste … Aber dieser Drang war es, der ihn mit einem Mal vorsichtig werden ließ. Er wollte einen Absturz vermeiden. „Lieber ein Bier.“ Er musste gehen. Er musste nach Hause fahren. Nur noch ein Bier, dann war
es genug. Er hätte die Bar überhaupt nicht betreten sollen.
„Weißt du“ – Becky rutschte näher, bis ihr Oberschenkel seinen berührte – „ich finde immer, Gesellschaft ist die beste Medizin gegen Liebeskummer.“
Er hätte gerne gefragt, warum sie so sicher war, dass sein Drang zu vergessen von Liebeskummer herrührte. Doch er wus ste, dass die Frage ihn nur noch angreifbarer machen würde. Wenn Becky den Namen von Piper erwähnen würde …
Piper. Landon hielt den Hals der Bierflasche mit zwei Fingern und setzte sie an seine Lippen. Merkwürdig, wie schnell alte Gewohnheiten zurückkehrten. Wenn er nicht aufpasste, würde er sich irgendwann am Fuß des rutschigen Abhangs wiederfinden, an dessen Rand er sich gerade bewegte. Er war zu lange vernünftig gewesen,
um sich nun von seinem Kummer so weit zurückwerfen zu lassen.
„Was meinst du?“ Becky fuhr mit ihrem Finger seinen Brustkorb hinunter und verursachte ein ebensolches Brennen wie der Rum. „Ich bin richtig gut darin, Gesellschaft zu leisten.“
„Da bin ich mir sicher, aber …“ „Immer dieses Aber …“ Sie schüttelte den Kopf. „Das ist ein Teil
deines Problems.“
Er trank einen schnellen Schluck von seinem Bier, warf einen Zehner auf den Tresen und erhob sich. Becky legte den Kopf schief und lächelte. „Ist das eine Einladung?“
Sie drehte sich ihm ganz zu. Sein Blick wurde unwillkürlich von ihren langen Beinen zwischen dem Rand ihres schwarzen Mini-Jeansrocks und dem Schaft ihrer roten Krokodillederstiefel angezogen.
„Bist du für unser Alaskawetter nicht ein bisschen zu dünn angezogen?“ Thanksgiving lag gerade hinter ihnen, und sie hatten schon minus zehn Grad und Schnee. Sie kam aus Yancey und müsste es eigentlich besser wissen.
„Ach, Süßer.“ Sie stand auf und strich ihren Rock glatt. „Ich weiß schon, wie ich mich warm halten kann.“
Wärme klang gut. Er hatte genug von seiner inneren Kälte und Einsamkeit und es war ihm schmerzlich bewusst geworden, dass aus Piper und ihm wohl nie etwas werden würde. Er verdrängte die Erinnerung an die Ereignisse des Abends.
Beckys Finger schoben sich zwischen seine. „Warum feiern wir diese Party nicht irgendwo weiter, wo wir ungestört sind?“
„… es könnte wie Weisheit erscheinen, wäre da nicht die Warnung meines Herzens.“
Warum hatte er den Herrn der Ringe als Jugendlicher so oft gelesen? Es gab so viele Zeilen, die in sein Gedächtnis eingegraben waren.
„Nur ein paar Drinks unter Freunden“, sagte sie und führte ihn zur Tür.
„Und dann?“ Er wusste genau, was sie danach wollte.
„Und dann …“ Sie nahm ihren Mantel von der Garderobe, stieß
die mit kitschigem roten Lametta geschmückte Tür auf und zog ihn
auf den Parkplatz hinaus.
Tariuks eisige Seeluft traf mit beißender Kälte seine wettergegerbten Wangen und holte ihn in die Realität zurück.
Becky schlüpfte in ihren Mantel und zog ihn fest um sich. „Und dann … sehen wir einfach, was sich richtig anfühlt.“ Nichts von all dem hier fühlt sich richtig an. „Ich weiß das Angebot
zu schätzen …“
„Aber?“
„Aber …“ Er seufzte und blickte zu der Weihnachtsbeleuchtung hinüber, die der Wind an einem Ende losgerissen hatte und die in regelmäßigen Abständen gegen die Dachrinne von Hawkings
Pub schlug. Es war nicht gerade eine der feineren Lokalitäten von Yancey, aber auf einer Insel, die so klein war wie Tariuk, hatte er kaum einen anderen Ort finden können, um Abstand zu gewinnen. Sie lächelte. „Ich habe dir doch gesagt, dass dieses Aber ein Spielverderber ist.“
Sein Handy klingelte und ihr Blick wanderte zu seiner Hosentasche. „Ich muss drangehen.“
Sie machte keine Anstalten, ihn loszulassen.
„Grainger.“
„Tom hier.“
Becky schmiegte sich an ihn.
Er versuchte, sich aus ihrem Griff zu befreien. „Das ist jetzt kein guter Zeitpunkt.“
„Das kann man wohl sagen.“
„Was ist los?“
„Wir haben einen Mordfall.“
Landon schluckte zwei Schmerztabletten, um sich gegen die Kopfschmerzen zu wappnen, die der Alkohol mit Sicherheit verursachen
würde. Er fuhr mit einer Hand am Steuer, während er den Rest
seines Energydrinks in sich hineinschüttete. Er hatte versucht, die
Erinnerung an den frühen Abend auszulöschen oder wenigstens zu
ertränken, aber nach ein paar Drinks und einer Beinahe-Katastrophe mit Becky schien alles nur noch fester in sein Gedächtnis gegraben zu sein. Was früher eine wirksame Form der Flucht gewesen
war, fesselte ihn jetzt und betonierte in seiner Erinnerung alles ein,
was er zu vergessen versuchte.
Er zerquetschte die leere Getränkedose in seiner Faust.
Was war nötig, um Piper zu vergessen? Um zu verhindern, dass
der Schmerz quälend langsam seine Eingeweide verzehrte?
Er warf die zerknautschte Dose auf den Boden unter dem Beifahrersitz und beschleunigte.
Abgesehen von seinem eigenen Auto war die Straße wie leergefegt. Sie erschien ihm wie ein langer, dunkler Abgrund, der sich vor
ihm auftat. Eine Zeit lang war er am Rand des Abgrunds entlanggewankt, aber heute Abend … Er umklammerte das Lenkrad, und
der Schmerz zog durch seine Arme bis in sein Herz. Der heutige
Abend hatte ihn über die Klippe getrieben. Die Wirklichkeit hatte
ihn getroffen wie ein Blitzschlag.
Als er Piper zusammen mit Denny Foster bei Coles und Baileys
Verlobungsfeier gesehen hatte, war es ihm schmerzlich klar geworden: Irgendwann würde es Pipers Verlobung sein, dann ihre Hochzeit. Und er würde am Rand stehen und mit ansehen müssen, wie
die Frau, die er liebte, ihr Leben einem anderen versprach.
Vor ihm tanzte der schwache Schein roter Lichter in der gleißenden Helligkeit einer Flutlichtanlage. Landon blinzelte geblendet
und hielt neben einem Streifenwagen mit Blaulicht. Er holte tief Luft und stieg aus seinem Pick-up. Innerlich wappnete er sich für das, was ihn erwartete.
Der gefrorene Boden knirschte unter seinen Stiefeln, als er an dem provisorischen Lagerplatz der Midnight Sun Extreme-Sportveranstaltung – bestehend aus einer Reihe Wohnwagen und Zelte
– vorbeiging. Er steuerte auf die Trailside Lodge zu, das Hotel, in dem die Sportler untergebracht waren. Der sonst so urige und friedliche Ort wimmelte nur so vor Geschäftigkeit. Das Flutlicht schien die Verwirrung noch zu vergrößern und die Hektik zu verstärken.
Eine Menschentraube stand draußen und beobachtete den Sheriff und seine Mitarbeiter, während diese den Bereich vor dem Hotel absperrten. Die etwas mehr als fünfzig Gäste, überwiegend Snowboarder und Skiläufer – Konkurrenten in der Sportveranstaltung
–, wurden so mehr oder weniger durch das Absperrband in einem Streifen neben dem Haupteingang eingepfercht.
Deputy Tom Murphy entdeckte ihn in der Menge und kam auf ihn zu.
„Wer hatte denn die schlaue Idee mit dem Flutlicht?“
Tom räusperte sich und deutete mit dem Kopf auf Sheriff Slidell.
Landon seufzte. Natürlich. Landons Boss war ein gewählter Beamter ohne vorherige Polizeierfahrung und schwankte zwischen
beinahe völliger Tatenlosigkeit bei einem Fall und blindem Aktionismus beim nächsten.
Trotz seines Amtes hatte Bill Slidell nicht die geringste Ahnung
davon, wie man einen Tatort zu behandeln hatte. Das wurde nun
wieder mehr als deutlich.
„Wenn der Bereich gesichert ist, können wir vielleicht die Scheinwerfer ausmachen. Wir brauchen den Leuten schließlich nicht noch
mehr Angst einzujagen, als sie ohnehin schon haben.“
Tom tippte an seine Mütze. „Alles klar.“
Landon betrat die Hotellobby und stellte erstaunt fest, dass das
Feuer in dem großen gemauerten Kamin brannte und auch die Beleuchtung am Weihnachtsbaum noch eingeschaltet war. Die riesige, über drei Meter hohe Fichte berührte fast die Holzdecke. Die Flammen, die sich in den silbernen Christbaumkugeln spiegelten, ließen das Feuer in dem ansonsten leeren Eingangsbereich noch heller erscheinen. Andy Miner, der Eigentümer und Manager des Hauses aus dem neunzehnten Jahrhundert, kam aus dem Hinterzimmer. „Bin ich
froh, dass du hier bist, Landon. Slidell hat alle meine Gäste aus dem
Bett geworfen und in die Kälte rausgescheucht. Und dabei ist es
beinahe zwei Uhr morgens.“
Landon warf Tom einen Blick zu.
Tom zuckte mit den Schultern. „Befehl vom Boss.“
Er zog eine Grimasse. „Du kannst Slidell sagen, wenn der Tatort abgesperrt ist, gibt es keinen Grund, die Leute nicht wieder ins Haus zu lassen. Sag ihm, sie werden kooperativer und einfacher zu befragen sein, wenn sie sich nicht zu Tode frieren.“ Ganz zu schweigen davon, dass man sie besser im Auge behalten kann.
„Alles klar. Willst du auf mich warten oder allein raufgehen?“
„Wo ist sie?“
„Damenumkleide, oberster Stock.“
„Wer ist oben?“
Tom räusperte sich. „Slidell wollte, dass wir hier unten suchen.“
„Und ihr habt den Tatort eines Mordes unbewacht gelassen?“
„Wir haben den Eingang mit Band abgesperrt und da alle Gäste
hier draußen sind …“
Landon ging zum Treppenhaus und nahm zwei Stufen auf einmal, während er in den siebten Stock hinauflief. Sein Herz hämmerte im Rhythmus mit dem Geräusch seiner Stiefel auf den Betonstufen. Es half ihm, wenn das Blut in seinen Adern pulsierte und das Adrenalin strömte, bevor er einen Tatort betrat, so als wollte er das Herz hochfahren, damit es den Schock besser verkraften konnte, den es erwartete. Seiner Erfahrung nach traf es ihn dann nicht so hart –
jedenfalls nicht körperlich.
Er verließ das Treppenhaus, als Tom gerade aus dem Aufzug trat. „Ich dachte, du redest mit Slidell darüber, das Flutlicht auszuschalten“, warf er Tom entgegen. Slidell würde den Vorschlag, die Gäste ins Haus zu lassen, von Tom wesentlich eher annehmen als von ihm. Nach dem letzten Mordfall, in dem sie gemeinsam ermittelt hatten, war es Landon so erschienen, als hätten er und sein Chef endlich einen gemeinsamen Nenner gefunden. Doch jetzt, wo Slidells Wahlkampf für die Wiederwahl in vollem Gange war, wurde
sein Boss mit jedem Tag mehr Politiker und weniger Polizist.
„Das werde ich auch, aber ich muss dir erst noch was sagen.“
„Was denn?“
„Ich wollte vor Andy nicht davon sprechen, obwohl ich sicher bin, dass er es weiß. Wahrscheinlich wissen es inzwischen alle.“
„Was wissen alle?“
Tom rieb sich den Nacken. „Die Zeugen … sie sagen …“
„Zeugen?“ Konnten sie so viel Glück haben? „Sie haben den
Mord mit angesehen?“
„So gut wie. Sie haben den Killer dabei ertappt, als er gerade fertig war. Er hatte das Blut des Opfers überall an sich.“ Es kam nicht oft vor, dass es bei einem Fall gleich einen solchen
Durchbruch gab. „Erzähl mir der Reihe nach, was passiert ist.“ „Eine der Sportlerinnen sagte, sie hätte vorhin etwas hier oben vergessen.“
„Hast du ihren Namen?“ Bitte sag, dass du sie nach ihrem Namen gefragt hast.
„Moment.“ Tom zog einen kleinen Notizblock aus seiner Hemdtasche. Er schlug ihn auf und überflog die Seite. „Ashley Clark.“
Landon notierte sich den Namen. „Gut. Und weiter?“
„Also ist sie mit ihrem Freund hier heraufgekommen, um es zu holen.“
„Der Name des Freundes?“
„Tug Williams, auch ein Teilnehmer bei dem Wettkampf.“
„Okay.“ Landon schrieb den Namen auf.
„Sie steigen aus dem Aufzug und gehen den Flur hinunter. Sie hören Geräusche aus der Damenumkleide, also streckt Ashley den Kopf rein. Da sieht sie das Opfer tot in den Armen des Killers, die Mordwaffe hat er noch in der Hand.“ „Wir haben den Täter in Gewahrsam?“ Warum hatte Tom das nicht gesagt?
„Ich fürchte nicht. Er hat mit Tug gestritten, bevor er an ihm und
Ashley vorbeigestürmt und abgehauen ist.“
Gestritten? „Die Zeugen kannten den Verdächtigen?“
„Das ist richtig.“
„Und, wer ist es?“ Warum druckste Tom so herum?
„Es wird dir nicht gefallen …“
Ein mulmiges Gefühl machte sich in Landons Magen breit. „Eine Frau ist ermordet worden. Daran gefällt mir gar nichts.“ „Der Mörder ist Reef McKenna.“
Landon wurde es schwarz vor Augen. „Reef?“ Das konnte nicht sein. „Beide Zeugen haben ihn identifiziert.“ Das wird Piper umbringen. „Hat Slidell schon die Fahndung ausgeschrieben?“
„Nein. Er hat uns nur beauftragt, die Gäste zusammenzutrommeln und den Umkreis abzusperren.“
Er bezweifelte, dass Reef auf dem Gelände geblieben war. „Irgendeine Ahnung, wo er ist?“
„Keinen Schimmer. Sollen wir jemand zu seiner Familie schicken?“ „Das mache ich selbst.“ Wenn jemand es ihnen beibrachte, dann würde er es sein.
Der schwarze Rächer
Es war im Jahre 1685. Die Junisonne goss ihre goldenen Strahlen über die etwas verfallene Pracht von Schloss Fenwickl mit seinen Schutzwällen und Türmen, seinen gepflegten Rasenflächen, ausgedehnten Wäldern und üppigen Gärten.
An diesem warmen Junitag hatten sich ein älterer und zwei junge Männer zum Mittagsmahl im großen Speisesaal des Schlosses niedergelassen. Der Raum war dreizehn Meter lang und sieben Meter breit, und seine Decke bestand aus einem Gitter dicker Eichenbalken. Wildschwein-, Wolfs- und Hirschfelle bedeckten den steinernen Fußboden. Im Kamin war frisches Holz aufgestapelt.
Der Mann am Kopfende des Tisches war eine imposante Erscheinung. Trotz seiner siebzig Jahre war seine Gestalt ungebeugt und volller Lebenskraft. Er war gewiss über einen Meter achtzig groß, und seine breiten Schultern verrieten große körperliche Kraft. Diese Gestalt hätte auf rücksichtsloses Durchsetzungsvermögen schließen
lassen können, doch dem widersprachen der edel geformte Kopf mit der langen Mähne grauen Haares, die freundlichen blauen Augen und das ernste Gesicht, in das Angst und Leid tiefe Furchen gegraben hatten. Das Haus Fenwick hatte böse Zeiten gesehen, und nun, im Alter Donalds des Guten, mehrten und verdichteten sich die drohenden Schatten.
Als im Jahre 1559 John Knox nach Schottland zurückgekehrt war, hatten sich die von Fenwick zusammen mit anderen schottischen Edlen dem Protestantismus verschrieben, weil sie mit der Annäherung der königlichen Politik an Frankreich unzufrieden waren. 1638 unterzeichnete Donald, Herzog von Fenwick, auf dem Kirchhof von Greyfriars in Edinburgh zusammen mit vielen anderen Schotten die Gründungsurkunde des schottischen Glaubensbundes. Sie verpflichteten sich, die neugegründete Presbyterianische Kirche von Schottland mit Leib, Leben und Gütern zu unterstützen und zu verteidigen und das Papst- und Prälatentum und alle verkehrten Formen des Glaubens auszurotten.
Zwischen den beiden jungen Männern, die mit ihm am Tisch saßen, bestand ein auffälliger Kontrast. Obwohl beide ihn Vater nannten, war doch deutlich, dass sie nicht blutsverwandt waren. Sie waren beide in ihrem einundzwanzigsten Jahr. Der junge Mann auf
der linken Seite hätte in jedem Kreis durch seine auffallende Schönheit hervorgestochen. Er hatte das wie in Kupfer gestochene Gesicht eines Patriziers, glatte Haut, glänzende schwarze Augen und ein energisches Kinn. Dass er schön war, war nicht zu leugnen, doch sein gutes Aussehen mochte nicht jedermanns Geschmack sein. Seine Lippen waren zu dünn, und in seinen Augen glühte bisweilen Hass. Sein Stiefvater, Gilbert Crawford von Maybole, war ein guter Freund des Herzogs von Fenwick gewesen. Während seiner Garnisonzeit in Edinburgh hatte er Senora Amanda de Ferrari kennengelernt und geheiratet, die Witwe des Grafen de Ferrari. Sie war mit ihrem Sohn
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nach dem Tode ihres Gatten in die schottische Hauptstadt gekommen. Die Ehe dauerte nur drei Jahre, bis die Senora starb und ihr Gatte ihr ein Jahr später ins Grab folgte. Vor seinem Tod ersuchte
Gilbert Crawford seinen alten Freund, sich des Waisenknaben anzunehmen. Auch Donald Fenwicks Sohn hatte bereits seine Mutter verloren, und so hatte der Herzog den damals zehnjährigen Jungen mit sich nach Hause genommen. So kam Luis Salvador de Ferrari in das Haus Fenwick und nahm den Namen seines Wohltäters an, womit er auch alle Rechte und Privilegien eines Fenwicks erlangte.
Dem jungen Mann, der ihm gegenübersaß und den Kopf eines großen, schwarzen Jagdhundes an seiner Seite streichelte, konnte,man ansehen, wie sein Vater vor einem halben Jahrhundert ausgesehen haben musste.
Duncan Fenwick war genauso groß, mit denselben breiten Schultern, der kräftig gebauten Figur, dem braunen Haar und den klaren blauen Augen, die sein Vater besaß, aber sein Aussehen hielt einem Vergleich mit dem seines Adoptivbruders kaum stand. Seine Züge waren so grob, dass man ihn fast
hätte hässlich nennen können, wären nicht der offene und ehrliche Gesichtsausdruck gewesen und der Humor, der gewöhnlich aus seinen Augen blitzte. Doch heute war sein Gesicht verfinstert,
und seine Augen blickten besorgt zum Vater hinüber.
»Aber Vater«, sagte er, »warum meint Ihr, sie würden uns jetzt behelligen? Warum sollten sie uns gerade jetzt verhaften, nachdem sie uns all die Jahre in Frieden gelassen haben?«
Der andere junge Mann sagte nichts, doch sein forschender Blick war auf den Mann gerichtet, den er Vater nannte.
Eine Zeit lang schien es, als hätte Donald Fenwick die Frage seines Sohnes überhört. Er starrte ins Leere, und seine Gedanken weilten in der Ferne. Die Sonne vergoldete das lebhafte Grün des Rasens, das Heidekraut und die Farne, die von Schloss Fenwick bis zur alten Straße nach Maybole den Abhang des Berges bedeckten. Weit im Süden konnte man den Shalloch und den Minnoch, die höchsten Gipfel der Pentlands, in das Blau des Himmels ragen sehen. In dem feierlichen Schweigen, in das die drei Männer verfallen waren,
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konnten sie das Rauschen des Girvan hören, der auf dem Weg zum Meer zwischen waldigen Ufern an dem kleinen Weiler Craigfin vorbeifloss. Heide und Ginster, Wald und Wasser, Berge, Täler, Hochmoore und Schluchten, der Gesang der Lerchen und das Blöken der Lämmchen, alles verwob sich zu einem wunderbaren Bild, auf das die milde Sonne herabstrahlte wie die Liebe Gottes aus der Herrlichkeit des Himmels.
Reinigung schienen ihre Strahlen zu verheißen, die Reinigung Schottlands von dunklen Taten unmenschlicher Menschen, die ihre Landsleute erschlugen, nur weil diese die Kirche Christi, sein Reich und seinen Glaubensbund liebten.
Donald Fenwick fuhr aus seinen Gedanken auf und wandte sich dem Sohn und seiner Frage zu.
»Mein Junge«, sagte er, »ich weiß, dass uns die Feinde des Herrn nicht mehr lange in Frieden lassen werden. Der Feuerofen wird noch siebenmal heißer gemacht werden, und mancher wird sein Leben
opfern müssen, wenn das Papsttum in Schottland nicht den Sieg erringen soll. Wohl stimmt es, dass Charles, der Hauptübeltäter, tot ist.
Er starb, wie er lebte, seine Huren um sich, seine Seele sündenbeschmutzt, von Menschen der Vergebung versichert, aber von Gott verdammt. Ein paar Worte eines antichristlichen Priesters sollten ihm helfen, aus den Armen Delilas in den Schoß Abrahams zu springen. Doch ich fürchte, mein Junge, dass unser Land immer mehr von Unruhen heimgesucht werden wird, solange noch ein papistischer Stuart auf dem Thron sitzt. Wie der große Apostel Paulus weiß ich, dass der Tag meines Scheidens nicht mehr fern ist. Unsere Feinde wissen, dass wir viele der Bergbewohner geschützt haben, und werden bald ihre Wut an mir auslassen.
Dass sie mir mein Leben nehmen können, bedeutet mir wenig. Die meisten meiner Freunde sind
mir schon vorausgegangen. Deine liebe Mutter ist auch dort drüben auf der anderen Seite. Dort sind ein Cargill und ein Cameron, ein Eccles, Horne, McCarron, McHarrie, McWhirter, Rodger und viele
andere tapfere Männer und Frauen, für die diese Welt zu schlecht war. Warum sollte ich länger ausgenommen sein? Und wenn die Opferung meines armen Lebens den Tag der Befreiung Schottlands
beschleunigen könnte, wie gern würde ich es weggeben und zehntausend andere Leben, wären sie mein!«»Aber warum müsst Ihr Euer Leben wegwerfen?«, warf Luis ein.
»Sicher geht es nicht um unverrückliche Prinzipien, wenn man sich der Befragung unterzieht und dem König als Haupt des Reiches und der Kirche Treue und Ergebenheit schwört. Gibt es nicht das schottische Sprichwort: ›Bück dich, damit dich die Welle nicht trifft!‹?
Warum sollte man sich da nicht ein klein wenig bücken?«
Donald Fenwick sah seinen Adoptivsohn an, und Tränen standen ihm in den Augen.
»Mein Junge, du weißt wenig vom Wort Gottes und von der Wahrheit, die wir in Jesus Christus haben. Ich fürchte Gott und ehre den König, wie es die Schrift befiehlt, und wie du wohl weißt, bete ich täglich für ihn. Doch das Haupt der Kirche ist Christus allein, und in der Sache Christi gibt es kein ›Bücken‹. Mein Junge, ich fürchte, das Papsttum, in dem du aufgewachsen bist, und das Prälatentum, das du in St. Andrews aufnahmst, haben dich für die Lehre Christi verdorben. Möge der Herr dich aus dieser Falle Satans erretten.«
Der junge Mann, dem diese Worte galten, wurde rot vor Zorn, und aus seinen schwarzen Augen loderte Feindseligkeit. Er öffnete den Mund, um etwas zu sagen, verschluckte aber dann mit
sichtlicher Anstrengung seine Worte. Als er seine Fassung wiedergewonnen hatte, sagte er:
»Sicherlich seht Ihr diese verrückte Bande von psalmensingenden Demagogen, die für eine bestimmte Art der Kirchenverwaltung gleich zum Märtyrer werden wollen, nicht in demselben Licht wie die studierten und ehrwürdigen Prälaten und Theologen der katholischen Kirche? Übrigens waren es ja diese, die das Licht der Gelehrsamkeit durch die Jahrhunderte hindurch leuchten ließen und der Nachwelt diese Bibel erhielten, auf die Ihr Euch fortwährend beruft.«
Wenn Donald Fenwick über die Worte des jungen Mannes traurig war, so zeigte er es nicht. Er war diese Ausbrüche gewöhnt und hatte nur eine Freundespflicht erfüllt, als er den Knaben unter die Obhut von Männern gegeben hatte, die über die Dinge des Glaubens anders als er dachten. Er liebte den jungen Mann wegen seines Widerstandes gegen die Wahrheit nicht etwa weniger, sondern eher mehr.
Wie David über seinen abtrünnigen Sohn Absalom Schmerz empfand, so hatte auch Donald Fenwick Mitleid mit seinem Pflegesohn. »Es war Gott, mein Junge, der sein Wort bewahrte. Die Instrumente, die er dazu benutzt, wählt er selbst aus, und manchmal lässt er es auch zu, dass eine schwarze Hand ein helles Licht trägt. Die Männer des Glaubensbundes sind keine verrückten Enthusiasten, wie du
annimmst, und streiten auch nicht um eine bloße Besonderheit der Kirchenverwaltung. Sie wollen eine reine Lehre und eine freie Kirche, und vor allem wollen sie alle Menschen vor den Gnadenstuhl
Christi bringen. Sie suchen das Martyrium ebenso wenig wie Stephanus oder Paulus oder die glorreiche Schar unter der Herrschaft Neros, die lieber von den Löwen zerrissen wurde, als der Diana auch nur ein wenig Weihrauch zu opfern.«
»Aber Eure Bibel lehrt Euch auch, den König zu ehren«, war die gereizte Entgegnung. »Und Gott zu fürchten«, fügte der alte Mann ernst hinzu. »Ich gehorche Seiner Majestät, dem König, so lange, wie er dem Gesetz und Gott gehorcht. Das solltest du in den Jahren, in denen du unter meinem Dach lebtest, gelernt haben.« Der junge Mann öffnete den Mund zu einer Entgegnung, besann sich aber eines Besseren und erhob sich ohne ein weiteres Wort.
»Wenn mein Vater mich entschuldigen möchte«, sagte er mit einer Verbeugung. »Ich habe einige Tage in Edinburgh zu tun.« Als er gegangen war, schlug der alte Mann einen Gong neben dem Kamin
an. Der Diener, der daraufhin erschien, war mindestens ebenso alt wie sein Herr. »Du kannst die Tafel abräumen, Farson«, sagte Donald Fenwick, »und danach möchte ich mich mit dir unterhalten.«
»Sehr wohl, mein Herr«, erwiderte der alte Bedienstete mit dem Ausdruck äußerster Ergebenheit und Zuneigung. »Wenn ich mit Farson geredet habe, werde ich dich draußen auf der Terrasse treffen, Duncan.«
Sein Sohn nickte ernst und ging hinaus in den strahlenden Sonnenschein. Gerade als er dabei war, das friedliche Bild vor seinen Augen in sich aufzunehmen, begegnete ihm sein Adoptivbruder,
gestiefelt und gespornt für seinen Ritt nach Edinburgh. »Ich fürchte, die Tage unseres Vaters sind gezählt«, sagte Luis, als sei das eine feste Tatsache.
Duncan fuhr zusammen. »Warum sagst du das?«, fragte er. Sein Gegenüber zuckte mit den Schultern. »Du bist doch nicht taub«, war seine ungeduldige Antwort. »Du hast ja gehört, was er sagte. Er erwartet Claverhouse und seine Dragoner jederzeit. Das wird das Ende sein.«
»Nein, Bruder, das wird nur der Anfang sein«, sagte Duncan ernst. »Aber du erwartest sie scheinbar auch.«
»Was soll das heißen?«, fragte Luis ärgerlich. »Genau das, was ich sagte, Luis. Du hast den Geist eines Jesuiten
und das Herz eines Judas. Mein Vater bot dir ein Heim und eine Ausbildung, weil er die Wünsche deines Stiefvaters respektierte. Er hat dich ernährt, dich gekleidet, dich mit seiner Zuneigung überhäuft und versucht, dich auf den schmalen Pfad zu führen, der zu Gott führt. Wie hast du es ihm gedankt? Mit Hohn, Spott, Gleichgültigkeit und, wie ich vermute, noch weit Schlimmerem.«
Luis war blass geworden, doch er schwieg. Nur das Flackern seiner Augen zeigte, wie groß der Hass war, den er mühsam zurückhielt.
»Lass uns nicht streiten, Duncan«, sagte er schließlich. Hart und drohend war seine Stimme. »Es tut mir leid, dass ich deinen Gefühlen zu nahe getreten bin. Menschen sterben jeden Tag, und keine
Stunde schlägt, in der nicht Hunderte vom Tod, dem letzten Feind, gerufen werden. Ich möchte nur gern wissen, welchen Weg du gehen würdest, sollte deines Vaters Prophezeiung sich als wahr erweisen.«
Duncan sah den Mann, der vor ihm stand, furchtlos an, und derm Blick seiner blauen Augen schien bis ins Innerste des Spaniers zu dringen. »Ich gehe den geraden, den schmalen Weg, den Weg des Glaubensbundes, des Kreuzes und der Krone!«, sagte er mit aller Leidenschaft seines frommen Herzens. Luis’ Augen funkelten vor Überraschung und Erregung.
»Adios«, sagte er. »Dann trennen sich unsere Wege hier, und wenn Gott nicht noch ein Wunder tut, dann wirst du – wie eines eurer langweiligen schottischen Sprichwörter sagt – den Faden deines eigenen Schicksals spinnen und ich den meinen.«
Er kehrte auf dem Absatz um und verschwand um die Ecke des Gebäudes. Einige Augenblicke später hörte Duncan das Klappern der Hufe seines Pferdes auf der Straße nach Maybole, und im gleichen Moment fühlte er die Hand seines Vaters auf seiner Schulter.
»Setz dich, mein Sohn«, bat Donald Fenwick und zeigte auf eine Bank neben ihnen.
Eine Weile saßen Vater und Sohn schweigend nebeneinander. Das Bild der Landschaft vor ihren Augen, vergoldet vom Licht der Sonne und leuchtend wie an einem Frühlingstag, hielt sie in seinem Bann.
»Ich bin froh, dass Luis nicht hier ist«, sagte der Vater leise, »denn ich möchte mich gern mit dir allein unterhalten.« Duncan wagte nicht zu sprechen und nickte nur. »Welchen Weg wirst du gehen, wenn ich von dir gehe, Duncan?«
Erstaunt blickte ihn sein Sohn an, wurde ihm diese Frage doch schon zum zweiten Mal innerhalb kurzer Zeit gestellt.
»Luis fragte mich vor wenigen Augenblicken dasselbe, Vater.«
»Das überrascht mich nicht. Was antwortetest du ihm?«
»Müsst Ihr noch fragen? Ich sagte ihm, dass mein Weg der Eure sei und kein anderer.«
»Ich danke dir, mein Sohn«, war die einfache Antwort. »Doch höre mir zu. Eines Tages wird diese große Finsternis des Schreckens aufhören, und Schottland wird frei sein. Ich werde es nicht mehr erleben, doch du wirst diesen Tag sehen. Du hast einen starken Körper, und dein Geist ist ihm ebenbürtig. Ich bezweifle, dass dir in Schottland oder England ein Mann an Stärke gewachsen ist.
Wenn ich auch weiß, dass der Herr kein Gefallen hat an eines Mannes Schenkeln, so hat er uns doch einen Körper gegeben, den wir achten sollen als den Tempel des Heiligen Geistes. Ich habe dich in der Kunst des Ringens und des Schwertkampfes alles gelehrt, was ich weiß, damit du ein Kämpfer seist, der für die Schwachen eintritt und den Unterdrückten aufhilft. Bist du in Edinburgh je in einem Kampf besiegt worden?«
»Niemals, Vater, obwohl ich mehr als hundert Freundschaftskämpfe ausgetragen habe. Ich glaube, es war die Zähigkeit der Fenwicks, die mich in vielen Kämpfen durchgebracht hat. Wir sind ja
dafür bekannt, dass wir nie wissen, wann wir genug haben.«
Donald Fenwick lächelte. »Das Einzige, was ich niemals ganz gebilligt habe, Duncan, war deine Schauspielerei«, sagte er.
»Aber Vater, sie hatte doch kaum etwas zu bedeuten und hat meine Studien in keiner Weise beeinträchtigt. Es war nur ein harmloser Zeitvertreib, dass ich in meinen Räumen Personen zu imitieren versuchte. Ihr wisst, Vater, dass ich mich jeder Person anpassen kann, die ich kenne oder von der ich gelesen habe. Ich passe mich niemals dem Charakter an, sondern was ich zu sein vorgebe, das bin ich für eine Weile selbst.«
Der alte Mann nickte zustimmend. »Ich weiß, mein Sohn, ich weiß. Schon in den Tagen deiner Kindheit hattest du diese eigenartige Fähigkeit, jeden Menschen genau nachzuahmen, auch wenn
du ihn nur wenige Augenblicke gesehen hattest. Gott hat dich mit dieser Gabe beschenkt, damit du sie in seinem Dienst gebrauchen kannst – selbst wenn wir jetzt noch nicht wissen, wie. Ich glaube,
dass du in diese Zeit des Reiches hineingeboren werden musstest.
Hör mir zu. Im Jahre 1661 war ich in Edinburgh, als James Guthrie, die Hände gefesselt, die High Street entlang zur Hinrichtungsstätteder Stadt schritt. Wir nannten ihn Sicherfuß, denn sicheren Fußes ging er den Weg der Gerechtigkeit. Ich hörte seine letzten Worte, als er sich auf dem Schafott umdrehte und zur Menge sagte: ›Ich rufe Gott zum Zeugen an, dass ich dieses Schafott nicht für Palast und Bischofsmütze des größten Prälaten in Britannien eintauschen würde.‹ Ich sah, wie er gehenkt und dann geköpft wurde und wie sein Haupt auf das Untertor gesteckt wurde, wo es noch heute hängt.
Als ich ein Jahr später wieder zu diesem Haupt emporblickte, sah Das Haupt James Guthries hing dort 25 Jahre lang. ich einen kleinen Knaben an meiner Seite. Er mochte sechs Jahre alt
sein, und Tränen liefen seine Wangen hinunter. ›Mein kleiner Mann‹, sagte ich zu ihm, ›hier gehörst du nicht hin. Dies ist kein Ort für dich.‹ Bis an mein Lebensende werde ich den Anblick seines Gesichtchens nicht vergessen, als er mich ansah und sagte: ›Herr, das ist das Haupt meines Vaters.‹ Es war der kleine Willie Guthrie, der Sohn des Märtyrers.«
Donald Fenwicks Stimme versagte, und das Gesicht seines Sohnes war aschfahl. »Wie lange noch, o du heiliger und wahrer Gott; wie lange noch hältst du nicht Gericht und rächst unser Blut?«, flüsterte der Vater.
»Hilf, Herr! Die Heiligen haben abgenommen, und der Gläubigen
sind wenig unter den Menschenkindern.«
»Was geschah mit Willie Guthrie?«, fragte Duncan, als sein Vater
wieder Herr seiner Gefühle war.
»Vor einigen Jahren starb er, ein frommer, junger Gelehrter mit einer vielversprechenden Zukunft. Er wurde begraben, während seines Vaters Haupt noch immer auf dem Untertor bleichte«, war die traurige Antwort. »Wie du weißt, mein Sohn, haben wir seit jenem Tag den Bundesgenossen geholfen und ihnen hier Zuflucht gewährt, wenn sie sich vor Claverhouse und seinen Unholden verstecken mussten.
Weiß übrigens Luis von dem Geheimzimmer und dem Tunnel zum Fluss?«
Duncan schüttelte den Kopf. »Ich bin sicher, er weiß nichts davon. Er war lange Zeit in St. Andrews, und wenn er auch weiß, dass wir hier Männer des Glaubensbundes verborgen haben, so war es doch
meist im Winter, wenn er nicht hier war. Das Zimmer und den Tunnel kennt er nicht. Vater, ich habe Luis niemals getraut und bin sicher, dass er uns übelwill.«
Sein Vater seufzte und nickte.
»Ich weiß, mein Junge, ich weiß, wir müssen jeden Tag mit einem Besuch der Dragoner rechnen. Duncan, wenn sie kommen, um mich zu holen …«
»Sollen wir kämpfen?«, unterbrach ihn sein Sohn. »Wir würden schon mit ihnen fertig werden.«
Der alte Mann schüttelte den Kopf. »Es wäre nutzlos und würde zu nichts führen. Mein Leben ist bald vollendet, aber das deine beginnt erst – und ein lebendiger Hund, Duncan, ist immer besser als ein
toter Löwe«, fügte er lächelnd hinzu. »Du wirst Schloss Fenwick verlassen und in die Berge gehen müssen. Nimm deinen stählernen Bogen mit und deine Pistolen, damit du der Schrecken unserer
Feinde bist, wie der Schwarze Douglas es für die Engländer war, als er mit Robert Bruce für die Befreiung Schottlands kämpfte. Ich habe
mit Farson gesprochen, und er will versuchen hierzubleiben, bis die
Sache des Herrn triumphiert und seine Kirche frei ist. Doch schau,
wir bekommen Besuch.«
Die beiden sahen eine Gestalt über die mit Gras und Farn bedeckten Berghänge auf das Schloss zukommen. Als sie näher kam, erkannten die Beobachter, wer es war.
»Es ist Peden«, sagte Donald Fenwick. »Armer, alter Sandy; er
bringt schlechte Nachrichten, fürchte ich.«
Alexander Peden war eine der malerischsten Figuren der verfolgten Bundesgenossen. Achtundzwanzig Jahre lang hatte er selten in einem Bett geschlafen. Sein Heim waren die Schlupfwinkel und Höhlen in den Bergen von Ayrshire und Galloway, sein Lager bestand aus Heidekraut und Farn, seine einzige Decke im Sommer war oft nur der Himmel über ihm. Seine häufigen Voraussagen über sein Schicksal und das anderer hatten ihm den Titel »Peden der Prophet« eingebracht. Die beiden Männer beobachteten ihn, wie er mit eiligen Schritten über den Abhang auf sie zukam. Seine Gestalt war klein, aber sein Körperbau athletisch.
Er trug eine Schottenmütze, unter der sein langes, dunkles Haar zerzaust hervorsah. Das Gesicht
war fahl und eingefallen, doch seine dunklen Augen blickten scharf und durchdringend um sich. Seine Kleidung bestand aus einem kurzen Mantel, ausgebeulten Hosen, langen Strümpfen und alten, derben Schuhen. Als ihn Donald Fenwick erkannt hatte, hatte er Farson sofort eine Mahlzeit herrichten lassen.
»Seid uns gegrüßt, Sandy, und willkommen auf Schloss Fenwick«, rief er, als Peden zu ihnen heraufgekommen war.
»Ich wünsche Euch und Eurem tapferen Sohn Duncan einen guten Tag, auch wenn es ein trauriger Tag für die Presbyterianische Kirche Schottlands ist. Ich bringe schlechte Nachrichten, Donald.«
»Berichtet uns während des Essens, Sandy. Ich sehe, dass Euch Farson etwas zubereitet hat.«
»Gott wird Euch belohnen für Eure Freundlichkeit gegen mich und alle Verfolgten, denen Ihr in diesen vielen Jahren Schutz unter Eurem gastfreundlichen Dach gewährt habt.«
Bevor er aß, hob Peden die Hände zum Dankgebet empor und zu
der leidenschaftlichen Bitte, der Allmächtige möge seinem bedrängten Land Frieden schenken und seine verfolgte Kirche erlösen.
»Ihr müsst fliehen, Donald«, sagte Peden, als er mit dem Essen
begonnen hatte. »Ich bin gekommen, um Euch zu warnen. Sie werden bald kommen, um Euch abzuholen. Davie Watret aus Maybole
bat mich, Euch zu warnen. Davie ist ein treuer Sohn des Bundes
und wusste, dass ich mich in einer Höhle am Berg Kildoon verbarg,
wo ich auch manchmal Gottesdienst halte. Er brachte mir, unter
beträchtlicher Gefahr für sich selbst, etwas zu essen und gab dabei
die schlimme Nachricht an mich weiter.«
»Konnte er Euch sagen, wie viel Zeit uns noch verbleibt, Sandy?«
Peden schüttelte den Kopf. »Nein. Er bekam die Botschaft von seinem Neffen Sam Gibson, der aus Sanquhar gebürtig und ein Gefolgsmann Ritchie Camerons ist. Sam erfuhr es von einem betrunkenen Soldaten in Maybole und erzählte es seinem Onkel weiter. Ich
fürchte, es wird nicht mehr lange dauern, Donald. Was gedenkt Ihr
zu tun?«
»Hierzubleiben, Sandy.«
»Ihr wisst, was das bedeutet«, sagte der alte Prediger, »aber ich
habe diese Antwort von Euch erwartet. Euer Krönungstag wird bald
kommen, Donald, und ich wünschte, ich könnte den meinen zusammen mit Euch begehen. Ihr werdet den König in seiner Schönheit
sehen und sein Lob empfangen. Wer wollte nicht diesen herrlichen
Anblick gegen die Finsternis und das Leid dieser schrecklichen Zeiten eintauschen? Aber was wird aus Duncan?«
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»Ich gehe zu den Bergbewohnern«, sagte Duncan, »um ihre Leiden und Sorgen mit ihnen zu teilen, um ihre Schlachten zu schlagen
und, wenn es der Wille Gottes ist, das Unrecht zu rächen, das ihnen
widerfährt.«
»Wenn es der Wille Gottes ist«, wiederholte Peden ernst. »Das ist
recht, mein Sohn. Die Rache ist mein; ich will vergelten, spricht der
Herr. Aber manchmal gebraucht Gott menschliche Instrumente, um
die Strafe zuzumessen, und ich betrachte dich als einen Hammer Gottes, der seine Feinde niederschlägt. Auch wenn meine alten Augen
den Tag nicht sehen werden, an dem der Kopf Satans in Schottland
zertreten und Christus allein regieren wird, so sehen sie ihn doch
jetzt.« Pedens Stimme klang laut und beinahe schrill durch den Saal,
und in seinen Augen brannte ein prophetisches Feuer. Seine Zuhörer
waren überzeugt, dass er in diesem Augenblick wahrhaft die Weissagungen Gottes redete.
Peden wandte sich an seinen Gastgeber: »Donald, ich muss weiter
nach Culzean. Die Kennedys beherbergen einige unserer Leute, die
gewarnt werden müssen.«
»Nein, Sandy, Ihr seid müde. Ruht Euch diese Nacht bei uns
aus und lasst Duncan die Botschaft ausrichten. Er interessiert sich
nämlich für ein Mitglied der Familie Kennedy. Ich glaube, es heißt
Marion und ist das reizendste Mädchen im Süden Schottlands.«
Der Sohn errötete bei diesen Worten. »Ich richte gern die Botschaft aus«, sagte er. »Mein Pferd wird mich in sechs Stunden dorthin tragen. Ich müsste also bis morgen Abend zurück sein.«
»Nimm deinen berühmten Bogen und deine Pistolen mit, Duncan«, rief ihm Peden nach. »Vielleicht kannst du sie gebrauchen.«
Eine halbe Stunde später führte Farson Duncans Pferd auf den
Platz vor dem Schloss. Dort wartete der junge Mann schon mit
Peden und seinem Vater. Das Tier war wunderschön und verdiente
den Namen ›Mitternacht‹ zu Recht, denn sein glänzendes schwarzes
Fell zeigte nicht die geringste Färbung. Peden sah das Tier prüfend
an und bewunderte die weiche Rundung der Schulter, den geschmeidigen Schritt und den edlen Kopf.
Die leicht vorstehenden Augen waren voll Feuer und verrieten das Blut und die Rasse der arabischen
Vorfahren. »Sage deinem Vater noch einmal Lebewohl«, wandte sich Peden an Duncan, der gerade sein Pferd besteigen wollte. »Du musst damit rechnen, dass du das nächste Mal erst im Himmel wieder mit ihm sprichst.«Diese Worte erschreckten Duncan zutiefst, doch er gehorchte.
Dann bestieg er sein Pferd, rief seinen großen Hund Major und machte sich auf den Weg nach Westen, der Küste zu. Auf der Terrasse von Schloss Fenwick sahen ihm zwei Männer traurig nach.
Zwanzig Stunden später hielt ihn Peden auf dem Weg an, der von Culzean nach Maybole führte. Sechs Stunden lang hatte sich der alte Mann versteckt und auf Duncan gewartet. Schlecht waren
seine Nachrichten. Die Dragoner waren um Mitternacht gekommen.
Glücklicherweise hatte Peden die geheime Kammer bewohnt und war so den Häschern entkommen, aber der Herzog von Fenwick war als Gefangener nach Edinburgh gebracht worden. Drei Wochen später stand ein großer Mann in der Menge vor dem Schafott am Mercat Cross in Edinburgh. Von Kopf bis Fuß verhüllte ihn ein schwarzer Umhang, und dazu hatte er einen Hut tief in die
Stirn gezogen. Der Sohn sah seinen Vater auf das Schafott steigen, sah
den Glanz einer anderen Welt auf seinem Antlitz, sah, wie er seinen
Hals der Axt des Henkers beugte, sah, wie sein Kopf auf dem Untertor neben dem gebleichten Schädel James Guthries aufgesteckt wurde.
Ein Schaudern durchfuhr die herkulische Gestalt in der Menge, und
ein ohnmächtiges Stöhnen kam über Duncans Lippen.
Unrecht macht den Weisen rasend. Angenehm im Umgang,
entschlossen in der Tat war Duncans Vater gewesen. Doch in dieser Stunde wurde »Duncan der Schreckliche« geboren, der durch Ayrshire und Galloway gehen sollte wie Sir Aretgals eiserner Mann
Talus mit seinem Dreschflegel, »mit dem er Falschheit ausdrosch und die Wahrheit entfaltete, unbestechlich und ohne dass ihm jemand widerstehen konnte, schnell wie eine Schwalbe und wie ein Löwe so stark«.
25
In den frühen Morgenstunden des nächsten Tages klopfte Duncan an die Tür einer einsamen Berghütte, fünf Meilen entfernt vom Haus seiner Väter. Die Frau, die öffnete, brach in Tränen aus, als sie ihn sah. »Ist alles vorbei, Duncan?«, fragte sie traurig.
Der Mann nickte. »Alles vorbei, Alison, außer der Abrechnung.«
Verwundert sah ihn Alison Purdie an. Sie war über siebzig Jahre alt, groß und mager. Ihr Haar war schlohweiß, und ihr Gesicht war von Leidens- und Sorgenfalten gezeichnet.
Die Hütte, die sie bewohnte, hatte dem Herzog von Fenwick gehört und war der Frau geschenkt worden, als sie alt und gebrechlich wurde. Die Hütte enthielt einen großen Raum, der als
Küche und Schlafzimmer diente und in dem ein Klappbett stand, das tagsüber aussah wie ein Schrank, doch nachts in ein Lager umgewandelt werden konnte. Zwei kleine Kammern befanden sich
hinter der Küche; jede von ihnen war mit einer Strohmatratze ausgestattet.
Aus einer dieser Kammern drangen Geräusche, und eine seltsame Gestalt schwankte hervor. Dieser Mann war gut und gern so groß wie Duncan, doch nicht so gerade gewachsen. Sein Haar war
lang und ungekämmt, er hatte vorstehende Zähne, und ein großes,
rötliches Muttermal entstellte seine rechte Gesichtshälfte. Sobald er Duncan erblickte, stieß er einen schrillen Freudenschrei aus und kniete sich vor ihm hin. Er nahm Duncans Hand in beide Hände und drückte sie an seine Wange. Das war der Blöde Jimmy, der Schwachsinnige, der sich geistig nie entwickelt hatte. Er war, wie man in Schottland sagt, ein »natürliches« (uneheliches) Kind, und war nach dem Tode seines früheren Vormundes von Herrn von Fenwick zu Alison geschickt worden.
Körperlich sehr kräftig, war er der alten Frau eine große Hilfe. Den meisten Bewohnern der Besitzung war er als »Ja-nu-Jimmy« bekannt, da er fast jeden Satz mit »Ja-nu« begann.
Seine Herren von Fenwick liebte er mit einer Hingabe, die an Vergötterung grenzte, und vor allem Duncan, der ihm stets gegen seine Peiniger beigestanden hatte.
Jimmy sah seiner Adoptivmutter die Tränen die Wangen hinunterlaufen und wimmerte: »Ja-nu, Herr Duncan, ja-nu, ja-nu, wo ist der Herr? Ja-nu, ja-nu, nicht totmachen den Herrn. Ja-nu, Jesus,
ja-nu Herr, nicht totmachen den Herrn.« Nun standen auch in Jimmys Augen Tränen.
»Sei still, Jimmy«, sagte Alison sanft. »Der Herr hat’s gegeben, der Herr hat’s genommen; der Name des Herrn sei gelobt.«
»Ja-nu, ja-nu, nicht wegnehmen den Herrn. Ja-nu, ja-nu, wegnehmen den Clavers und Johnstone und Bothwell und den bösen Papist König James.«
Mit einem Wink brachte Duncan Jimmy zum Schweigen und ließ sich auf einer rohen Bank vor dem Herdfeuer nieder. Alison setzte den Kessel aufs Feuer. »Ihr bekommt ein Stück Schafschinken und
etwas Pastete, die ich von Schloss Fenwick bekam. Farson brachte sie uns neulich.«
»Ich danke dir, Alison. Ich werde lange Zeit nicht mehr in meines
Vaters Haus essen.«
»Vielleicht nicht so lange, wie Ihr denkt«, war die Antwort. »Der Herr wird seinen heiligen Arm ausstrecken und sein Volk erlösen.
Und nun, meine ich, solltet Ihr ruhen.«
Die Abendschatten streckten sich bereits lang über den Berghang, als Duncan aufwachte. »Ich muss mich in die Berge aufmachen, Alison, und das harte Los meiner angefochtenen Landsleute teilen.
Glücklicherweise habe ich so etwas vorausgesehen und mich darauf vorbereitet. Ich darf dich und Jimmy nicht länger durch mein Bleiben gefährden, aber ich werde mit euch von Zeit zu Zeit in Verbindung treten.«
»Zu welcher Stunde des Tages oder der Nacht Ihr auch kommt, Duncan – das Haus steht Euch offen«, sagte sie mit tränenerstickter Stimme. »Danke, Alison. Peden prophezeite mir, ich würde zum Hammer Gottes werden. Vielleicht hat er recht, und ich bin eigens für diese Zeit des Königreichs geboren worden.« Während dieser Unterhaltung hatte der Blöde Jimmy in offener Bestürzung von einem zum anderen geblickt.
27
»Ja-nu, ja-nu, Herr Duncan – nicht weggehen, nicht weggehen, ja-nu, Gott bewahre, Gott bewahre.« »Ja, Jimmy, Gott bewahrt; darum wollen wir uns ihm anbefehlen.« Der Schwachsinnige fiel auf die Knie und hob die Hände empor, während Duncan betete: »O Gott, der du für alle sorgst und allen vergeben kannst, weil du alle Menschen kennst und weil du gerecht bist; in all unserer Trübsal leidest du mit uns. Sieh auf dein leidendes Volk und deine leidende Kirche in Gnaden hernieder. Breite aus den Mantel deines Schutzes über uns, deine Kinder. Lege Ehre ein, wo
Menschen wider dich wüten und bringe unserem geängsteten Land wieder Frieden. Um dessentwillen, der sein kostbares Blut für uns vergoss. Amen.«
Und so erstand in Ayrshire ein Name, bei dessen Klang die Bösen, die einen Strom unschuldigen Blutes vergossen, erbleichten – ein Name, den selbst Claverhouse in drei langen Jahren fürchten lernte. Eine rätselhafte, geheimnisumwitterte Gestalt wurde zum Sinnbild der Hoffnung unter den verfolgten Bundesgenossen. Nur wenige hatten das Gesicht dieses Mannes gesehen oder kannten seinen Namen. Er rettete die Verurteilten von den Galgen, befreite Gefangene aus den Händen der Häscher und übte mit unnachsichtiger Hand Gerechtigkeit an denen, die gnadenlos Unschuldige erschlugen.
Der Aberglaube erzählte, er führe mit dem Wind, und die Legende berichtete, er habe die Stärke Simsons, die List eines Drachens und den Mut eines Löwen. Feinde der Bergbewohner sangen
ihre Kinder mit diesem aus der Angst geborenen Lied in Schlaf: »Still, mein Kind, mein kleines Herzlein, Still, mein Kindlein, musst nicht bang sein, Dich fängt der Schwarze Rächer nicht ein.«
Als das Haupt Donald Fenwicks auf das Untertor gesteckt wurde, wurde Luis Salvador de Ferrari auf Anordnung des papistischen Königs James VII. von Schottland Herr der Besitzungen von Schloss
Fenwick.
28
In der Herberge zum Eberkopf
Eine Woge der Verfolgung überzog den ganzen Süden Schottlands und verschonte weder Alter noch Geschlecht derer, die der Ketzerei verdächtigt wurden. Jedes Dorf in Ayrshire und Galloway hatte seine eigene blutige Geschichte. In der einen Familie fehlte der grauhaarige Vater, in der anderen der hoffnungsvolle Sohn. Unter Flüchen und Verwünschungen drangen die ruchlosen Dragoner in
die Hütte des Bauern ein, erschlugen die alte Großmutter, die in der Kaminecke saß, und vergewaltigten die Tochter.
Dem Vater legten sie die Schwurformel vor, mit der er dem Presbytertum absagen sollte,
und ließen ihn, wenn seine einzige Antwort ein zitterndes und doch ruhiges »Gottes Wille geschehe« war, drei Minuten später auf der Schwelle seines eigenen Hauses in seinem Blute liegen.
In vielen schottischen Wohnungen war die Lücke noch deutlich zu spüren, die der Märtyrertod eines Familienmitgliedes zurückgelassen hatte, und jedes Kind konnte sagen, wo in der Heide das
noch frische Grab zu finden war.
Es war ein halbes Jahrhundert vergangen, seit Jenny Geddes dem Dekan von St. Giles in Edinburgh ihren Schemel mit den historischen Worten entgegengeschleudert
hatte: »Ihr werdet vor meinen Ohren keine Messe lesen« – fünfzig blutige Jahre, fünfzig Jahre des Schreckens.
Man könnte darüber streiten, ob es recht oder unrecht war, dass die Bundesgenossen das Schwert ergriffen, aber nach dreißig Jahren der schrecklichsten Verfolgung, die gottlose..
* Fast vier Jahrhunderte lang war Schloss Fenwick eines der großen Bollwerke gewesen, die die Freiheit und Unabhängigkeit Schottlands garantierten. Wer sich dafür interessiert, kann noch heute seine Ruinen finden.
*Sie stehen drei Kilometer vor dem hübschen Städtchen Maybole in der Grafschaft Ayr am Abhang eines Berges über dem Tal des Flusses Girvan. Die Fenwicks waren eine Familie, die ihre Ahnenreihe in ununterbrochener Linie von jenen Sachsen ableiten konnte, die nach der normannischen Eroberung nach Schottland geflohen waren. Sie waren der Fahne von Robert Bruce gefolgt, und es waren Lord Archibald Fenwick und seine Lanzenreiter gewesen, die in der Schlacht von Bannockburn das Blatt zugunsten Schottlands gewendet hatten.
*Die Urkunde über die Verleihung Schloss Fenwicks als Grundbesitz ist noch heute im schottischen Nationalmuseum zu Edinburgh vorhanden. Darauf ist der Wahlspruch der Familie zu lesen, der ihr von König Robert Bruce verliehen wurde: »Suaviter in Modo, Fortiter in Re« (»Angenehm im Umgang, entschlossen in der Tat«). Die Geschichte lehrt uns, dass wenige derer von Fenwick die Ehre ihres Wappenschildes beschmutzt haben, obwohl sie Feudalherren waren und obwohl ihre Geschichte von Kriegen, Aufständen und Streifzügen voll ist.
Heinz Ehlert, der junge Forstassessor, lag der Länge nach ausgestreckt unter einer großen Fichte im Moos, die Arme unter dem Kopf verschränkt, und gab sich ganz dem Zauber der milden Maiennacht hin. Der spitze Jägerhut lag neben ihm. Das Gewehr hatte er an den Baum gelehnt. In den Wipfeln rauschte der Nachtwind. Irgendwo fern im Wald bellte ein Fuchs.
Sonst war alles still.
Und doch war alles voll des geheimen, jungen Lebens, das knospend und sprossend zur Entfaltung drängte. Uberall war zauberhaftes Raunen und Rauschen, Blühen und Duften, so dass das Blut schneller kreiste und das Herz rascher schlug.
Heinz richtete sich auf und breitete weit die Arme aus. Ein frohes Lächeln glitt über das blühende Gesicht des Sechsundzwanzigjährigen. Er durchlebte in Gedanken noch einmal die letzten Stunden; Er hatte mit einigen Freunden einen Ausflug zum Kloster Walkenried gemacht.
Das war ein froher Nachmittag, voller Scherzen und Lachen, voller Wanderlust und Lebensfreude; Selbst Annegret, die meistens ernste Tochter seines Vorgesetzten, des Oberförsters Werner, hatte sich von den lustigen Einfällen Hans Garmstedts mit fortreißen lassen. Hans studierte in Berlin Theologie und genoss die Pfingstferien daheim bei seinem Vater im Pfarrhaus. Eine echte Freundschaft verband Heinz mit Rolf Winter, dem Erben der Brunnenbachmühle. Sein Vater hatte gewünscht, dass er das Handwerk auch anderswo kennen lernen solle. So hatte er den Winter über in einer Mühle in Bayern gearbeitet. Nun war er wieder da!
Die Gedanken des jungen Träumers gingen weiter. War es nicht am aller schönsten, dass auch Liesel Wich-mann den Ausflug mitgemacht hatte? Man konnte alles mit ihr besprechen, auch ernste Probleme, die ihn beschäftigten. Auf alles ging sie ein, und ihre Meinung war stets wohlüberlegt. Merkwürdig, dass es ihn so zu diesem einfachen Dorfmädchen hinzog, das mit seiner Großmutter den Kolonialwarenladen in der Hauptstraße führte. Die Eltern waren schon lange tot. Von ihrer Mutter, die gleich nach Liesels Geburt gestorben war, sollte sie die eigenartige Schönheit geerbt haben. Soviel hatte Heinz da und dort gehört. Ihre Großmutter hatte sie nach Nordhausen in die Oberschule geschickt. Daher stammte auch die Freundschaft mit Annegret Werner, besonders aber mit Friedlinde Winter, der Müllers Tochter.
Heinz kam oft in die Mühle. Dort hatte er Liesel bei Friedlinde kennengelernt. Zuerst war ihm natürlich ihre Schönheit aufgefallen, dann aber hatte ihn ihr Charakter gefesselt. Immer war sie hilfsbereit und bestrebt, andere zu erfreuen. Sie besaß ein tiefes Gemüt und war sehr darauf bedacht, sich selbst weiterzubilden. Sie las viel und sprach die gelesenen Bücher gerne mit ihm durch. - Als Heinz sie einlud, ihn einmal in den Wald zu begleiten, zögerte sie zuerst. Dann aber war es ihm ein Genuss, sie in die reiche Schönheit des Waldes einzuführen. Schon einige Male waren sie so zusammen gewandert. Und dann kam es, wie es nicht anders möglich war - eine große, tiefe Liebe einte ihre Hrzen und verband ihre Seelen. Nun wurde es erst recht achöh, kam doch zu dem Verstehen in vielen Dingen noch das Bewusstsein des innersten Ein eins, des Zusammen-gehörens.
Heinz Ehlert sprang auf. »0 Welt, o Leben, wie bist du schön!« kam es dankbar von seinen Lippen. Dann griff er nach Hut und Gewehr und schritt langsam im Wald dahin.
Eigentlich hatte er, als er heute abend nach Hause gekommen war, gleich zu Bett gehen wollen, aber das Glück in seiner Brust ließ es ihn nicht im Zimmer aushalten, er musste noch hinaus in den Wald. Das war von jeher sein liebster Aufenthaltsort gewesen. Dahin eilte er als Junge, wenn es in der Schule nicht klappte - dahin floh er beim Tod des Vaters, der als Beamter in Ebers-walde starb. In die Waldeinsamkeit trug er sein Glück; als die Mutter ihm eröffixete, sie wolle ihm, ihrem Einzigen, nicht im Wege sein, wenn er das Forstfach, nach dem all sein Sinnen stand, als Beruf ei-wählen wollte.
Er wusste, dass dies mit finanziellen Opfern verbunden war. Mutter würde sich ihm zuliebe auf ihre bescheidene Pension beschränken und die Zinsen des kleinen Sparkapitals ihm zum Studium geben müssen. Aber glücklicherweise hatte ihm seine Patentante einen Betrag vererbt, der ihm jetzt besonders willkommen war. So musste er, wenn er sparsam war, die Mutter nicht allzu-sehr in Anspruch nehmen. Aber Heinz gelobte sich damals, sie treulich zu unterstützen, sobald er eine feste. Anstellung habe.Er wollte ihr ihre Liebe und Opferwilligkeit vergelten!
Der Wald war auch Zeuge seines und Liesels heimlichen Glücks geworden - o wie liebte er seinen Beruf, wie hing er mit Leib und Seele an ihm' Er wusste auch, dass Oberförster Werner, sein Vorgesetzter, mit ihm zufrieden war. Auch mit Förster Warlich, bei dem er im
örsthaus Wiethfeld wohnte, stand er auf kamerad-ehaftlichem Fuß.
Wie schön war doch das Leben! Konnte es etwas Herrlicheres geben als diese Harzberge mit ihren unendlichen Wäldern, Tälern und Gründe& Wenn er erst Förster, nein Oberförster war - nirgends anders als im z wollte er wohnen, und in seinem Haus sollte nie-od anders als Liesel Wichmann Hausfrau sein
Der Wald lichtete sich vor ihm. Er trat auf eine Wiese hinaus. Ein leiser Ruf des Staunens entglitt ihm - so weit war er in seinen Gedanken und Träumen gewan-
dert? Dort unten lag ja die einsame Bnnmenbachmühle' Leise plätscherte der Brunnenbach. Das Mondlicht übergoss mit zauberhaftem Glanz Mühle, Wasser, Wie-
se, Wald und Berge. Traumhaft schön war diese Nacht!
Er stand lange verloren da. Seine Blicke glitten über die Mühle hin, in der er schon so viele schöne Stunden ver-
lebt hatte und hoffentlich noch .verleben würde. Dann wandte er sich wieder zurück zum Wald, um heimzugehen.
Er lachte leise vor sich hin - gewiss war er der einzige aller seiner Wandergenossen, der noch wachte. -
Aber diesmal hatte er sich geirrt, und wenn er gewusst hätte, dass gerade Rolf Winter, sein Freund, am Fenster
seines Zimmers saß und in tiefe Gedanken versunken
war, er hätte vielleicht geklopft und wäre noch bei ihm eingekehrt, zumal, wenn er gewusst hätte, dass Rolf sich
stark mit ihm beschäftigte: Der stattliche Müllerssohn
hatte nach seiner Rückkehr in die Heimat seine Tätigkeit in der väterlichen Mühle mit Eifer und Verständnis aufgenommen. Der Freundeskreis war unverändert
herzlich und harmonisch. Das hatte er heute gesehen. Nur Annegret, die Jugendgespielin der MüIlerskinder, fand er ernster und Liesel entschieden noch hübscher. Viele behaupteten, sie sei die Schönste von ganz Tanne und Umgebung. Aber es hatten ja nicht alle den gleichen Geschmack. Auf ihn zum Beispiel hatte Annegrets Freundin, Heiderose Mieland, einen tiefen Eindruc gemacht. Sie wohnte in Goslar und war zur Zeit in der Oberförsterei zu Besuch. Wenn er zu wählen hätte... Er musste lachen.
Wie kam er nur auf solche Gedanken? Nun, es war ihm nicht verborgen geblieben, dass der 1 freundschaftliche Verkehr zwischen Heinz und Liese! ernstere Formen angenommen haben musste. Er runzelte die Stirn. Was dachte sich Heinz eigentlich bei der ganzen Geschichte? Er nahm sich vor, möglichst bald ernstlich mit ihm darüber zu reden. Für eine bloße Spielerei war das charaktervolle Mädchen mit dem feinen Wesen, das sie vor allen auszeichnete, entschieden zu schade. Das würde Heinz nie tun; dafür kannte er seinen Freund zu genau. Aber eine Heirat konnte doch auch nicht in Frage kommen; denn dadurch würde er sich ja die ganze Laufbahn zerstören. Dann konnte es ihm nicht weiter als bis zum Förster reichen.
An Liesel selbst war nichts auszusetzen. Wäre ihr Charakter nicht einwandfrei gewesen, hätte sie niemals Eingang in den Freundeskreis gefunden. Aber freundschaftlicher Verkehr war etwas ganz anderes als eine Heirat. Daran hätte Heinz denken müssen und dem Mädchen nicht irgendwelche Hoffnungen machen, die er nie erfüllen konnte. Wollte er das dennoch, dann musste er auch die Konsequenzen ziehen. Aber so weit hatte der Idealist Heinz sicher noch nie gedacht. Mit grenzenloser Harmlosigkeit nahm er die Dinge, wie sie kamen. Er genoss das »Heute« und dachte kaum an das »Morgen«. Er aber wollte ihm ein treuer Freund sein und ihn auf alles aufmerksam machen, was ihm nützen nier schaden könnte.
Am allerbesten wäre es, wenn Liesel bald heiraten würde. Da kam aber außer Heinz, der ja auch erst in einigen Jahren daran denken konnte, nur August Meier-hadi in Betracht, der den großen Bauernhof oben im Dorf hatte. Er war ein sehr wohlhabender Mann, Mitte her Zwanzig, und verfügte über einen stattlichen Besitz.
Seine Eltern waren vor einigen Jahren kurz nacheinander gestorben. Seitdem bewirtschaftete er seinen Hof alein mit Hilfe von einigen Knechten und zwei Mägden.
Auserdem war er in der Gemeinde nicht sehr beliebt. Sein Wesen war ebenso derb wie sein Äußeres. Man munkelt auch so allerlei über ihn und seine Mägde. Nie-and konnte sagen, was daran Wahres war. Das waren in schließlich Privatsachen, in die sich niemand einmi-
ithen wollte. Der junge Bauer verstand keinen Spaß.
Nun ging seit kurzem die Rede von ihm, er hätte auf Liesel ein Auge geworfen. Aber sollte man ihr diesen
Mann wünschen? Rolf schüttelte den Kopf. Nein, nein, ie war viel zu schade für ihn und tat recht daran, wenn sie ihn abwies.
Man muss eben abwarten, wie sich alles entwickeln wird«, murmelte er halblaut vor sich hin. Dann stand er nE und ging zu Bett - er war zu müde zum Denken geworden.
Liesel Wichmann stand im kleinen Stübchen hinter hin Laden und rüstete sich zu einem Weg nach Elbin-gerude. Fast jede Woche unternahm sie einmal den dreistündigen Weg, um allerlei Geschäftsbesorgungen zu machen. Die Großmutter war immer in Sorge, we sie Liesel so allein ziehen lassen musste. Darum freute sie sich, wenn sich eine Gelegenheit zum Mitfahren bot oder andere Dorfbewohner den gleichen Weg machen mussten und sie begleiteten. Seit aber der junge Heinz Ehlert so oft herkam und es immer wieder einzurichten wußte, Liesel ein Stück Wegs zu begleiten und ihr auch am Abend entgegenging, war sie, wenigstens nach dieser Seite hin, ohne Sorge. Sie wusste Liesel in guter Hand.
Der Verkehr zwischen den beiden passte ihr zwar nicht so ganz. Sie konnte es kaum glauben, dass der junge Mann es ernst meine und ermahnte zuweilen ihr Enkelkind, auf der Hut zu sein.
Mit ungläubigem Staunen in den dunkelblauen Augen schaute Liesel sie beim ersten Mal an und erwiderte: nur: »Aber Großmutter, was denkst du nur von Heinz!« Als aber die Ermahnung sich wiederholte, sagte sie freundlich, aber bestimmt: »Lass das meine Angelegenheit und Sorge sein, Großmütterchen. Heinz ist ein Ehrenmann. Ich habe sein Wort, und er hat das meine. Ein Zweifel an ihm ist eine Beleidigung, die mich zugleich trifft. Mein Vertrauen zu ihm ist unbegrenzt.« - Da sagte die Großmutter nichts mehr. Sie freute sich im Stillen, dass ihrem Liebling eine schöne Zukunft winkte.
Neuerdings war sie aber wieder schwankend geworden, seit sie merkte, dass August Meierbaeh sich um das Mädchen bemühte. Der hatte doch entschieden mehr in die Suppe zu brocken als Heinz! Wenn ihre Liesel die reichste Frau der ganzen Gegend werden würde...
Als diese davon hörte, war sie zuerst sehr erstaunt und lachte dann darüber. Sie schüttelte sich. Der Gedanke, Frau Meierbach werden zu müssen, war ihr - ganz abgesehen von ihrem Jawort an Heinz - einfach unerträglich.
ic Großmutter schwieg dazu, sprach auch zu kei-der anderen Dorfbewohner davon. In dieser Beziehung war sie eine mustergültige Ausnahme sämtlicher öwohnerinnen Tannes - und wahrscheinlich auch nej anderer Orte.
lt herzlichem »Behüt dich Gott!« entließ sie heute e Enkelin nach Elbingerode. Der Weg führte das ciehen dicht hinter Tanne in den Wald hinein. Nach er knappen Viertelstunde gesellte sich Heinz zu ihr. oh schritten sie dahin.
Der Weg ging über eine Anhöhe, von der rechts eine khtc, halbhohe Tannenschonung bis hinunter zur indstraße führte. Links fiel der Hang, mit hohen Fich-- bestanden, sanft gegen einen kleinen Waldteich ab, r nur im Herbst und Winter Wasser hatte. Im Som-
war er meist trocken oder schlammig. Dieser kleine Timpel lag wohl idyllisch im Waldesdunkel, wurde aber von den Dorfbewohnern ängstlich gemieden Es ging ;die Sage, dass es hier nicht ganz geheuer wäre! Vor Zeiten sollte hier ein Mord an einer Frau begangen worden
in. Die Alten wollten von ihren Vätern gehört haben, dss man zuweilen dort Seufzen und Stöhnen vernehemen könne. Etliche behaupteten sogar, gespensterhafte Gestalten gesehen zu haben. Genaues wusste niemand, aber wer konnte, mied den Weg, der an diesem unheimlichen Ort vorüberfürhrte.
Auf der Anhöhe rasteten die beiden. Sie träumten von cm künftigen gemeinsamen Haushalt. Dann sprach hinz von seinen Studien, denen Liesel nicht nur Inte-sse, sondern auch Verständnis entgegenbrachte.
»Ach, ich muss noch viel praktisch lernen, bis ich Dberförster bin«, seufzte Heinz endlich, »und die Anstellungsmöglichkeiten sind auch dünn gesät. Wer weiß,
@1998 Christliches Verlagshaus ISBN 376757070x
Helen Allingham loved to paint in the open air, in spring and summer - Paitresses, Past and Present - The Artist's Early Work - The Artist's Surrey Home - The Influence of Witley - The Woods, the Lanes and the Fields - Cottages and Homesteads - Gardens and Orchards - Tennyson's Homes - Blackdown from Witley Common - The Old Yew Tree - Cottage at Shottermill - The Apple Orchard - The Kitchen-Garden and others
Geleitwort
Es war im Herbst 1985, als ich dem Autor dieses Buches, Manfred A. Bluthardt, das erste Mal persönlich begegnet bin. Er war erst wenige Monate zuvor mit seiner Familie aus Chile nach Deutschland zurückgekehrt, um in der Leitung der Deutschen Missionsgemeinschaft mitzuarbeiten. Sie befanden sich noch voll in der Umstellung. Was für ein Wechsel nach 23 Jahren Missionsdienst und Leben in Südamerika. Deutschland hatte sich seit seiner ersten Ausreise 1961 dramatisch verändert. Er kam zurück in sein Heimatland und fand sich gleichsam in einer neuen Welt wieder.
Auch ich erlebte damals eine massive Umstellung, jedoch in umgekehrter Richtung. Nach Hochschulstudium und Uni-Karriere mit viel persönlicher Freiheit und Weltoffenheit galt es, mich in die Dienstgemeinschaft eines Missionswerks zu integrieren. Gott hatte uns in die Außenmission berufen.
So fanden Manfred Bluthardt und ich uns in recht ähnlichen persönlichen Herausforderungen wieder, als wir damals auf dem Buchenauerhof zusammenkamen. In den darauf folgenden Wochen arbeiteten wir handwerklich miteinander, dabei ergaben sich gute Gespräche.
Wir stammten aus unterschiedlichen Generationen und hatten sehr verschiedene Biografien: Er, ein erfahrener Missionar und Missionsleiter, ich, ein junger Rebell, der gern provozierte. Damals habe ich Manfred Bluthardt schätzen gelernt. Seine geradlinige Persönlichkeit.
Die klare Verkündigung und seinen Mut, Gottes Wort zu lehren, ob es gerade attraktiv erscheint oder nicht. Wie er selbst schwierige Bibeltexte respektvoll stehen lässt und sich unter Gottes geoffenbarte Wahrheit stellt. Manfred Bluthardt strahlt Gottvertrauen und Glaubensmut aus, was durch seine sonore Stimme noch unterstrichen wird. Er konnte eigentlich alles - verkündigen, leiten, verwalten, künstlerisch gestalten und handwerklich tätig sein. Wie es damals von einem typischen Missionar erwartet wurde. Das beeindruckte mich.
Nach fünf Jahren Mission im Orient hat der Vorstand der DMG uns ebenfalls ins Heimatteam berufen. So arbeitete ich ab Januar 1991 intensiv mit Manfred Bluthardt zusammen. Im Oktober 1991 erschütterte uns der plötzliche Tod des damaligen Missionsleiters Bruno Herrn. Manfred Bluthardt wurde zu dessen Nachfolger berufen, und ich zu seinem Stellvertreter. In den darauf folgenden Jahren arbeiteten wir eng zusammen. Dabei habe ich besonders Manfred Bluthardts Liebe zu Jesus, seine vollkommene Hingabe und seinen unermüdlichen Einsatz bewundert. Er war und ist ein »Missions-Staatsmann«, der die Missionsarbeit in wunderbarer Weise repräsentiert.
Im November 1999 ging Manfred A. Bluthardt formal in >'Ruhestand« und flog bereits am folgenden Tag für vier Monate nach Chile, um allen Mitarbeitern und Missionaren zu dokumentieren, wer jetzt die Leitung hatte. So konsequent und selbstdiszipliniert lebte er - zumal sein Herz stets für Südamerika geschlagen hat. Bis heute verkündigt er gerne weiter Gottes Wort, besonders auf Missionsfreizeiten, bei denen er Bibelarbeiten hält. Zudem bringt er seine Missionserfahrung in verschiedenen Gremien ein. Er baute den Männergebetsbund mit auf, in dessen Vorstand er mitarbeitete, wie auch im Leitungskreis der Akademie für Weltmission in Korntal. Die Ausbildung neuer Missionare liegt ihm am Herzen. Als Missionsleiter der DMG und auch danach hat er viele Abenteuer mit Gott erlebt, doch diese werden wahrscheinlich einmal Gegenstand eines eigenständigen Buches sein.
2001 zog das Ehepaar Bluthardt in seine alte Heimat nach Ostfildern um. Die ehemalige Kaserne Scharnhäuser Park war inzwischen in ein neues Stadtviertel umgebaut worden. Der Württembergische Brüderbund begann dort eine Gemeindeneugründung. Neben Bibelstunden und Predigten engagierte sich Bluthardt tatkräftig beim Neubau des Gemeindezentrums.
Mit Fleiß und handwerklichem Geschick investierte er unzählige Stunden auf der Baustelle des Neubaus. Als Senior-Missionsleiter ist er sich nicht zu schade, einfache Arbeiten zu bewältigen und sich die Hände schmutzig zu machen: ein dienender Leiter, der dem Vorbild Jesu folgt.
Eines war und ist ihm das Wichtigste: Menschen einzuladen zur Begegnung mit dem auferstandenen Herrn Jesus Christus. Mit Wort und Tat lebt Manfred Bluthardt das Evangelium, bis heute. Seine persönlichen Erfahrungen in diesem Buch möchten Sie dazu einladen, Gott beim Wort zu nehmen, sich von Gott ein neues Leben schenken zu lassen. Das gibt es nur durch Jesus Christus. Wir möchten Sie dazu ermutigen, sich einzulassen auf das Abenteuer mit Gott, Nachfolge Jesu zu leben und ähnliche eigene Erfahrungen mit dem Herrn zu machen. Er ist der Gleiche, vor 2000 Jahren, vor 50 Jahren und heute.
Dieses Buch ist keine Biografle. Manfred A. Bluthardts Erzählungen sind bewusst selektiv, er beschränkt sich auf einige ausgewählte Ereignisse und Erlebnisse. Es ist auch keine Autobiografle, denn der Autor ist hier lediglich Berichterstatter. Manfred Bluthardt bleibt bewusst im Hintergrund, als Augenzeuge von Gottes großen Taten. Eindrucksvoll schildert er, was er mit Gott erlebt hat.
Da geht es um Gottes Eingreifen in Lebensgefahr. Wie er als Kind im zugefrorenen Teich eingebrochen und unter die Eisdecke geraten ist ... Um Gottes wunderbare Hilfe in fremden Kulturen und ausweglosen Situationen. Es geht darum, wie Gott im Missionsdienst unter Mapuchen-Indianern in Chile großartig gehandelt hat. Und um Gottes treues Versorgen, als der Autor über viele Jahrzehnte zu einem Glaubenswerk ohne gesichertes Einkommen gehörte. Manfred A. Bluthardt erzählt, wie der Herr ihn und seine Frau mit ihren sechs Kindern sowie unzähligen geistlichen Kindern wunderbar beschenkt hat. Spannende Abenteuer mit Gott, die das. Leben geschrieben hat.
Das Buch liest sich wie eine Art Fortsetzung der biblischen Apostelgeschichte. Auch in der Bibel geht es nicht um herausragende Personen wie Petrus oder Paulus, sondern um Gottes vollmächtiges Handeln, es geht um Gott. Gott macht Geschichte, und das mit uns schlichten Menschen.
Dabei berichtet der Autor nicht nur seine Erfolge. Im Gegenteil: In schonungsloser Offenheit beschreibt er auch eigene Fehler und Versagen. Das macht Mut. Gott kann auch aus scheinbaren Niederlagen Gutes machen. Ihm dürfen wir vertrauen. Auf Gott ist Verlass. Diesen Gott können wir auch heute beim Wort nehmen. Dazu laden uns die Berichte von Manfred A. Bluthardt ein: Jesus Vertrauen zu schenken, der das Herz von vielen Menschen verändert hat, der ein Leben reich macht und tiefen Sinn stiftet, der ein Leben in Ewigkeit bei Gott schenkt. Gott wirkt in unserer Welt. Und er ist stets für eine Überraschung gut. Wer mit Gott rechnet, verrechnet sich nicht!
Dr. Detlef Blöcher
seit 2000 Nachfolger von Lic. Manfred A. Bluthardt als Direktor der Deutschen Missionsgemeinschaft (DMa) Sinsheim, Januar 2009
Wer mit Gott rechnet verrechnet sich nicht!
Gott aus dem Leben auszuklammern ist immer eine Fehlkalkulation und führt in den Bankrott. Es ist ein Trugschluss zu meinen, das Leben selbst meistern zu können. Gottes Hilfe ist schon im Leben, erst recht aber im Tod unverzichtbar. Wir Menschen können existieren, weil Gottes Barmherzigkeit uns die Luft zum Atmen und ein begrenztes Dasein geschenkt hat. Aber leben, wirklich leben, in alle Ewigkeit leben ... Das können wir nur durch den, der das Leben ist: Jesus Christus.
Der Fischer Simon Petrus hat das existenziell erfahren. Nach einer erfolglosen Arbeitsnacht und vor einer drohenden beruflichen Pleite begegnet er Jesus. Der spricht konkret in das Leben des frustrierten Fischers hinein. Der Galiläer glaubt und vertraut ohne zu zweifeln der Zusage von Jesus. Petrus rechnet mit Jesus wie mit Zahlen. In der Bibel berichtet uns der Arzt Lukas von diesem Ereignis:
»'Hern, erwiderte Simon, 'wir haben die ganze Nacht gearbeitet und nichts gefangen. Aber weil du es sagst, wffl ich es wagen. Sie warfen ihre Netze aus und fingen so viele Fische, dass die Netze zu zerreißen anfingen« (Lk 5,5.6; .Hfa).
Es lohnt sich, die Erfahrungen von König David ernst zu nehmen. Er sagte: »Menschen, die sich einreden: 'Gott gibt es überhaupt nicht!<, leben an der Wirklichkeit vorbei« (Ps 14,1 Hfa). Und: »Du hilfst denen, die sich helfen lassen und sich selbst nicht überschätzen. Die Überheblichen aber stößt du von ihrem Thron. Herr, du machst die Finsternis um mich hell, du gibst mir strahlendes Licht. Mit dir kann ich die Feinde angreifen; mit dir, mein Gott, kann ich über Mauern springen« (Ps 18,28-30 Hfa).
Auch bei scheinbarer Überlegenheit der Gegner ist man mit Gott immer in der Mehrzahl. Gottes Mengenlehre passt eben nicht in unser logisches Denken. Gott kann es sich beispielsweise leisten, das Heer um den Feldherrn Gideon so sehr zu reduzieren, dass von 32000 Mann nur noch 300 Getreue übrig bleiben.
Und dann schenkt Gott dieser unbewaffneten Minderheit auch noch den Sieg (Ri 6-7).
Lesen Sie hier von Menschen, die mit Gott gerechnet haben, in deren Leben Jesus der große Pluspunkt wurde. Mit Jesus Christus bleibt auch am Ende des Lebens eine positive Bilanz Denn unsere menschlichen Defizite und unsere Lebens-Verlustrechnung werden durch seine unbegrenzte Gnade ausgeglichen, Rechnen Sie damit? Dann verrechnen Sie sich sicher nicht.
Missionsfreunde und unsere eigenen sechs Kinder haben mich immer wieder ermutigt, ja sanft gedrängt, aus der Vielfalt unserer persönlichen Erfahrungen und Erlebnisse, vor allein in Südamerika, einiges zu Papier zu bringen; Meine liebe Frau Gertraud hat mich dabei tatkräftig unterstützt, auch als Korrekturleserin.
Wenn Gott das Lob bekommt, die Leser im persönlichen Glauben an Jesus Christus gestärkt werden und das missionarische Interesse geweckt wird, sind diese Zeilen mehr als nur Druckerschwärze.
Lic. Manfred A. Bluthardt, Ostfildern, Januar2009
Harte Kriegsjahre
Mit den Nachbarjungen spielten wir Krieg. Jede Gruppe hatte ihre eigenen Waffen und Strategien, und gewaltlos ging es bei Weitem nicht zu. Dass unser Land tatsächlich unter den Wunden des Zweiten Weltkriegs litt, bekam ich erst in den letzten Kriegsjahren mit. Als Fahrräder und Skier, Wolldecken und manches andere »eingezogen« wurden. Dabei hatten wir auch so schon unsere zwei Paar Schlittschuhe stundenweise unter sechs Kindern aufgeteilt. Als selbst die letzten unserer Schuhe total verschlissen waren, hatten auch die angerosteten Schlittschuhe im Winter längere Ruhepausen.
Immer wieder wurden wir von der Oma zum Einkaufen geschickt. Aber ihre Hustenbonbons gab es schon lange nicht mehr. Und die Lebensmittelmarken reichten für die zehnköpfige Großfamilie ohnehin nicht aus. Mutter arbeitete von früh bis spät, sie stopfte Strümpfe, flickte Hosen, nähte neue Kleider aus alten.
Was Garten und Acker hergaben, wurde ihnen abverlangt. Alles war mit harter Arbeit verbunden. Das Ähreulesen mit den Schwestern war ein Schauspiel, nein, eine Tragödie. Kaum war der Acker von den Bauern abgeerntet, standen schon Scharen von Sammlern mit Körben und Säcken bereit und fielen wie Heuschrecken über die spärlich liegen gebliebenen Ähren her. Ihre Schnelligkeit musste unsere Schwester mit einem schmerzhaften Rechenhieb der resoluten Bauersfrau an den Kopf bezahlen. Sie hatte nicht den gebührenden Abstand gewahrt.
Hausgemachte Säfte waren nur für besondere Anlässe und ganz heiße Sommertage gedacht.
Einmal komme ich schweißgebadet und nach Flüssigkeit lechzend durch den Hintereingang ins Haus. Was? Das ist ja ein Traum! In der Waschküche steht eine Flasche Apfelsaft auf dem Tisch. Das Gewissen schlägt, aber der Durst drängt. Und plötzlich ist die Flasche am Mund. Aber genauso schnell wieder abgesetzt, denn es ist flüssige Seife
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Von sechs Geschwistern war ich wohl das Schwergewicht. Deshalb hatte ich immer Hunger. Sich satt zu essen war ein immer gegenwärtiger Wunsch, Brotrationierung eine schlimme Strafe.
Im Herbst grub ich einem Bauern den ganzen Obstgarten um, sammelte Blätter und war Hausboy für alles. Der Lohn: eine dicke Schnitte Brot mit einem schleierartigen Überzug aus Schmalz lind als Glanztat meiner Gutherzigkeit brachte ich diese keilartige Restschnitte als Erwerbsbeitrag nach Hause.
Während die älteren Brüder unter die strenge Obhut und gottlose Doktrin der Hitlerjugend kamen, beneideten wir »Kleinen« die strammen Jungs und regimekonformen Mädchen. Das Hakenkreuz war überall präsent und das »Hell Hitler!« Teil der Alltagskultur.
Mehr und mehr erlebten wir auch in der Heimat die Brutalität und Rücksichtslosigkeit des Krieges. Er war Alltag geworden. Immer wieder der Ruf der Mutter mitten in der Nacht, die den Fliegeralarm ankündigte; der immer gleiche Appell an uns Kinder: »Schnell aufstehen, anziehen, kein Licht machen und dann rasch in den Keller. Vergesst die Wolldecken nicht!« Und zu den älteren Jungs: »Geht schnell und holt Oma und Opa. Und nur Kerzcnlicht gebrauchen.«
Oma wollte lieber in ihrem Bett sterben. Es war jedes Mal eindringliche Überredungskunst nötig, um sie über die drei Treppen in den kalten Keller zu bringen.
Wieder wurde Stuttgart bombardiert. Noch bei uns, in zwölf Kilometern Entfernung, hörte man die Detonationen, sah durch das einzige verdunkelte Kellerfenster Blitze zucken. Wir wussten nie, ob außer den Blindgängern nicht doch eine zerstörerische Bombe die Scharnhäuser Straße 57 treffen würde. Nicht verwunderlich, dass angstvolle Äußerungen die zarten Gemüter bewegten und Tränen der Hilflosigkeit flossen. Außer Kerzenlicht, Wasser, und Verbandszeug hatte Mutter auch immer ihre große Bibel dabei.
Meinem kindlichen Glauben wurde zum ersten Mal die.Wirklich-keit Gottes bewusst:
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»Wer unter dein Schirm des Höchsten sitzt und unter dem Schatten des Allmächtigen bleibt, der spricht zu dem Herrn: Meine Zuversicht
und meine Burg, mein Gott, auf den ich hoffe.«
Psalm 91,1.2; L
Äußerlich hatte sich nichts verändert, wir lagen immer noch auf harten Strohmatten, schreckten bei jedem Geräusch auf, waren müde und konnten doch nicht schlafen. Aber im gemeinsamen Gebet haben wir bei Gott Schutz gefunden. Etwas wie himmlischer Friede lag über dem kargen, dunklen Kellerraum.
Geleitwort.5
Wer mit Gott rechnet, verrechnet sich nicht'..............9
Harte Kriegsjahre.....................................11
Schlager für Onkel Gotthilf.............................14
Dumme Mutprobe....................................17
Der unvergessliche militärische Ausritt ...................19
Ein schwäbisches Original »auf Du und Du«
mit dem lieben Gott...................................21
In Sport war ich nie ein Star ............................23
Ein neues Leben mitten in der Nacht .....................25
Ein Gärtnergehilfe mit Weitblick ........................27
»Manfred, was bewegt dich denn?« ......................29
Gottes ungehorsame Leute .............................31
Schöne Bescherung vor Weihnachten ....................34
Noch nicht das Ende..................................38
Das »Braut-Geschenk« aus Übersee......................40
Ein leerer Tank und ein 13-jähriger »Guide« ...............46
Das bedrohte Stoffiappenhaus ..........................53
Blut zur Versöhnung..................................56
Der leere und doch besetzte Sarg ........................59
Ein falscher Polizist zu Pferd...........................62
Interpretationsexperte Maxi ............................67
Einer, der nicht lesen konnte, aber lesen wollte ............69
Antuco, ein Todeskandidat der Tradition.................72
Glaube, der Berge versetzt.............................77
Der Ausländer mit der goldenen Trompete ................81
Desiderio, der Entschiedene............................85
Guido taucht wieder auf ...............................89
Freu dich, Jesus liebt dich'.............................96
»Löwenzahn« blüht auf................................99
Herzbeschwerden ganz anderer Art ......................104
Was soll aus Puna schon Gutes kommen?................108
Polizeiliche Begnadigung .............................. 113
Geburtshelfer auf Abruf. 120
Irgendwo über dem Atlantik............................ 124
Ein Heuchler wird endlich entlarvt ...................... 126
Belardo unsterblich verliebt ............................ 131
Ein Reiterheer auf arabischen Schimmeln................. 138
Chibembe aus Caluquembe............................. 144
Weichenstellung in 11 000 Metern Höhe.................. 150
Eine Handvoll Geld in letzter Sekunde ................... 155
Ein Leben der Tat
Die Gerechten werden weggerafft vor dein Unglück. (Jesaja 57,1.)
Am 2. August 1914 traf Dr. Fritz Rösch, den Verfasser der folgenden Tagebuchblätter und Briefe, in Ägypten die Nachricht vom Ausbruch. des Krieges. Unter großen Schwierigkeiten und manchen Abenteuern, unter Aufopferung seiner ganzen Ersparnisse, kam er schon am 14. August in die Heimat.
Noch im gleichen ersten Kriegsmonat fiel er in den französischen Vogesen. „Ich habe nur ein Leben, und das möchte ich gern mit Taten füllen", schrieb er einmal seinen Eltern. Eine Tat war sein Leben, eine Tat sein Tod.
Friedrich Rösch war Gelehrter und Missionar, vor allem aber ein Mensch mit einer feinen, tiefen Seele. Er hatte die Gabe, Welt und Menschen mit Seele und Gemüt zu erfassen und, was er gesehen und erlebt, in künstlerisch vollendeten Schilderungen wiederzugeben. Deshalb sind auch seine algerischen Briefe und Tagebuchblätter von bleibendem Werte. Zuerst im „Evangelist" und in der „Christlichen Welt" von 1909 bis 1915 veröffentlicht, kommen sie hier gesammelt zum Abdruck.
Friedrich Rösch war Schwabe. Von seinen Vorfahren, einem urwüchsigen Stamm an den Ufern des Neckars, nicht ferne von Stuttgart, hat sich wertvolles Erbe auf ihn übertragen: durch seinen Vater Urteil und Humor echt schwäbischer Art, durch die Mutter tiefes schwäbisches Gemüt und mystisch gläubiger Sinn mit jener gedankenschweren metaphysisch gerichteten Begabung dies schwäbischen Volkes, aus der in dem engen Bereich des neckarschwäbischen Berg- und Hügellandes ungewöhnlicher Reichtum des Geistes und Gemütes geflossen ist: die eigenartige urwüchsige Erscheinung des altschwäbischen Pietismus mit seinen
Bestell-Nr.: BN7873
Autor/in:Fritz Rösch
Titel:Mit der Seele erschaut - Briefe und Tagebuchblätter
Format:20,5 x 15 cm
Seiten:150
Gewicht:232 g
Verlag:Anker Verlag
Erschienen:1948
Einband:Hardcover/gebunden
Kämpfer gesucht
Die heutige Welt kann es nicht bequem genug haben. Am tollsten treiben es die Amerikaner, und das verrückteste Beispiel aus den letzten Jahren ist wohl die elektrische Zahnbürste. Es ist von einem Menschen also zuviel verlangt, seinen Arm auf und ab zu bewegen... Vielleicht erfindet demnächst jemand einen Zahnreinigungsapparat für Schnarcher: Während Sie noch schlafen, kommt eine elektronische Zahnbürste von der Decke, und wenn Sie aufwachen, sind die Beißerchen strahlend weiß.
Schnell und bequem will der Mensch es haben. Wenn es jedoch darum geht, die Welt mit dem Evangelium zu erreichen oder jemanden zu helfen, ein Jünger Jesu zu werden, gibt es keine Schnellverfahren, keine Automatisierung. Als der Apostel Paulus auf dem Weg nach Jerusalem war und sich von den Ältesten der Gemeinde in Ephesus verabschiedete, sagte er unter anderem:
Aber nach meinem Leben frage ich nichts, wenn ich nur meinen Lauf vollende und den Dienst tue, der mir von dem Herrn Jesus anvertraut wurde, nämlich das Evangelium von der Gnade Gottes zu bezeugen.
Darum seid wachsam und denkt daran, daß ich drei Jahre lang Tag und Nacht nicht aufgehört habe, einen jeden unter Tränen zu ermahnen (Apostelgeschichte 20,24.31).
Jedesmal, wenn ich diese Verse lese, spüre ich förmlich die Energie dieses Paulus, den Pulsschlag seines Einsatzes für Gott. Paulus war der große Pionier der Weltevangelisation, und wer seinen Fußstapfen folgt, hat keine einfache Wegstrek-ke vor sich. Jesus Christus sucSMenschen, die bereit sind, ihr ganzes Leben in seinen Dienst zu stellen Es gibt kerne Zeitsol
daten in seiner Armee. Bei Jesus dient man buchstäblich bis zum Tod.
Paulus und viele andere Christen seiner Zeit waren sich dieser Tatsache voll bewußt. In den heutigen Gemeinden und Kirchen ist das meist anders. Viele Christen verstehen es sehr wohl, über Kampf und Sieg und Einsatz zureden, aber was dies eigentlich bedeutet, ist ihnen fremd. Sie sprechen eine militärische Sprache und ziehen es im übrigen vor, in den sicheren vier Wänden der geschlossenen Gesellschaft der Frommen zu bleiben. Es ist vielleicht einmal nützlich, sich eine Zeit wie die des Zweiten Weltkriegs zu vergegenwärtigen und die Energie und den Kampfgeist zu sehen, der Männer wie Winston Churchill charakterisierte. Churchill versprach seinen Soldaten Schweiß, Arbeit und Tränen, und doch strömten die Freiwilligen nur so herbei. Ich kann jedem, der daran denkt, ein Jünger Jesu zu werden, nur empfehlen, einmal ein Buch über die Invasion in der Normandie im Jahre 1944 zu lesen. Die alliierten Soldaten wurden auf Schiffen und Lastkähnen übergesetzt und wateten seekrank ans Ufer, um sofort zu kämpfen und ihr Leben für ihre Heimatländer und deren Werte einzusetzen. Der Zweite Weltkrieg war so furchtbar, daß er uns heute fast unwirklich vorkommt. Und doch ist dies alles passiert.
Im 1. Jahrhundert n. Chr. gab es im Mittelmeerraum überall militärische Anlagen. Paulus muß gewußt haben, was es bedeutete, ein Soldat zu sein, um so mehr, als ihm persönlich Mühsal, Leiden, Schmerzen nicht unbekannt waren. Und doch kann er Timotheus schreiben »Leide mit als ein guter Streiter Christi Jesu« (2 Timotheus 2,3) Paulus wußte was er sagte Jeder, der sich zum christlichen Glauben bekennt steht vor der ui4n Wahl Möchtest du ernsthaft ein ausgebildeter Sol Arniee Gottes werden, oder hast du den heimlichen r tut der Tribüne zu stehen und mit deinem nkun wenn die kämpfenden Truppen vor Wut Christi zu worden ist das Beschwer !tü1lendste, Was man in seinem Leben
Als ich mit dem Evangelisieren anfing (das war kurz nach meiner Bekehrung); ging es mir vor allem darum, die Leute dazu zu bringen, daß sie sich für Christus entschieden. Hierauf zielten all meine Gebete ab. Heute geht es mir sehr darum, daß wir christliche Soldaten, Kämpfer für das Evangelium bekommen, denn ohne sie werden wir nie der ganzen Welt das Evangelium bringen können. Der Grund dafür, daß die meisten der ausgebildeten Reichsgottesarbeiter in der Welt unter 10 Prozent der Weltbevölkerung arbeiten und es für die übrigen 90 Prozent nur wenige solcher Arbeiter gibt, besteht darin, daß wir nicht genügend Soldaten besitzen und unsere Schlachtpläne vergessen haben.
Wahrscheinlich sind Sie ganz bestimmte Sitten und Gebräuche gewöhnt, eine bestimmte Sprache, bestimmtes Essen, Kleidung, Klima usw. Die meisten Missionsgesellschaften nehmen keine älteren Kandidaten an (obwohl sich das jetzt allmählich ändert), weil sie befürchten, daß diese nicht mehr hinreichend flexibel und anpassungsfähig sind. Es gibt auch christliche Sitten und Gebräuche, an die man sich gewöhnen kann. Es ist in unseren Kreisen recht einfach, als Frommer zu leben, in den Gottesdienst, die Bibel- und Gebetsstunde zu gehen, Lieder zu singen, rechtgläubig zu sein und sich in schönen Worten über den Glauben auszutauschen - kurz: ein guter evangelikaler Christ zu sein.
Aber wo ist der Kampfgeist, die Einsatz- und Leidensbereitschaft? Oder denken Sie, daß es Gottes Plan entsprechen kann, wenn z. B. die Zeugen Jehovas die Christen an Missionseifer, Hausbesuchen und allen möglichen anderen Dingen weit übertreffen? Wußten Sie schon, daß die amerikanischen Mormonen mehr Missionare aussenden als sämtliche christliche Kirchen in Großbritannien, Kanada, Australien und Neuseeland zusammen? 24000 solcher Mormonenmissionare sind heute unterwegs, und jeder von ihnen ist für die Taufe von zwei Neubekehrten pro Jahr verantwortlich. Nach ihren Schätzungen erfordert jede Bekehrung im Durchschnitt 500 Stunden Hausbesuche.
Inhalt
Einleitung: Kämpfer gesucht 11
Teil 1: Der Ruf in die Jüngerschaft 17
1. Kapitel: Jüngerschaft in einem Zeitalter der Spannung und Furcht 17
2. Kapitel: Heraus aus dem Nebel 23
3. Kapitel: Frucht für Gott 35
Teil II: Biblische Grundlagen für Jüngerschaft und Sieg 42
4. Kapitel: Liebe - das Gütezeichen des Christen . . 42
5. Kapitel: Grundlagen geistlichen Wachstums 52
6. Kapitel: Gottes geistliche Schule 64
7. Kapitel: Waffen und Taktik 87
Teil III: Am Bali bleiben 97
8. Kapitel: Buße 97
9. Kapitel: Nur nicht den Mut verlieren! 102
10. Kapitel: Geistliches Gleichgewicht 115
11. Kapitel: Als Familie leben 126
12. Kapitel: Herr über alles 133
JESUS PRAKTISCH ERLEBEN
Einleitung: Das christliche Doppelleben 143
1. Kapitel: Wonach sehnen wir uns? 146
2. Kapitel: Ein Gebet um Demut 153
3. Kapitel: Bei Gott zur Ruhe kommen 165
4. Kapitel: Gefahren auf dem Wder Nachfolge . . 176
5. Kapitel: Wie kann Gottes Lidff in uns wachsen?. 188
6. Kapitel: Seine Gnade reicht aus für uns ........ 198
7 Kapitel Erklären Sie sich zu einer Revolution bereit . 203
DIE REVOLUTION DER LIEBE
1. Kapitel: Die Revolution der Liebe
2. Kapitel: Geistliche Ausgewogenheit
3. .Kapitel: Ein offenes Herz
4. Kapitel: Echte Menschen —echte Kraft
5. Kapitel: Wie nehme ich mich selbst und andere an?
6. Kapitel: Eine neue Generation - eine unvollendete. Aufgabe
ISBN: 9783775115308
Format: 18 x 11 cm
Seiten: 310
Gewicht: 240 g
Verlag: Hänssler
Erschienen: 1990
Einband: Taschenbuch
»Ich habe dem Mörder meiner Tochter vergeben« Gott gibt Kraft zum scheinbar Unmöglichen
In der Neujahrsnacht 2000 kam meine Tochter Steffi, 1 6 Jahre alt, von einer Feier nicht mehr nach Hause. Sie wurde auf brutalste Weise ermordet. Ein Mann, der zur Sadomaso-Szene gehörte, stach sie mit einem Messer nieder. Er entblößte sie dann, missbrauchte sie mit dem Messer und schnitt ihr am Ende den gesamten Bauchraum auf. Für meine jüngere Tochter Nadine (damals 14 Jahre alt) und mich war das Leben danach furchtbar und unerträglich. Seit 1992 war ich alleinerziehend und hatte mit dem Glauben nicht viel zu tun.
Ein Jahr nach diesem Ereignis unternahm Nadine einen Selbstmordversuch, weil sie das Geschehene nicht mehr ertragen konnte. Sie wurde gerettet, verbrachte dann einige Zeit in der Jugendpsychiatrie und begann aus ihrer großen seelischen Not heraus, sich selbst mit Rasierklingen zu verletzen. Wenn das Blut floss, ging es ihr vorübergehend besser.
Im November 2002 waren wir beide an einem Punkt tiefster Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit und gingen zu einer Freundin, weil wir einfach nicht mehr weiterwussten. Sie sagte uns: »Ich weiß nicht, wie ich euch helfen kann, aber ich kenne jemanden, der es kann«, und dann erzählte sie uns von Jesus Christus. An diesem Tag übergaben Nadine und ich unser Leben Jesus. Er schenkte uns dann Begegnungen mit vielen gläubigen Christen, die uns in unserer Not beistanden, von Gottes Liebe erzählten und mit uns über die Bibel sprachen. Es ging uns von Tag zu Tag und von Woche zu Woche besser. Ich wurde von schwersten Depressionen geheilt und bekam wieder Lebensmut; auch Nadine erholte sich langsam.
Jetzt waren Nadine und ich errettet - doch was war mit Steffi? Sie muss doch auch errettet sein - sonst hat das alles keinen Sinn! Als ich einmal die Kirche besucht hatte, war in mir das tiefe Gefühl und der Friede gewesen, dass Stephanie jetzt ganz nahe bei Gott ist. Aber ich kannte auch den Bibelvers, der sagt: »Es sei denn, dass jemand von neuem geboren werde, so kann er das Reich Gottes nicht sehen« (Jesus zu Nikodemus in Johannes 3,3). Ich durchlebte einen schweren inneren Konflikt bezüglich meiner Liebe zu Jesus und der Ungewissheit, ob Steffi gerettet ist.
Nach Steffis Tod war irgendwann der Zeitpunkt gekommen, ihr Zimmer aufzuräumen und ihre Sachen zu sortieren. Dabei war mir eine kleine Bibel mit grünem Kunststoffeinband in die Hände gefallen. Da wir bereits einige Bibeln zu Hause hatten, sah ich eigentlich keinen Bedarf mehr; trotzdem legte ich sie im Wohnzimmer ins Regal.
Kurz vor meiner Taufe durchlebte ich wieder ein ganz tiefes Loch wegen dieser Ungewissheit über Steffis Errettung. Auf einmal ging ich ohne nach
zudenken ans Regal, nahm diese grüne Bibel heraus und öffnete sie. Damals geschah es ganz ohne Grund; heute weiß ich, dass Jesus mich geführt hat. Ich schlug sofort die letzte Seite mit dem Übergabegebet auf - und dort hatte Steffi mit Datum unterschrieben, als sie 11 Jahre alt gewesen war.
Da heißt es: »Mein Entschluss, Jesus Christus als meinen Erretter anzunehmen: Ich bekenne, dass ich ein Sünder bin, und ich glaube, dass der Herr Jesus Christus für meine Sünden am Kreuz gestorben und zu meiner Rechtfertigung auferstanden ist. Ihn nehme ich jetzt an und bekenne ihn als meinen persönlichen Erretter. «
Ich kann nicht beschreiben, wie überschwänglich meine Gefühle angesichts der großen Gnade waren, die Jesus mir geschenkt hatte! Ich bin so dankbar, dass ich Gewissheit haben darf, dass Steffi nun bei Jesus Christus in der Ewigkeit lebt. Seither ist mir diese kleine Bibel so kostbar geworden.
Ein Jahr nach mir ließ auch Nadine sich taufen. Wir beide erfuhren sehr viel innere Heilung. Jesus hat uns ein ganz neues heben mit viel Liebe und Freude geschenkt.
Der Mörder meiner Tochter war nach dem Verbrechen schnell gefasst worden. Aufgrund der Grausamkeit der Tat wurde er zu lebenslänglicher Haft mit anschließender Sicherheitsverwahrung verurteilt. In einem langsamen inneren Prozess, der Jahre dauerte, machte Jesus mir deutlich, wie wichtig es ist zu vergeben. Eines Tages war ich so weit, dass ich sagen konnte: »Herr Jesus, ich vergebe diesem...
aus vollem und ganzem Herzen.« In diesem Moment durfte ich erfahren, dass ich noch einmal freier und heller an meiner Seele wurde.
Im Februar 2009 besuchte ich den Mörder meiner Tochter im Gefängnis. Er war schwer an Krebs erkrankt. Ich konnte ihm sagen, dass ich ihm vergeben habe und dass auch Gott ihm vergeben möchte. Der Mann bat mich darum, mit ihm zu beten, was ich dann auch tat. Unter Tränen übergab er sein Leben Jesus Christus. 14 Tage später starb er.
Ursula Link, 1955 in Duisburg geboren, lebt seit 1979 in Freiburg. Seit 1992 ist sie alleinerziehende Mutter. Bei der Scheidung sind die beiden Töchter 8 und 6 Jahre alt. Sie können nach der Scheidung einen kleinen Stall mit Ponies und anderen Tieren neben Schule und Arbeit unterhalten und verbringen dort viele schöne Stunden gemeinsam. Wie ein Kleeblatt halten sie zusammen, und immer ist eine für die andere da, bis in der Neujahrsnacht 2000 das Unfassbare geschieht, das ihr Leben von dz an komplett verändert
Heute ist Ursula Link Mitglied einer internationalen Christengemeinde, arbeitet ehrenamtlich beim Schwarzen Kreuz mit, einer christlichen Straft2illigen-Hilfe, und besucht zweimal wöchentlich Strafgefangene sowohl im Untersuchungsgefiingnis als auch bereits verurteilte Gefangene. Beruflich arbeitet sie vollzeitlich als Chemielaborantin in der Qualitätskontrolle einer Arzneimittelfirma.
Ihre Lieblingsbibelverse sind Johannes 10,10: «Ein Dieb kommt nur, um zu stehlen, zu schlachten und umzubringen. Ich Jesus Christus] bin gekommen, damit sie das Leben und volle Genüge haben sollen.<, Das hat sich so bewahrheitet in ihrem Leben. Und Jesaja 61,1: "Er hat mich gesandt, den Elenden gute Botschaft zu bringen, die zerbrochenen Herzen zu verbinden, zu verkündigen den Gefangenen die Freiheit, den Gebundenen, dass sie frei und ledig sein sollen. «
- ich schrie zu Gott - der Atheismus gab mir keine Antwort - Brustkrebs mit 38 Jahren - auf der Suche nach dem Sinn - Traumschiffpianist auf MS Deutschland - Drogen, Raubüberfälle und keine Perspektiven - dort wohnt Gott drin - die zerlesene Gideon-Bibel - getröstet über allen Schmerz - fliegen Sie gern? - reich, berühmt, erfolgreich, innerlich leer - auf der Suche nach Freiheit - ich schäme mich des Evangeliums nicht - wenn ich jetzt springe, geht es ganz schnell... - ein kleines Amen auf Gottes großes JA - ich wollte und wollte nicht - Schritte in ein neues Leben
ISBN:9783894368302
Format:11 x 18 cm
Seiten:93
Gewicht:92 g
Verlag:Christliche Verlagsgesellschaft
Erschienen:2010
Ich will dich den Weg der Wahrheit führen; ich will dich aufrechter Bahn leiten, daß, wenn du gehst, dein Gang dir nicht sauer werde, und wenn du läufst, du nicht strauchelst. Bleibe in der Unterweisung, laß nicht ab davon; bewahre sie, denn sie ist dein Leben.
Sprüche 4, 11-13
Wenn ich von diesen bedruckten Seiten aufblicke, kann ich nur schwer sagen, was Sie, lieber Leser, wirklich denken. Ich kann mir vorstellen, daß einige von Ihnen nicht nur neugierig sind, sondern ein aufrichtiges Interesse daran zeigen, was eine Frau nun wirklich von ihrem Mann erwartet. Es mag sein, daß sie sich seit Jahren bemühen, ein ausgeglichener Ehemann zu sein, und daß Ihnen dies auch ziemlich gut gelungen ist, aber trotzdem kommt es vor, daß Sie ab und zu die Hände ringen und verzweifelt ausrufen: »Ich werde die Frauen nie verstehen!«
In vielen Ihrer Gesichter kann ich ganz klar den Ausdruck resignierter Enttäuschung erkennen. Dieses Buch bringt nicht das, was Sie erwartet haben. Der Grund liegt darin, daß Ihre Frau wahrscheinlich nun schon seit Tagen mit wichtigem Gehabe durch das Haus eilt. Sogar ihr Gang scheint zu sagen: »Ich weiß etwas, was du nicht weißt.«
Seit Tagen geschieht das so, und heute morgen waren Sie sich dessen ganz sicher.
Als Sie sich nach der Quelle ihres überschwenglichen Wesens erkundigten, hofften Sie insgeheim, Ihren Namen zu hören. Stattdessen blieb sie kurz stehen, winkte Ihnen zu und sagte: »Liebster, ich habe eine tiberraschung für dich!«
»Eine Überraschung?« dachten Sie. »Aha! Ich weiß, was es ist! Seit Monaten liest sie nun schon ein Buch nach dem anderen darüber, wie man eine erfüllte und anziehende Ehefrau wird, und dies ist nun das Ergebnis. Sie will mir nun zeigen, was sie gelernt hat.
Das ist großartig. Ich möchte wissen, wie sie es anstellen wird!« Sie verfielen in hoffnungsvolle Erwartungen.
Als Sie an diesem Abend nach Hause fuhren, kam sie nicht heraus, um Sie zu begrüßen, und das Haus lag in einer seltsamen Stille. Der Hoffnungsschimmer stahl sich wieder sachte in Ihre Gedanken ein und setzte Ihre Phantasie wieder in Bewegung. Sie riefen also zärtlich: »Liebling, ich bin da!«
Nachdem Sie das Haus einige Zeit durchstreift hatten, fanden Sie sie schließlich im Zimmer eines Ihrer Kinder. Sie stand bis zu den Knien in Schmutz und Durcheinander, hielt in der einen Hand den kaputten Schlauch des Staubsaugers und in der anderen die Katze. Sie hörte, wie Sie »Hallo« sagten und erklärte, daß die Katze in dem Augenblick, als der Staubsaugerschlauch platzte, in einen Abfalleimer gesprungen sei, weil sie dort eine Maus vermutete. Das Chaos war unvorstellbar. Sie richtete sich aus all dem Durcheinander auf und sagte: »Liebster, bin ich froh, daß du zu Hause bist! Du glaubst nicht, was heute wieder für ein Tag war!«
Irgendwo in Ihrem Kopf schlug die Tür der Hoffnung zu. Sie standen da wie ein begossener Pudel.
Ohne Ihnen einen Blick zu schenken, sagte sie: »Wir werden essen, sobald ich dieses Durcheinander ein wenig in Ordnung gebracht habe.«
Nach ein paar Sekunden sagten Sie dann in einem Ton, der nur als der eines kleinen Jungen beschrieben werden kann: »Aber ich dachte, du hättest eine Überraschung für mich. Du hast es doch heute morgen gesagt.«
»Ach so.« Sie packte die Katze und die restlichen herumliegenden Utensilien und schwebte damit an Ihnen vorbei, während Sie nicht wußten, ob nun Ihre Frau oder die Katze Ihnen zugeschnurrt hatte: »Ich weiß, ich weiß, aber das kommt erst nach dem Essen.«
Ah, es gab wieder hoffnungsvolle Erwartung. Die Tür der Hoffnung wurde dieses Mal nicht nur geöffnet, sondern durch eine zweifellos erregende Aussage offengehalten. Sie fühlten sich sofort wieder besser!
Das Abendessen war gut; die Kinder befanden sich in einer ziemlich 10
ausgelassenen Stimmung, und Ihre Frau sah aus wie immer— außer einem winzigen, aber doch erkennbaren Leuchten in ihren Augenwinkeln. Sie halfen ihr, den Tisch abzuräumen (das mindeste, was Sie tun konnten) und setzten sich dann auf das Sofa, studierten den Sportteil der Zeitung und erwarteten den Augenblick der Offenbarung.
Schließlich war es soweit. Die Küche war in Ordnung gebracht, die Kleinen waren im Bett, der Teenager machte noch Hausaufgaben in seinem Zimmer zu unglaublich lauter Musik, und endlich schmiegte sich Ihre Frau an Sie und sagte: »Liebling, hier. Dies ist meine Über-
raschung für dich.«
Es war ein Buch. Ein Buch, geschrieben von einer Frau. Ein Buch über das, was eine Frau von ihrem Mann erwartet, mit dem Titel:
»Stark und zart.«
Während Sie dasaßen und dachten: »Danke, Frau, das hat mir gerade noch gefehlt«, erzählte sie Ihnen irgend etwas über den Verfasser, und wie gelungen dieses Buch doch sei. Sie aber überbrückten die Zeit mit dem Gedanken: »Will sie mich aufziehen? Ich habe keine Zeit, um all die langweiligen Berichte zu lesen, die ich für meine Arbeit brauche. Ich habe keine Zeit, mich für die gerade laufenden Kurse vorzubereiten. Ich habe nicht einmal Zeit, jeden Abend den Sportteil durchzulesen, geschweige denn den Wirt-.schaftsteil der Zeitung. Außerdem ist dies kein Buch, das mir hilft, meine Golftechnik zu verbessern. Es ist ein Buch über das, was sie
von mir will!«
Wenn ich, lieber Leser, damit in etwa Sie und Ihre Gefühle beschrieben habe, kann ich gut verstehen, warum Sie so enttäuscht sind. Aber versuchen Sie doch, ein paar Seiten zu lesen—wenigstens
Ihrer Frau zuliebe.
Wissen Sie, heute morgen hatten Sie recht, als Sie an die vielen Bücher dachten, die sie in der letzten Zeit gelesen hat. Diese Bücher waren ihr auf so vielen Gebieten eine Hilfe. Sie hat sich wirklich mit der Frage beschäftigt, wie sie die Frau, die Ehefrau, die Mutter und besonders das Wesen sein kann, das Gott sich wünscht. Sie hat Bücher darüber gelesen, und sich mit anderen darüber unterhalten. Aber während sie diese Bücher las, kam ihr ein eigener Gedanke.
Sie begann zu erkennen, daß sie ein Problem hatte. Wenn sie sich wirklich ändern wollte, wenn sie Gott wirklich in ihrem eigenen Leben wirken lassen wollte, wird es eine große Hilfe für sie sein, wenn ihr Mann bereit wäre, sie dazu zu ermutigen, zu unterstützen und anzutreiben. Wenn sie selbst die Vergebung Gottes in ihrem eigenen Leben erfahren hat und in der Lage war, anderen zu vergeben, sie anzunehmen und zu ihren Lebensumständen ja zu sagen, könnte es notvoll werden, wenn ihr Mann dazu nicht fähig war.
Sie fühlt sich in ihrem täglichen Kampf um eine gute Ehefrau allein gelassen. Sie fühlt sich eigentlich mehr als Witwe oder Geschiedene. Als Mutter ist sie oft enttäuscht, weil sie sich in der Erziehung und Züchtigung der Kinder den Problemen einer alleinstehenden Frau gegenübergestellt sieht. Sie träumt von einer Ehe als echter Partnerschaft. Sie hält nicht viel von der romantischen Vorstellung der Ehe, in der eine wunderschöne Märchenprinzessin und ein starker, mutiger Ritter auf einem weißen Pferd dem Sonnenuntergang entgegenreiten und ihr Leben lang gemeinsam glücklich sind. Sie wünscht sich eine echte, lebendige Ehe, in der sich zwei Menschen achten und lieben.
Ganz tief in ihrem Herzen sehnt sie sich danach, daß sie und ihr Mann ein Liebespaar sind (was Sie vielleicht überrascht). Sie hat gelesen, daß Gott, der größte aller Autoren, die Ehe so geplant hat, daß man die Eltern verläßt, einander an-hangt und ein Fleisch wird. Sie träumt davon, daß zwischen ihr und ihrem Mann eine echte Liebe besteht, eine Liebe, die nicht mit den Jahren verblaßt und abnimmt; eine Liebe, die blüht und sich entfaltet und reift; eine Liebe, die in einem mit Menschen überfüllten Raum auch nach dreißig Jahren noch strahlt und verbindet und die alle anderen Personen ausschließt, so als ob sie überhaupt nicht anwesend wären.
Sie wünscht sich aus ganzem Herzen, daß ihr Leben mit Ihnen so aussieht, aber ohne Ihre Hilfe, Ihre Ermutigung und Ihre Unterstützung bleibt dieser Wunsch eine phantastische Illusion. Die Umstände, so muß ich hinzufügen, stehen alle gegen Ihre Ehe, Ihre Familie und Ihr wahres Lebensziel, sie können Ihnen sogar jeglichen Boden unter den Füßen wegziehen.
Trotz allem, lieber Mann, möchte ich mit alldem, was ich gerade gesagt habe, meine Hoffnung ausdrücken, daß Sie nicht zu sehr ent-
täuscht sind von dieser Überraschung, von diesem Buch. Ich hoffe, daß Sie beim Lesen - sich hingebungsvoll in Ihre Frau verlieben, Ihre Kinder als das betrachten lernen, was sie wirklich sind, nämlich als ein Geschenk Gottes, sich des Lebens freuen, nicht nur der bloßen Existenz, sich täglich mit großer Freude und großem Vertrauen in dieses Leben stürzen als der Mann, der so ist, wie Gott ihn sich wünscht. -
Inhalt
1 Danke, Frau, das hat mir gerade noch gefehlt 9
2 MannoderMythos 14
3 Der Mann und die Entscheidungsverantwortung 28
4 DergeistlicheFührer 46
5 Der beispielhafte Zuhörer 66
6 DerweiseGentleman 86
7 Der zärtliche Liebhaber 109
8 Ein ganz unmöglicher Mann 125
Francke ISBN 388224 012 1
KINDHEITSERINNERUNGEN
Zu meinem fünften Geburtstag bekam ich das Taschenmesser, das ich mir schon wochenlang gewünscht hatte. Die Schnitzerei, die ich am nächsten Tag sogleich in Angriff nahm, wurde jedoch nie fertig. Das Messer rutschte aus und bohrte sich in das untere Glied meines linken Daumens. Die Wunde blutete heftig. Noch heute vermerke ich auf Ausweisformularen unter „Besondere Kennzeichen": „Narbe am unteren Glied des linken Daumens."
„Ich glaube, ich habe mich ziemlich schlimmgeschiEiit-ten", flüsterte ich meiner schlafenden Mutter ins Ohr. Vermutlich hatte ich zu ruhig gesprochen, denn sie war nicht im geringsten erschrocken. Noch ganz verschlafen richtete sie sich auf und schlüpfte gemächlich aus dem Bett, während ich in die Küche eilte. Der Anblick der Blutspur, die zur Küche führte, beschleunigte jedoch Mutters Schritt. Die Fahrzeit von unserer Wohnung ins Krankenhaus kann nur wenig unter dem derzeitigen Weltrekord gelegen haben. An jenem Tag machte mich mein Onkel - er war nämlich der behandelnde Arzt - erstmals mit der Chirurgie bekannt, als er die Schnittwunde sorgfältig nähte.
Mit sieben Jahren waren Cowboys und Indianer meine große Leidenschaft. „Wenn doch nur auf meinem Geburtstagstisch ein Paar perlmuttbesetzte Pistolen komplett mit Halfter und Gürtel liegen würden! Ich wäre der glücklichste Junge der Welt!" sagte ich mir. Wie selig war ich, als mein Traum tatsächlich in Erfüllung ging.
Ich konnte gar nicht verstehen, weshalb meine Eltern lächelnde Blicke austauschten, als ich diese neuen Kostbarkeiten unter meinem Kopfkissen verstaute und zwischen den Klumpen und Beulen dann einen Platz für meinen Kopf suchte. Am anderen Morgen war ich bereits in aller Frühe mit Schießübungen beschäftigt, wollte ich doch der schnellste Schütze in ganz Omaha, Nebraska, werden.
Als ich neun Jahre alt war, hielt ein zweites Kind, um, seinen Einzug in unsere Familie. Mit drei Jahren gab er uns bereits eine Kostprobe seiner Vorliebe für Mechanik, als er um einen „Schraubenzieher, um Schrauben zu schrauben" bat. Vor meinem dreizehnten Geburtstag kam der letzte Sprößling an und machte das Jungentrio vollzählig. Charles, zu allen Streichen aufgelegt, nahm seine Aufgaben stets mit Elan in Angriff.
Mein Vater meinte, ich solle ein Musikinstrument erlernen. Ich entschied mich (warum weiß ich heute nicht mehr) für Geige, und damit fing die leidige Überei an. Ich habe niemals erfahren, wem sie mehr auf die Nerven gegangen ist, meinen Eltern oder mir. Sie haben ihre Empfindungen erfolgreich unterdrückt und mir immer neu Mut gemacht. Ich übte im „Trainingszimmer", eine allzu liebreiche Bezeichnung für die Folterkammer, in der ich mich verbissen mit den Stahl- und Katzendarmsaiten auseinandersetzte. Ich machte Fortschritte. Nach einigen Monaten war ich startklar für den ersten großen Auftritt in einem Musical der fünften Klasse.
Als am Tage der Vorstellung mein Name aufgerufen wurde, trat ich auf die Bühne und blickte auf die Gesichter meiner Mitschüler hinab. Plötzlich war die lebenswichtige Verbindung zwischen meinem Gehirn und meinen Fingen unterbrochen, mit dem Ergebnis, daß mein Musikvortrag allen Absichten des Komponisten hohnsprach. Als anderntags die Todesursache des Musicals geklärt wurde, wartete ich gefaßt auf die Diagnose unserer Lehrerin. Sie nahm kein Blatt vor den Mund. „Viggo, das war so sauer wie eine saure Gurke." Mein Kopf sackte auf: meine Arme herab, und der Tisch erzitterte unter
meinem heftigen Schluchzen. „Zurück mit dir ins Trainingszimmer, Olsen!' sagte ich mir schweren Herzens.
Als mein Vater dann eines Tages an unserer Garage ein Zielbrett und einen Basketballkorb befestigt hatte, setzte eine Invasion von Kindern aus der Nachbarschaft auf unser Grundstück ein. Eigenartigerweise ergab sich im Zusammenhang mit dem Basketballzubehör die erste Gelegenheit für mich, eine „Operation" durchzuführen. Das Weihnachtsfest stand vor der Tür, und hie und da ließ ich ein paar Andeutungen fallen, daß ich mich über einen Basketball unter dem Weihnachtsbaum sehr freuen würde. Eines Tages entdeckte ich ein geheimnisvolles viereckiges Paket im Abstellraum. Nach Form und Größe zu urteilen, konnte es ohne weiteres einen Basketball beinhalten; wiederholtes Schütteln deutete ebenfalls auf die Anwesenheit eines Basketballs hin. Wie konnte ein Junge aber sicher sein, ohne ihn tatsächlich gesehen und betastet zu haben? Es waren noch etliche Tage bis Weihnachten, und meine Eltern waren für den Abend ausgegangen. Mein Gewissen zwickte mich zwar unaufhörlich. Trotzdem suchte ich mir eine Rasierklinge und machte mit zitternden Fingern meinen ersten Einschnitt - in das braune Umschlagpapier. Sorgfältig ritzte ich die verdeckte Fläche unterhalb des Überschlags ein (klassisches Vorgehen in der Chirurgie) und nahm behutsam den Ball heraus. Dieser Ball war der größte „Tumor", den ich jemals entfernt habe, und der, einzige, den ich wieder hineingelegt habe!
Zur Schulabschlußfeier erhielt ich einen nagelneuen
Anzug, zweifarbene Schuhe und die Bewunderung meiner zwei kleinen Brüder, die mich mit großen Augen an-
starrten. Das Trainingszimmer hatte seine Aufgabe er-
füllt und mir größere Gelassenheit und Fingerfertigkeit als Violinspieler vermittelt. Als ich mein Solo vortrug und das Orchester in einer Nummer dirigierte, mußte ich im stillen denken, wenn mich nur die „Sauer-wie-eine-saure-Gurke"Lehrerin sehen könnte! Solch ein eingebildeter Bengel war ich!
Die Unterschrift meines Vaters lautete „Viggo C. 0lsen". Logisch - wie wäre ich sonst zu einem Namen wie Viggo gekommen! Vater war Ingenieur und hatte es mit seinem großen Fleiß schließlich zu einem eigenen Betrieb gebracht. Seine dynamische, warmherzige Persönlichkeit veranlaßte nicht selten Clubs und andere Vereine dazu, ihn zum Vorsitzenden zu ernennen. An seine Söhne stellte er hohe Anforderungen. Vater war immer ein wunderbar großzügiger Mensch und hat uns niemals seine finanflefle Hilfe versagt, wenn es darum ging, unser Gedankengut zu erweitern, Talente zu entwickeln oder unseren Reifeprozeß zu fördern. Weil er mein Leben entscheidend und dauerhaft geprägt hat, denke ich mit großer Liebe und Dankbarkeit an ihn zurück.
Mutter war zweifellos eine sehr gute Krankenschwester. Sie umsorgte uns vorbildlich. Damit sind jedoch nicht nur ihre hausfraulichen Fähigkeiten gemeint, sondern vor allem auch ihre unvergeßliche Liebe und Herzenswärme mit denen sie uns umgab. Mag Schönheit auch nur etwas Oberflächliches sein, so fand ich es dennoch herrlich, eine schöne Mutter zu haben. Auch sie war eine dynamische Persönlichkeit, und ich kann mich noch gut an ihre leuchtend braunen Augen erinnern. Trotz ihrer liebevollen Art schrak sie nicht davor zurück, uns, wenn nötig, zu strafen. Meinen ersten Tanz hüpfte ich im Takt zu der Gertenri.jt
in ihrer Hand Mutter war die treibende Kraft hinter dem Erfolg des Trainingszimmers Wie mein Vater lehrte sie
uns Idealismus, hohe moralische Maßstäbe und hielt uns stets an, das Rechte zu tun. Sei rechtschaffen, mein Junge, du wirst es nie bereuen!" Diese Worte beherrschten unser Gewissen. „Wenn sich etwas zu tun lohnt, muß man es gut machen", lautete ihre Mahnung, mit der sie uns zu verstehen gab, daß halbe Arbeit nichts taugt. Auch meine Mutter hat mein Leben sehr beeinflußt.
LEHR- UND WANDERJAHRE
Als Teenager hat mein Herz mehr als einmal wild und unkontrolliert geklopft, Eines Nachts forderte mich ein Freund dazu heraus, mit ihm den Getreideaufzug hinaufzuklettern. Es war ein riesiger Betonklotz, der bis in den Himmel hineinzuragen schien. „0. K.", sagte ich großspurig. Abgeblätterte Farbe und orangenfarbener Rost bedeckten die schmale Stahlleiter, die an der Betonwand des Aufzugs befestigt war. Sie ragte so hoch hinauf, daß man trotz des hellen Mondlichts ihre Spitze nicht erkennen konnte. Auf die erste Sprosse, die sich etwa zweieinhalb Meter über dem Erdboden befand und somit für uns unerreichbar war, gelangten wir, indem einer den anderen hochbugsierte und von ihm nachgezogen wurde. Während wir höher und höher kletterten, heulte uns der Wind um die Ohren und zerrte an unserer Kleidung. Auf einmal kam ich an eine Stelle, an der eine Sprosse fehlte. Ich überlegte kurz, ob ich nicht doch lieber umkehren sollte. Doch dann reckte ich mich nach oben und drängte weiter, fünfzehn Stockwerke in den Himmel hinein. Kurz vor dem Ziel, dem Dach des Aufzugs, rüttelte und schüttelte uns der Wind wie eine Vogelscheuche. Ich klammerte mich verzweifelt an die Sprossen. Mein Leben hing von ihnen ab. Und genauso war es! Endlich krabbelte ich über den Rand und erreichte das flache Dach und festen Grund unter den Füßen. Dabei bummerte mein Herz in meiner keuchenden Brust wie ein Preßlufthammer. Als wir eine Stunde später den gefährlichen Rand vor dem Abstieg noch einmal untersuchten, ging der Preßlufthammer wieder in Betrieb. Die Leiter endete genau am Dachrand. Mit dem Geländer hatte man ebenfalls gespart; es ragte keinen Zentimeter über den Dachrand hinaus. Rückwärts ließ ich mich in die dunkle, gähnende Tiefe hinabgleiten. Wie von einem Strudel wurde ich von den heulenden Sturmböen gepackt,
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während ich hilflos über dem Abgrund hing, bis endlich meine suchenden Hände und Füße die rettenden Sprossen fanden und sich daran festkrallen konnten. Der Preßluft-hammer hämmerte die ganzen fünfzehn Stockwerke hinunter und noch geraume Zeit danach. Nie wieder habe ich mich auf solch eine leichtsinnige und gefährliche Herausforderung eingelassen.
Als ich wenige Jahre später in den frühen Morgenstunden schwankend nach Hause kam und unsere Haustür aufschloß, war das innere Pochen wieder da. Meine Mutter saß im Sessel und wartete auf mich - und ich war betrunken. Diesmal war es die Scham, die den Preßluft-hammer in Gang gesetzt hatte. „Junge", fragte sie, „wo bist du gewesen?" Dann erkannte sie meinen Zustand, und augenblicklich breitete sich ein•Ausdruck des Schmerzes über ihr Gesicht. Obgleich sie nichts weiter sagte, während ich die Treppe in mein Zimmer hinaufstolperte, schien es mir, als hörte ich das Echo ihrer Stimme aus der Vergangenheit; „Sei rechtschaffen, mein Junge - du wirst es nie bereuen!"
Während meines ersten Semesters an der Oberschule lernte ich die Einsamkeit kennen. Meine Klassenkameraden aus der Grundschule waren alle in die nahegelegene North High School hinübergewechselt. Ich hingegen hatte mich für die Central High Scheel in der Innenstadt entschieden, weil mein Geigenlehrer dort das Orchester leitete. Zudem betrachtete ich Central High als akademisch stärker, auf alle Fälle aber kultivierter. Kultiviert-heit war jedoch kein Heilmittel für meine Einsamkeit, und das strenge akademische Pensum forderte seinen Tribut.
Gegen Mitte des Semesters hatte ich zum erstenmal in einem Fach eine glatte sechs, und auch in der darauf-
folgenden Prüfung erzielte ich kein besseres Ergebnis. Latein hieß die Nemesis*, die mir verdeutlichte, daß ich * strafende Gerechtigkeit.
mich in der Grundschule niemals in der Disziplin des Lernens geübt hatte. Bis zum Eintritt in die Oberschule hatten die einzelnen Fächer wenig oder gar kein Lernen erfordert. Ich war am Boden zerstört und wußte mir keinen Rat. Mutter hatte die Antwort bereit. „Ab mit dir in das Trainingszimmer, mein Junge. Vor dir liegen zwei Wochen Weihnachtsferien. Wenn du in diesen zwei Wochen Tag und Nacht arbeitest, schaffst du's!" Wie üblich, hatte sie wieder einmal richtig diagnostiziert. Einsen für die letzten paar Hausaufgaben und in der Abschlußprüfung brachten meine sechs auf eine wunderschöne, herzerfrischende zwei minus. Bis zum heutigen Tag sind mir einige jener damals gepaukten lateinischen Wörter im Gedächtnis haften geblieben. Wieder war das Trainingszimmer die Rettung gewesen. Vater stellte es zur Verfügung, .Mutter sorgte dafür, daß ich drin blieb, und ich erntete den Nutzen.
Einmal arbeitete ich während der Sommerferien in der Speckabteilung einer Konservenfabrik. Die schwere körperliche Arbeit gefiel mir, legte ich doch Wert darauf, Muskelkraft zu entwickeln. Hier gewann ich neue Freunde,' viele von ihnen mit polnischen, böhmischen und slawischen Namen. Sie arbeiteten schwer, tranken viel und verfügten über einen entsprechend kräftigen Wortschatz, von dem sie regen Gebrauch machten. Sie nannten mich „Slim". Ich kam prächtig mit ihnen aus, denn meine Klassenkameraden hatten ähnliche Fähigkeiten aufzuweisen.•
Diese Schulfreunde waren weltklug; einige von ihnen stammten aus angesehenen Familien. Wir führten ein flottes Leben, besuchten Parties und Tanzveranstaltungen, Bars und dunkle Spielhallen. Wir tranken, spielten und fluchten, als seien dies Zeichen besonderer Leistung.
Vom musikalischen Standpunkt aus betrachtet, war mein Entschluß, in die Central High Scheel zu gehen, weise gewesen. Das ständige Üben hat zwangsläufig dazu
© 1973 by The Moody Bible Institute of Chicago
ISBN 3-87739-542-2 1, Auflage 1973 Z.. durchgesehene Auflage 1974 ;Umschlaggestaltung: Egon Schwanz tjmschlagfoto dpa Satz: W. Bechstein KG, Wetzlar erstellung K H Benatzky, Hannover rhifed In Germany
Maria Sprenger Geb. 31. 8. 1846 in Basel als Tochter eines aus Baden stammenden Kaufmanns.
In der Konfirmationszeit lebendige geistliche Einflüsse durch den Basler Pfarrer Dr. Ernst Stähelin, später durch Dorothea Trudel in Männedorf Lehrerin an der Taubstummenanstalt in Rieben bei Basel. 1884 Begründung einer Taubstummenanstalt und eines Gästeheims in Lahr (Baden), nach einigen Jahren nach Dinglingen verlegt. Seit Mitte der neunzigerjahre nur noch Seelsorgedienst, auch, durch einen umfangreichen Briefwechsel. Gest. 25.1.1934.
Frühe Entschiedenheit
Maria und ihre einige Jahre ältere Schwester Emilie verlebten in der wirtschaftlich, aber auch geistlich aufblühenden Stadt Basel eine glückliche Kindheit und genossen eine vorzügliche Erziehung. Allerdings fehlte es auch nicht an Strenge von seiten der Eltern. Ein Beispiel: Eines Tages stellte die Mutter gelbe Rüben auf den Tisch, die recht schmackhaft zubereitet waren. Die, kleine Maria konnte sich für das Gericht allerdings nicht begeistern. Als die Schüssel zum zweiten Male die Runde machte, ließ sie diese an sich vorbeigehen mit der Bemerkung: »Ich bin satt.« Dann kam ‚aber noch Kuchen als Nachtisch an die Reihe.
Er wurde an dem satten« Töchterchen vorbeigereicht. Und wie gut und gern hätte sie ihr Stück noch geschafft! Sie wandte sich bescheiden bittend an den Vater. Doch dieser entgegnete mit strenger Miene: »Mein Kind ist doch satt!« Darauf die Kleine: »Ja, Vater, Rübele satt!« Der Vater ließ sich nicht, erweichen: »Satt ist satt!«
Das frohe Spielen und Springen mit der geliebten Schwester Emilie fand ein frühes Ende, als diese an einer schmerzhaften Kniegelenkentzündung erkrankte. Diese zog sich durch Jahre hin, und alle ärztliche Hilfe. und Pflege brachte keine Besserung. Auch eine spätere Badekur blieb ohne jeglichen Erfolg.
Nun aber griff Gottes verborgene Hand wundersam in das Leben des jungen Mädchens ein. Es hielt sich an dem betreffenden Badeort ein junger Mann auf, der genau dasselbe Leiden hatte wie Emilie. Sein Name war Arnold Bovet. Er wurde später der unermüdliche Vorkämpfer des Blauen Kreuzes in der Schweiz. Der junge Bovet sollte noch eine weitere Badekur mi südlichen Frankreich machen, und er versprach den Eltern Sprenger, sofort zu schreiben, falls diese Erfolg hätte.
Es kam tatsachlich nach einigen Monaten eine Nachricht von ihm, jedoch nicht aus Frankreich. Bovet war vielmehr an einen ganz andern Ort »verschlagen« worden, und zwar flach Männedorf im Kanton Zürich. Dort lebte und wirkte die bekannte Dorothea Trudel, auch Jungfer Trudel genannt. Sie hatte eine besondere Gabe der Seelsorge und legte auch Kranken unter Glaubensgebet die Hände auf. Vielen Menschen war schon an Leib und Seele geholfen worden. Auch Arnold Bovet konnte berichten, daß es ihm mit seinem Leiden viel besser gehe. Er forderte Emilie Sprenger auf, sich auch eilends nach Männedorf zu begeben. Gott könne sich auch an ihr als der gute Arzt verherrlichen.
Den Eltern Sprenger war zunächst bei diesen Dingen nicht ganz wohl. Sie waren zwar gut kirchlich eingestellt, witterten hier aber eine gewisse Schwärmerei. Nur zögernd gaben sie die Einwilligung zur Reise ihrer Tochter. Doch diese empfing durch den Dienst von Dorothea Trudel eine wunderbare Hilfe. Ihr Knieleiden verschwand, und ihre Seele wurde gesund durch die Gewißheit der ihr durch das Blut Jesu Christi zuteil gewordenen Vergebung ihrer Sünden. Nun stand die eine der Schwestern Sprenger im lebendigen, entschiedenen Glauben an den Heiland. Und die andere, Maria, folgte bald nach. Sie hatte einige Zeit in einem Pensionat in der französischen Schweiz zugebracht und war dann in ihre Geburtsstadt Basel zurückgekehrt.
Der Tag ihrer Konfirmation wurde für sie der bewußte Beginn eines entschiedenen Glaubensweges. Die Eltern hielten die klare Haltung ihrer Kinder zunächst für eng und übertrieben. Doch legten sie ihnen keine wirklichen Hindernisse in den Weg. Sie wurden vielmehr je länger je mehr beeindruckt, als sie sahen, daß die Töchter Vater und Mutter mit vermehrter Achtung, Liebe und Dankbarkeit umgaben. Sie erfüllten ihnen die Bitte um einen gemeinsamen Aufenthalt bei der »Jungfer Trudel« in Männedorf. Dort wurde das Christentum der beiden noch weiter vertieft. Ihr ganzes Leben sollte ein Opfer der Liebe und des Dankes an ihren Heiland sein. Als Wahlspruch leuchtete über ihrem ganzen ferneren Glaubens- und Dienstweg:
»Für einen ewgen Kranz das arme Leben ganz!« Sie durften dann durch ihren Wandel auch die Eltern für das Evangelium gewinnen. Es folgte noch €ne gute Zeit miteinander bis zu deren frühem Tod.
Taubstummenlehrerin in Riehen Nach dem Heimgang der Eltern kamen die beiden Schwestern Sprenger zunächst als Lehrerinnen und Erzieherinnen an die Taubstummenanstalt in Riehen bei Basel. Deren Leiter war zu jener Zeit der prächtige Inspektor Wilhelm Arnold, der auch von Maria und Emilie sehr verehrt wurde. Die beiden gaben sich ihrerAufgabe mit großem Eifer und der ganzen Liebe ihres Herzens hin. Die Schüler und Schülerinnen dankten es ihnen mit einer großen Anhänglichkeit. Bald wurde überall lobend von den Erfolgen des Unterrichts gesprochen. Diese waren bisher nur Mäßig und begrenzt gewesen.
Jetzt kam es zu einer erstaunlichen Steigerung der Leistungen. Die Gehörlosen lernten tadelloses Ablesen vom Mund, deutliches Sprechen und geistige Bildung. Auch wurde ihnen die Welt der Bibel und des Glaubens an Gottes Heil in Jesus Christus erschlossen. Der Ruf von Riehen drang weit ins Land hinaus, und es erschienen viele Taubstummenlehrer und sogar Vorsteher anderer Anstalten, um von den Schwestern Sprenger und ihren Methoden zu lernen.
Einer der Schüler kam aus Lahr in Baden und hieß Gustav Schweickhardt. Er war der jüngste Sohn der Familie. Wie es ihm in Riehen ergangen ist, darüber liegt der Bericht von Friedrich Guthmann, einem langjährigen Mitarbeiter der St.-Johannis-Druk-kerei C. Schweickhardt in. Dinglingen, vor:
»Gustav verlor durch eine Erkrankung an Scharlach das Gehör. Der Vater entschloß sich, diesen Sohn nach Riehen in die Anstalt zu geben, daß er dort zu einem brauchbaren Menschen erzogen würde. Und so kam er mit Fräulein Maria Sprenger zusammen. Jährlich einmal durfte er auf sechs Wochen nach Hause nach Lahr und dort die großen Ferien zubringen. Wie groß war das freudige Erstaunen der Familie Schweickhardt, wenn wieder der kleine Gustav heimkam und man bei ihm die schönen Fortschritte im Sprechen und im Ablesen feststellen konnte, der doch vorher die Sprache ganz verloren hatte! Noch mehr staunte man über seine guten Sitten und die echte Frömmigkeit.«
Es geht in der Schilderung sehr interessant weiter: »Besonders stark war der Eindruck von dem, was an Gustav . geschah, bei seinem nächstälteren Bruder Max. Er war zum Lehrer ausgebildet und entschloß sich, Taubstummenlehrer zu werden. Er war mehrere Jahre in Riehen, auch als sein Bruder Gustav schon entlassen war. -
Die große innere Veränderung, die sich dann auch bei Max Schweickhardt in Riehen vollzog, wurde von seiner Familie nicht verstanden. Die große Entschiedenheit, mit der er sich von der Welt, von allen Bekannten und Verwandten, die nicht zum verachteten Häuflein des Nazareners gehörten, trennte, hielt man für zu weitgehend. Indessen ging Max Schweickhardt mit großer Treue seinen Weg weiter. Er wußte, daß er auf dem rechten Wege war, und das sollte sich bald erweisen. Nach dem Heimgang von Inspektor Arnold trat in Riehen eine große Wendung ein. Ein neuer Inspektor wurde gewählt, der nicht in den Fußstapfen seines Vorgängers wandelte. Nun erkannten die beiden Schwestern Sprenger, daß ihre Arbeit in Riehen beendet sei.
Sie trugen dies gemeinsam dem Vater im Himmel im Gebet vor, ohne jedoch einen Weg zu sehen. Da, als sie in größter Not waren und nicht wußten, wohin sie gehen sollten (sie hatten bereits gekündigt und die Koffer schon gepackt), kam ein Telegramm aus Männedorf: >Kommt herüber und helft uns!«
In Männedorf war die Jungfer Trudel heimgegangen. Ihre Nachfolge hatte ihr geistlicher Sohn Samuel Zeller angetreten. Dieser brauchte Hilfe und suchte sie bei den ihm bekannten Schwestern Sprenger. Diese sahen solche Bitte um Mitarbeit als den Ruf Gottes an Für Emilie war damit die Lebensaufgabe bis zu ihrem Heimgang im Jahre 1916 gegeben. Maria brachte nur wenige Jahre in Männe-dorf zu, bis Gott für sie die Weichen anders stellte. Sie spürte den inneren Ruf, wieder nach Baden, woher die Eltern einst in die Schweiz ausgezogen waren, zurückzukehren und dort dem Herrn zu dienen.
Lahr und Dinglingen Hören wir weiter dem schon erwähnten Friedrich Guthmann zu: »1884 wurde es Fräulein Maria Sprenger und Max Schweickhardt klar, daß sie in Lahr eine Meine Taubstummenanstalt ins Leben rufen sollten. Nach langer Vorbereitung im Gebet fand sich in Lahr eine schöne Villa mit großem Garten, die einem Verwandten der Familie Schweickhardt gehörte und sofort zu mieten war. Dieses schöne Landhaus wurde bezogen, und Maria Sprenger stattete es aus für zwölf taubstumme Kinder und als ein Heim für eine kleine Anzahl von Gästen.«
Was Gott unter den sich einfindenden Gästen wirkte, dafür liegt der lebendige Bericht des Arztes Dr. Boeckh, dessen Mutter eine Schwester von Max Schweickhardt war, vor: »Es war im Sommer 1884, als ich zum erstenmal Gelegenheit hatte, >Mütterlein< (dieser Name für Maria Sprenger bürgerte sich immer mehr ein) in Lahr zu sehen und zu begrüßen. Meine Mutter war damals recht krank, stand vor der Frage einer Operation und wurde von ihrer Schwester Lina gebeten, doch vor einem operativen Eingriff sich an Fräulein Sprenger zu wenden, die eine wunderbare Gebetskraft und die Gabe der Handauflegung habe.
Meine Mutter, schon lange aufmerksam gemacht auf >Mütterlein< in Lahr, ging auf den Vorschlag ein, reiste schwerkrank nach Lahr und bekam dort -ich glaube wohl täglich - Handauflegungen und wurde in der Zeit von zwei Monaten so gesund, daß sie wieder ihren Haushalt besorgen konnte...
Die wunderbare Genesung meiner Mutter war nicht nur auf den Leib beschränkt, sondern verbunden mit einer gründlichen Bekehrung. Sie wurde ein Kind Gottes und zeigte dabei eine unerschrok-kene Gründlichkeit, die jener ihres Bruders Max nicht nachstand. Es brauchte aber drei Jahre, bis auch mein Vater, damals Oberlandesgerichtsrat in Karlsruhe, für Jesus gewonnen war. «
Maria Sprenger verlegte ihren Wohnsitz von Lahr nach Dinglip-gen. Dort hatte sie fortan ein geräumiges Wohngebäude mit Nebenbauten und einen großen, später noch wesentlich erweiterten Garten zur Verfügung und war allem Umtrieb und Lärm der Stadt entnommen. Dort wirkte, betete und liebte sie, bis sie im Januar 1934 heimgerufen wurde.
Hören wir weiter Dr. Boeckh, wie Mütterlein auch ihm Wegwei-serdienst zum lebendigen Glauben tat: »Ich selbst, das einzige Kind meiner Eltern, war im Winter 1889/90 an einer Lungentuberkulose erkrankt und hatte fünf Monate in Davos in der Schweiz zubringen müssen. Diese Erkrankung war nichts anderes als ein Liebesseil des Heilandes, der hierdurch mich, den noch Widerstrebenden, zu sich hinziehen wollte. Auf Wunsch meiner Eltern brachte ich nach meiner Rückkehr aus Davos fünf Monate im neuen Heim Mütterleins zu und durfte in dieser Zeit zu völligem Glauben durchdringen.
In diesen fünf Monaten erfuhr ich, was christliche Liebe ist, und konnte im täglichen Verkehr mit Mütterlein und in ihren Bibelstunden große Reichtümer für das innere Leben und für die Ewigkeit sammeln.. . Nach meiner Niederlassung in Dinglingen als praktischer Arzt konnte ich noch sieben Jahre in Mütterleins nächster Nähe weilen und mein inneres Leben ihrer Leitung anvertrauen.« Der Dienst und die :geistlichen Wirkungen, die von Dinglingen ausgingen, erweiterten sich erstaunlich: »Viel könnte ich erzählen von der steten Vergrößerung des um Fräulein Sprenger sich bildenden Kreises ihrer geistlichen Kinder, auch von vielen lieben Gotteskindern, die bei ihr als Gäste kürzere oder längere Zeit verweilten, darunter auch bedeutende Arbeiter im Weinberg des Herrn wie Elias Schrenk, Inspektor Rappard von St. Chrischona, Pfarrer Blazejewski, der Gründer des Vandsburger Diakonissenwerkes, jener liebe, gütige Vorgänger von Pfarrer Krawielitzki.
Seit Mitte der neunziger Jahre hatte Fräulein Sprenger den Unterricht an Taubstummen, den sie bis dahin zusammen mit meinem Onkel Max Schweickhardt in großer Treue erteilt hatte, aufgegeben. Sie widmete sich dann ganz der Seelenpflege, die sie an den zahlreichen Gliedern ihrer örtlichen Gemeinschaft in Dinglin-gen - Timotheus-Verein genannt, an ihren Gästen im Haus und in einer äußerst umfangreichen Korrespondenz ausübte. Wer kann die Zahl derer nennen, die durch sie ein Eigentum Jesu geworden sind und die dann in dauernder Seelenpflege blieben und Mütterlein teilnehmen ließen an ihren irdischen Freuden und Sorgen oder von ihr Rat erbaten, wo es not tat. Und für alle, die mit lauterem Herzen zu ihr kamen, war sie eine Mutter mit mütterlicher Treue, Fürsorge und Liebe.
Verbindung mit Liebenzell und der St.-Johannis-Druckerei
Aus der Fülle lebendiger geistlicher Beziehungen, in denen Maria Sprenger stand, wollen wir zwei noch besonders herausgreifen. Da ist zunächst die Verbindung mit Pfarrer Heinrich Coerper und der von ihm gegründeten Liebenzeller Mission. Coerper lernte bei seinen Besuchen in Dinglingen seine spätere Frau Ruth Robert, die Tochter eines Pfarrers aus der französischsprachigen Schweiz, kennen. Sie war - so Dr. Boeckh - »die geistliche Tochter des teuren Mütterleins, das alles Gute, das in Fräulein Roberts Seele vorhanden war, veredelt und vergöttlicht hatte in treuer Seelsorge und in liebevoller Erziehung zum himmlischen Beruf.« Die Kontakte zwischen Maria Sprenger und Liebenzell blieben allezeit rege und endeten erst mit Mütterleins Tod im Jahre 1934. Zwei Jahre später begab es sich, daß Pfarrer Coerper in Dinglingen, wo er von Liebenzell aus zu Besuch weihe, im Frieden heimgehen durfte.
Und jetzt Mütterleins Beziehung zur St.-Johannis-Druckerei in Dinglingen? Wir hörten von den Brüdern Gustav und Max Schweickhardt und dm gesegneten Einfluß der damaligen Taubstummenlehrerin Maria Sprenger auf ihr Leben und ihren Glauben. Später kamen - bis auf einen Bruder - alle Glieder der großen Familie Schweickhardt zu demselben Heilsglauben, in dem Gustav und Max vorangegangen waren. Geben wir noch einmal Friedrich Guthmann das Wort:
»Gar! Schweickhardt, einer der Brüder, war als Filialleiter einer Lahrer Firma in London tätig und kam in seinen Ferien öfter in das Haus von Mütterlein. In London besuchte er fleißig die Versammlungen des deutschen CVJM und war ein treuer Bekenner seines Heilandes. Doch seine Arbeit in der britischen Hauptstadt befriedigte ihn mit der Zeit nicht mehr. Dies äußerte er gelegentlich eines Besuches in Dinglingen. Darauf gab ihm Mütterlein zur Antwort: >Das ist ganz einfach! Du kommst zu uns nach Dinglingen und gründest eine christliche Druckerei, die dem Reiche Gottes dient!< Diesen Gedanken nahm er mit nach England und konnte ihn nicht mehr loswerden, und so kam es im Jahre 1896 zur Gründung der St.-Johannis-Druckerei. Bei der Druckerei allein verblieb es nicht. Vielmehr wurde in Verbindung mit ihr ein evangelischer Verlag eröffnet.«
Druckerei und Verlag sind im Laufe der Zeit sehr gewachsen und erfüllen heute mehr als je bedeutsame Aufgaben in dem weiten Bereich christlich-evangelikaler Literatur.
Kurze Aussprüche von Maria Sprenger
In dem Saal, der zu ihrem Anwesen gehörte und in dem sich regelmäßig ein - heute noch bestehender - Gemeinschaftskreis versammelte, hat Mütterlein zusammen mit dem 1932 heimgegangenen Max Schweickhardt schlichten Wortdienst getan und den Gläubigen gedient. Nach dem Tod des letzteren und dem zwei Jahre später erfolgten Heimgang von Mütterlein hat Pfarrer Wilhelm Grünewald, ein Schwiegersohn von Heinrich Coerper, den Dienst der Verkündigung fortgesetzt. Zugleich war er mit in der Firma tätig.
Maria Sprenger hat nie Männer in der Verkündigungsarbeit ersetzen und verdrängen wollen. Aber Gott hat ihr nun einmal einen Schlüssel zu den Herzen der Menschen gegeben. Viele ihrer Worte haben sich als geisterfüllt erwiesen und einen wirksamen seelsorgerlichen Dienst getan. Aus einer reichen Fülle wählen wir einige aus:
Jeder Gehorsam trägt schon hier einen großen Lohn in sich durch den Frieden, der darauf folgt.
Wenn man das Leben eines lebendigen Kindes Gottes prüft und dessen Wurzeln sucht, so findet man: Umgang mit Gott. Solche Seelen finden keine Freude außer Ihm und keinen Schmerz außer der Sünde.
Einen zerrissenen Schuldbrief haben, in Bethlehem und unter dem Kreuz gewesen sein und nicht lieben - das ist unmöglich; Wie kann ich meinem Nächsten die größte Liebe erweisen? Auf
den Knien Reisen machen, Geschenke schicken, Briefe schreiben, das können auch Weltleute.
Jesus sandte die Jünger zwei und zwei. Auf der Gemeinschaft liegt ein unaussprechlicher Segen. Aber es muß eine Gemeinschaft
sein, wobei keine Sünde geduldet wird, wo man einander die Wahrheit sagt, sonst ist es keine heilige Gemeinschaft, und Jesus kann nicht dabei sein. Gehe zu Jesus und sage ihm: »Ich möchte brennen im Geist.« Seine Antwort wird sein: »Weg mit diesem, los von jenem, Fleiß in der kleinsten irdischen Arbeit!« Ein merkwürdig trockener Weg zu dieser tiefernsten Segnung.
Nicht die Gaben, Jesus selbst muß unsere Lust sein. Solange das nicht ist, ist unser Friede barometerartig.
Zur IJnlauterkeit gehört: die Bibel lesen für andere. - Lernet eure Bibel lesen für euch.
Seelen, die aus lauter Gefälligkeit gegen Menschen da und dort von der feinen Zucht weichen, werden nach und nach taub gegen die Stimme des Geistes Gottes.
Was ist es doch um die Demut! Wie kann man da auf sich herumtreten lassen, und wie versteht man die liebe Dorothea
Trudel: »Werdet Staub, und Staub wird nicht verletzt!« Demütige Leute sind Staub und haben dabei eine Würde, der jeder weltliche Adel weicht.
Was wir Jesus tun, nimmt nicht Kraft, sondern gibt Kraft.
Drei Auszüge aus Bibelstunden:
Keine eigenen Wege -
Wieviel namenloses Elend habe ich schon beklagen hören von solchen, die eigene Wege gegangen sind, sich einen Gott und
Heiland gemacht haben, wie sie's wollten, und Jesus hatte einen
ganz andern Weg für sie gezeichnet, scheinbar nicht so heilig;wie sie's selber planten. Aber Jesus wollte sie auf seinem Weg schneller reifen und mehr Frucht bringen lassen.
In einer gläubigen Bauernfamilie starb der Vater. Der älteste Sohn sollte den Hof übernehmen. Allein er hatte sich einen andern,
frömmeren Weg gedacht; er wollte im Reich Gottes arbeiten. Obgleich er viel darüber betete, konnte Gott ihm nichts sagen, weil der vorgefaßte Plan im Herzen des jungen Mannes schon feststand. So übernahm denn der jüngere Sohn den Bauernhof, und der ältere
trat in die »Reichgottesarbeit«. Nachjahren mußte er mit Bedauern bekennen: »Mein Weg war ein verfehlter. Ich gehörte auf den Hof. Da wollte mich Gott für sein Reich erziehen.« -
Beten im Verborgenen Ein Pfarrer vermißte in der Gebetsstunde, die er für Erweckte eingerichtet hatte, ein gläubiges, ihm bekanntes junges Mädchen. Er fragte sie, warum sie nicht teilgenommen habe. Ihre Antwort war, sie habe einmal gemeinsam mit einer Frau gebetet, da habe diese gesagt: »0, wenn ich nur so beten könnte wie du!« Das habe ihr innerlich geschadet, und nun wolle sie erst das Gebet im Verborgenen recht üben, bis der himmlische Vater ihr vergelten werde öffentlich, dann wolle sie in die Gebetsstunde kommen.
Der Pfarrer sagte mir, das junge Mädchen habe ihm, ohne es zu wissen, eine Lektion gegeben. - Am folgenden Sonntag kommt der Müller und seine Frau, bei denen das junge Mädchen beschäftigt ist, in die Kirche, und die Mühle steht zum erstenmal am Sonntag still. Der Pfarrer denkt: Das ist die Frucht des Gebetes im Verborgenen. - Nach einigen Monaten erschien das junge Mädchen in der Gebetsstunde, und als sie ihr Herz vor Gott ausschüttete, war's den Anwesenden, als hätten sie noch nie ein solches Gebet gehört. -
Demut durch Liebe
Eine Schwester, die ein Krankenhaus leitete, hat bezeugt, sie habe, wenn ein lebendiges Gotteskind ihr Haus betrat, stets gedacht: »Ich bin nicht wert, daß du unter mein Dach gehst.« Gewiß war diese Schwester in solcher Gesinnung wohl zubereitet, jeweils einen Segen zu empfangen.
Wie kameradschaftlich gehen leider manche Christen mit ihrem Heiland um, ja sogar von oben herab. Man betet und macht dem Heiland seine Aufwartung. Aber es fehlt die Grundgesinnung: »Ich bin nicht wert, daß du unter mein Dach gehst. « Es bleibt dabei: Den Demütigen gibt Gott Gnade.
Wer in Wahrheit sagen kann: »Ich bin zu gering, ich bin nicht wert«, der wird durch alles, was der Heiland ihm an Liebe und Freundlichkeit zuwendet, immer Meiner, geringer und dankbarer.
Ich habe in meinerJugend manchmal Gotteskinder Magen hören, wenn sie vor andern gesündigt hatten, zum Beispiel empfindlich oder ungeduldig geworden waren, der Heiland habe sie sehr
gedemütigt. Mir schien dies nicht richtig. Da habe ich den Heiland gebeten: Ich will auch demütig werden, aber nicht durch Sünde, sondern durch deine Liebe. Arno Pagel. ISBN 3882241985 Francke Buchhandlung.