Aus dem inneren Lebensgang eines Christen BdH 1853

01/23/2024
von Christ-und-Buch Günter Arhelger

Aus dem inneren Lebensgang eines Christen

Botschafter des Heils in Christo 1853, S. 24ff

(Von ihm selbst erzählt)

Es ist jetzt schon eine Reihe von Jahren, als ich zuerst auf den Zustand meiner Seele aufmerksam wurde. Bis dahin hatte ich mir nie so viel Zeit genommen, um einmal mit Ruhe dar­über nachzudenken; es genügte mir, dass ich vor den Augen der Welt unsträflich war. Jetzt aber erkannte ich, dass der heilige und gerechte Gott dereinst mein Richter sein würde, und wie wollte ich dann bestehen? Ich nahm mir vor, gewisse Sünden, die mir besonders offenbar geworden waren, zu lassen und recht viel Gutes zu tun. Ich bemühte mich in meinem Vor­nehmen, aber die Gerechtigkeit Gottes trat mir immer greller entgegen. 

Die Sünde wurde durchaus sündig durchs Gebot und selbst das vermeintliche Gute sank vor der Majestät Gottes in den Staub. Ich zerarbeitete mich sehr und betete viel; doch ich lernte nur, dass das Gesetz geistlich ist, ich aber fleischlich, unter die Sünde verkauft. Ich erkannte das Gute an, war ernstlich beflissen, dasselbe zu tun, aber alles wurde durch die Sünde befleckt; ich blieb nach allen Seiten ein Knecht der Sünde und lag unter deren Herrschaft gefangen. Dieser Zustand dauerte eine lange Zeit und ich suchte vergebens alle Mittel zu meiner Erlösung auf, bis ich endlich den rechten Erlöser fand. 

Ich kannte Ihn bis dahin nicht und dennoch sehnte ich mich nach Ihm unbewusst; Ich hungerte und dürstete nach Seiner Gerechtigkeit. Es war der Zug des Vaters zum Sühne. Es wurde mir auch bald das Herz aufgetan und ich glaubte an Seinen Namen. Ich erkannte in Wahrheit, dass das Lamm Gottes auf Golgatha alles bezahlt, mich erlöst und innig mit Gott versöhnt hatte. Meine Sünden waren mir vergeben, weil Jesus die Schuld entrichtet; von ihrem Dienste war ich befreit, weil der Sohn Gottes mich frei gemacht hatte. 

Die Not war verschwunden und stiller Friede wohnte in meinem Herzen. Ich lebte in der innigsten Gemeinschaft mit meinem Jesu und ging unter stetem Gebet einher. Er war nun meine Gerechtigkeit, Weisheit, Heiligung und Erlösung geworden; in Ihm wohnte ja die ganze Fülle der Gottheit leibhaftig; in Ihm lag meine Kraft, mein Sieg wider Welt, Sünde, Tod und Teufel. Ihn zu lieben, mich selbst zum Opfer Ihm darzubringen, vor Ihm in kindlicher Einfalt zu wandeln, war meine Lust und Freude. Dieser selige Zustand dauerte viele Monate.

Mein Herz war noch unbefestigt; ich kannte nicht die ge­heimen Schlingen des Satans, der sich sogar zu einem Engel des Lichts verstellt, um uns das Ziel zu verrücken. Ein väter­licher Freund und Führer in christlichen Dingen fehlte mir. Mein Umgang mit andern Brüdern war unbedeutend, weil in meiner nächsten Umgebung keine wohnten. Traf ich aber hie und da mit etlichen zusammen, die schon länger auf diesem Wege waren, so freute ich mich; doch konnte ich es anfangs nicht begreifen, wenn jene Brüder klagten, wie sie so sehr unter der Last gewisser Sünden lägen; wenn ich sah, wie sie oft noch so im Feinen mit der Welt buhlten und sich so gern mit den Dingen dieser Welt beschäftigten. Meine Kraft wider alle Sünde und Unreinigkeit, mein Freund, meine Lust und Freude war Jesus allein.

 Alles andere war mir fremd geworden. Wenn ich nun oft der Brüder Missmut, Unruhe und Verzagtheit mit meinem Frieden verglich, so glaubte ich, sie müssten nicht so entschieden zum Durchbruch gekommen sein. Versicherten sie mir aber dann, dass ich in der ersten Liebe stehe, worin auch sie einst gestanden, dass dies jedoch haupt­sächlich ein Gefühlschristentum sei, worin man sich noch nicht recht kenne, und das müsse man nachher erfahren, dass Alles Sünde sei, was man tue und lasse, selbst Beten und Singen, Loben und Danken, Reden und Schweigen, Alles würde durch Sünde befleckt. 

Die Brüder vergaßen den Unterschied zu machen, zwischen dem natürlichen Menschen, der sein Leben nur in sich sucht und hat, und einem Gläubigen, der in Christo lebt und nur Dessen Gerechtigkeit will. Ich fing an, über ihre Reden nachzudenken; ich konnte bald meinem Glauben so recht nicht mehr trauen, und nicht Lange dauerte es, da verließ ich meine sichere und feste Burg in Christo Jesu und kehrte mehr oder weniger in die so entschieden verlassene frühere Art und Weise zurück. Mein gläubiges Aufsehen auf Jesum verwandelte sich in ein ungläubiges Herabsehen auf mich selbst und auf die Welt. Mein Gewissen war dabei sehr unruhig und nur das tröstete mich, dass ich jetzt Erfahrungen machte wie andere Brüder, dass jene sich mit mir freuten, wenn ich von der furchtbaren Last und Kraft der Sünde und von der Ohnmacht des Fleisches sprach. Beides wusste ich aber schon, ehe ich zum Glauben an Christo Jesu kam. Das Ziel war mir also verrückt, und zwar durch die Unwissenheit der Brüder, die selbst nicht anders be­lehrt waren; darum zürne ich ihnen keinen Augenblick.

Eine neue Periode in meinem Lebensgange hatte begonnen. In meinem Innern lag viel Unruhe und Kampf. Mancherlei Sünden, besonders solche, unter denen ich früher gelegen, drängten mit Macht auf mich ein; ich suchte eine Zeitlang zu widerstehen; aber bald unterlag ich. Meine Waffen waren fleischlich und nicht geistlich; ich kämpfte nicht in der Waffen­rüstung Gottes, hatte nicht den Brustharnisch der Gerechtigkeit und den Helm des Heils angelegt; hatte nicht den Schild des Glaubens und das Schwert des Geistes ergriffen, darum unter­lag ich bei allem Bitten und Flehen. Nur in Jesu sind wir stark, außer Ihm ohnmächtig; nur in Ihm werden unsere Gebete erhört, außer Ihm kennt der Vater keine Kinder. 

So wie ich nun wieder unter der Gewalt und Herrschaft der Sünde lag, kam ich auch wieder unter den Fluch und das verdammende Gesetz, Als ich nun sah, dass all mein Arbeiten, Kämpfen und Beten, womit ich es ernstlich meinte, vergeblich war, kam ich der Verzweiflung nahe; eine lange Zeit gab ich alles dran und ging mit dem sichern Bewusstsein einher, dass ich trotz all meiner Erkenntnis für die Verdammnis bestimmt sei. Ach, es war nur das unergründliche Erbarmen Gottes, was mich in jener Zeit und später gehalten hat. Welchen Einfluss Andere in die­sen Jahren auf mich gehabt haben, will ich unerwähnt lassen; es entschuldigt dies mich nicht, denn ich. hatte Gottes Wort, hatte Zeit und Gelegenheit darin zu forschen und wusste auch, dass uns darin der göttliche Ratschluss und Wille geoffenbart war. Allein die Nüchternheit, der Ernst und die Einfalt dieses Wortes sprachen mich nicht sehr an. Was mich zunächst be­ruhigte, war, dass viele alte Christen ähnliche Erfahrungen von der Gewalt und dem Betrug der Sünde machten. Ich hielt dafür, dass eine tiefere Sünden- und Selbsterkenntnis die alleinige Aufgabe und das Ziel eines Christen sei, damit er am Ende zu der gewissen Überzeugung komme, dass er nur aus Gnaden selig werden könne. Mehrere Ausdrücke und Redensarten, die sich schon lange unter den Gläubigen eingebürgert hatten, wur­den auch bei mir in dieser Zeit das geheime Mittel, um das anklagende Gewissen zu beruhigen und den mahnenden und strafenden Geist zu dämpfen. Da hieß es unter dem Joche der Sünde: „Der Mensch ist hier in der Warteschule. Man muss alle Tage Buße tun. Ich kann nichts; ich kann mir keinen Glauben geben; wenn mir aber der Herr Glauben schenkt, will ich glauben, dass es eine Art hat. Ich will vom Tun nichts wissen; Christus hat alles getan; an Ihm soll man meine Frucht sehen. 

Man muss sich kennen lernen, muss immer kleiner werden. Der neue Mensch tut keine Sünde, der alte Mensch sündigt immer. Der Apostel selbst sagt: „Ich bin fleischlich, unter die Sünde ver­kauft. Das Gute, das ich will, tue ich nicht, sondern das Böse, das ich hasse, tue ich. Ich sehe ein anderes Gesetz in meinen Gliedern, das da widerstreitet dem Gesetz meines Gemüts und nimmt mich gefangen in der Sünde Gesetz, welches ist in mei­nen Gliedern (Röm. 7, 14. 19. 23). Dem Apostel ward ja auch ein Pfahl ins Fleisch gegeben (2. Kor. 12. 7), und er bekennt: Ich sterbe täglich (1. Kor. 15. 31); und: nicht, dass ich es schon er­griffen hätte, oder schon vollkommen (vollendet) sei usw. (Phil. 3. 12). 

Denn das Fleisch gelüstet wider den Geist und den Geist wider das Fleisch. Diese aber sind einander entgegen­gesetzt, auf dass ihr nicht das tut, was ihr wollt (Gal. 5. 17). Wer einmal erwählt ist, kann nicht verloren gehen. Alle Heilige sind große Sünder gewesen. Der Gerechte fällt täglich sieben­mal" (Spr. Sal. 24. 16) usw. Mit diesen und noch vielen andern Ausdrücken wusste ich mein selbstgemachtes System zu ver­teidigen; war auch sehr geschickt, die Worte der Heiligen Schrift so Zange zu drehen und zu wenden und so zu vergeistigen, bis sie zu meinen Erfahrungen passten.. O der treue Herr hat große Geduld und Langmut ah mir bewiesen und meine Unwissenheit lange Zeit übersehen.

Ehe ich mit meinen Erlebnissen weiter fortfahre, will ich etwas näher auf die oben erwähnten Ausdrücke eingehen und mit wenigen Worten dartun, wie ich sie später nach anhalten­dem Gebet und Forschen in der Heiligen Schrift erkannt habe.

Es ist wahr, wir sind hier recht in der Warteschule; es geht durch viel Trübsal ins Reich Gottes und ausharrende Geduld tut uns not, auf dass unser bewährter Glaube viel köstlicher erfunden werde, denn das vergängliche Gold, das durch's Feuer bewährt wird, zu Lob, Preis und Ehre, bei der Offenbarung Jesu Christi. Doch dem, der unter der Sünde liegt, heißt es nicht: Warte noch; bleib noch ein wenig liegen; sondern: „Heute, heute, so du Seine Stimme hörst, verstocke dein Herz nicht, und wache auf, der du schläfst und stehe auf von den Toten, so wird dich Christus erleuchten" (Eph. 5. 14). — 

Unter dem Wort Buße versteht die Heilige Schrift nicht das katholische Büßen, eine Schuld selbst abtragen, nicht durch Schmerz und Reue über seine Sünden. Jesus allein hat unsere Schuld gebüßt. „T u e Buße" ist die einfache Aufforderung Gottes an jeden Men­schen und heißt: Ändere deinen Sinn! Bekehre dich? Diese Sinnesänderung und Bekehrung ist aber bei einem jeden wahr­haft wiedergeborenen Menschen geschehen; er hat seine frühere Gemeinschaft in jeder Beziehung verlassen und lebt nun ganz in der Gemeinschaft Jesu Christi; wozu er auch berufen ist. — Der Mensch ist zu allem Guten untüchtig; er kann nichts. Das ist das Bekenntnis eines jeden Gläubigen. Dies muss er wahrhaftig erkannt haben, ehe er seine Hoffnung auf den leben­digen Gott setzt.

Als Kind des Glaubens hat er auf sich verzichtet. Wollte aber Jemand dieses Nichtskönnen auch auf den von Gott in ihm gewirkten Glauben ausdehnen, so würde er damit beweisen, dass er das Wesen des Glaubens nicht verstehe. „Alles ist mög­lich, dem, der da glaubt. „Der Glaube ist der Sieg, der die Welt überwunden hat" (1. Joh. 5, 4). „In dem Allen überwinden wir weit, durch Den, Der uns geliebt hat" (Röm. 8, 37). W i r können uns diesen Glauben selber nicht geben, darum hat Gott ihn in uns gewirkt (1. Kor. 2, 12) und unter uns den Gehorsam des Glaubens aufrichten lassen zur Verherr­lichung Seines Namens (Röm. 1, 5). Wo aber kein Glaube ist, da ist Unglaube; da stehen wir nicht in der Gemeinschaft mit Christo, sondern mit dem Sichtbaren; wo sich dieser Glaube nicht im Leben und Wandel offenbart, wo er die Gesinnung Jesu Christi nicht beweist, ist er eitel und tot. Wir werden überall. zum Glauben aufgefordert und ermahnt, aber nirgends steht, dass er uns für eine Zeitlang entzogen werden soll. Gott ist es aber, der uns so ernstlich ermahnen lässt.

Weiter: Ich will vom Tun nichts wissen; Chri­stus hat alles getan; an Ihm soll ich meine Frucht sehe n. Wir unterscheiden so wenig, was wir früher waren und was wir in Christo Jesu geworden sind. Früher Knechte der Sünde und jetzt Knechte der Gerechtigkeit; früher Verfluchte, unter die Sünde Verkaufte, Feinde Gottes; jetzt be­freite, versöhnte und erlöste Kinder Gottes; früher tot in Sün­den und Übertretungen, jetzt lebendig gemacht durch die Auf­erstehung Jesu Christi. 

Als Gläubige dürfen wir bekennen, dass wir mit Christo gestorben, begraben und zu einem neuen Leben auferstanden sind; dafür dürfen und sollen wir uns stets halten, auf dass wir Gott leben; wir sollen Gutes tun und nicht müde werden; wir sind geschaffen in Christo Jesu zu guten Werken, und sollen reich daran sein. Dazu werden wir im ganzen Evan­gelium ermahnt; denn das ist die Liebe zu Gott, dass wir Seine Gebote halten und Seine Gebote sind nicht schwer (1. Joh. 5, 3). In Christo Jesu wohnt die ganze Fülle der Gottheit leibhaftig. Er ist uns gemacht zur Weisheit, zur Gerechtigkeit, zur Heili­gung und zur Erlösung; und darum eben, weil wir in Ihm alles haben, weil Er unser Leben ist, weil Er in uns wohnt, leben wir Gott. Er ist in uns und wir in Ihm, darum soll sein Inne­wohnen, die Frucht Seiner Liebe und Gnade sich auch durch uns offenbaren, denn dadurch wird der Vater geehrt, dass wir viel Frucht bringen (Joh. 15. 8).

Man muss sich immer mehr kennen lernen und immer kleiner werden. Wer sich als verlorener Sünder in Wahrheit erkannt hat, gibt sich ganz auf und ergreift Jesum Christum im lebendigen Glauben. So lange er Ihn fest­hält, bekennt er, dass er außer Ihm kein Heil zu finden weiß und unsere Aufgabe, ja unser steter Kampf ist, in diesem Glau­ben zu beharren. Gewahren wir neue Bosheit und List des Satans, der Welt und unseres natürlichen Lebens, so ermahnt uns dies um so viel mehr zum Wachen und Beten. 

Wer auf sich selbst verzichtet hat, der hat sich kennen gelernt, der hält sich für gering, ja für nichts. Das Leben in Christo befestigt ihn in dieser Erkenntnis. Man glaubt oft, dass man in der Selbster­kenntnis und in dem Kleinerwerden Fortschritte mache, wäh­rend man doch nicht einmal dahin kommt, sich ganz aufzugeben und sich für nichts mehr zu achten, wozu wir doch ermahnt sind, und lernt also das köstliche Werk der Erlösung in Christo Jesu nie recht verstehen. —

Der neue Mensch sündigt nicht; der alte kann nicht anders. Der alte und der neue Mensch werden auch in der Heiligen Schrift streng geschie­den. Sie haben keine Gemeinschaft untereinander. Bei dem wahrhaft Gläubigen lebte der alte Mensch einst, der neue jetzt; jener ist mit Christo gekreuzigt, auf dass der sündliche Leib aufhöre, damit wir hinfort der Sünde nicht dienen. Wo der neue Mensch lebt, muss jener abgelegt sein; wo aber bald dieser, bald jener lebt und regiert, da ist ein krankhafter Zu­stand, da ist der Glaube schwach und die Erkenntnis Jesu Christi und Seines Erlösungswerkes gering. Wer sich aber von dem Satan, der Welt und der Sünde, von seinem früheren Leben und der Gemeinschaft, der er jetzt abgestorben und mit Christo entschieden gegenüber steht, überrumpeln lässt, soll sich dadurch zu größerem Ernst und Anhalten im Wachen und Beten ermahnen lassen. Meine Kindlein, solches schrei­be ich euch, auf dass ihr nicht sündigt. 

Und wenn jemand gesündigt hat, so haben wir einen Fürsprecher bei dem Vater, Jesum Christum, den Gerechten (1. Joh. 2, 1). In Röm. 7. 14 heißt es: „Ich bin fleischlich, unter die Sünde verkauft." Kapitel 8, 8. 9: „Die aber fleischlich sind, mögen Gott nicht ge­fallen. Ihr aber seid nicht fleischlich, sondern geistlich, so anders Gottes Geist in euch wohnt. Wer aber Christi Geist nicht hat, der ist nicht Sein." — Hatte Gott keinen Gefallen an Paulus? Hatte dieser den Geist Gottes nicht? War er nicht Sein? In Kapitel 7, 15. 19 usw. lesen wir: das Gute, das ich will, tue ich nicht, sondern das Böse, das ich hasse, das tue ich usw. Kapitel 6, 2. 12. 14: „Wie sollten wir in der Sünde leben wollen, der wir abgestorben sind. So lasst nun die Sünde nicht herrschen in eurem sterblichen Leibe, ihr Gehorsam zu leisten in seinen Lüsten. 

Denn die Sünde wird nicht herrschen können über euch, sintemal ihr nicht unter Gesetz seid, sondern unter der Gnad e". Predigte der Apostel Andern und war selbst verwerflich? Weiter in Kapitel 7, 23: „Ich sehe aber ein anderes Gesetz in meinen Gliedern, das da widerstreitet dem Gesetz meines Gemüts, und nimmt mich gefangen in der Sünde Gesetz usw." In Kapitel 8, 2 sagt der Apostel: „Das Gesetz des Geistes, der da lebendig macht in Christo Jesu, h a t mich frei gemacht vom Gesetz der Sünde und des Tode s" (Kapitel 6, 17.18):

 „Gott aber sei Dank, dass ihr Knechte der Sünde gewesen seid usw. Nun ihr aber frei geworden seid von der Sünde; seid ihr Knechte der Gerechtigkeit geworden". (Kapitel 7, 6): „Nun aber sind wir von dem Gesetze los, und ihm abgestor­ben, das uns gefangen hielt usw." Sobald man in Nüchternheit und ohne Vorurteil die drei angeführten Kapitel prüft, so wird man finden, dass der Apostel im siebenten Kapitel durchschnittlich nur von dem Menschen gegenüber dem gött­lichen Gesetze redet und nicht von sich oder überhaupt von einem wahrhaft Gläubigen.

Mit dem Pfahl im Fleische des Apostels habe ich mich oft getröstet, und dachte, es müsse darunter wohl die Sünde verstanden sein, unter welcher ich am meisten seufzte. Es fiel mir aber nicht einmal ein, dass ich zu dieser Erklärung gar keinen Grund in der Schrift hatte, um so weniger, da mir so hohe, außerordentliche Offenbarungen nicht geworden waren, deren ich mich überheben konnte; ich dachte auch nicht daran, dass so viele ihre Hauptsünden mit diesem Pfahl entschuldigten. Doch so viel weiß ich jetzt, dass alle Worte des Apostels keinen Raum geben für die Auffassung dieser Stelle, als habe er unter irgend einer Sünde noch gefangen gelegen.

Das Wörtchen: „Ich sterbe täglich"; was ich oft verkehrt anwandte und vergeistigte, hat beim genauem Durch­lesen keinen andern Sinn, als wie es (Röm. 8, 36) ausgedrückt ist: „Um deinetwillen werden wir getötet den ganzen Tag; wir sind geachtet wie Schlachtschafe." —

Im dritten Kapitel des Briefes an die Philipper, wo der Apostel im 12. und 13. Verse bekennt, dass er es noch nicht er­griffen habe oder schon vollkommen (vollendet) sei, müssen wir vor allen Dingen wissen, was er denn zu ergreifen suchte. Dies drückt der Apostel in Vers 11 und 12 aus: „Ob ich möchte ent­gegen kommen zur Ausauferstehung der Toten". „Und jage nach dem vorgesteckten Ziel, nach dem Kleinod der himmlischen Berufung Gottes in Christo Jesu". An der ersten Auferstehung, an der Auferstehung der Gerechten, wünscht der Apostel Teil zu haben, dazu er auch von Christo ergriffen ist. 

Das ist das Ziel seiner Wünsche und Hoffnungen; dort findet er das Kleinod seiner Berufung, die Krone der Gerechtigkeit; da den Lohn seiner Mühe und Arbeit; an dem Tage verwandelt sich der kämpfende Glaube in ein seliges Schauen. Dies Ziel hat er noch nicht erreicht, den Lauf bis dahin noch nicht vollendet; aber er arbeitet mit allem Ernst, es zu erreichen; er vergisst Alles und wirft Alles von sich, um nur dahin zu gelangen; er gibt sich ganz ihm hin und ermahnt auch die Philipper zu gleichem Ernste mit den Worten Vers 15: „Wie viele unser nun vollkom­men sind, lasst uns also gesinnt sein. —"

Was nun die Stelle betrifft, die der Apostel an die Galater, die zum Teil Christum verloren hatten und von der Gnade ab­gefallen waren, schreibt: „Denn das Fleisch gelüstet wider den Geist und den Geist wider das Fleisch. Dieselbigen sind wider einander, dass ihr nicht tun könnt, was ihr auch wollt" (Gal. 5. 17), so braucht man zur rechten Anwendung und Auffassung nur Vers 16 und 18 zu lesen: „Ich sage aber: Wandelt im Geist, so werdet ihr die Lüste des Fleisches nicht vollbringe n. Regiert euch aber der Geist, so seid ihr nicht unter Gesetz." Wer in Christo lebt, ist frei; wer ohne Ihn kämpft, bleibt gefangen und ein Knecht der Sünde. —

Die Erwählung in Christo Jesu vor Grundlegung der Welt ist eine Wahrheit, die niemand antasten darf. Wenn wir sie recht verstehen, so beugt sie uns in den Staub und drängt uns zu]. Ehre und Anbetung unseres Gottes; aber nie darf sie zu einem Ruhekissen unseres Fleisches werden; und uns taub gegen alle Ermahnungen des Geistes machen.

Alle Heilige sind große Sünder gewesen. Das ist wahr; sie sind nur als Gottlose gerecht geworden. Es ist auch wahr, dass einige Männer Gottes tief gefallen sind. Lesen wir aber solche Mitteilungen in der rechten Weise, so bemerken wir überall die große Barmherzigkeit und den Ernst Gottes. Es ist uns solches zum Trost und zur Warnung geschrieben; aber sehr oft habe ich mich leichtsinniger Weise dadurch beruhigt und. meine Sünden entschuldigt. „Sollten wir aber, die da suchten, durch Christum gerecht zu werden, auch noch selbst als Sünder erfunden zu werden, so wäre Christus ein Sünden­diener. Das sei ferne?" (Gal. 2, 17). Diese Worte sind wohl zu beherzigen. —

Der Spruch Salomos: „Der Gerechte fällt täglich siebenmal", hat mir auch oft einen falschen Trost bereitet, bis ich endlich diese Stelle einmal selbst las; sie heißt: „der Gerechte fällt siebenmal und steht wieder auf; aber die Gottlosen versinken im Unglück." Da fand ich denn, dass da nicht vom Sündigen, sondern vom Unglück die Rede war und dass das Wörtchen täglich gar nicht da stand. —

Jetzt will ich zu der Mitteilung meiner weiteren Erfahrungen zurückkehren.

Es verflossen mehrere Jahre und es fiel mir nicht einmal ein, zu denken,' dass ich in meinem Glauben nicht recht gesund Und fest stände. Ich hatte einen tiefen Blick in mein Verderben getan und täglich gewahrte ich neue Seiten der Bosheit meines Herzens. Ich wusste, dass allein in Jesu Heil und außer Ihm nur Sünde und Ohnmacht war. Und wenn oft, niedergeworfen durch Betrug und Macht der Sünde, meine selbstgemachten und von anderen gehörten Trostgründe nicht mehr haften wollten, so warf ich mich zu den Füßen Jesu, und trotz meines unwürdigen Wandels vor Ihm, hat Er Seine Gnade nicht von mir genommen. 

Ich preise jetzt Seine große Liebe und Geduld, welche die Zeit meiner Unwissenheit übersehen hat; die Zeit, wo ich so wenig mit Ernst in Seinem uns geoffenbarten Worte forschte, wo ich so oft Seinen Geist betrübte und Dessen Er­mahnungen kein Gehör gab. Was mir zunächst die Augen öffnete, waren die Worte: „Du hast noch nicht mit der Sünde in Wahrheit gebrochen; du hast dich noch nicht selbst aufgegeben." Das schrieb der Geist tief in mein Herz, so dass es mich immer verfolgte. Ich fühlte, welch einen Hass ich gegen die Sünde und mich selbst hatte, welch furchtbare Kämpfe ich durchgemacht und nun sollte ich noch nicht gebrochen und mich noch nicht selbst aufgegeben haben? Ich will hier nicht weiter darauf eingehen, in welch ein Meer von Anklagen und Entschuldigungen ich geriet; nur will ich das Resultat meiner Betrachtungen und Gebete in wenigen Worten mitteilen. 

Ich entdeckte bei allem Kampf wider die Sünde doch noch eine verborgene Lust zu derselben und eine geheime Liebe zu ihrer Gemeinschaft; ich sprach von meiner Verderbtheit und Ohnmacht des Fleisches, ich wußte dies bei Andern, besonders wenn diese so etwas gern zu ihrem eigenen Troste hörten, ins grellste Licht zu stellen und dennoch war ich nicht bereit, mich selbst zu verleugnen und von mir abzu­lassen; ich erkannte, dass die Welt verging mit all ihrer Lust, und dennoch wollte ich nicht allem absagen und alles verlassen, woran das Herz von Natur gehangen; ich bekannte, dass in Jesu die Reinigung, die Kraft und der Sieg wider alle Unreinigkeit und alle Feinde liege, und doch hatte ich nicht Lust, durch Glauben und Geduld in Seiner Gemeinschaft zu beharren. 

Diese und ähnliche Wahrheiten waren mir auch früher oft durch den Geist vorgehalten worden, aber immer wieder hatte ich sie durch allerlei Scheingründe, wie die oben angeführten, zu dämpfen gesucht; wozu ich auch ein volles Recht zu haben glaubte. Doch jetzt konnte ich dies nicht mehr, denn ich er­kannte, dass ich zu teuer erkauft war. Ich fing an, fleißig in der Schrift zu forschen; lange konnte ich über das 6. und 8. Kapitel des Briefes an die Römer nicht wegkommen. Ich las sie immer wieder und unter viel Gebet; meine Vorurteile schwanden nach und nach und dieser Abschnitt war es, der großes Licht auf mein bisheriges geistliches Leben verbreitete. Ich suchte und forschte dann immer weiter und am längsten verweilte ich bei der 1. Epistel Johannes. 

Es war mir in diesem Briefe alles so neu und fremd, dass ich bei jedem einzelnen Verse stehen bleiben und um Erleuchtung und Aufschluss durch den Heiligen Geist bitten musste. Bald konnte ich diesen, wie auch den Römerbrief auswendig; es war mir, als sei ich zu einem neuen Leben erwacht. Jetzt erst konnte ich mit dem Psalmisten singen: „Herr, dein Wort ist meines Fußes Leuchte und ein Licht auf meinem Wege; dein Wort ist köstlicher denn Gold und viel feines Gold und süßer denn Honig und Honigseim!" Nun erst verstand ich, dass Jesus Christus nicht allein um unserer Sünden willen dahin gegeben, sondern auch um unserer Gerechtigkeit willen auferweckt ist. 

Er wurde um meinetwillen angesehen als der Übeltäter und musste sterben, und ich werde nun um Seinet­willen als der Gerechte betrachtet und lebe. Denn Gott hat Den, der von keiner Sünde wusste, für uns zur Sünde gemacht, auf dass wir würden in Ihm die Gerechtigkeit, die vor Gott gilt (1. Kor. 5. 21). „Der selbst unsere Sünden an seinem Leibe getragen hat an das Holz; auf dass wir, den Sünden abgestorben, der Gerechtigkeit leben sollen; durch dessen Wunden ihr heil geworden seid" (1. Petri 2. 24). Es ist mein Trost, meine Kraft und die Freude meines Glaubens, dass Jesus auferweckt ist und sitzet zur Rechten Gottes und vertritt mich. 

Mein Leben ist mit Ihm in Gott verborgen; durch den Glauben stehe ich mit Ihm in der innigsten Gemeinschaft, verbunden durch das Band des Geistes und der Liebe. Er lebet in mir, und wenn Er wieder­kommt, werde ich Ihn sehen, wie Er ist und Ihm gleich sein. Mit großem Verlangen harre ich auf den Tag Seiner Ankunft, auf das Ziel meiner Hoffnung, auf das Kleinod meiner Be­rufung in Christo Jesu. Preis aber und Ehre und Anbetung sei dem Gott, der Sich meiner so herzlich angenommen, der uns eine so vollkommene Erlösung geschenkt hat in Seinem einge­borenen Sohn, unserm Herrn und Heiland.