Cassie Sie sagte Ja, Bernall Misty

10/08/2022
von Christ-und-Buch Günter Arhelger

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Der 20. April 1999 begann wie jeder andere Schultag in unserem Haus. Um Viertel vor sechs brach mein Mann Brad zur Arbeit auf, und wenig später stand ich auf, um die Kinder zu wecken. Teenager aus dem Bett zu bekommen ist immer ein kleiner Kampf, doch an jenem Dienstag war es besonders schwierig. Cassie war am Abend zuvor lange aufgeblieben, um überfällige Hausaufgaben zu erledigen, und ihre Bücher lagen über den ganzen Küchentisch verstreut. Die Streukiste ihrer Katze brauchte auch ein wenig Aufmerksamkeit, und es wurde spät mit dem Frühstück. 

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Ich weiß noch, wie ich mühsam versuchte, ihr nicht mit all den Dingen in den Ohren zu liegen, die noch zu tun waren, bevor sie in die Schule aufbrach Gegen zwanzig nach sieben gab mir Chris einen Abschiedskuss, oder zumindest hielt er mir seine Wange hin, was in letzter Zeit das Höchste der Gefühle ist (er ist fünfzehn), und stürmte die Treppe hinunter und aus dem Haus. Cassie blieb an der Tür stehen, um ihre Schuhe anzuziehen - ihre geliebten schwarzen Doc Martens, die sie bei Regen und Sonnenschein trug, sogar zu Kleidern -‚ schnappte sich ihren Rucksack und folgte ihrem Bruder. Als sie ging, beugte ich mich über das Geländer, um sie zu verabschieden, wie ich es immer tue: „Tschüs, Cass, ich hab' dich lieb."
„Ich dich auch, Mom", murmelte sie zurück. Dann war sie weg, durch den Garten, über den Zaun und dann quer über das Fußballfeld zur High School, die nur hundert Meter von uns entfernt liegt. Ich zog mich an, machte mir eine Tasse Kaffee, schloss das Haus ab und fuhr zur Arbeit.
Gegen Mittag bekam ich einen Anruf von Charlie, einem
Manchmal schießt ein Blitz aus heiterem Himmel herab; und manchmal bricht über eine friedliche Familie - ohne eine Vorwarnung drohender Wolken am Himmel oder des kleinsten Zitterns im Erdboden - ein schreckliches Ereignis herein, und von diesem Moment an ist alles verändert. Die Luft ist schwer von Wolken und kann sich schier nicht klar weinen. Doch es mag sein, dass ein prachtvoller Sonnenuntergang kämmt
GEORGE MACDONALD

16 Cassie
Freund. Er fragte mich, ob ich etwas von einer Schießerei an der Schule gehört hätte. Nein, sagte ich.
Ich kämpfte gegen eine dumpf aufkommende Panik: Zum einen sagte ich mir, dass Cassie oder Chris kaum in so etwas verwickelt sein könnten. Wahrscheinlich waren nur ein paar Jugendliche auf dem Parkplatz aneinandergeraten. Oder vielleicht hatte jemand auf der Pierce Street aus einem fahrenden Auto geschossen. Zum anderen hatten meine Pausengefährtin Val und ich uns eben auf dem Markt um die Ecke etwas zum Mittag geholt und wollten gerade essen. Außerdem hatte ich die Columbine High School schon immer für eine sichere Schule gehalten. War es nicht so? ... Ich rief Brad an, vielleicht hatte er etwas gehört.
Brad war bereits zu Hause, als ich anrief; krank war er vorzeitig von der Arbeit weggegangen. Als er den Hörer abnahm, erzählte ich ihm von Charlies Anruf. Er hatte gerade eine ganz ähnliche Nachricht von seiner Arbeitskollegin Kathy bekommen. Selbst hatte er mehrere Knallgeräusche und ein- oder zweimal ein lautes Krachen gehört, was er aber nicht weiter beachtet hatte. Es war Mittagszeit, und da rannten draußen immer Kinder herum. Also vermutete er, dass da nur irgendein Bengel ein paar Chinakracher gezündet hatte.
Nach dem doppelten Anruf jedoch zog Brad seine Schuhe an, ging hinaus in den Garten und spähte über den Zaun; Überall waren Polizisten. Zurück im Haus stellte er den Fernseher an und erwischte offenbar die ersten Nachrichtenmeldungen. Kurz darauf wurde der erste Live-Bericht gesendet. Plötzlich fügten sich die Puzzleteile zusammen, und ihm wurde klar, dass dies nicht nur ein dummer Streich war:
Ich konnte meine Augen nicht vom Fernseher abwenden, doch ich kniete an der Sofaecke nieder und bat Gott, sich um all diese Kinder zu kümmern. 

Dienstag 17
Natürlich dachte ich vor allem an unsere Kinder, an Cassie und Chris, doch gleichzeitig war ich mir irgendwie sicher, dass mit ihnen alles in Ordnung war. Wenn jemandem, der einem so nahe stand, etwas passierte, würde man doch irgendetwas spüren, irgendetwas fühlen. Ich spürte nichts.
Die nächsten sechsunddreißig Stunden waren die reine Hölle. Bis ich zur Columbine High School kam, hatten sich bereits Hunderte von verzweifelten Eltern und Verwandten, Polizisten, Bombenspezialisten, Reportern und Schaulustigen rund um die Schule versammelt, und es herrschte das totale Chaos.
Inzwischen waren genügend Fakten bekannt, um uns den Ernst der Situation deutlich zu machen, doch die Einzelheiten waren zusammenhanglos, widersprüchlich und verwirrend. Sicher wussten wir nur, dass zwei nicht identifizierte Bewaffnete in der Schule Amok gelaufen waren, Schüler niedergemäht und sich mit ihrer Tat vor den Flüchtenden gebrüstet hatten. Jeder suchte hektisch nach irgendjemandem; Leute weinten, beteten, umarmten sich oder standen nur dumpf herum und starrten wie betäubt auf die ganze chaotische Szenerie, die sich vor ihnen abspielte.
Viele der Familien, die Kinder auf der Columbine iHigh hatten, wurden in die nahe gelegene Leawood-Grundschule gelotst, um auf Nachricht von der Polizei über den Verbleib ihrer Kinder zu warten; andere von uns saßen in einer öffentlichen Bibliothek fest, da die Leawood-Schule keine Menschen mehr aufnehmen konnte.
Es war wie auf einem Kriegsschauplatz; Bald wurden Listen der Verletzten und Unverletzten ausgedruckt und verteilt. Zwischen den Aktualisierungen, die ich fieberhaft überflog, rannte ich atemlos von einem Grüppchen Schülern zum nächsten, rief nach Cassie und Chris und fragte herum, ob jemand sie gesehen habe.

18 Cassie
Auf dem Schulgilände selbst zu suchen, kam natürlich nicht in Frage. Der ganze Campus war abgeriegelt und von einem unheimlich wirkenden Ring schwer bewaffneter Sondereinsatz-Kommandos umzingelt.
Chris tauchte am frühen Nachmittag auf: Er war ins Haus eines Nachbarn in der Nähe der High School geflohen und erreichte schließlich Brad, der zu Hause am Telefon Stellung bezogen hatte. Brad klingelte mich auf dem Handy an. Sofort wurde mir leichter ums Herz: Gott sei Dank; jetzt müssen wir nur noch nach einem Kind suchen. Doch die Erleichterung hielt nicht mehr als eine oder zwei Sekunden an, dann eilten meine Gedanken zurück zu Cassie. Wo war meine Tochter?
Während Hunderte fliehender Schüler unmittelbar nach der Schießerei in Busse verfrachtet und in Sicherheit gebracht worden waren, waren andere wie Chris dem Gemetzel zu Fuß entkommen, und in manchen Fällen dauerte es Stunden, bis ihr Verbleib geklärt war. Die Verletzten, viele davon unidentifiziert, waren in Krankenwagen fortgebracht worden, und Dutzende andere versteckten sich stundenlang in Schränken und Klassenzimmern überall im Gebäude. Einige lagen, wie wir später erfuhren, irgendwo ganz allein und verbluteten.
Gegen fünf Uhr sagte man allen, die immer noch in der öffentlichen Bibliothek auf Nachricht über unsere Kinder warteten, dass ein letzter Bus voller Schüler von der High School unterwegs sei. Wir sollten hinüber zur Leawood-Schule kommen, um ihn in Empfang zu nehmen.
Brad und .Chris waren im Lauf des Nachmittags zu mir gestoßen, und wir sprangen sofort in den Wagen und fuhren so schnell wir konnten zur Schule.
Obwohl unser Ziel nur ein paar Straßenzüge entfernt lag, war es eine schreckliche Fahrt. Fast jede Straße in der Nähe der High School war abgesperrt, und die wenigen, die noch für den Verkehr geöffnet waren, waren mit den Ü-Wagen und Transportern sämtlicher Fernsehstationen in Denver verstopft.

Dienstag 19
Über uns knatterten die TV-Helikopter, und vor und hinter uns heulten Sirenen. Mein Herz klopfte so hart, dass ich die Anspannung kaum ertragen konnte.
Endlich erreichten wir die Leawood-Schule. Ich sprang aus dem Wagen und schaute mich überall um. Kein Bus. Wir warteten. Minuten vergingen, während wir immer wieder auf der Straße nachsahen. Immer noch kein Bus. Schließlich dämmerte es uns: Es würde kein „letzter Bus' kommen. Ich war außer mir; wahnsinnig vor Angst. Bis zu diesem Augenblick haue ich immer noch das Beste gehofft, aber jetzt? Ich fühlte mich betrogen. Vielleicht nicht absichtlich, aber dennoch betrogen, und das machte mich so bitter, dass ich schier erstickte.
Wochen später erfuhren wir, dass die Polizei bereits um acht Uhr an jenem Abend wusste, dass alle Vermissten tot waren; dass der Verbleib aller Übrigen geklärt war. Doch da sie noch keine offizielle Bestätigung geben wollten, hatten sie nichts davon gesagt, und so klammerte ich mich immer noch an Strohhalme Vielleicht versteckt sich Cassie irgendwo, versuchte ich mir einzureden. Sie war schon immer einfallsreich gewesen und hatte vielleicht einen guten Platz gefunden. Ich hoffe nur, dass sie nicht verletzt ist. Oder: Besser, sie ist verletzt, als tot. Wenn sie verletzt ist, kann ihr wenigstens geholfen werden. Aber sie muss die Nacht überstehen, zumindest so lange, bis jemand sie findet ... Hoffnung ist wirklich das einzige, was einen in einer solchen Krise auf den Beinen hält, selbst wenn es nur ein dünner Faden ist.
Um halb zehn konnte ich die Spannung nicht länger ertragen. Da von der Polizei keine neuen Informationen kamen, beschlossen Brad und ich, nach Hause zu gehen. Unsere Hoffnung hatten wir noch nicht aufgegeben, das war ganz und gar nicht der Fall.

20 Cassie
Aber was für einen Sinn hatte es, den Rest der Nacht in der Leawood-Schule herumzustehen?
Als wir wieder zu Hause waren, kletterte Brad auf das Dach unseres Gartenhäuschens. Er wollte selbst sehen, was in der Schule vor sich ging:
Vom Dach der Hütte aus konnte ich die ganze Schule überblicken. Mit dem Fernglas konnte ich sogar direkt in die Fenster der Bibliothek sehen. Ich sah die gelben Buchstaben auf den blauen Jacken der Sondereinsatz-Kommandos; sie gingen mit gesenkten Köpfen da drinnen h'erum, als suchten sie etwas. Was sie da taten, konnte ich nicht richtig erkennen, aber ich nehme an, sie stiegen über Leichen hinweg und suchten nach Sprengkörpern. Später hörten wir, dass sie Dutzende von Bomben fanden
Gegen halb elf oder elf hörten wir eine Explosion aus der Richtung der High School. Wir rannten die Treppe hinauf in Cassies Zimmer. Vielleicht waren von ihrem Fenster aus Flammen oder Rauch oder dergleichen zu sehen. Aber wir konnten nichts erkennen. Nichts als Schwäne, und unten die roten und blauen Lichter der - Streifenwagen und Feuerwehr-Löschzüge auf der Pierce Street. Offenbar war eine Bombe detoniert. Ich zitterte vor Furcht und Grauen. Was, wenn Cassie noch am Leben war?
Allmählich überwältigte mich die Müdigkeit, und ich versuchte schlafen zu gehen. Doch es war unmöglich. Jedes Mal, wenn ich die Augen schloss, riss mich ein neuer Alptraum wieder aus dem Schlaf. Immer wieder sah ich Cassie vor mir. Cassie, wie sie in irgendeinem finsteren Schrank kauerte und sich fragte, ob sie gefahrlos herauskommen konnte; Cassie, wie sie zitternd auf irgendeinem Flur lag und verblutete; Cassie, wie sie um Hilfe rief, ohne dass jemand kam, um sie zu trösten. Wie ich mich danach sehnte, sie in die Arme zu nehmen, ihren Kopf zu streicheln, sie zu umschlingen und zu umarmen und zu weinen und zu lachen und sie an mich zu drücken!

Dienstag 21
Ihre Abwesenheit und die Leere ihres Zimmers quälten mich mehr, als ich ertragen konnte.
Gegen halb vier Uhr morgens stand ich schließlich auf und zog mich an, und Brad ging mit mir die Polk Street hinunter bis zur Ecke, wo der erste Streifenwagen stand. In der Hoffnung, der Fahrer könnte uns etwas Neues sagen, stellten wir ihm mehrere ganz konkrete Fragen, doch er redete nur um den heißen Brei herum. Endlich sagte Brad: „Hören Sie, sagen Sie uns doch die Wahrheit. Nach allem, was wir wissen, muss unsere Tochter immer noch in der Schule sein. Ist irgendjemand da drinnen noch am Leben?"
Der Fahrer antwortete zögernd: „Okay, ich sage es Ihnen ohne Umschweife. Es ist niemand mehr am Leben."
Es hört sich verrückt an, aber ich wollte immer noch nicht aufgeben, nicht einmal jetzt. Es besteht immer noch die Chance, dass sie sich irgendwo in einem Schrank versteckt, sagte ich zu Brad, oder dass sie unter den Verletzten ist, die im Krankenhaus nicht identifiziert werden konnten. Man weiß nie. Die denken, sie wüssten über alles Bescheid, aber das heißt nicht, dass es wirklich so ist.
Erst zweiundzwanzig Stunden später, gegen zwei Uhr morgens am Donnerstag, brach meine Abwehr endlich zusammen. Das Telefon klingelte, und eine Frau aus dem gerichtsmedizinischen. Institut sagte uns, was wir zu hören gefürchtet haften, auch wenn wir damit rechnen mussten. Cassies Leiche war dort. Nun gab es keinen Ausweg mehr, als uns einzugestehen, dass unsere-'Tochter wirklich für immer fort war, dass sie nie wieder zu mir nach Hause kommen würde. Aber wie kann eine Mutter sich mit so etwas abfinden?
Ich weinte, wie ich noch nie zuvor geweint hafte.

22 Cassie
Nach dem, was mir seither berichtet wurde, muss es an jenem Vormittag etwa Viertel nach elf gewesen sein, als Cassie in die Bibliothek der High School trat, den Rucksack über die Schulter gehängt, um an ihrer neuen Hausaufgabe zu arbeiten - ein weiteres Stück aus Macbeth für den Englisch-Unterricht. Crystal, eine gute Freundin, war ebenfalls in der Bibliothek:
Sara, Seth und ich waren gerade in die Bibliothek gegangen, um wie jeden Tag zu lernen. Nach vielleicht fünf Minuten stürzte eine Lehrerin herein und schrie, es seien ein paar bewaffnete Männer auf dem Flur. Zuerst dachten wir: „Das ist nur ein Witz, die aus den oberen Klassen haben einen Streich ausgeheckt."
Seth meinte: „Keine Panik, das sind bloß Farbbeutel."
Dann hörten wir Schüsse, erst unten im Flur, dann näher und immer näher. Mrs. Nielsen rief uns zu, unter die Tische zu kriechen, aber keiner hörte auf sie. Dann kam ein Junge herein und stürzte zu Boden. Seine ganze. Schulter war voller Blut. Jetzt krochen wir so schnell wir konnten unter unseren Tisch. Mrs. Nielsen war inzwischen am Telefon und rief die Polizei an. Seth hielt mich in seinen Armen und hatte seine Hand auf meinen Kopf gelegt, weil ich so heftig zitterte, und Sara kauerte auch mit uns da unten und hielt meine Beine fest. Dann kamen Eric und Dylan in die Bibliothek, schossen um sieh und sagten Sachen wie: „Darauf haben wir unser Leben lang gewartet."
Nach jedem Schuss stießen sie einen Juchzer aus.
Ich haue keine Ahnung, wer sie waren - ihre Namen habe ich erst hinterher, erfahren - aber ihre Stimmen klangen furchteinflößend, bösartig. Gleichzeitig wirkten sie richtig fröhlich, als ob sie ein Spiel spielten, das ihnen mächtig Spaß machte. Dann kamen sie an unseren Tisch und stießen einen Stuhl um. Er traf erst mich am Arm und dann Sara am Kopf. Sie waren direkt über uns. Ich konnte kaum atmen, so große Angst haue ich.

Dienstag 23
Dann verließen sie plötzlich den Raum, wahrscheinlich um nachzuladen. Offenbar war ihnen die Munition ausgegangen. Da sind wir abgehauen. Wir rannten durch eine Seitentür der Bibliothek, einen Notausgang, hinaus - kurz bevor sie wieder hereinkamen.
Crystal verlor Cassie aus den Augen, nachdem die Mörder den Raum betreten hatten, und es gibt widersprüchliche Aussagen darüber, was sie in diesen Momenten tat. Ein Schüler erinnert sich, sie unter einem Tisch gesehen zu haben, die Hände zum Gebet gefaltet. Ein anderer sagt, sie sei einfach sitzen geblieben. Josh, ein jüngerer Schüler, mit dem ich mich einige Wochen nach dem Vorfall unterhielt, sah sie überhaupt nicht, aber er sagt, er werde nie vergessen, was er hörte, als er etwa acht Meter weit entfernt unter einem Schreibtisch kauerte.
Ich konnte nichts sehen, als die Kerle zu Cassie kamen, aber ich erkannte ihre Stimme. Ich konnte alles hören, als wäre es direkt neben mir. Einer von ihnen fragte sie, ob sie an Gott glaube. Sie zögerte, als überlegte sie, was sie antworten sollte, und dann sagte sie Ja. Sie muss Angst gehabt haben, aber ihre Stimme zitterte nicht. Dann fragten sie sie, warum, aber sie gaben ihr keine Zeit mehr zum Antworten. Sie schossen sie einfach nieder.
Josh sagt, dass die Art, wie die Jungen Cassie nach ihrem Glauben fragten, ihn auf den Gedanken brachten, ob sie sichtbar betete.
Ich wüsste nicht, warum sie sonst jemanden so etwas fragen sollten. Vielleicht redete sie auch mit ihnen, schwer zu sagen. Ich weiß, dass die beiden die ganze Zeit über redeten, während sie in der Bibliothek waren. Sie gingen hinüber zu Isaiah und verspotteten ihn.

24 Cassie
Sie nannten ihn Nigger, bevor sie ihn töteten. Dann fingen sie an zu lachen und zu juchzen. Für sie war das wie ein großartiges Spiel. Als sie dann den Raum verließen, stand ich auf, nahm meine Freundin Brittany an der Hand und rannte los. Als Nächstes weiß ich nur noch, wie ich sie durch die Tür stieß und hinter ihr hinausstürmte
Einer der ersten Beamten, die am nächsten Tag am Tatort waren, war Gary, ein Mitglied unserer Kirchengemeinde und Ermittler des Sheriff-Büros von Jefferson County:
Als wir in der Schule eintrafen, bildeten wir sieben Ermittler-Teams. Alle getöteten Opfer waren über Nacht am Tatort gelassen worden, weil die Ermittler sicherstellen wollten, dass alles dokumentiert wurde, bevor sie die Beweismittel sammelten.
Sobald ich die Bibliothek betrat, sah ich Cassie. Ich erkannte sie sofort. Sie lag unter einem Tisch, dicht neben einem anderen Mädchen. Cassie war aus sehr geringer Entfernung in den Kopf geschossen worden. Die Einschusswunde ließ sogar darauf schließen, dass der Lauf ihre Haut berührt hatte. Möglicherivei-se hatte sie eine Hand gehoben, um sich zu schützen, denn eine ihrer Fingerspitzen war weggeschossen, aber zu mehr kann sie keine Zeit mehr gehabt haben. Dieser Schuss tötete sie auf der Stelle.
Der Abstand zwischen dem 20. April und der Gegenwart wird mit jedem Tag ein wenig größer, doch die Einzelheiten verblassen keineswegs. Manchmal steigen die Bilder so lebhaft vor mir auf, dass es scheint, als wäre alles erst gestern passiert. Die Ärzte sagen, dass das Gehirn Schmerzen vergisst, und vielleicht haben sie recht. Ob aber das Herz vergisst, bezweifle ich. 

Dienstag 25
Wenn in den Winkeln meiner Erinnerung irgendein Trost zu finden ist, dann vielleicht in jenen fröhlichen, einfachen Dingen, die uns als Familie während der letzten Woche in Cassies Leben zusammenhielten. Obwohl es an sich wenig bemerkenswerte Dinge waren, gibt es mir eine merkwürdige Befriedigung, daran festzuhalten, und die Erinnerungen trösten mich.
Ein paar Wochen zuvor waren Brad und ich während der Frühjahrsferien mit den Kindern hinauf in den nahe gelegenen Skiort Breckenridge gefahren. Weil wir noch gültige Skipässe hatten, beschlossen wir, Cassie und Chris einen Tag schulfrei nehmen zu lassen (etwas, das wir eigentlich „niemals" tun), um sie zu verbrauchen. Da zogen sie also an einem Donnerstag los nach Breck, und als ich sie mit ihren Snowboards aus dem Haus gehen sah, dachte ich daran, dass meine Brüder und ich so etwas nie getan hatten, und wie kostbar es war, dass meine Kinder sich nahe genug standen, um nicht nur miteinander auszukommen, sondern sogar das Zusammensein beim Lieblingssport genießen zu können.
Am Freitag waren beide wieder in der Schule, und am Samstag war Abschlussball. Cassie hatte keinen Begleiter, und ihre beste Freundin Amanda auch nicht, doch beide waren trotzdem entschlossen, einen schönen Abend zu verleben:
Wir konnten nicht zum Abschlussball gehen, weil wir keine Verabredungen hatten, weil wir „Loser" sind, doch die Firma, in der meine Mutter arbeitet, veranstaltete an dem Abend so ein riesiges Bankett im Marriott, und so beschlossen Cass und ich uns schick zu machen, uns zu frisieren und schön zu sein und statt dessen dorthin zu gehen. Wir hatten einen Riesenspaß.
Am späten Samstagabend rief Cassie mich aus dem Marriott an, um mir zu erzählen, wie herrlich sie sich mit Amanda und ihrer Mutter All amüsierte.

26 Cassie
Sie sagte mir ebenfalls, dass sie vorhatte, zu Hause vorbeizukommen und dann noch zur Nachfeier in die High School zu gehen. Wenig später raste sie mit Amanda durchs Haus, suchte in allen Schubladen nach neuen Klamotten und sagte mir, sie rechne damit, recht früh wieder da zu sein, da sie nicht sicher seien, wie die Stimmung dort sein würde. Wie sie herausstellte, kam sie erst um sechs Uhr früh wieder nach Hause
Montag war Montag. Cassie war mit den Hausaufgaben im Rückstand und hatte alle Hände voll zu tun, weil sie das ganze Wochenende blaugemacht hatte. Normalerweise ging sie montags zu Freunden von uns zum Babysitten, doch diese Woche wurde sie dort nicht gebraucht. So aßen wir alle zusammen zu Abend, was bei uns nichts Ungewöhnliches ist, aber auch nicht jeden Tag vorkommt. Nach dem Essen setzte sie sich wieder an ihre Hausaufgaben.
Wenn ich an jenen letzten Abend in Cassies Leben zurückdenke, sehe ich sie immer noch dort in der Küche sitzen. Sie hatte ihre Arbeiten im Haus noch nicht erledigt, und ich bin sicher, dass ich deswegen bei ihr nachbohrte. Jetzt, wo sie tot ist, schmerzt es mich, das zuzugeben. Dasselbe gilt für meine späte Erkenntnis; dass unsere Beziehung zwar im Großen und Ganzen gut war, aber nicht ideal - weder an jenem Abend noch an irgendeinem anderen. Aber es ist zu spät, dem Versäumten hinterher zu jammern.
Die grausamste Ironie, dass wir Cassie auf diese Weise verloren haben, ist vielleicht, dass sie an jenem Tag gar nicht erst in der Columbine High School gewesen wäre, wenn wir sie nicht von einer anderen Schule heruntergeholt hätten, an der sie vor nur zweieinhalb Jahren .die neunte Klasse begonnen hatte. Zu jener Zeit freilich war unsere Beziehung beinahe rettungslos zerrüttet gewesen, und es kam uns jedes Mal wie ein kleiner Sieg vor, wenn sie zu einigermaßen normalen Zeiten aus der Schule zurückkam oder sogar die Küche betrat, um etwas so Alltägliches zu tun, wie mit uns zu essen oder einen Abend mit Hausaufgaben zu verbringen. Aber das ist ein anderes Kapitel.