Kapitel 1
Nachdem wir sechs Monate lang in Holland die niederländische Sprache gelernt hatten, gingen mein Mann Russell Deibler, ein Missionar mit langen Jahren Missionserfahrung, und ich, seine junge Frau, an Bord der RMS Volendam, die uns zu den ostindischen
Inseln bringen sollte.
Auf den ersten Blick zeigten sich die Inseln mir als ein Garten Eden mit heißem Klima und hoher Luftfeuchtigkeit. Die mehr als 13 500 Inseln, die sich vom Südchinesischen Meer bis zum Indischen Ozean hin erstreckten, wurden zweimal im Jahr von starken Monsunregenfällen heimgesucht, die die meisten größeren Inseln in ein Meer von Schlamm verwandelten. Verschieden geartete Sümpfe und undurchdringliche Dschungel waren überall zu finden. Auf vielen Inseln gab es noch aktive Vulkane, die hin und wieder Flammen und glühende Lava ausspien. An den Inseln entlang zogen sich Korallenriffe, stille Lagunen und weiße Sandstrände, auf denen sich Kokospalmen und Hibiskuspflanzen sachte im Wind wiegten. »Wie herrlich«, jubelte ich, »ein Inselparadies.«
Am 18. August 1938, an unserem ersten Hochzeitstag, landeten wir in Batavia(3)
auf Java. Die Düfte meines neuen Heimatlandes waren fremdartig und doch verlockend, so ganz anders als alles, was ich vorher gekannt hatte. Jede Insel war einzigartig und unterschied sich von ihrer Nachbarinsel in vielerlei Hinsicht. Auf einigen gab es schwefelhaltige Mangrovensümpfe, die einen modrigen Geruch verbreiteten. Andere stanken nach Kopra, dem getrockneten Mark der Kokosnuss. Auf den Gewürzinseln konnte ich auch den Duft von Zimt, Muskatnuss und Nelken ausmachen. Und überall mischte sich der Geruch von Meersalz mit dem schweren Duft des in der Nacht blühenden Jasmin. Über die Märkte zu schlendern – ein buntes Treiben mit provisorischen Ständen, auf denen sich bunte Früchte und Gemüsesorten, von Eingeborenen gewebte Stoffe, Tontöpfe, wunderschöne Sarongs und Nippes-Sachen aus Gold und Silber türmten –, war viel interessanter als das Einkaufen in einem amerikanischen Supermarkt.
Die Kaufleute schlugen zwei Holzstückchen aufeinander und priesen mit monotoner Stimme ihre Waren an. Es gab keinen Marktpreis. Als ich das erste Mal einen Preis hörte, der doppelt so hoch war wie der Wert der Ware, ging ich davon … »Boleh tawar! Boleh tawar!«(4)
riefen die Kaufleute immer wieder und luden mich ein zu handeln.
Das tat ich dann auch! Das Leben dort war sehr interessant und fesselnd. Ich fühlte mich sofort zu den Leuten und dem Ort hingezogen. Unablässig quälte ich Russell mit tausend Fragen. In dem offenen Stadtkanal badeten Männer, Frauen und Kinder, fröhlich miteinander plaudernd, dort wuschen sie ihre Kleider oder ihr Gemüse, spritzten sich gegenseitig nass oder verrichteten ihre Notdurft – alles in unmittelbarer Nähe.
Mit dem Zug fuhren wir nach Surabaya weiter. Wir kamen vorüber an vielen terrassenförmig angelegten Reisfeldern und Teeplantagen. Drei Tage später setzten Russell und ich unsere Reise mit einem Dampfschiff nach Celebes fort, wo sich die Missionsstation befand.
Makassar, die Haupt- und Hafenstadt von Celebes, war eine wundervolle tropische Stadt. Weiße Sandstrände erstreckten sich rechts der Reisfelder. Eine große, sehr alte Festung mit einer altmodischen Kanone wachte über dem Hafen. Ozeanriesen gingen vor Anker und entluden ihre importierten Waren im Austausch gegen eine Ladung Kopra, Kaffee, Reis, Korn, Salz oder exotischer Gewürze.
Russell, der Schiffsreisen noch nie besonders gut vertragen konnte, hatte sich so weit erholt, dass er mir, nachdem die Gangway heruntergelassen worden war, an der Reling Gesellschaft leisten konnte: Er lenkte meine Aufmerksamkeit auf eine Gruppe, die sich auf der rechten Seite der Gangway versammelt hatte.
»Die große Dame ist Margaret Kemp aus Endicott im Bundesstaat New York«, erklärte er. »Sie und die anderen alleinstehenden Damen arbeiten im Büro der Station und unterrichten in der Bibelschule.« Ich erkannte Lilian Marsh, denn sie sah ihrer Schwester Ethel – einer freundlichen Engländerin, die ich in London kennengelernt hatte – verblüffend ähnlich. Ihr Vater war der bekannte britische Prediger und Schriftsteller F.E. Marsh. Sowohl Ethel als auch Lilian hatten schon viele Jahre im umkämpften China Dienst getan, bevor Lilian nach Niederländisch-Ostindien versetzt worden war. Während ich die kleine Dame mit dem lockigen, im Nacken zusammengesteckten Haar betrachtete, konnte ich kaum glauben, dass sie all die Härten des Dienstes in Südchina durchlebt hatte. Neben ihr stand Philoma Seely.
Philoma, die Russell mir als ein wenig exzentrisch beschrieben hatte, war kleiner als Lilian. Ihr graues Haar glänzte wie Silber in der tropischen Sonne. Philoma war völlig taub, beherrschte seltsamerweise jedoch fließend die chinesische Sprache. Sie führte die Bücher der Missionsstation, unterrichtete in der Bibelschule und tat auch hin und wieder Dienst in der chinesischen Gemeinde.
Am Ende der Reihe der alleinstehenden Damen stand Margaret Jaffray. Sie war die Tochter von Dr. Jaffray, dem Vorsitzenden der Niederländisch-Ostindien-Mission. Ihr dunkles Haar war durchzogen von weißen Strähnen; eine randlose Brille saß auf ihrer dicken Nase, die jedoch dem fröhlichen Funkeln ihrer haselnussbraunen Augen keinen Abbruch tat.
»Willkommen daheim, Fremder!«, rief einer aus der Gruppe. Die anderen begannen zu winken.
»Das ist Wesley Brill, der Leiter der Bibelschule, begleitet von seiner Frau Ruby und der kleinen Tochter Donna«, erklärte Russell.
Vollkommen verzagt und voller Furcht schritt ich die Gangway hinab. Die Brills erreichten Russell als Erste und hießen ihn herzlich willkommen. Etwas unsicher stand ich abseits, doch die beiden Margarets, Lilian und Philoma kamen auf mich zu. Etwas zögernd schaute ich sie an und fürchtete, dass sie ein so junges Mädchen wie mich nicht so leicht akzeptieren würden; doch sie nahmen mich sehr herzlich auf. Ihre Freundlichkeit tat mir gut. Von diesem Augenblick an empfand ich Respekt und Liebe für sie, die auch während unserer gemeinsamen Arbeit, während des Krieges und des gemeinsamen Leidens nicht schwand.
Die Brills informierten uns darüber, dass Russell und ich in dem am Stadtrand gelegenen Gästehaus der Mission wohnen würden. Das Gästehaus verfügte über große, luftige, spärlich möblierte Schlafräume, die in ein Gemeinschaftsesszimmer und das Wohnzimmer mündeten. Der Kochbereich, das Badezimmer, die Toilette und die Zimmer für das Personal waren in einem separaten, durch einen Weg mit dem Haupthaus verbundenen Gebäude untergebracht.
Die Keramikfliesen waren angenehm kühl unter den Füßen. Nach dem Mittagessen zogen wir uns alle zurück – es war Zeit für die Mittagsruhe. Erschöpft kroch ich unter mein Moskitonetz. Es gab keinen elektrischen Ventilator, und die Hitze war überaus drückend. Ich schlief ein wenig, wachte jedoch schweißgebadet und unausgeruht wieder auf. Wie angenehm war jetzt ein erfrischendes Bad!
Nach einer belebenden Tasse Tee leerte sich das Haus. Jeder ging seinen Pflichten nach. Russell und Wesley gingen zum Büro der Schifffahrtslinie, um nach unseren Koffern zu fragen. Ich packte das Handgepäck aus, danach setzte ich mich auf unser Bett, schaute zum
Fenster hinaus und versuchte, all die vielen neuen und unterschiedlichen Geräusche und Düfte einzuordnen. Wie schön war es doch, hier zu sein, welch ein Vorrecht!
Beim Abendessen informierte mich Mr. Brill darüber, dass mein Sprachlehrer mich am nächsten Morgen um halb neun erwarten würde. Schon bald würde ich mich mit den Eingeborenen unterhalten können. Gott hatte mich in seinen Dienst berufen, und er würde mich auch für die mir zugedachte Aufgabe zurüsten. Die Sprache war ein Werkzeug, das zu gebrauchen ich lernen musste – und wenn er mir die Kraft dazu gab, dann würde ich sie gut einsetzen können.
Pünktlich um halb neun am nächsten Morgen wurde ich einem Indonesier mittleren Alters vorgestellt. Er nickte mir zu, und ich nickte zurück. Dann verließ Russell den Raum. Ich sprach kein einziges Wort Indonesisch, und der Sprachlehrer kein einziges Wort Englisch.
Er erhob sich vom Stuhl und verließ den Raum. Doch sofort kam er zurück, verbeugte sich und sagte: »Selamat pagi, Njonja!« Ich starrte ihn schweigend an. ›Ja, sicher‹, dachte ich bei mir. ›Was hat er jetzt nur gesagt?‹
Als ich nicht antwortete, verließ mein Lehrer abermals das Zimmer, kam wieder zurück und sprach diesmal ganz deutlich: »Selamat pagi, Njonja.«
Meine Gedanken überschlugen sich. Das war bestimmt eine Begrüßungsformel! Als er nun zum dritten Mal vor die Tür ging, war ich vorbereitet. Er kam zurück, verbeugte sich und wiederholte den Gruß.
Ich erhob mich von meinem Stuhl, verbeugte mich und erwiderte: »Selamat pagi, Njonja.«
Der kleine, korpulente Mann in dem gestärkten Baumwollanzug gestikulierte wild mit den Händen und schüttelte den Kopf. Er zeigte Das Bild der Deiblers auf ihrer offiziellen Arbeitserlaubnis auf sich und sagte immer wieder: »Tuan, Tuan.« Dann zeigte er auf
mich und sagte: »Njonja, Njonja.«
Ich musste schrecklich lachen, denn ich hatte gerade zu meinem Lehrer gesagt: »Guten Morgen, meine Dame!« Um ihm zu versichern, dass ich verstanden hatte, verbeugte ich mich und sagte:
»Selamat pagi, Tuan«, worauf er lächelnd erwiderte: »Baik, baik!«
(»Gut, gut!«) Diese erste Lektion hatte ich gelernt, und nie wieder sprach ich einen Mann mit »meine Dame« an.
Jeden Tag lernte ich mit meinem Lehrer die Sprache. Er machte seine Sache ausgezeichnet, forderte aber auch eine Menge von mir. Wenn er sich nachmittags mit einer Verbeugung von mir verabschiedet hatte, schlenderte ich in das Quartier der Dienstboten hinüber. Die Köchin, eine junge Frau, und der Wäschejunge lachten über mein Indonesisch und korrigierten mich. Wenn ich ein Wort falsch aussprach oder sie bat, etwas zu wiederholen, wurden sie immer lauter. Doch schließlich lernte ich, ihnen zu sagen, dass mein Gehör ausgezeichnet sei und dass ich nur Probleme mit der indonesischen Sprache hätte.
Celebes war eine Insel voller Gegensätze. Mehrere Tausend Meter hohe Berge erstreckten sich im Norden und Süden des Landes, und die geheimnisvollen blauen Seen waren Hunderte Meter tief. Dazwischen bedeckte üppige, tropische Vegetation die Landschaft. Auf den Bergen im Landesinnern waren viele Kalksteinhöhlen zu finden.
Ich liebte die Insel und ihre Bewohner. Doch ich wusste auch, dass mein Aufenthalt zeitlich begrenzt war. Schon bald würden wir weiterreisen in das »große unbekannte Land«, nach Neuguinea, und ich war sicher, dass die Gebete der Menschen hier auf der Insel Celebes uns dorthin begleiten würden. An einem Septembermorgen lernte ich einen von diesen Menschen kennen, Dr. Robert A. Jaffray.
»Da, neben Margaret, das ist Mr. Jaffray«, erklärte Russell, als das Schiff anlegte. Ich erkannte ihn sofort. Wie hätte man ihn übersehen können? Er überragte seine Mitreisenden um Haupteslänge und winkte uns mit seinem Tropenhelm zu. Sein kurzes, weißes Haar war ordentlich gekämmt, und er war glattrasiert. Sein Oberlippenbart war sorgfältig gestutzt. Er stand an der Reling mit der Würde eines Mannes von vornehmer Herkunft.
Margaret – er nannte sie zärtlich Muggins oder Muggie – half ihm von Bord. Sie trug die vielen Päckchen, die er als Geschenke für die Missionare mitgebracht hatte, und sah aus wie ein reich geschmückter Weihnachtsbaum. Dr. Jaffray kam auf mich zu und drückte mir herzlich die Hand.
»Das muss Darlene sein. Jetzt kann ich verstehen, warum Russell seinen Urlaub verlängert hat.« Seiner Größe und auffallenden Erscheinung nach zu urteilen, hätte ich ihn für einen sehr strengen Mann gehalten, doch sein warmes Lächeln und seine blitzenden Augen zeigten mir sehr schnell, dass ich mich geirrt hatte.
»Ich fürchte, wir haben Ihr Haus immer noch mit Beschlag belegt«, entschuldigte ich mich nervös.
»Das macht doch nichts. Mutter besucht noch Freunde in Singapur und Java. Sie wird vermutlich erst nach der Konferenz eintreffen.«
Die Konferenz für die Missionare in Niederländisch-Ostindien würde erst im November stattfinden; es blieb viel Zeit, sich von Mr. Jaffrays Begeisterung für Neuguinea anstecken zu lassen. Er trug eine zerknitterte Landkarte bei sich, auf der die Strecke von Oeta(5) bis zu den Wisselseen zu sehen war. Sobald sie ausgepackt hatten, begannen wir, Listen mit Ausrüstungsgegenständen und Versorgungsgütern zusammenzustellen und die Kosten zu überschlagen. Wir drei waren begeistert von dem Plan, das Innere Neuguineas für Gott zu gewinnen. Jede Information, die wir bekommen konnten, überprüften wir sehr sorgfältig.
Wir erfuhren, dass am 1. Januar 1937 ein holländischer Pilot mit Namen Mr. Wissel und sein amerikanischer Kopilot, Mr. Jack Atkinson, für die Babo-Ölgesellschaft einen Erkundungsflug über Neuguinea gemacht hatten. Das neue Jahr war gerade erst angebrochen,
und die Wolken hatten sich gelichtet, sodass die Piloten das schneebedeckte Zentralgebirge sehen konnten. Etwa 50 Kilometer weit erstreckten sich die Schneefelder, die hier und da von zerklüfteten, schneebedeckten Gipfeln und Gletscherseen unterbrochen wurden.
Ehrfürchtig betrachteten sie die unberührte Natur. Als sie über die Nordseite des Gebirgszuges flogen, entdeckten sie unter sich etwas, das aussah wie drei runde Wolken, die sich in die Berge schmiegten. Sie flogen etwas niedriger und erkannten, dass es sich nicht um eine Wolkenformation, sondern um drei kristallklare Seen handelte, und auf dem größten davon ruderten Männer und Frauen in Kanus. Und das in einem Teil der Welt, der als unbewohnt galt!
Als ich mit Russell zusammen die Luftberichte studierte, erfuhren wir, dass der Oeta, der in die Bandasee an Neuguineas Südküste fließt, im größten der Wisselseen, dem Paniaisee, entspringt. Wenn man dem Oeta zu seiner Quelle folgte, würde man ganz sicher auch noch andere Dörfer und bisher unbekannte Völker entdecken. Die niederländische Regierung, die die Ostindischen Inseln kontrollierte, stellte schon bald Geldmittel und Begleitmannschaften für diese Expedition zur Verfügung. Die Gruppe kämpfte sich am Fluss entlang durch den dichten tropischen Dschungel. Sie bestieg mit dichten Wäldern bewachsene Berge, um am Gipfel feststellen
zu müssen, dass ein neuer Gebirgszug sie erwartete, der noch steiler und noch zerklüfteter war als der vorige. Am Ende eines jeden ermüdenden Tages wurde schnell ein Schutzdach errichtet, worunter sie lagerte. Viele der Träger, vorwiegend Eingeborene der Küstenregionen, starben und wurden in flachen Gräbern entlang des nächtlichen Lagerplatzes begraben. Alle litten unter Hunger, da die Nahrungsmittel knapp waren, und unter der Kälte in den höheren Regionen. Als etwa einen Monat nach ihrem Aufbruch von der Küste die Überlebenden den letzten Gebirgszug ins Steinzeitalter hinabstiegen, folgte ihnen eine große Horde fast nackter Eingeborener
zum Paniaisee.
Einige Polizeibeamte, mehrere Gefangene und ein Offizier wurden in Enarotali zurückgelassen, wobei sie die hastig errichteten Zelte auf einem Bergabhang bewohnten, von dem man auf den
See blicken konnte. Die einzige Verbindung zwischen diesem primitiven Außenposten und der Außenwelt war ein batteriebetriebenes Radio.
Je mehr wir erfuhren, desto lieber wurden uns die Landkarte und die Geschichte Neuguineas. 1545 hatten die Spanier Anspruch auf die zweitgrößte Insel der Welt erhoben und ihr den Namen Neuguinea gegeben, weil ihre Bewohner den Volksstämmen an Afrikas Westküste ähnelten. Anfang des 19. Jahrhunderts etablierten holländische Händler die ersten europäischen Außenposten auf der Insel, und 1828 annektierten die Niederlande den westlichen Teil der Insel.
Intensiv studierten wir die Karte Neuguineas. Die Insel ähnelte einem riesigen paläozoischen Beutevogel – mit erhobenem Kopf und offenem Schnabel bereit, mit der hereinströmenden Flut die kleineren Molukkeninseln zu verschlingen. Der Brustteil Neuguineas liegt über dem obersten Zipfel von Australien und sein Schwanz in der Korallensee. Die ungeheuer lange Küstenlinie, die undurchdringlichen, die fast überall von Krokodilen und giftigen
Schlangen bewachten Mangrovensümpfe und die Kannibalenstämme hatten schon über die Jahrhunderte hinweg selbst die wagemutigsten Seefahrer davon abgeschreckt, das Land einzunehmen.
Am 21. Juni 1938 folgten Angehörige einer vom amerikanischen Museum of Natural History gesponserten Expedition unter der Führung von Richard Archbold dem Flusslauf des Baliem durch ein ca. 400 Kilometer östlich der Wisselseen gelegenes Tal. Sie wollten
Proben der Flora und Fauna am Fuß des Mount Wilhelm, eines der höchsten Gipfel Neuguineas, sammeln. Dort trafen sie auf ein dichtbesiedeltes Gebiet von Steinzeit-Kannibalen.
Immer wieder lasen wir die Berichte über die Ergebnisse der
Expedition und waren aufs Neue beeindruckt von der riesigen Aufgabe, die unzähligen Volksstämme Neuguineas zu erreichen, die im Gebirge lebten.
Die Missionskonferenz fand im November in Benteng Tinggi statt, einem Anwesen in den Bergen, etwa 60 Kilometer von Makassar entfernt gelegen. Benteng Tinggi bedeutet »hohe Festung«, und in der Tat war es ein Zufluchtsort vor der sengenden Hitze der Küste. Die Versammlungen wurden in einem riesigen, achteckigen Gebäude abgehalten, an das sich die Unterbringungsmöglichkeiten der Teilnehmer anschlossen. Zum ersten Mal lernte ich die anderen Missionarsfamilien kennen. Wir lachten viel zusammen, und die Konferenz verlief sehr harmonisch.
Einstimmig wurde beschlossen, dass Russell und ich zusammen mit einem anderen Ehepaar, Walter und Viola Post, zu den Wisselseen aufbrechen sollten. Schon vor der Konferenz hatten wir uns eine Arbeitserlaubnis beschafft, doch die Regierung wollte nicht gestatten,
dass Frauen die anstrengende Reise ins Landesinnere antraten. Bis sich die Zustände gebessert hatten, sollten Russell und Walter Post allein zu den Wisselseen reisen. Viola und ich würden in Makassar bleiben.
Anfang Dezember bestiegen Walter Post und Russell den Dampfer nach Ambon, wo sich der Sitz der Regionalregierung der Gewürzinseln befand. Dort kauften sie Schlauchboote, Campingausrüstung und Nahrungsmittel für sich und ihre Träger ein.
Der Gouverneur war sehr hilfsbereit und arrangierte für sie, dass
sie mit einem Schiff der Regierung nach Oeta an Neuguineas Südküste reisen konnten. Sie kamen sicher dort an und entluden ihre
Vorräte. Dann kehrte Walter Post nach Ambon zurück. Am Tag nach Weihnachten fuhren Russell und seine zehn eingeborenen Träger mit den Vorräten in einem Regierungsdampfer, ein Kanu im Schlepptau, stromaufwärts bis dorthin, wo die Stromschnellen begannen.
Von dort aus würden die Vorräte und das Kanu getragen werden müssen. Sie erreichten das Lager am späten Nachmittag des dritten Tages. Dies erfuhr ich aus einem Brief, den der Regierungsbeamte
mir freundlicherweise mitbrachte.
Ich erinnerte mich an das, was ich in dem Bericht der Pioniermissionare gelesen hatte, und unaufhörlich bat ich Gott um Hilfe und Kraft, um Sicherheit, Mut und Geduld für Russell. Zusammen mit den anderen Missionaren betete ich, dass Gott seine Hand über
ihn halten möge, damit er die Wisselseen erreiche. Wie sehr er litt und wie notwendig unsere Fürbitte war, sollte ich erst viele Wochen später erfahren.
Während Russells Abwesenheit drängte und ermutigte Margaret Kemp mich, mehr zu tun, als ich jemals für möglich gehalten hätte. Die wöchentlichen Lektionen der Sonntagschule für die Jüngeren zu übersetzen und mehreren Lehrern zur Seite zu stehen – und das nach nur wenigen Monaten des Sprachstudiums –, war ihre Idee.
In regelmäßigen Abständen wurde ich dafür eingeteilt, mich in der Gemeindearbeit einzubringen, und man bat mich auch, im Kindergarten für die Kinder der Lehrer und Studenten auszuhelfen. Das war eine wertvolle Erfahrung für mich.
Auch weiterhin betrieb ich mein Sprachstudium, jetzt mit einem Lehrer der Schule für Angehörige der Kolonialverwaltung in Menado (Manado). Sein ausgezeichnetes Indonesisch spornte mich an, meine Sprachkenntnisse zu vervollkommnen. Schon nach wenigen Wochen kann jeder sich in Pasar, dem Umgangsmalaiisch, verständlich machen. Doch das richtige Indonesisch ist eine sehr schöne Sprache, es hat keine harten, kehligen Laute. Diese Sprache so gut ausgesprochen zu hören, ist, als würde man einer Sinfonie lauschen, die auf Wortinstrumenten gespielt wird – als würde man einen Renoir anschauen, ein Meisterwerk von Licht und Schatten.
Zu Beginn des neuen Schuljahres gab man mir ein englischsprachiges Buch für Kirchengeschichte und fragte, ob ich die Studenten des zweiten Jahrgangs unterrichten könnte. Gern war ich
dazu bereit, doch nachdem ich mich durch die ersten Kapitel gekämpft hatte, kam ich immer mehr zu der Überzeugung, dass ich mehr Begeisterung als Vernunft hatte walten lassen. Wie vermittelt man Kirchengeschichte an Studenten, die frisch aus dem Dschungel kamen und nur ihre eigene Küstenlinie und den Ozean kannten und erst seit einem Jahr wussten, dass überhaupt eine Welt außerhalb ihres begrenzten Horizonts existierte?
Das war eine anspruchsvolle Aufgabe! Die meisten Studenten in meinen Klassen waren Dyaks (Dayaks) aus Borneo. Da alle Stunden in Indonesisch abgehalten wurden, mussten sie sich ein Arbeitswissen in einer Sprache aneignen, die ihnen vollkommen fremd war. Viele von ihnen hatten noch nie einen Stift in der Hand gehalten. Neben ihren Sprachstunden brachte man ihnen Lesen, Schreiben, Mathematik, Musik und Geschichten aus dem Alten und Neuen Testament bei. Allein schon still in einem Klassenzimmer sitzen zu müssen, war eine schwere Prüfung für sie; sie waren ein freies Volk, das am Rand der Zivilisation gelebt hatte. Nie hatten sie sich einem Zeitplan unterwerfen müssen. Ich liebte und bewunderte sie, wenn sie mit gerunzelter Stirn über ihre Bücher gebeugt im Klassenzimmer saßen und ihnen angesichts der extremen Hitze und der Konzentration Schweißtropfen die Wangen herunterliefen.
Ich fand Erfüllung, Freude und außerordentliche Befriedigung in all meinen Aufgaben. Dies war eines von Gottes wertvollen Geschenken an mich – schon als kleines Kind hatte ich Verantwortung übernehmen müssen. Niemals hatte ich Zeit gehabt, mich zu langweilen! Die Trennung von Russell hätte ich mir auch nie selbst ausgesucht, doch der Herr hatte mir, als ich auf seinen Ruf in die Mission antwortete, versprochen: »Geh … ich werde immer bei dir sein!« Die Gegenwart Gottes und seines Volkes machte mich ruhig.
Im Februar erhielten wir die Nachricht, dass Russell aus Manokwari ankommen würde. Meine Aufregung steigerte sich ins Unermessliche. Aber warum aus Manokwari, einem Ort an der Nordküste Neuguineas? Als das Schiff in den Hafen Makassars einlief, konnte ich es kaum noch erwarten. Ich stand ganz vorn unter den Leuten, die sich versammelt hatten, um die ankommenden Reisenden zu begrüßen. Doch wie erschrak ich, als ich einen ausgezehrten, verfallenen Fremden an der Seite von Walter Post entdeckte.
Die anderen Missionare erkannten den abgemagerten Russell als den Mann, den sie vor seiner Reise gekannt hatten. Doch wo war der Mann, den ich geheiratet hatte – der Mann, der nach Neuguinea aufgebrochen war? In nur 18 Tagen im Dschungel und wenigen Monaten spärlicher Ernährung hatte er mehr als 30 Kilogramm verloren! Darlene als frisch gebackene Missionarin (kurz nach ihrer Hochzeit).
»Darlene?« Als ich seine Stimme hörte, wusste ich, dass es Russell war, doch diese Stimme sollte nicht diesem ausgemergelten Fremden gehören. Schnell schlug ich die Augen nieder; ich wollte nicht, dass er mein Unbehagen bemerkte. Meine Zurückhaltung amüsierte ihn, doch der Schock, den ich empfand bei dem Gedanken, was er erlitten haben musste, saß sehr tief.
Nur mit Mühe konnte er gehen, und als er zu Hause die Schuhe und Strümpfe auszog, wusste ich auch, warum. Er hatte keine Haut mehr an den Fußsohlen und an den Zehen und litt unter fortgeschrittener Dschungelfäule.
Dr. Jaffray verständigte sofort einen Arzt. Nachdem dieser Russells Füße untersucht hatte, wandte er sich an mich und sagte: »Sehen Sie dieses Gewebe, das sich ablöst? Nehmen Sie jeden Morgen eine
Pinzette und reißen Sie es ab, bis das rohe Fleisch sichtbar wird.
Wenden Sie die Salbe, die ich Ihnen gebe, erst an, wenn Sie das verfaulte Gewebe entfernt haben. Das wird sehr schmerzhaft sein, doch es gibt keinen anderen Weg, den Pilz zu entfernen, der die Ursache für Mr. Deiblers Zustand ist.«
Jeden Morgen saß ich auf dem Bett und verband Russells Füße.
In meine unerfreuliche Aufgabe mischte sich noch das Gefühl der Fremdheit, die ich diesem abgemagerten Mann gegenüber empfand.
Russell lachte immer, wenn ich scheu zu ihm hochsah, während ich seine Füße versorgte. Es amüsierte ihn, dass mein überschäumendes Temperament gezügelt worden war.
Dr. Jaffray, seine Tochter Margaret und ich hörten stundenlang Russells Berichten über seine Erlebnisse bei dem Marsch zu den Wisselseen zu. Ich begann, mich darüber zu wundem, dass er dieses Abenteuer überhaupt überlebt hatte.
Während der ersten drei Tage hatten sich die Träger flussaufwärts gekämpft, und Russell erzählte, er habe sich bei allen seinen Reisen auf Borneos tückischen Flüssen niemals so unbehaglich gefühlt
wie angesichts dieser unfähigen Ruderer, die einmal mitten auf dem Fluss das Boot fast zum Kentern gebracht hätten. Russell hatte kein gutes Gefühl gehabt, als man ihm seine Träger vorstellte, und nun wusste er, dass er seiner Intuition hätte trauen sollen. Wie viele der Küstenbewohner Neuguineas bewegten sie sich lethargisch und langsam. Russell führte das auf die Auswirkungen des Dschungellebens zurück.
Die Küstenbewohner waren geschwächt vom Denguefieber und von immer wiederkehrenden Malariaanfällen. Sie kannten noch kein Chinin, das ihnen Linderung hätte schaffen können.
In Orawaja erwarteten sie, ein stabiles Basislager vorzufinden. Sie fanden jedoch nur eine Bambuskonstruktion mit einem Grasdach vor, das kaum Schutz vor dem Regen bot. Krankheitsbedingt standen Russell nur noch sieben Träger zur Verfügung. Die drei Kranken kehrten mit dem Kanu nach Oeta zurück. Nachdem sie sich hastig eine Mahlzeit bereitet hatten, teilten Russell und die übrigen Männer die Vorräte unter sich auf, packten ihre Rucksäcke, weil sie früh am nächsten Morgen aufbrechen wollten. Die Träger streckten sich auf dem Boden aus und waren bald eingeschlafen. Russell holte seine Bibel und sein Tagebuch aus seinem Rucksack. Er zündete eine Kerze an, las in der Bibel und schrieb die Ereignisse der vergangenen drei Tage nieder.
Der Weg war so gefährlich, wie er beschrieben worden war. Den ganzen Tag bahnten sich die Träger den Weg durch das dichte Dschungelunterholz. Jeder Tag führte sie tiefer ins Zentralgebirge
hinein, jeder Gebirgszug war höher als der vorhergehende. Sie überquerten vorsichtig schmale, über tiefe Schluchten ragende Felsvorsprünge, die der Oeta in den Felsen gegraben hatte. Der
Fluss tobte drohend unter ihnen hinweg, diente ihnen jedoch als Orientierung, damit sie den Weg zu seiner Quelle, den Wisselseen, finden konnten.
Die mit dichtem Dschungel bewachsenen Berge gaben nur ungern den Weg frei zu den Gebirgszügen, die mit teilweise unter Moos versteckten Tonscherben bedeckt waren. Diese gezackten Scherben schnitten sich durch die Ledersohlen von Russells Stiefeln. Am Neujahrstag erwachte Russell mit dem Gefühl, körperlich vollkommen erschöpft zu sein. Außerdem war er besorgt. Er hatte nur noch wenige Träger, zu wenige. Würden die Vorräte ausreichen?
Er brauchte Ermutigung für den Marsch hinein in die unbekannte Wildnis und öffnete seine Bibel an einer Stelle, wo es hieß: »Habe ich dir nicht geboten: Sei stark und mutig? Erschrick nicht und fürchte dich nicht! Denn der HERR, dein Gott, ist mit dir überall, wohin du gehst« (Josua 1,9). In seiner unnachahmlichen Weise hatte Gott Russell mit diesem Zuspruch gestärkt für die schrecklichen Tage, die noch vor ihm lagen.
Die vorausgehenden Träger mussten sehr sorgfältig darauf achten, die Steine und Felsbrocken, die ihnen im Weg lagen, nicht loszutreten, denn auf diese Weise konnte leicht ein Erdrutsch entstehen. Beim Hochklettern der fast senkrechten Berge mussten die Männer zuerst überprüfen, ob die Steine auch festsaßen, damit sich nicht ein Stein lockerte und die Nachkommenden verletzte.
Und dann immer der Monsunregen!
Spät am Nachmittag schlugen sie ihr Lager auf. Obwohl Russell bereits sehr erschöpft war, ging er zurück, um den Trägern zu helfen. Sie nahmen die notwendigen
Reparaturen an den Biwaks vor, doch es regnete trotzdem durch. Die Biwaks bestanden aus vier Pfählen, die in die Erde geschlagen und mit Rattan zusammengebunden wurden, mit einem Dach aus Gras oder Rinde. Die Kleidung der Männer war immer nass. Sie kauerten sich vors Feuer, um warm zu werden, und aßen apathisch ihren Reis, getrocknete Erbsen und gesalzenen Fisch.
Russell nahm sein Tagebuch zur Hand und las uns vor: »Dies war ein schrecklicher Tag; ich zwang mich, etwas zu essen und Wasser abzukochen, um etwas zu trinken, doch ich habe keinen Hunger.
Den ganzen Tag bin ich am Ende der Reihe geblieben und habe versucht, die Träger im Auge zu behalten. Aus ihren flüchtigen Blicken in meine Richtung und ihren geflüsterten Unterhaltungen schließe ich, dass sie planen zu verschwinden. Nachdem wir an diesem Abend unser Lager aufgeschlagen hatten, habe ich gebetet und mit ihnen gesprochen. Ich habe ihnen gesagt, dass wir nur durchkommen können, wenn wir zusammenbleiben, und dass wir auf Gott vertrauen
und weitergehen müssen …«
Die Nacht verbrachte er im Gebet. Er bat Gott, er möge die Träger davon abhalten, die Flucht zu ergreifen. In den frühen Morgenstunden fiel er in einen unruhigen Schlaf. Das Geräusch der im Lager hin und her gehenden Träger weckte ihn auf. Wunder über Wunder, sie waren alle noch da.
Er konnte die Männer verstehen. Sechs Träger waren bei einer früheren Expedition auf dieser Route schon gestorben. Jeden Abend half Russell denen, die unter ihrer Last taumelten, das Lager aufzuschlagen. Er fühlte sich körperlich ausgelaugt durch den ständig steigenden Druck, während seine Kräfte schnell schwanden. Dies war keine Expedition mit einer großen Mannschaft, genügend Trägern und Vorräten; er war allein, erschöpft in einem unwirtlichen Dschungel, zusammen mit sieben ebenfalls erschöpften Trägern.
Jetzt aufzugeben, wo sie ein Drittel des Weges bereits hinter sich hatten, wäre ihr sicherer Tod gewesen. Immerhin konnte er die Träger überreden, ihn auch weiterhin zu begleiten, indem er ihnen versprach, einen Teil ihrer Vorräte zurückzulassen. Dennoch wusste Russell, dass es gut möglich war, eines Morgens aufzuwachen und festzustellen, dass seine Männer ihn während der Nacht im Stich gelassen und seine Vorräte mitgenommen hatten.
Seine einzige Zuflucht war das Gebet. So verbrachte er nach dem anstrengenden Tag die Nacht im Gebet um göttlichen Schutz. Er ermutigte sich immer wieder selbst mit dem Zuspruch vom Neujahrstag, wo es hieß: »Habe ich dir nicht geboten: Sei stark und mutig? … Denn der
HERR, dein Gott, ist mit dir …« – und machte weiter.
Eine Woche später stellte Russell fest, dass es unumgänglich war, die zurückgelassenen Vorräte zu holen. Er und einige der stärkeren Männer gingen zurück. Nach dieser Pause waren die Träger wieder
in besserer Gemütsverfassung.
Als die Männer immer höher stiegen, waren die Tage zwar warm, nachts jedoch war es sehr kalt. Russell und die Männer kauerten sich in Decken gehüllt um das Feuer und hofften, durch die körperliche Nähe noch zusätzliche Wärme zu bekommen. Die Eingeborenen waren Küstenbewohner und die Kälte der höheren Lagen nicht gewöhnt. Sie litten sehr, einige weinten, weil sie glaubten, dass der Tod auf sie lauere. Es gab keinen Schutz vor den kalten Winden, die alles durchdrangen. Sie begannen, den Sonnenuntergang zu fürchten.
Dann kam dieser letzte schreckliche Tag, der 18. Tag – ein Tag, an dem die Expedition bald in einer Katastrophe geendet hätte, was nur durch die Gnade und Güte Gottes abgewendet wurde!
Sie bestiegen den vierzehnten Gebirgszug und kamen ins Land der Kapauku. Das Gebiet war relativ eben, und ein Pfad wand sich durch Gärten, in denen Süßkartoffeln angebaut wurden. Manchmal
steckten die Männer bis zu den Hüften im Schlamm.
Gegen 15 Uhr führte der Pfad sie zum Flussufer, wo sie Kanus fanden, die offensichtlich von Vertretern der Kolonialverwaltung benutzt worden waren. Sie waren noch nicht weit gekommen, als sie erkannten, dass es Selbstmord war, auf dem Fluss weiterzufahren.
Ein Sturm auf dem Paniaisee verursachte hohen Wellengang und gefährliche Stromschnellen an der Stelle, wo der See ins schmale Flussbett des Oeta drängte. Sechs Stunden lang warteten sie in den Kanus, dass der Sturm sich beruhigte. Gegen 21 Uhr zitterten sie alle vor Kälte, und Russell hatte das Gefühl, dass er nicht mehr länger warten konnte. Sie ruderten gegen die Wellen an, und die körperliche Anstrengung half ihnen, die Kälte zu ertragen. Dankbaren Herzensjubelten sie, als der Fluss sich endlich in den See öffnete. Sie mussten den See noch teilweise überqueren, um Enarotali, den Regierungsposten, zu erreichen.
Am Ufer waren schwache Lichter zu erkennen. Als sie gerade anfingen, sich zu entspannen, stieß Russells Kanu gegen einen aus dem Wasser ragenden Felsen und kenterte. Alle Männer und Teile
der Ausrüstung fielen in den aufgewühlten, eiskalten See. Die durchdringenden Hilferufe der Träger weckten das Personal des Regierungspostens auf. Russell und die Träger kämpften gegen die Strömung an, und es gelang ihnen, das zweite Kanu zu erreichen. Verzweifelt schöpften sie das Wasser aus dem Kanu. Fackeln tauchten am Ufer auf, und hilfreiche Hände zogen das Kanu ans Ufer. Zwar waren sie vollkommen durchnässt, doch alle Männer und das meiste Gepäck waren gerettet worden.
Am 13. Januar 1939 um Mitternacht setzte Russell, ein einsamer Pioniermissionar, seinen Fuß auf das Land, wie damals Josua in der Bibel, um den einheimischen Stämmen im Innern Neuguineas das
Evangelium von Jesus Christus zu verkündigen. Bei Tagesanbruch schaute Russell aus der provisorischen Hütte des Regierungspostens. Er hatte sich noch nicht richtig erholt, doch er konnte es kaum erwarten, die Eingeborenen kennenzulernen. Dutzende brauner, sehr kleiner Menschen mit vollen Lippen und breiten Nasen drängten sich im Lager. Sie waren neugierig und wollten die Neuankömmlinge sehen. Ein ganz mutiger Mann bot Russell seinen gekrümmten Zeigefinger. Russell trat zurück und beobachtete, wie einer der Angestellten des Postens vortrat und den Finger des
Eingeborenen mit seinem ebenfalls gekrümmten Zeigefinger ergriff.
Beide Männer zogen ihre Hand nun fort, wobei sie einen scharfen Knall verursachten. Diese Zeremonie wurde mehrmals wiederholt je mehr und je lauter die Knalle, desto tiefer die Freundschaftsbande. Mutig trat nun auch Russell mit seinem neu gelernten Gruß vor und mischte sich unter die Stammesangehörigen. Ihr drahtiges Haar war mit einer Kruste aus Schmutz und Asche überzogen, und ihre kleinen Körper waren mit einer Mischung aus Schlamm und Schweinefett eingerieben, die die Poren verschloss und so die Kleidung ersetzte. Das einzige »Kleidungsstück«, das die Männer an ihrem Körper trugen, war ein Flaschenkürbis, der mit einer Schnur um die Lenden gebunden wurde und von einer anderen Schnur um den Hodensack festgehalten wurde.
Die kleinen Mädchen trugen Grasröcke, die Frauen kurze Röcke, die aus Bändern gefertigt waren. Von den Köpfen der Frauen und Mädchen hingen Netze, in denen sie bei Tag alles trugen, was nötig war, und die sie nachts sozusagen als steinzeitalterliche Thermounterwäsche um ihre kleinen Körper wickelten.
Schon im Kindesalter wurde bei Jungen und Mädchen die Nasenwand durchstochen. Man steckte einen Strohhalm hinein, bis die Wunde heilte, danach ersetzte ein kleines Schilfrohr den Strohhalm.
Von Zeit zu Zeit wurde das Schilfrohr gegen ein etwas größeres ausgetauscht, bis das Loch groß genug war, dass die Männer den Hauer eines Wildschweins oder ein Bambusstück und die Frauen einen an beiden Enden angespitzten Stock hineinstecken konnten. Auch die Ohrläppchen waren durchstochen – nicht für Ohrringe, sondern für einen Federkiel. Manchmal dienten die Löcher auch als Aufbewahrungsort für selbst gedrehte Zigaretten oder Bambuspfeifen.
Da sie keine Hosen und Hemden trugen, mussten sie einen anderen Weg finden, um verschiedene Dinge aufzubewahren! Ketten, die man aus Schneckengehäusen oder den Zähnen von Hunden und Ratten angefertigt hatte, wurden von beiden Geschlechtern getragen. Haarschmuck aus Federn zierten die kahl werdenden Köpfe der älteren Männer.
Die Hütten der Kapauku bestanden aus handgefertigten Holzlatten, die an einem Ende spitz zuliefen. Die Bäume wurden mit Steinäxten gefällt, die Stämme mit einem steinernen Krummbeil bearbeitet. Das Dach bestand aus Baumrinde, der Boden war die blanke Erde. Drei Steine bildeten die Feuerstelle. Die Familie schlief dicht gedrängt um das Feuer herum, zusammen mit den Schweinen, vor allem den Ferkeln. Starb eine Muttersau, wurden die Ferkel von den Frauen gesäugt.
Die Frauen bauten mehr als dreißig verschiedene Sorten Süßkartoffeln in dem Gebiet um den See herum an. Da sie kein Kochgeschirr besaßen, wurden die Kartoffeln manchmal draußen an der Feuerstelle mit heißen Steinen gedämpft, doch vorwiegend röstete man sie in der heißen Asche unter der Kohle auf der Feuerstelle im Innern der Hütte.
Schweine, Ratten, Langusten, Kaulquappen, Vögel, Raupen sowie Bienen- und Wespenlarven, Grashüpfer, Stinkwanzen und andere Insekten lieferten ihrem Speiseplan eine interessante Mischung zusätzlicher Proteine.
Muschelgeld diente den Kapauku als Zahlungsmittel. Russell stellte fest, dass man ein fettes Schwein für denselben Betrag bekommen konnte wie eine junge, kräftige Frau – mit einer Schnur von 40 bis 60 yo (die alten, dünnen Kaurimuscheln). Es war ein schwerer Schlag für meine weibliche Eitelkeit zu erfahren, dass ich bei diesem Stamm nicht wertvoller sein sollte als ein schmutziges fettes Schwein! Obwohl Russell einen Großteil seiner Zeit den Kapauku widmete, verbrachte er auch viele Stunden mit den freundlichen und sehr erfahrenen Angestellten des Regierungspostens. Auf diese Weise konnte er eine Liste mit Dingen zusammenstellen, die nötig waren, um eine Missionsstation hier an diesem Ort einzurichten.
Russell stand vor dem vollkommenen körperlichen Zusammenbruch. Er wusste nicht, wie er den gefährlichen und anstrengenden Rückmarsch zur Küste schaffen sollte. Doch da griff der Herr
ein: Während seines Aufenthalts bei verschiedenen Außenposten wurde ein Angestellter ernstlich krank. Der Gouverneur ließ ein Wasserflugzeug kommen, um den Mann fortbringen zu lassen.
Der Offizier von Enarotali bat um die Erlaubnis, dass entgegen den Gepflogenheiten Russell ihn begleiten dürfe. »Sehen Sie nur seine Füße an! Er wird es niemals bis Oeta schaffen!« Drei Stunden später landeten sie in Manokwari. Von dort buchte er eine Passage nach Ambon, wo Mr. Post zu ihm stieß. Zusammen fuhren sie nach Makassar weiter. Dieser Flug bewahrte Russell vor dem mörderischen Marsch zurück nach Oeta und sparte einen Monat Zeit.
Am Morgen, nachdem Russell uns die letzte Episode seiner Geschichte erzählt hatte, kam Dr. Jaffray in unser Schlafzimmer und sah, wie ich das abgefaulte Gewebe von Russells Füßen riss. Das Blut und der Eiter liefen mir die Arme hinunter. Eine Welle von Übelkeit ergriff Dr. Jaffray, und er drehte sich um und verließ wortlos das Zimmer. Er schloss sich in seinem Schlafzimmer ein, und als ich ihn mittags zum Essen rief, sagte er, er wolle nichts essen. Gegen 16 Uhr
kam er heraus und legte ein Manuskript vor mich hin.
Ich nahm es zur Hand und las das Vorwort für unsere Feldzeitschrift, The Pioneer (Der Pionier):
»An diesem Morgen schaute ich auf die blutenden Füße eines Missionars, sah seine Frau, die ihn versorgte, sah das Blut und den Eiter herausströmen, und ich dachte bei mir: Was für ein schrecklicher Anblick! Doch als ich das Zimmer verließ, sagte der Herr immer wieder zu mir: ›In meinen Augen sind es wunderschöne Füße!‹
Dann erinnerte ich mich an das Wort: ›Wie lieblich sind auf den Bergen die Füße dessen, der frohe Botschaft bringt, der Frieden verkündigt‹(6) – Frieden und Gutes den Männern und Frauen wie jenen in Neuguinea, die in Dunkelheit und im Schatten des Todes sitzen. Eines Tages wird alles vorüber sein. Eines Tages werden die müden, blutenden Füße der Missionare zum letzten Mal diese mit Tonscherben übersäten Berge überqueren. Eines Tages werden sie zum letzten Mal in eines jener neu entdeckten Täler hinabsteigen und die Frohe Botschaft der Erlösung durch Jesus Christus, unseren Herrn, verkündigen. Eines Tages wird sich dieser Letzte zu Jesus
bekehren. Dann werden sich die Wolken teilen, und unser Heiland wird erscheinen.«
Ehrfürchtig legte ich das Manuskript auf den Tisch und schaute mit meinen tränennassen Augen in Richtung Osten. Ich wusste, bald würde auch ich mich in die lange Reihe unerschrockener Missionare einreihen, die ins Unbekannte aufgebrochen waren, um Gottes Frohe Botschaft zu verkündigen. Von jenem Tag an musste ich immer, wenn ich Russells Füße verband, an diese Bibelstelle denken. Ich stellte mir vor, wie unser Herr auf seine Füße blickte und sagte: »In meinen Augen sind das wunderschöne Füße!« Diese Erfahrung steigerte meine Sehnsucht,
Russell beim nächsten Mal zu den Wisselseen zu begleiten. Ich war ungeduldig. Dr. Jaffray hatte in seinem Artikel den Blick auf den Tag gelenkt, an dem alles vorüber sein würde. Doch ich wollte gerade erst anfangen! »Wann, Herr, wann?«
Kapitel 2
Unser Schlafzimmer wurde unser »Büro«, von wo aus alles, was zum Aufbau einer Missionsstation in Neuguinea gehörte, geplant und durchgesprochen wurde – das Problem der Träger, des Transports, der Vorräte und der Unterbringung. Russell konnte noch immer
nicht aufstehen. Eines Morgens kam Dr. Jaffray zu uns und verkündete: »Rus
(3) A.d.H.: Heute Jakarta, die Hauptstadt Indonesiens.(4) A.d.H.: Svw. »Sie können feilschen! Sie können feilschen!« (5) A.d.H.: Heute meist als »Uta« bezeichnet. Damit ist sowohl der entsprechende Fluss als auch der gleichnamige Küstenort an dessen Mündung gemeint. (6) A.d.H.: Vgl. Jesaja 52,7.