Denn die Liebe hört niemals auf, Heinz-Lothar Worm

03/05/2024
von Christ-und-Buch Günter Arhelger

HELMA ESSELBORN

Urgroßtantens Raritätenschrank
Der Raritätenschrank
„Ruhig, die Urgroßtante zankt sonst!" Das war der Zauberspruch meiner Mutter, wenn sie mich still halten wollte und das nimmermüde Plappermäulchen auf Minuten wenigstens aufhören sollte, alle möglichen und unmöglichen Fragen zu stellen. Urgroßtante Luise wohnte bei uns im Hinterstübchen. Mit sicherem Gefühl empfanden wir Kinder, dass sie uns nicht leiden konnte; denn sie war jedem kindlichen Spiel abhold und mäkelte griesgrämig an uns herum.
Gleichwohl hatte Großtantens Persönlichkeit eine gewisse Anziehungskraft für mich; hauptsächlich deshalb, weil sie so ganz anders war als andere Leute. Unbewusst zog mich das Originelle ihrer ganzen Persönlichkeit mehr an, als sich das weiche Kindergemüt von der rauen Schale abgestoßen fühlte.
Schon ihr Gesicht hatte etwas männlich Herbes. Eine kurze Hakennase, zwei stahlblaue Augen, ein zahnloser großer Mund machten es nicht gerade sehr anziehend. Zwei schneeweiße Locken waren kunstvoll über die Ohren gelegt und pendelten bald leise, bald heftiger, hin und her, je nach der Gemütsbewegung, worin sich ihre Besitzerin befand. Die Gestalt war groß und stark. Die Last der Jahre hatte die Haltung etwas gebeugt. Die Beine wollten nicht mehr so recht ihren Dienst tun, und der Krückstock gab

der ganzen Erscheinung etwas Schwerfälliges. Das waren aber auch die einzigen Gebrechen, worüber „Tante Luise"—so wurde sie allgemein genannt - mit ihren einundachtzig Jahren zu klagen hatte. Sonst war sie kerngesund.



Wenn sie gut gelaunt war, so erzählte sie gern aus vergangenen Tagen. Sie wusste noch, was die Eile Kattun vor fünfzig Jahren gekostet hatte, und die Jungen mussten oft das gute Gedächtnis der Alten bewundern. Ihre Stube betraten wir Kinder stets mit gemischten Gefühlen: Neugierde, Angst und eine gewisse Bewunderung hielten sich die Waagschale. Liebe haben wir ihr eigentlich nicht entgegengebracht, die hatte sie sich zu oft selbst verscherzt durch ihr leicht keifendes, mürrisches Wesen, das einer gewissen Eifersucht entsprungen sein mochte.
Sie hätte gern in dem Leben meiner Mutter, die sie mit großgezogen hatte und abgöttisch liebte und verehrte, die Hauptrolle gespielt, und das machten wir Kinder ihr
unmöglich. Auch meiner Mutter hat sie diese Anhänglichkeit nie gezeigt. Im Haus übte sie an uns allen unbarmherzig Kritik, kam aber jemand Fremdes und erlaubte sich ein abfälliges Urteil, dann sah sie uns mit einem Male mit ganz anderen Augen an. Dann waren wir die aufgewecktesten, artigsten, fleißigsten Kinder der Welt und unsere Mutter die beste und bedeutendste Frau, die überhaupt auf Erden wandelte. Diese Widersprüche konnten wir Kinder nicht rund bfingen, und deshalb standen wir innerlich der alten Tante fremd gegenüber.
Zum Mittags- und Abendtisch kam sie täglich zu uns. Ihren Kaffs dagegen kochte sie sich selbst in ihrem Zimmer auf einem Spiritusflämmchen und bestrich ihre Brötchen mit selbst eingekochtem Gelee, da ihr der unsrige, nach dem selben Rezept bereitete, nicht gut genug war. Das wurde auch jede Woche ein paarmal besonders betont und von meiner Mutter stets nur mit nachsichtigem Lächeln quittiert. Kam es einmal vor, dass meine Mutter nachmittags ausgegangen war und vergessen hatte, uns unsre Brote, mit Mus oder Butter bestrichen, bereitzulegen, dann zogen wir brüllend zur Urgroßtante und klagten ihr unser Leid. Sie war dann ganz entrüstet über diese Unpünktlichkeit einer Mutter, die die armen „Bälge" hungern ließ, und holte triumphierend ein Glas ihres extrafeinen Eingemachten. Wir feierten dann bei ihr eine Orgie in Geleebroten erster Güte.
Ihr Wohnzimmer, das sie mit einem grauen Kater und einem Kanarienvogel teilte, war urgemütlich eingerichtet. Über dem großen, breiten, mit grünem Rips bezogenen Sofa hingen einige Silhouetten, umkränzt von Efeu, der in zwei links und rechts auf Konsolen stehenden Töpfen gepflanzt war. Eine wundervolle alte eingelegte Kommode, ein kleiner Nähtisch, davor ein bequemer aus Rohr geflochtener Sorgenstuhl, ein gemütlicher runder Tisch, woran man in unglaublicher Anzahl sitzen konnte - das alles bildete ein harmonisches Ganzes und passte zu der Erscheinung, die dazwischen hauste. Der Glanzpunkt war jedoch der Glasschrank in der Ecke. Bekrönt von einer alten Standuhr und zwei großen Chinesinnen aus Porzellan, war er eine Fundgrube für die Kinderphantasie, wie man sie besser nicht finden konnte.
Um dieses Glasschranks willen gingen wir alle gern zur alten Tante, und wenn sie wollte, so konnte sie prachtvolle Geschichten über die dort verwahrten Schätze erzählen; denn jedes Ding darin hatte seine Geschichte. Wir wollen einmal sehen, ob die Tante heute gut gelaunt ist.


„Tante Luise, wie war doch die Geschichte von der alten Standuhr?”
Die alte Standuhr
Liebevoll blickt die Urgroßtante zu der alten Pendule empor, die auf vier zierlichen Alabastersäulchen auf dem alten Glasschrank steht und ihr trauliches eintöniges Ticktack gar heimlich durch die Stube tönen lässt.
‚ja, die Urgroßmutter, so nannten wir zu Hause scherzhaft die Uhr, die hat schon viel gesehen. Sie hing schon in meinem Elternhaus und hat dort Freud und Leid miterlebt", so erzählt uns die heute gut aufgelegte Tante Luise. „Aber eine Merkwürdigkeit hatte die Uhr damals schon wie heute: Im Herbst beginnt ihr Schlagen immer heiserer und leiser zu werden, bis es im Winter gar nicht mehr hörbar ist; und wenn das Frühjahr kommt, dann beginnt die Urgroßmutter wieder lauter und kräftiger die abgelaufenen Stunden zu verkünden. Wir haben oft über sie gelacht, aber einmal, da haben wir nicht gelacht, da war die Sache bitter ernst, und die Urgroßmutter war es, die meinem Vater das Leben gerettet hat."
„Erzähle, Tante Luise, erzähle! Ja, das musst du uns erzählen!", so schrien wir alle durcheinander.
Es war dämmerig geworden. Nur im gemütlichen Kachelofen glühten noch ein paar Scheite, und das schön geschliffene Pendel der Urgroßmutter warf seinen Widerschein zurück, wenn es ticktack, ticktack langsam hin- und herging. Die Ofenglut beleuchtete der Tante strenges Gesicht und milderte die Züge, so dass sie fast weich wurden.
Oder war es der Schein der Erinnerung, der sie so glücklich veränderte? Sie setzte sich in ihren bequemen Lehnstuhl zurecht, band die Haubenhänder fester - das war immer ein Zeichen, dass sie sich nicht vergeblich bitten ließ - und begann.
‚ja, das mag kurios klingen, aber es ist so: Ohne unsre alte Standuhr daheim wäre euer Urgroßvater nicht alt geworden, sondern in jungen Jahren von einem Malefiz-buben umgebracht worden. Es war im Jahre 1848. Da wollten die Leute Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit haben, gerade wie in dem sauberen Frankreich drüben. In der Schule habt ihr doch von der Französischen Revolution gehört? Na, die hatte in Deutschland die Leute ein bisschen angesteckt, und unsre Bauern hatten die Köpfe voll Ideen: Es sollte keine reichen und keine armen Leute mehr geben, sondern alle Güter sollten gleichmäßig verteilt werden und die Reichen den Armen alles abgeben. Das wäre ja auch ganz schön, wenn's nur immer so bliebe. Da aber der eine doch schneller als der andre sein Geld ausgibt, auch nicht alle gleich sparsam sind, so müsste man nach ein paar Wochen schon wieder teilen, gerade wie wenn eins von euch, das sein Stück Kuchen langsamer isst als das andre, den Rest mit dem teilen müsste, der das seinige auf einen Satz verschlungen hatte. Aber daran dachten die unzufriedenen Leute nicht; sie wollten vor allen Dingen Geld haben, das Recht besitzen, alles zu tun, was ihnen genehm war. 

Und deshalb hegten sie auch Groll gegen alle Beamten, die ihnen seither so manches verboten hatten.
Da war nun mein Vater, der Revierförster, am schlimmsten daran. Denn vor allem wollten sie in dem Wald jagen und Holz holen dürfen, kurz alles tun, was ihnen seither überaus geschmackvolles Stück, und der, der es geschenkt hatte, musste ein Mann von auserlesenem Geschmack gewesen sein.
„Denn ein Er war es doch, gelt Tante?" Damit brachten wir die schon schmunzelnde Alte zum Reden. Die Geschichte erzählte sie gern, die war ja aus der eigenen Jugend, da sie achtzehn Jahre alt war ... Und von dieser Zeit erzählen alle Frauen gern.
Ja damals, da hing einem der Himmel noch voller Bassgeigen! Die sind einstweilen heruntergekommen und haben gebrummt, tüchtig gebrummt. Aber das glaubt man nicht, wenn man jung ist und tüchtig anzuschauen, so wie wir beide waren, die Base Lina und ich.
An jenem Morgen, da wir mit der Postkutsche nach Gießen zur Tante Christine fahren sollten, da war uns der Himmel blauer als blau. Und wer uns gesagt hätte, dass er einmal anders sein könnte, den hätten wir hell ausgelacht. 

Wir sahen aber auch niedlich aus in unsern braunen Baregekleidern mit den grasgrünen Mänteln und rosa Seidenkapuzen, ganz wie Schwestern, eine wie die andere. So hatten wir es uns gewünscht. Linas Mutter war es gewesen, die die Herrlichkeiten besorgt hatte für ganze vierzig Gulden.
„Eine teure Ausstaffierung", brummte zwar mein guter Vater darüber, aber es war auch für die Reise nach der Stadt, und seine Schwester hatte geschrieben, dass sie mit den Nichten Staat machen wolle. Da musste schon ein Übriges geschehen.
Es war noch früh im Jahr, ein frischer Morgen, als wir erwartungsvoll vorm Löwen standen und auf die Post warteten. Vater war mit uns gegangen, ebenso die Magd, beladen mit den fein gestickten Reisetaschen, die sich nur dadurch voneinander unterschieden, dass die meine eine Miezekatze, die der Base Lina aber einen Dackel im Dessin hatte. Außerdem noch Hutschachteln, Fußsäcke und Umschlagtücher; denn es war kalt in der Postkutsche, und unsre vorsorglichen Mütter hatten Angst, wir würden uns erkälten.
Endlich tönt das Posthorn, der alte Kasten humpelt langsam heran. In den melodischsten Misstönen bläst der Schwager das Lied von dem ungetreuen Müller und dem zersprungenen Ringlein.
„Das ist ein schlechtes Omen, Fräulein", meinte die alte Babette, die trotz ihrer Schwerhörigkeit das Lied erkannt hatte. „Aber wie rührend, wie schön er das bläst, gerade wie mein Sel'ger." Sie hatte einen Postillion als Liebsten gehabt; er war ihr irgendwie abhanden gekommen. Sie bildete sich aber im Laufe der Jahre ein, er sei gestorben, und sprach von ihm als von ihrem Sel'gen.
Inzwischen waren die Postsachen abgegeben worden. Der Schwager hatte sich mit einem Schnäpslein gestärkt. Vater, der leutselig ein paar Worte mit ihm gewechselt hatte, empfahl uns noch besondere Vorsicht. Die mannigfachen Gepäckstücke wurden verstaut, zuletzt wir beide noch, von der Babette selber mit Tüchern und Fußsäcken vollständig zu Mumien eingewickelt. Ein letztes Winken, und holterdipolter setzte sich die Kutsche in Bewegung Fort ging's ins Leben hinaus, zum ersten Mal los von Mutters Schürzenbändel. Zwei Kiek-in-die-Welt, die sich unbändig wichtig vorkamen - und im Grund genommen doch das Herzklopfen hatten vor allem, was da kommen sollte.


Als die Postkutsche langsam ins nächste Dorf hinein-rumpelte, da zog schon vor den ersten Häusern eine umgestürzte Reisekalesche unsre Aufmerksamkeit auf sich. Das eine Rad schien gebrochen, und die herrliche Extrapost lag halb im Graben, halb auf der Chaussee und wartete geduldig, dass man ihr aufhülfe. Das schien aber nicht so einfach, denn sie war mutterseelenallein. Sowohl Fahrgäste wie auch Postillion und Pferde hatten sich davongemacht.
Mit Hörnerklang fuhren wir beim Gasthaus »Zum Rappen" vor, und siehe, da fand sich alles, was zu der verunglückten Kalesche gehörte: Zwei Gäule taten sich gütlich am vorgebundenen Hafersack. Ein Postillion saß schimpfend, aber trotzdem gemütlich kauend vor der Haustür. Soweit schien sich alles ins Unabänderliche gefunden zu haben und mit einem längeren Aufenthalt im „Rappen" ganz zufrieden zu sein.
Da wurde mit Heftigkeit die Tür des Gasthofs aufgerissen, und heraus stürzte ein junger Mann, der beim Anblick unserer Kutsche in den hellsten Freudenjubel ausbrach. Er beschwor in einem Atemzug unseren Postillion, ihn doch ja mitzunehmen, und im nächsten die beiden jungen Damen mit tausend Komplimenten, die Hand aufs Herz gedrückt, die Störung zu exküsieren.
»Aber Sie werden verstehen, ich bin Auteur des neuen Stückes, man spielt es heute Abend, ich will zugegen sein, man wird Beifall klatschen, und nun dieses Unglück! Ich müsste hier warten, eine, zwei, viele Stunden, wenn die verehrten-Damen nicht Erbarmen haben und mich mitnehmen."
Nun, wir ließen uns erweichen, und zwar nicht ungern. Lina seufzte sogar: »Wie interessant, er schreibt sicher auch Gedichte. Ob ich ihm mein Stammbuch gebe?" Aber ich verwies ihr das. Lina war immer ein bisschen leicht und

schnell begeistert. Solch wildfremden Menschen gegenüber hieß es Haltung bewahren, aber interessant fand ich ihn auch.
Sein Äußeres war sehr honett, obgleich die Kleidung durch das Malheur mit der Kutsche ein bisschen ramponiert war. Der feine graue Kragenmantel wies Spuren der Straße auf, und auch der weiche Kalabreserhut, der ihm einen etwas künstlerischen Anstrich gab, schien die Bekanntschaft des gewöhnlichen Erdenstaubes gemacht zu haben.
Das Gesicht war wohl gebildet; zwei feurige dunkle Augen, brünettes Haar und eine fahle Gesichtsfarbe gaben ihm einen etwas fremdländischen Ausdruck. Man hätte ihn für einen Italiener oder Spanier halten können. Um so enttäuschter waren wir, als er sich mit „Bastian Meyer aus Kinzig" vorstellte. „Schnitt und Kurzwaren, erstes Geschäft am Orte, aber die Seele lebt nur der Kunst, meine Damen, nur der Kunst."
Bastian Meyer stieg also zu uns ein Lina und ich, obwohl schon etwas abgekühlt durch das Schnitt- und Kurz-warengeschäft, waren doch voll hochgespannter Erwartung, was die Reise zu dreien jetzt bringen werde. Lina, das kokette Ding, fing natürlich sofort an, sich des hässlichen großen Umschlagtuches zu entledigen, damit ihr neuer grüner Damastmantel und die rote Haube besser zur Geltung kämen. Sie behauptete, es sei ihr zu heiß. Auch der Fußsack musste abgestreift werden, damit man die neuen Saffian-stiefel nur ja sähe, die ihr solch kleinen Fuß machten, dass meine Füße wie Elefantenpratzen daneben aussahen.

Der, dem diese Manöver galten, schien aber gar keine Notiz davon zu nehmen. Nachdem er sich hereinkompli-mentiert hatte und endlich uns gegenübersaß, kramte er in seinen Taschen eifrig nach irgendetwas, was er sehr nötig zu haben schien, denn sein Gesicht wurde zusehends enttäuschter, röter und erregter.
Er untersucht die rechte Tasche, dann die linke; er greift in die innere Manteltasche, kurz, er untersucht alle nur denkbaren Behälter im Mantel, Jackett und Hose, dreht und wendet sich und die Taschen und befördert alles Mög-licke und Unmögliche zu Tag, nur allem Anschein nach nicht das, was er sucht. Da, bei einer erneuten, fast spiralförmigen Drehung des Oberkörpers ein Krach, und schreckensbleich mit dem schmerzlichen Ausruf:,, Auch das noch!" sinkt Bastian Meyer ganz erschöpft auf die fadenscheinigen Polster der Postkutsche zurück. Die dicken Schweißtropfen geben Zeugnis von der gehabten Anstrengung und Alteration. Er wischt sich die Stirn und starrt ganz erschöpft in eine Ecke, bis er plötzlich unseren erstaunten Gesichtern begegnet, die das unterdrückte Lachen jedenfalls nicht gerade geistreich erscheinen lässt.
Da endlich scheint er zu sich zu kommen, und mit verzweiflungsvoller Geste ruft er klagend: „Meine Damen, mein Manuskript, mein Prolog - er ist weg, er ist verschwunden! Ich hatte ihn übernommen, ich bin der schmeichelhaften Aufforderung des Gesangvereins „Hu-manitas" gefolgt und habe ein Stück verfasst, ein Stück, meine Damen, es hat mich einen Teil meiner Seele gekostet. Sie finden darin die Gefühlsskala eines Künstlers, der verurteilt ist, in der Prosa des Lebens zu stehen und .
Hier stockte er.


»Kurz- und Schnittwaren", warf ich trocken dazwischen, wofür mich ein strafender Blick traf. Ach, Sie - verstehen mich!" Damit wendete er sich zu Lina, die ihn mit ihren blauen Vergissmeinnicht-Augen anhimmelte, dass es nicht mehr schön war.
„Ich bin unglücklich, unglücklich. Den Musen habe ich meine innerste Seele geweiht, aber anstatt Apollos Leier zu rühren, bin ich dazu verurteilt, zeitlebens die verdammte Elle zu schwingen. Und jetzt dieses Unglück!" Hastig fuhr er mit beiden Händen in die Taschen: „Ich habe es übernommen, den Prolog zu sprechen, und nun ... Wo ist er, wo? Er muss mir bei dem Unfall abhanden gekommen sein, vielleicht liegt er gar im Schmutz der Straße. Ich bin verzweifelt, einfach verzweifelt."
Bei diesen Worten hopste er auf den Polstern hin und her, als sei es mit Nadeln gespickt. Plötzlich ein verdächtiges Krachen, und ein ganz gemeiner beinerner Hosenknopf lag poesielos vor unseren Füßen. Allgemeines Schweigen. Starr vor Entsetzen stierte unser Gegenüber vor sich hin. Sein Gesicht wurde bald purpurrot, bald leichenblass. Wir hatten Mühe, nicht vor Lachen loszuprusten, was denn auch in dem Augenblick nicht mehr zu halten war, da er, hilflos und verlegen uns ansehend, die geistreiche Feststellung machte: „Meine Damen, es ist nur ein Hornknopf!"
Die verzweiflungsvolle Ratlosigkeit unseres Mitreisenden kam ihm aber erst zum vollen Bewusstsein, als er nach ängstlichem Tasten bemerkte, dass sich bei dem ersten Krach wohl schon der Zwillingsbruder des Hornknopfs empfohlen hatte, dem jetzt der letzte Stützpfeiler gefolgt war.

Bastian Meyer, der Musensohn, konnte sich trotz Kurz-und Schnittwaren auf die Dauerhaftigkeit seiner Beinbekleidung nicht mehr verlassen. Ohne Prolog, ohne Hosenknöpfe, was nun? Es war eine höchst peinliche aber zugleich verteufelt komische Lage, wir bissen in unsere Taschentücher, während das Opfer sich drehte und wendete und nicht aus noch ein wusste.
Er tat mir Leid. Ohne mir dabei etwas zu denken, holte ich aus meiner Handtasche Nadel und Faden und sagte, indem ich mich zu der Arbeit anschickte, ganz ruhig: „Wir nähen die Knöpfe wieder an." Lina sah mich an, als ob ich verrückt geworden wäre. Bastian Meyer aber warf mir einen Blick zu wie ein großer treuer Hund, der erst Schläge und dann einen Wurstzipfel bekommen hat.
Aber die Schwierigkeit begann jetzt erst. Zunächst galt es, den langen Taillenrock vorsichtig auszuziehen. Lina lüpfte dann das Jackett sorgsam und diskret, und nun konnte ich energisch darangehen, die beiden Ausreißer wieder dingfest zu machen. Es war allerdings ein sonderbares Beginnen!
Wenn uns meine gute Mutter dabei gesehen hätte, ein Unwetter des Zorns hätte sich über uns nichtsnutzige Mädchen ergossen, die so ohne weiteres in der Postkutsche fremden Mannsbildern Hosenknöpfe annähten. So etwas schickte sich durchaus nicht! Wir sollten überhaupt nicht wissen, dass es Knöpfe an andern Hosen als denen des gestrengen Herrn Vaters gab.
Als nach einer Weile das Werk vollbracht war und die Knöpfe saßen, war Bastian Meyer glücklich, rein glücklich.
Dass ein Mensch so leicht zu beglücken ist, hätte ich nie gedacht. Er küsste mir galant die Hand, aber der Lina mach-
te er dabei schmachtende Augen, obgleich sie ihn doch ausgelacht hatte und er bis zum jüngsten Tag in der Postkutsche hätte sitzen bleiben können, wenn er hätte warten wollen, bis sie ihm die Knöpfe angenäht hätte; denn aufzustehen war ihm doch schlechterdings unmöglich.
Es war aber höchste Zeit, denn eben fuhren wir in Gießen ein, und unser Postillion blies gefühlvoll „Nach Sevilla, nach Sevilla". Tante Christine nahm uns gleich bei dem Posthaus in Empfang, so dass der Abschied von Bastian Meyer kurz und schmerzlos verlief. Nachdem er uns noch feierlich beschworen hatte, doch ja am Abend der Aufführung seines Musenkindes beizuwohnen.
Dazu kam es aber nicht. Tante Christine machte einen Strich durch die Rechnung; denn sie hielt den Gesangverein Humanitas nicht für standesgemäß. Wie erstaunte sie aber, als jede von uns am folgenden Sonntag ein kleines Paket erhielt und der Inhalt sich als ein Nähkästchen entpuppte, so elegant und fein, wie man es damals selten zu sehen bekam. Die beigelegten Gedichte ließen wir beide wohlweislich verschwinden; denn die darin angesprochene Dankbarkeit, die von „Rosen" und „Hosen", von „Kopf" und „Knopf" durchsetzt war, hätte ja zu mancherlei unbequemen Fragen Veranlassung gegeben. Tante Christine war so schon entsetzt. „Bastian Meyer, Kurz- und Schnittwaren" - das war keine Partie für ihre Nichten.


Die alte Kaffeekanne
Heute ist Geburtstagsfest bei Tante Luise. Ein großer Tag, einundachtzig Jahre, das ist kein Pappenstiel. Staunend blicken die Kinder auf diese Zahl, und Karlchen meint: „Einundachtzig Lichter, das geht nicht, das ist ja wie hundert Weihnachtsbäume auf einmal."
Nein, einundachtzig Lichter waren nicht angesteckt. Aber der runde gemütliche Tisch war schon festlich...


ISBN: 9783765541469
Format: 18,5 x 12 cm
Seiten: 270
Verlag: Brunnen
Erschienen: 2011
Einband: Paperback