Der musikalische Müller Dr. E. Dönges

02/12/2023
von Christ-und-Buch Günter Arhelger

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Eine folgenreiche Begegnung
von Dr. Emil Dönges

1. Das Lied vom Bach
»Es wohnte einst im Wiesengrund 
ein Müller, froh, frisch und gesund, 
der sang von morgens früh bis spat, 
und lustig ging sein Mühlenrad; 
er sang: Willst du, so tausch mit mir, 
ich aber tausche nicht mit dir.«

»Es wohnte einst im Wiesengrund ein Müller, froh, frisch und gesund, der sang von morgens früh bis spat, und lustig ging sein Mühlenrad; er sang: Willst du, so tausch mit mir, ich aber tausche nicht mit dir.«
So lautete das fröhliche Lied des Müllers David Holzinger in der Aumühle*). Er stand auf der hohen Plattform mit weiß gestrichener Brüstung vor der Eingangstür zum Getreidespeicher. Behaglich schaute er, während er mit schöner, voller Stimme das Lied weithin ertönen ließ, in die reich gesegnete, liebliche Landschaft hinaus. Ganz still war es ringsum; nur das eintönige Rauschen des Mühlbachs begleitete die klare Tenorstimme des Müllers, und das Klappern der Räder erschien nicht störend, sondern eher angenehm, als treue Beifallsbezeugung zum Loblied des dankbaren Müllers. 

Ein ausgezeichneter Sänger war David Holzinger und verstand es auch vortrefflich, ein Instrument zu spielen, so daß er seinem großen Namensbruder, dem König David, »dem Lieblichen in den Gesängen Israels«, alle Ehre machte Die Harfe spielte er zwar nicht, aber das Waldhorn konnte er blasen wie ein Meister. Wenn er so recht im Zuge war, spielte er so gut, daß die Bauern auf den benachbarten Feldern ihren müden Rücken aufrichteten, sich auf ihre Haue stützten und den schönen Melodien, wie »Des Sommers letzte Rose«, »Im schönsten Wiesengrunde« und anderen Volksliedern, andächtig lauschten. Aber heute ist es zu heiß, um zu blasen. Das Waldhorn ruht sorgsam eingepackt in einem samtbeschlagenen Mahagonikasten drinnen in der guten Stube. David muß sich damit begnügen, sein Lieblingslied vom »Müller am Bach« allein weiter zu singen: -

»Doch eines Tags der König kam. Als er des Müllers Lied vernahm, Sprach er: »Herr Müller, jeder Zeit Wär' ich zu einem Tausch bereit; Mit Sorgen ist mein Herz beschwert, Doch dich man immer singen hört.«

»Doch eines Tags der König kam. 
Als er des Müllers Lied vernahm, 
Sprach er: »Herr Müller, jeder Zeit 
Wär' ich zu einem Tausch bereit; 
Mit Sorgen ist mein Herz beschwert, 
Doch dich man immer singen hört.«

»Mein froh' Gemüt«, der Müller sprach,
»Verdank' ich diesem Wiesenbach; 
Er treibt mein Rad jahraus, jahrein, 
Nährt mich, mein Weib, die Kinder klein; 
Hab' schuldenfrei nun all mein Sach', 
Drum klingt mein Lied und dankt dem Bach.«

2 Der unerwartete Besuch und neue Lieder
»Das ist aber einmal nett von dem Bach, Herr Müllermei-ster, daß er so ganz von selbst die Räder treibt, ohne daß es ihm jemand sagt«, ertönte es da plötzlich neben ihm David wandte sich um, um den Sprecher zu sehen, und erkannte einen schlichten, freundlich blickenden Mann, der eben den Weg zur Plattform heraufnahm. Ein heiteres Lächeln umspielte seine Züge, und in seinen Augen lag ein sonderbarer Glanz, so daß der musikalische Müller sich sofort zu ihm hingezogen fühlte. Einen Rucksack trug der Fremde auf dem Rücken, und einen festen Knotenstock hatte er in seiner Hand.

»So, so, Ihr dankt dem Wasser, daß es so freundlich ist und den weiten Weg zu Euch her macht, um Euer Rad zu treiben?« - »Ja, das tu ich!« erwiderte der Müller verärgert, »ich danke meinem Bach für alles Gute, das ich durch ihn bekomme. Ich bin keiner von der undankbaren Sorte von Menschen, die immer klagen; nein, Gott sei Dank!« - »Jetzt haben wir's!« rief der Fremde und legte seine Tasche ab; »jetzt haben wir's, es heißt: »Gott sei Dank!« »Mögen die Menschen den Herrn preisen wegen Seiner Güte und wegen Seiner Wundertaten an den Menschenkindern« (Ps. 107, 8). 

»Ich bin nämlich auch ein großer Freund des Singens«, fuhr der Fremde fort, und die herrliche Landschaft betrachtend mit den obstbestandenen Abhängen, den wogenden Kornfeldern und dem Flüßchen dazwischen, rief er aus: »Wirklich, da kann man gut singen, wenn man alles sein eigen nennt. Wer wollte nicht loben?« Dabei hob er auch schon an, mit klarer, voller, sicherer Stimme, die von Herzen kam und zu Herzen ging, zu singen
»Die Bäume stehen voller Laub, Das Erdreich decket seinen Staub Mit einem grünen Kleide;
Narzissen und die Tulipan, Die ziehen sich viel schöner an als Salomonis Seide.

Die Bächlein rauschen in dem Sand Und malen sich an ihrem Rand Mit schattenreichen Myrten; Die Wiesen liegen hart dabei
Und klingen ganz vom Lustgeschrei Der Schaf' und ihrer Hirten.
Der Weizen wächset mit Gewalt; Darüber jauchzet jung und alt Und rühmt die große Güte Des, der so überflüssig labt Und mit so manchem Gut begabt
Das menschliche Gemüte.
Ich selber kann und mag nicht ruhn;
Des großen Gottes großes Tun Erweckt mir alle Sinnen. Ich singe mit, wenn alles singt; Ich lasse, was dem Höchsten klingt, Aus meinem Herzen rinnen.«
»Seht, Müller! Das gefiel mir, als Ihr sagtet: 'Gott sei Dank!' Nur Einem ist zu danken: Gott. «
»Wer Ihr auch sein mögt, das muß ich sagen: Ihr habt eine ganz famose Stimme. Ihr gehört wohl einem Gesangverein an. Das Lied ist schwer zu singen.«

»Ganz recht, Herr Holzinger! Nebenbei gesagt, ist mein Name Christoph. Ja, ich hab' immer gern gesungen und manches Lied mit der Zeit gelernt. Einem Gesangverein, wie Ihr meint, gehöre ich gerade nicht an. So recht von Herzen lernte ich erst singen, als ich eines Tages hörte, daß Einer vom Himmel gekommen sei, um für arme Sünder wie mich zu sterben.

Am Schluß einer Predigt, die ich eines Sonntags hörte, sangen einige Leute von der Liebe Jesu und von dem sellgmachenden Glauben an Ihn. Ach! dachte ich, wenn diese Liebe so glücklich macht, will ich auch an Ihn glauben. Aber es war nicht so, daß ich gleich singen konnte. Ich fand keine Worte, und es war mir, wie wenn mir mein Herz brechen wollte. 

Es überkam mich nämlich solch ein Schmerz und eine Trauer, daß ich den Heiland mit meinen Sünden ans Kreuz und in den Tod gebracht hatte, daß ich wohl weinen, aber nicht singen konnte. Aber als ich an die Liebe dachte, die der Heiland für mich am Kreuz bewies, und was Er für mich erworben hat, die ewige Seligkeit, da überkam mich plötzlich ein solches Gefühl von Glück, daß ich nicht mehr an mich halten konnte. Ich sang und sang und sing' es heute noch:
Unergründlich für und für Bleibet Deine Liebe mir!
Seit diesem Tag hab ich allerdings meine Stimme im Verein mit andern im Singen und Danken geschult!«
»Laßt mich noch ein Lied hören«, sagte der Müller, der die Worte seines Besuchers nicht ganz erfaßt hatte. »Von Herzen gern«, entgegnete dieser und sang:

»Ich singe Dir mit Herz und Mund, 
Herr, meines Lebens Lust;
Ich sing' und mach' auf Erden kund,
Was mir von Dir bewußt.

Ich weiß, daß Du der Brunn der Gnad' 
Und ew'gen Quelle seist.
Daraus uns allen früh und spät
Viel Heil und Gutes fleußt.

Was sind wir doch, was haben wir
Auf dieser ganzen Erd',
Das uns, o Vater, nicht von Dir
Allein gegeben werd'?

Wohlauf, mein Herze, sing und spring 
Und habe guten Mut!
Dein Gott, der Ursprung aller Ding',
Ist selbst und bleibt dein Gut.

Er hat noch niemals was versehn 
In Seinem Regiment;
Nein, was Er tut und läßt geschehn, 
Das nimmt ein gutes End'.«

»Gott sei Dank«, rief er, als er das Lied beendet hatte, »das nimmt ein gutes End'. Ihr und ich können nicht auf dem Rhein und auf Eurem Mühlbach in den Himmel schwimmen, aber durch die Liebe Gottes, durch das Verdienst unseres Heilandes können wir auf dem ganzen Weg bis dorthin danken und singen. Was meint Ihr, Müller, geht's Euch nicht auch so?«
Unterdessen hatte Christoph seinen Rucksack geöffnet und kniete daneben. Er zeigte dem Müller zunächst mehrere Bibeln und Testamente. Und als der Müller nicht danach verlangte, zeigte er ihm auch unter andern ein hübsch gebundenes Buch mit schönen Bildern. »Dieses Buch, Müller, wird Euch interessieren. Hört mal zu, was ich Euch davon vorlesen will: '

Als ich durch die Wüste dieser Welt wandelte, kam ich an einen Ort, wo eine Höhle war; ich legte mich daselbst zum Schlafen nieder und hatte nun, als ich schlief, einen Traum. Ich sah an einem Ort einen Mann in einem schmutzigen zerrissenen Kleid, sein Gesicht vom eigenen Haus abgewandt, mit einem Buch in der Hand und einer großen Last auf seinen Schultern.' So geht's weiter; und Ihr erfahrt alles, was mit dem Mann weiter passiert. Teufeln und Riesen begegnet er, er betritt Burgen und Schlösser, bis er endlich, anstatt seiner zerrissenen Kleider, ein königliches Gewand erhält, und an Stelle des Reisebündels eine Krone von Gold Das könnt Ihr hier alles selbst lesen Es kostet nur eine Mark. 

Kauft das Buch doch für Eure Frau. Ich hab' zwar noch mehr in meiner Tasche; darf ich Euch noch etwas zeigen?« - »Ich glaube, es ist besser, wenn Ihr ins Haus hereinkommt«, sagte David. »Marie, meine Frau, wird auch gern die Bücher ansehen; und Ihr seid sicher dankbar für einen Schluck Milch nach dem anstrengenden Marsch auf der heißen Landstraße.« -

»Das würde ich allerdings mit Dank annehmen«, sagte Christoph erfreut, »ich fühle mich schon etwas durstig und müde«, und seinen Büchersack aufnehmend, stieg er dem Müller nach die Treppe hinunter, die in das Reich der geschäftigen Hausfrau führte. Der Bibelbote freute sich über die Aussicht, bald einen labenden Trunk zu erhalten, aber noch mehr freute ihn der Gedanke, daß sich nun Gelegenheit bat, den Müllersleuten mehr von dem kostbaren Namen Jesus und Seinem Heil und Frieden zu sagen. Unwillkürlich kam ihm, dem Sangeslusti-gen, das Lied auf die Lippen:

»Wenn Friede mit Gott meine Seele durchdringt, Ob Stürme auch drohen von fern;
Mein Herze im Glauben doch allezeit singt: Mir ist wohl, mir ist wohl in dem Herrn.«

Mächtig drangen diese mit lnbrünst gesungenen Worte in das Ohr und Herz des Müllers und lenkten seine Gedanken auf Dinge hin, an die er schon lange nicht mehr gedacht hatte.
David Holzinger tat es beinahe leid, daß die Küchentür so bald erreicht war und er nicht noch den zweiten Vers des Liedes hören konnte. »Marie«, rief er seiner Frau zu, »hier ist ein Mann mit schönen Büchern. Vielleicht siehst du sie dir an. Auch wäre der Mann für einen Schluck Milch recht dankbar; S ist heute schrecklich heiß.« - »Bücher? 

Geh mir weg damit! Ich habe keine Zeit für Bücher. Ich habe den ganzen lieben Tag meine Hände voll Arbeit. Und Milch? - Ich kann keine hergeben. Die von gestern ist sauer geworden, und die heutige muß ich zum Abnehmen stehen lassen. Dort ist der Brunnen, hol' ihm doch einen Krug Wasser!«
Und ohne die Männer eines weiteren Blickes zu würdigen, fuhr sie fort, mit doppeltem Eifer an ihrem Butterfaß her-umzuscheuern. »Danke bestens, Frau Müller«, sagte der glückliche Bote des Herrn in einer so herzlichen Weise, wie wenn die ungnädige Frau Müller ihm weiß nicht was angeboten hätte. »Selbstverständlich hol' ich mir Brunnenwasser, es ist ja so herrlich frisch Ich habe sogar selbst Milch bei mir in meiner Tasche. Aber vielleicht interessiert es Sie, meine Bücher anzusehen.«

Der Müller sah den Sprecher erstaunt an und dachte, das mit der Milch hatte Christoph doch vorher sagen und ihm so die • schroffe Abweisung sparen können. Allerdings fand er es komisch, Milch in einem Bücherranzen mitzunehmen. Christoph hatte seine Täsche auf einen Stuhl gestellt und ging in der Richtung nach dem Brunnen, als Marie plötzlich einwandte: »Laßt's nur, es ist nicht gut, kaltes Wasser zu trinken, wenn man erhitzt ist. Vielleicht läßt sich doch noch etwas Milch auftreiben. David, führ den Gast in die vordere Stube!« 

Und mit raschen Schritten ging sie in die Milchkammer, um kurz darauf mit einem Topf kühler Milch zu erscheinen. Maries scharfer Blick suchte beim Betreten des Zimmers sofort nach einer Milchflasche oder sonst einem Behälter unter den ausgebreiteten Büchern. Aber vergebens! »Das war nur eine Ausrede, um sich aus der Verlegenheit zu ziehen«, dachte sie und überreichte dem Bibelboten ein Glas frischer Milch. »Herzlichen Dank!« sagte dieser und tat einen kräftigen Schluck. »Frau Müller, eure Milch schmeckt wirklich herrlich, aufrichtig gesagt, aber sie ist doch nicht so gut wie die meine.« - »Ihr habt doch gar keine Milch bei Euch; was meint Ihr damit?« - »So, ich habe keine? Nur Geduld! « Christoph stellte das Glas auf den Tisch und nahm aus seinem Schatz eine kleine, hübsch gebundene Bibel mit Goldschnitt.

 Er schlug das 55. Kapitel im Jesa-ja auf und las: »0 ihr Durstigen alle, kommt zu den Wassern, und die ihr kein Geld habt, kommet, kaufet und esset! Ja, kommt, kauft ohne Geld und ohne Kaufpreis Wein und Milch!« Dann blätterte er weiter und las 1. Petr. 2, 2: »Wie neugeborene Kindlein seid begierig nach der vernünftigen, unverfälschten Milch des Wortes, auf daß ihr durch dieselbe wachset zur Errettung.« Die Bibel hochhaltend, rief er aus: »Seht, das ist die Milch, die Milch des Wortes, und beinahe dreißig Jahre trinke ich daraus und erfreue mich daran, und ich kann mit David davon sagen: »Es ist süßer als Honig und Honigseim« (Psalm 19, 10)— »Mit David?« rief Marie verwundert. »Seit wann? Ich hab's ihn noch nie sagen hören!«

Ohne es zu wollen, hatte Marie durch diese Worte ihrem Mann eine ernste Predigt gehalten, und der Müller errötete bei dem Gedanken, daß er in diesen Sachen so wenig Bescheid wußte. Der Bote hatte wohl bemerkt, daß hier ein Mißverständnis vorlag und sagte deshalb: »Nein, nein, ich meine nicht Euren Mann, sondern seinen Namensbruder in der Bibel; der liebte die Bibel und sang von ihr jeden Tag. Kein Wunder! Er dachte Tag und Nacht über das Wort Gottes nach.« Christoph strich wie zärtlich über das Bibelbuch, und während seine Augen voll Liebe darauf ruhten, sang er:

»Herr, Dein Wort, die edle Gabe!
Diesen Schatz erhalte mir,
Denn ich zieh' ihn aller Habe
Und dem größten Reichtum für.
Wenn Dein Wort nicht mehr soll gelten,
Worauf soll der Glaube ruhn?
Mir ist nicht um tausend Welten,
Aber um Dein Wort zu tun!«


Christoph ergriff die günstige Gelegenheit und fragte, ob er noch einige Worte lesen dürfe. Marie setzte sich auf den nächsten Stuhl und nickte bejahend, worauf der Evangelist anhob: »Der Herr ist mein Hirte, mir wird nichts mangeln.« Mit langsamer, ausdrucksvoller Stimme las er den ganzen Psalm und hielt sich im stillen an Gottes Verheißung: »Das Wort wird ausrichten, wozu ich es gesandt habe« (Jes. 55, 11). 

Beim Lesen des letzten Verses schlug Christoph schnell die Stelle vorn guten Furten auf, der Sein Leben für die Schafe gab. Dann fragte er: »Wollen wir nicht zusammen beten?« Und ohne Antwort abzuwarten, kniete er nieder und betete inständig zum Herrn, Er möge doch der Hirte und Heiland dieser Seelen hier werden. Er möge sie beide dann als Seine Schafe auf die grünen Auen und zu den stillen Wassern Seiner Gnade und Liebe führen.

Die beiden Müllersleute wußten zuerst nicht recht, wie sie sich verhalten sollten. Seit ihrem Hochzeitstag in der Kirche waren sie nicht mehr miteinander niedergekniet. Doch nach kurzer Überlegung knieten sie neben dem Manne nieder.
Nach dem Gebet kauften die beiden ein. Sie nahmen zwei Bibeln, einen Band von Bunyans »Pilgerreise« und einige kleinere Bücher für die Jugend. Christoph packte seine Ware wieder zusammen und sagte: »So Gott will, werde ich in einigen Wochen wieder vorbeikommen. Ihr könnt dann die Bücher, falls sie Euch nicht gefallen haben, gegen andere eintauschen.« - »Da könnt Ihr ruhig sein«, sagte die Müllerin, »die Bücher werden uns schon gefallen. Aber es soll uns freuen, wenn Ihr uns bald wieder einen Besuch macht; nicht wahr, David?« - »Natürlich, je bälder, je besser, lieber Freund!« - 

»Danke schön!« erwiderte Christoph, nahm seinen Sack auf den Rücken und seinen Stock in die Hand, »wenn Gott will, werden wir uns bald wieder hier treffen. Aber wie gesagt, alles ist in Seiner Hand.« Und mit einem Blick auf David fügte er hinzu: »Selbst der Mühlbach vom goldnen Augrund ist Seinem Willen unterworfen. Der Herr sei mit Euch! Auf Wiedersehen!«
Ehe Christoph das Haus verließ, gab er dem Müller ein kleines christliches Liederbuch. »Ich weiß, daß Ihr eine gute Stimme habt«, sagte er, »bitte, nehmt dies an Die Lieder darin können sich neben dem 'Müller am Bach' schon hören lassen. Wenn Euch eins besonders gefallen sollte, so will ich Euch das nächstemal die Melodie dazu vorsingen.« Damit verließ er frohen Herzens über die Aufnahme in der Au-mühle das Haus. Und den Gartenzaun entlang, den Wiesenpfad hinunter hörte man ihn singen:
»Mein Singen preiset Jesum, des Gnad mein Leben krönt, Die Fülle Seiner Liebe
Im Herzen wiedertönt.
Mein Singen preiset Jesum, das teure Gotteslamm,
Das mich mit Seinem Blute Erkauft am Kreuzesstamm!

Mein Singen preiset Jesum! Zu Seinen Füßen ruh
Ich voller Glück und höre Nur Seiner Rede zu.

Mein Singen preiset Jesum, Es komme, wie es will,

Ich preise Seiner Gnade Beschämend reiche Füll'.
Mein Singen preiset Jesum! Denn jeder neue Schritt Bringt ein Entgegeneilen 

Der ew'gen Heimat mit.
Durchmißt mein Fuß die Tore Des Paradieses, dann
Beginnt das Lied von Jesus, Das nie mehr enden kann.«

3. Das Erwachen zum neuen Leben
David Holzinger war dem Sänger bis zum Gartentor gefolgt. Als der glückliche Mann hindurchgegangen war, stützte er sich darauf und verfolgte ihn mit den Blicken, immer auf die Töne und Worte des Liedes lauschend. »Das teure Gotteslamm, das mich mit Seinem Blut erkauft am Kreuzes-stamm.« »Darin lag wohl der Kern der Sache!«, dachte der Müller, den Kopf schüttelnd. Erst als er den Bibelboten ganz aus den Augen verloren hatte, kehrte David zur Mühle zurück. Er stieg wieder auf die Plattform und sah über das weiße Geländer in den rauschenden Mühlbach hinab. Der bekannte Reim kam ihm unwillkürlich in den Sinn: »Hab' schuldenfrei nun Haus und Sach! Drum klingt mein Lied und dankt dem Bach.« Aber über seine Lippen kam es nicht. Was! Dem Bach danken? - Er hob seine Augen auf und sah in das unendliche Blau des Himmels, sah die wandernden Wölkchen dort oben und fühlte sich mit einem Mal in der Gegenwart des lebendigen Gottes.
Beklommen, beunruhigt, durch eine geheime Last gedrückt, stieg David Holzinger wieder hinab und stellte sich unter die Tür, von wo aus er durch die Fliederbüsche hindurch den Mühlbach blinken sah, den einzigen Gott, den er bis jetzt des Dankes wert erachtet hatte. Er sah den Fußpfad entlang, der von duftenden wilden Rosen eingefaßt war, und hoffte halb, den glücklichen Boten wieder zu sehen. Aber Christoph war schon weit fort. Dennoch war es dem Müller, als sähe er die eigenartige Gestalt vor sich mit der Tasche auf der Schulter und hörte er wieder die Worte:
»Mein Singen preiset Jesum, Das teure Gotteslamm,
Das mich mit Seinem Blute Erkauft am Kreuzesstamm.«
Tränen kamen ihm in die Augen, als er die Strophe wiederholte. Es schien, als dämmerte ihm in etwa, was die ernsten
Worte sagen wollten. Wie sehnte er sich danach, mehr die Bedeutung zu verstehen! Er entschloß sich, ins Haus zu gehen, in der schwachen Hoffnung, daß vielleicht Marie Zeit finden würde, mit ihm über diese Angelegenheit zu sprechen. Er ging durch die Hintertür in die Küche, da stand das But-terfaß mit der Bürste und dem Putzeimer noch genau am gleichen Platz, wo es gestanden, als Marie in gesänftigter Stimmung nach der Milchkammer gegangen war. »Wo steckte seine Frau wohl?« 

Marie nicht an der Arbeit zu finden war etwas ganz Außergewöhnliches. Er ging in die vordere Stube, und da saß sie ganz vertieft in eins der neuen Bücher. Erschrocken fuhr sie zusammen, als sie die Schritte ihres Mannes hörte und errötete bis zur Stirn, als sie seinen verwunderten Blicken begegnete. »Marie, liebe Frau«, sagte David, »was ist mit uns vorgegangen?« Maries Antwort war nur ein leises Schluchzen. Sie legte ihr Buch weg, wischte sich die Augen mit der Schürze. »Marie, was ist geschehen?« David hatte die Hand auf die Schulter seiner Frau gelegt und sah ihr in die Augen. Ein ihm fremder Ausdruck lag darin. »0 David«, sagte sie, »lies einmal dieses Lied, wie ernst ist das!«
David nahm das Buch und las mit lauter Stimme das Lied, das Marie so ergriffen und so nachdenklich gemacht hatte:
»Willst du nicht zu Jesus eilen, Eh' der Gnadentag sich neigt? Willst du länger draußen weilen, Bis dich ew'ger Tod erreicht? Jesus beut dir wahre Ruh, Drum zu Jesu eil auch du!
Heut noch ist der Herr in Gnaden Für dich da, o säume nicht:
Heut noch heilt Er allen Schaden, Führt aus Nacht zu ew'gem Licht. Jesus beut dir wahre Ruh,
Drum zu Jesu eil auch du!«

»Ich möchte so gern zu Ihm eilen, David«, sagte Marie bewegt. »Und ich auch«, erwiderte David leise, »wenn es uns so glücklich macht, wie den lieben Mann, den uns Gott heute ins Haus geschickt hat. - Wer weiß, was geschieht?« Da wurde die ernste Unterhaltung plötzlich durch die Ankunft des Fuhrwerks unterbrochen, das polternd über den gepflasterten Hof kam. Beide hatten jetzt vollauf zu tun. David mußte mit seinem Sohn und Knecht abrechnen, und Marie beeilte sich, das Abendessen zu bereiten. Der Müller trat an den Wagen und half die Säcke auf den Sackboden schaffen. Dann griff er nach dem Zaumzeug des Pferdes, schirrte es selbst ab und sagte ruhig: »Hör auf, Hannes! Fluch nicht! - Das bringt mir und dir keinen Segen; der Name Gottes darf von jetzt an bei uns nie mehr mißbraucht werden.«

Johann Dornbusch, der Knecht, blickte erstaunt auf. Sein Herr hatte sonst auch nicht mit leisen und lauten Schimpfworten zurückgehalten und mit manchem Fluch seinen Arger ausgedrückt, wenn ihm etwas gegen den Strich ging. Er zwinkerte zu Heinrich hinüber, als wollte er sagen: »Dein Vater hat, scheint's, heute einen Vogel im Kopf.«
Doch Dornbuschs Überraschung wuchs, als er schon bald entdeckte, daß es mit der Frau Meisterin auch nicht mehr ganz geheuer war. Doch bei ihr, mußte er sich gestehen, war es eine vorteilhafte Änderung, die Platz gegriffen hatte. 

Als das Abendessen vorbei war, ging Johann in den Hof, stellte sich an den Torflügel und dachte über die neue unerwartete, jedoch nicht unwillkommene Wendung der Dinge nach. »Ich komm nicht d'raus«, sagte Johann, »etwas ist passiert, so viel ist sicher. Entweder stehe ich auf dem Kopf oder die Mühle. Der Meister ist weich wie Butter, und die Meisterin erst! Ich versteh's nicht. Ich hab' schon oft gesagt: Ich heiße Dornbusch, aber sie ist ein Dornbusch, aber heute hat sie scheint's alle ihre Damen auf einmal verloren. Wie ist das zugegangen?«
Inzwischen war Heinrich, der wie sein Vater musikalisch begabt war, in die vordere Stube gegangen und hatte dort die neuen Bücher entdeckt. 

Nachdem er die Bibeln oberflächlich gemustert und ein wenig in den Schriften geblättert hatte, nahm er das Buch von Bunyans »Pilgerreise« zur Hand, und bald hatte dieses wunderbare Buch Heinrich in seinen Bann gezogen Er folgte mit wachsendem Interesse dem Pilger auf seinen Wanderungen. Nach einiger Zeit kam der Müller herein; er hatte sein Instrument mitgebracht, um einige der neuen Lieder zu probieren. »Nun, Heinrich, du hast schon entdeckt, was wir heute erstanden haben!« -

 »Vater, Ihr habt hier ein großartiges Buch gekauft; wenn man erst drin zu lesen anfängt, weiß man nicht, wann man aufhören soll. Woher habt Ihr es?«
»Ein Kolporteur war heute da; ich sage dir, der hatte eine Stimme, ich habe noch nie so singen hören.« Kaum hatte der Müller ausgesprochen, als sich die Tür öffnete und Frau Holzinger hereintrat. »Mutter«, rief Heinrich, »es tut einem ganz wohl, dich einmal ohne Arbeit zu sehen, so kann man doch einmal mit dir plaudern.« Über das Gesicht der Müllerin huschte ein Freudenstrahl. Zugleich aber empfand sie, daß es eine Seite des Lebens geben müsse, die ihr bis jetzt noch fremd geblieben war. Das Licht, das von dem Buch Gottes ausgegangen war, fing an, in ihrer Seele ein Verlangen nach etwas Höherem, Himmlischen wachzurufen.

*) Wir haben die Namen der Personen und Orte usw. dieser aus dem Leben entnommenen Geschichte durch andere ersetzt.