Die Antwort aus dem Sturm, Willi Morsbach

04/15/2024
von Christ-und-Buch Günter Arhelger

Die orthopädische Klinik in Wiehlstein war vollbelegt, als ein junger Mann von etwa einundzwanzig Jahren eingeliefert wurde.

»Es tut mir leid«, sagte die alte Johanniterschwester bedauernd, »daß ich kein anderes Zimmer für Sie habe.«
Der junge Mann sah sich schweigend um. Das Zimmer war kahl. Außer den acht Metallbetten und den Nachtschränkchen neben jedem Bett stand nur noch ein Schrank an der Stirnseite des rechteckigen Raumes. Von den acht Betten war noch eines frei, darauf steuerte er zu. Er hatte sich längst damit abgefunden, daß er keine Ansprüche stellen durfte. Drei Jahre Krankenhausaufenthalt in seiner Vaterstadt hatten ihn darüber belehrt.
Als die Schwester das Zimmer verlassen hatte, begann das große Fragen. Aber es war nur einer, der den Mund auftat. Die andern schienen zu schlafen.
»Hast du auch Motten?« fragte ihn der etwa Sechzehnjährige. Mit Motten meinte er Tuberkel. Ohne die Antwort abzuwarten, begann er zu erzählen:
»Ich heiße Theo, bin schon sechs Jahre hier und werde wohl nicht mehr hier rauskommen. Wunder geschehen ja nicht mehr. Der Jesus, von dem sie uns jeden Sonntag erzählen, ist entweder tot oder es liegt ihm nichts an uns.

Hier neben mir liegt der Fritz, er ist noch länger hier als ich. Er hat noch Hoffnung, aber die redet ihm sein Vater ein. Er ist schlimmer dran als ich. Der macht nicht mehr lang.
Da rechts von mir liegt der Nagel. Er liest den halben Tag Karl May und fühlt sich stark wie Winnetou. Dabei wiegt er mit seinen sechzehn Jahren kaum sechzig Pfund. Der geht bald. Der Rote hinten in der Ecke heißt Willi. Er ist von einem Auto überfahren worden. Motten hat er nicht, aber er ist gelähmt und braucht immer Hilfe. Wenn er nicht schläft, raucht er eine alte Pfeife. Wenn du Geld hast, dann schenk ihm etwas Tabak. Uber Tabak freut er sich wie ein Kind. Der Helmut hier neben mir ist der Ärmste unter uns. Er hat sieben Fisteln. Der Eiter stinkt wie die Pest, aber ich bin nicht so, wenn er immer neben mir liegen will. Lange dauert das sowieso nicht mehr. Wenn er in den Verbandsraum gebracht wird, macht ihn der Dicke fertig, weil er angeblich nicht still genug gelegen hat, deshalb eitere das so.«
Wäre die Schwester nicht gekommen, hätte Theo wohl noch lange geredet. Dem Neuen, er hieß Emil Bach, surrte der Kopf. Die Schwester nickte ihm zu, und kaum war sie aus dem Zimmer, fing Theo wieder am
»Um diese Zeit schlafen die alle. Die können immer schlafen.«
»Und du, schläfst du mittags nicht?« fragte Emil.
»Doch, sonst schon«, sagte Theo. »Aber ich spreche auch mal gern. Möchtest du, daß ich still bin?«
»Nein, nein, sprich nur«, sagte Emil und bereute es sogleich, denn nun legte Theo erst richtig los:
»Weißt du«, sagte er, »wenn man so lange hier liegt, dann lernt
- man es, halb wach und halb weg zu sein. Die meisten hier machen sich nicht viel Gedanken. Sie dämmern immer so dahin. Essen, schlafen, essen, schlafen. Das ist alles. Nur der kleine Helmut und ich werden morgens in die Schule gefahren. Das ist nämlich freiwillig. Und wir sind auch die einzigen, die etwas arbeiten. Manchmal machen wir auch Scherenschnitte, die der Helmut entwirft und aufzeichnet. Er ist ein kleiner Künstler.«
»Und was machen die anderen den ganzen Tag?«
Theo zuckte mit den Schultern.
»Der Nagel liest wenigstens noch. Die anderen dösen so dahin. Wie sollen sie da gesund werden?«
»Ja, wie sollen sie da gesund werden«, wiederholte Emil.
Theo sah auf. Der Neue war müde, das konnte man ihm ansehen. »Mach dir's bequem«, sagte er und legte sich zurück.
Für Emil begannen wieder einmal die Untersuchungen. Nach einer der ersten Untersuchungen mußte er Tag und Nacht auf dem Bauch liegen
»Wie lange muß das sein?« fragte er den Arzt.
Dr. Dicke zuckte die Achseln. »Zwei bis drei Wochen«, sagte er, »dann können wir dir ein Gipsbett verpassen.«
Emil sah den Arzt verärgert an. Nicht, weil er ihm soeben eröffnet hatte, daß er zunächst zwei bis drei Wochen auf dem Bauch liegen müßte. Er ärgerte sich darüber, daß der Arzt ihn duzte. Wenn es ein alter Mann gewesen wäre, hätte er vielleicht geschwiegen, aber jetzt, da der junge Arzt vor ihm stand, fragte er:
»Duzt du alle Patienten so schnell?«
Der Arzt drehte sich ruckartig um und verließ still das Zimmer. »Donnerwetter!« schrie Theo begeistert. »Du hast Mut. Dem habe ich sowas schon lange gegönnt, aber keiner hat's gewagt. 

Der Doktor Dicke ist ein Biest. Den lernst du noch kennen. Irgendwann erwischt er dich, und dann gibt er's dir, verlaß dich drauf. Uns alle hat er schon reingelegt.«
»Und habt ihr euch nicht gewehrt?«
Theo hob resignierend die Hände. »Wir sind doch alle lebenslänglich! Nach den ersten Wochen, die du hier bist, kräht kein Hahn mehr nach dir, kommt kaum noch Besuch. Wenn sich dann einer beschwert, wird's nur noch schlimmer. Mit uns kann man doch keinen Blumentopf mehr gewinnen. Glaubst du, da könnte man 'ne große Lippe riskieren?«
Also auch hier, dachte Emil
»Trotzdem kann man was machen, wenn man klug ist.«
»Und das bist du ja?«
»Hör zu«, sagte Theo eifrig. »Auf mich hat's der Dicke besonders abgesehen. Aber ich hab's ihm einmal gegeben.«
»So, wie denn?« fragte Emil gespannt.
»Das war vor zwei Wochen«, sagte Theo. »Ich wollte schreiben, da fiel mir der Federhalter aus der Hand. Gerade, als ich versuchte, die Tinte von der Bettdecke abzulöschen, kam der Dicke. 'So dämlich kannst auch nur du sein<, sagte er und gab mir einen Schlag Her auf die Backe.«
»Und was dann?« fragte Emil gespannt. -
»Und dann«, sagte Theo stolz, »habe ich ihm das Gesicht hingehalten und gesagt: >Wenn dir jemand einen Schlag auf die rechte Wange gibt, so biete ihm auch die linke an<.«
»Und was hat er getan?«
»Er hat mir in seiner Wut noch eine geklebt. Aber das habe ich zuerst gar nicht gespürt. Ob du's glaubst oder nicht - ich fühlte mich plötzlich so überlegen. Ich habe hier 'nen Spiegel. Als ich die Ohrfeigen bekommen hatte, habe ich besonders lange in den Spiegel gesehen. Ich glaube, an dem Tag war ich ein ganz besonderer Kerl. 'Theo<, habe ich in den Spiegel gesagt, >so müßtest du immer aussehen.<«
»Und der Doktor?« fragte Emil.
»Ich habe mich seitdem vorbildlich benommen. Aber wenn er mich eines Tages noch einmal schlägt, mach' ich es wieder so. Als mir abends noch die Backen weh taten, habe ich wieder in den Spiegel gesehen und feierlich gelobt: 'Wenn du gesund wirst, Theo, wenn du einmal nicht mehr hier sein mußt, dann lauerst du dem Dicke auf und gibst ihm mindestens zehn Ohrfeigen.<«

»Dabei dürftest du dann aber nicht mehr so gut ausgesehen haben, denke ich.«
»Ich habe viele Gesichter«, antwortete Theo weise. »Aber du hast recht. Als ich die Stelle sah, wo sein Ring abgebildet war, geriet ich so in Wut, daß ich den Dicke am liebsten sofort verprügelt hätte. Warum müssen wir hier so wehrlos liegen!«
Am nächsten Sonntag hatten sich Emil und Theo schon früh in die Kirche fahren lassen. Es war ein schlichter Raum im oberen Stockwerk der Klinik.
»Der Pastor wiegt bestimmt zwei Zentner«, sagte Theo. »Im Talar wirkt er schlank. Aber mittwochs, wenn er unten im Flur die Bibelstunde hält, siehst du, wie dick er ist.«
»Ist er krank?« fragte Emil.
»Ich weiß nicht. Aber vielleicht müßte er einmal unser Essen haben. Nur für ein Jahr. Beim Predigen hebt er den Bauch immer auf die Stuhllehne, sonst kann er nicht so lange stehen.«
»Predigt er heute?«
»Ja, heute ist er dran. Er kommt alle vierzehn Tage und mittwochs.«
Der Organist begann zu spielen. Emil nahm das Gesangbuch und schlug das angegebene Lied auf, als Theo krampfhaft das Taschentuch vor den Mund preßte. Emil folgte Theos Zeigefinger und sah ein kleines schwächliches Männlein im Mittelgang feierlich und gemessenen Schrittes auf den Altar zugehen. Da er absolut nicht zu der Beschreibung des Pastors paßte, im übrigen aber pastoral und würdig daher schritt, glaubte Emil, Theo habe ihn angeschmiert und sei deshalb so heiter. Als dann aber im letzten Moment zwei Krankenpfleger aufsprangen und den »Pastor« vor dem Altar abfingen, war er für einen Moment verwirrt.
»Wer ist das?« flüsterte er.
»Das ist der Petri«, stammelte Theo mühsam. »Der hat zu viel studiert. Jetzt liest er wie verrückt in der Bibel und meint manchmal, er müsse den Leuten was vor predigen.«
»Ist das denn ein Kranker, ein Patient, Theo?«
»Ja, einer aus einem anderen Haus. Ein Psychopath oder wie man das nennt. Den lernst du noch kennen! «
Inzwischen war der richtige Pastor an den Altar getreten. Er mußte den Vorgang beobachtet haben. Denn er rief den Petri wieder nach vorn und begrüßte ihn mit fröhlicher Herzlichkeit. Der Mann hatte
Humor, stellte Emil befriedigt fest. Von der Predigt bekam er nicht soviel mit. 

Es War alles zu neu für ihn. -
In den folgenden Wochen hatte Emil Gelegenheit, den >inneren Betrieb< der Anstalten zu studieren. Er lernte nicht nur Theo kennen, sondern auch die anderen Jungen, vor allem den Meinen Helmut.
Der Junge war kaum größer als ein achtjähriges Kind. Er war sehr scheu und ängstlich. Anfangs sagte er kaum ein Wort. Als er aber einmal Kontakt gefunden hatte, ließ er sich immer in die Nähe von Emil schieben. Weil die Kranken nach Möglichkeit auf dem Balkon liegen sollten, waren alle Betten mit Rädern versehen. So verursachte das wenig Mühe. Wenn gerade kein Pfleger da war, schoben die Kranken, die teilweise noch aufstehen durften, die Betten; Emil war sehr lufthungrig, so stand er morgens immer zuerst draußen. Und als es auf die Mitte des Jahres zuging, blieb er auch nachts auf der Terrasse.
Helmut war erst fünfzehn und lag schon zehn Jahre imGipsver-band. Obwohl er täglich neu verbunden wurde, drang der Eiter doch manchmal durch die Verbände. Er klagte nie, aber er fragte unaufhörlich, weil ihn beinahe alles interessierte.
»Was meinst du, Emil, werde ich wohl wieder gesund?«
»Das will ich doch hoffen!«
»Wir haben hier auch Lehrwerkstätten. Ich möchte gern etwas lernen. In der Schule komme ich gut voran. Ob ich wohl eine Stelle bekomme, wenn ich hier gelernt habe?«
»Warum denn nicht?«
»Ja, jetzt soll es ja wieder Arbeit geben. Aber sicher nur für ganz Gesunde. Was meinst du?«
»Ich denke, daß man fleißige und tüchtige Menschen immer gebrauchen kann, Helmut. Wir werden eines Tages sicher wieder gesund sein und arbeiten können.«
»Ach Mensch, das wäre schön!«
Emil sah den Wolken nach, die dunkel und schwer heraufzogen. War es richtig, dem kleinen Helmut noch Hoffnung zu machen, wo doch jeder wußte, daß er nach menschlichem Ermessen nicht mehr gesund werden konnte? Ja, wenn er reiche Eltern gehabt hätte, wenn er irgendwo in der Schweiz liegen könnte, wer weiß, ob er dann nicht noch eine Chance gehabt hätte. Aber er war das Kind armer Leute, die kaum in der Lage waren, ihren Sohn und Bruder zu besuchen.

Wie immer, wenn Emil solche Gedanken hatte, kam ein bitterer Zug in sein Gesicht. Er hatte in den vergangenen drei Jahren viel gegrübelt, warum es gerade ihn getroffen hatte, daß er so liegen mußte, während andere in seinem Alter gesund und frisch herumliefen.
Hier in der orthopädischen Klinik wurden seine Gedanken abgelenkt; das Elend seiner Bettnachbarn quälte ihn. Bei ihrem Anblick wurde ihm bewußt, daß auch sie alle nach menschlichem Ermessen nichts mehr vom Leben zu erwarten hatten. Und wenn er es schon nicht über's Herz brachte, dem Meinen Jungen die Wahrheit zu sagen, dann wollte er wenigstens sich selbst nichts vormachen. Seit einigen Tagen hatte er das Gipsbett, die Schale, wie man das hier nannte. Er durfte also wieder auf dem Rücken liegen. Es ging viel besser, als er gedacht hatte. Er fühlte noch einige Druckstellen, aber das war anfangs wohl immer so.
Da ihm der Arzt nur ausweichende Antworten gab, wandte er sich mit seinen Fragen an die alte Jöhanniterschwester. Schwester Erna war für ihn der ruhende Pol hier im Hause. Anscheinend schätzte sie auch Emil richtig ein, denn sie sagte:
»Ich möchte Ihnen keine falschen Hoffnungen machen, Herr Bach. Ihr Leiden ist schwer. Aber wie Sie die Hüftgelenkentzündung überwunden haben, könnte Ihr Körper auch mit der Wirbelsäulen-Tb fertig werden. Sie müssen auf Gott vertrauen und hoffen! Nach meinen Erfahrungen werden Sie aber wenigstens ein Jahr in der Schale liegen müssen.«
An diese Worte dachte Emil jetzt. Merkwürdig, daß er so ruhig daran denken konnte!
»Ist dir nicht gut?« fragte Helmut.
»Ja, doch.« Wie scharf der Kleine beobachtete!
»Aber du siehst so traurig aus.«
»Ach, das sieht nur so aus, Helmut.«
Der Junge wollte noch etwas sagen, als im Garten unter ihnen plötzlich jemand laut brüllte: »Halunken ihr, was fällt euch ein!«
Ehe Emil ahnte, was da vorging, war der Mann auf ihrem Balkon. »Wer von euch hat mir Wasser auf den Buckel geschüttet?« fragte er erbost. »Immer, wenn ich da unten arbeite, schüttet einer Wasser
wnter. Wer war es?«
»Der Petri«,-flüsterte Helmut seinem Nachbarn zu.
Während alle beteuerten, kein Wasser geschüttet zu haben, stellte sich Theo schlafend. Das schien dem Erbosten verdächtig. Wie ein Pfeil sauste er an Theos Bett und versetzte ihm eine Ohrfeige.

»Was fällt dir ein? Hast du das dem Doktor abgesehen?«
»Ich wette, du warst es. Sieh hier, mein Rücken ist ganz naß. Und am hellen Tag schläfst du .. «
»Unsinn«, fiel ihm Theo ins Wort. »Warum soll ich nicht schlafen? Ich hab' doch gar kein Glas. Woher soll ich denn das Wasser haben? Frag doch mal auf der Frauenstation. Vielleicht ist das Wasser von da oben gekommen. -Außerdem - du solltest dich schämen, einen Freund zu schlagen. Ja, staune nur. Ich habe dich immer für meinen Freund gehalten, auch wenn du das nicht gemerkt haben solltest.«
Petri stand einen Augenblick wie versteinert da. Er hielt viel von schönen Worten. Das wußte niemand besser als der listige Theo, der das Wasserglas sorgfältig versteckt hielt.
- »Theo«, sagte Petri kleinlaut, »ich schäme mich wirklich. Ich hätte mich nicht so aufregen sollen.«
»Ich wußte, daß du es bereuen würdest«, sagte Theo gnädig. »Es ist schon wieder gut. Vergiß das Tröpfchen Wasser. Es wird dir keinen Schaden bringen.«
»Tröpfchen?! « fuhr Petri herum.
»Na ja, so viel wird's schon nicht gewesen sein. Tu mir einen Gefallen und mach jetzt nicht auch noch bei den Frauen Krach. Wann zeigst du mir übrigens deine neuen Bilder?«
»Heute abend«, sagte Petri erfreut. »Aber jetzt muß ich schnell noch das letzte Beet umgraben.«
Als er gegangen war, herrschte ein paar Sekunden Stille, bis Petris Schritte verhallt waren. Als erster platzte Emil heraus. Er hustete vor Lachen.
»Wer ist eigentlich dieser Petri?« fragte er.
»Der macht hier die Gärtner arbeiten und sonst alles, was kein anderer tun will. Sein Vater ist Professor seine Brüder sollen Pfarrer sein. Er war auch auf der höheren Schule- Er soll zuviel gelernt haben. Jetzt kann er nicht mehr studieren, aber er ist sehr klug«, sagte Helmut-
»Etwas zu klug ist der«, warf Theo clii. »Er hat einen Tick oder zwei. Immer denkt er an Eisenbahnen und alte Gebäude. Wenn er frei hat, sitzt er irgendwo unten im Bahnhof, studiert die Fahrpläne und besieht sich die Züge. Er kennt alle Züge und hat den ganzen Fahrplan im Kopf.«
»Ja«, ergänzte Helmut, »wenn jemand mit dem Zug fahren will, braucht er keine Auskunft einzuholen. Er braucht nur den Petri zu fragen. Wenn er nicht krank geworden wäre, hätte er sicher auch schon einen Titel wie sein Vater und seine Brüder. Jetzt ist er hier so was wie ein Hilfsgärtner und Laufbursche mit ein paar Mark Taschengeld.«

»Schrecklich!« entschlüpfte es Emil.
»Oh«, sagte Theo, »ich wäre froh, wenn ich Gärtner sein könnte. Du nicht auch, Helmut?«
Der Kleine nickte begeistert. »Ja«, sagte er, »laufen können, draußen sein können in der frischen Luft, arbeiten, richtig laufen und arbeiten können. .
Wochen und Monate vergingen. Emil hatte längst gelernt, auch an ganz kleinen Dingen Freude zu haben.
Während die Jungen kaum Besuch bekamen, wurde er fast jeden Sonntag besucht. Und wenn er dann Obst, Schokolade oder andere Süßigkeiten verteilte, hatten die anderen auch ein bißchen Besuch gehabt. Emil wurde eine Art großer Bruder für sie, dem sie vertrauten. Er konnte stundenlang zuhören, er unterbrach sie nicht. Er wußte, wie eng der Denkkreis wird, wenn man viele Jahre zwischen vier Wänden liegt. Vermutlich war auch seine Vorstellungswelt schon kleiner geworden, obwohl er viel las und schrieb. Besonders wenn ihn die Not und der Jammer hier erdrücken wollten, nahm er seine Kladde und schrieb und schrieb.
»Emil«, sagte Theo eines Tages, »morgen findet hier eine Besichtigung statt.«
»Was wird denn besichtigt?«
»Das kennst du noch nicht. Hier die Anstalten sind auf milde Gaben angewiesen. Sie kriegen viele Spenden. Manche Spender wollen die Anstalten besichtigen. Solch eine Besichtigung findet morgen statt.«
»Woher weißt du das?« wollte Helmut wissen.
»Ich halte meine Ohren offen.«
»Wie willst du die großen Lappen auch zumachen?« grinste Helmut.
»Ein Frauenverein aus Düsseldorf soll morgen nachmittag durch die Anstalten geführt werden«, berichtete Theo weiter. »Er kommt auch zu uns.
Diese Besichtigungen waren den Kranken ein Greuel.
»Stell dir vor«, fuhr Theo fort, »da kommen so ein Dutzend Frauen und gaffen dich an wie 'nen Affen im Zoo. Die andern stellen sich dann immer schlafend, um nicht auf die dummen Fragen antworten zu müssen. Aber ich bin immer hellwach und berste. vor Zorn Kannst du das verstehen' Emil« -
»Und ob ich das verstehen kann! Aber sagtest du nicht, daß die Anstalten auf Gaben angewiesen sind? Was soll der Pastor denn tun, wenn die Spender kommen wollen? Er kann sie ja nicht abweisen.«
»Aber ich bin kein Affe«, sagte Theo, »und ich habe nicht umsonst meinen Verstand im Kopf.«
Die Besichtigungen oder auch Führungen, wie man das hier nannte, fanden in der Regel unter der Leitung des Anstalts-Direktors statt. Der Pastor ließ es sich nicht nehmen, die Herrschaften höchstpersönlich durch die Häuser zu führen.
Dabei kam die orthopädische Klinik meistens zuletzt dran. Nur die Lehrwerkstätten folgten noch hinterher. Das war logisch, denn dann nahmen die Besucher den Eindruck mit, daß viele dieser behinderten Menschen am Ende doch noch einer angemessenen Tätigkeit zugeführt werden könnten.
Es war gegen 14 Uhr, als die Besucher das Zimmer betraten.
Wie Theo es vorausgesagt hatte, stellten sich außer ihm und Emil alle schlafend. Das war ihr stummer Protest.
Der Pastor glaubte allen Ernstes, die Jungen schliefen, als er die Damen durch das Zimmer führte.
»Sie müssen bitte entschuldigen, meine Damen«, sagte er, »die Jungen sind alle schwerkrank.«
Da man von diesem Zimmer über die Terrasse in das anliegende gelangen konnte, machte es der Pastor hier kurz. Nach wenigen Minuten war er mit den meisten Frauen schon im nächsten Zimmer.
Nur zwei Frauen, die anscheinend alles recht gründlich sehen und erfahren wollten, waren hier im Zimmer geblieben. Eine von ihnen schien nach Art und Auftreten eine reiche Frau zu sein. Wenn Theo etwas von gutem Schmuck verstanden hätte, wäre er leicht darauf gekommen, daß diese Frau wahrscheinlich reich genug war, um den Anstalten mit kräftigen Spenden unter die Arme zu greifen. Und da für ihn arm und zugleich krank sein das denkbar Schlimmste war, ist leicht zu folgern, welche Bedeutung für ihn Gesundheit und Reichtum hatten.
Die reiche Dame ging von Bett zu Bett, um jeden einzelnen genau zu betrachten.
Als sie jetzt an Theos Bett kam und sah, daß er nicht schlief, reichte sie ihm die Hand und fragte:


ISBN-13: 9783417121704
Autor: Willi Morsbach 
Titel: Die Antwort aus dem Sturm 
Verlag: Brockhaus R. Verlag Gmbh 
Jahr: 1979 
Einband: Taschenbuch 
Seitenzahl: 231 
Format: 13,5 x 20,5 cm