Eine Freundschaft in Atlanta, Elizabeth Musser

01/11/2024
von Christ-und-Buch Günter Arhelger

Perri Ich lernte Dobbs an dem Tag'kennen, an dem meine Welt zusammenbrach. Es war das Jahr 1933. Für die meisten von uns im guten alten Amerika war die Welt schon vor Jahren zusammengebrochen. Aber ich hatte die letzten vier Jahre nahezu unversehrt überstanden. Ich war davon überzeugt, dass mir die Weltwirtschaftskrise in meinem kleinen Paradies nichts anhaben konnte.331452.jpg?1704998052508

Aber dann kam meine Welt mit quietschenden Bremsen zum Stehen, zeitgleich mit Herbert Hoover - am letzten Tag seinerPrä-sidentschaft. Die Banken brachen zusammen und rissen um mich alles mit sich.
Eigentlich fing der Tag gut an. Eine positive Spannung lag an diesem Samstag in der Luft. Ich hatte lange geschlafen, war aber trotzdem noch müde von der Feier der Studentenverbindung an der Georgia Tech. Mama weckte mich wie gewünscht um zehn, und nachdem ich Frühstückseier und Maisgrütze hinuntergeschlungen hatte, setzte ich mich zum Rest der Familie ins Wohnzimmer, wo auf der Anrichte unser Radio stand.
Die Kommentatoren beschrieben voller Begeisterung die Szenerie in Washington, D. C. „Menschenmassen drängen sich auf dem gut vier Hektar großen Areal, stehen auf den Bürgersteigen und Rasenflächen und warten auf den zukünftigen Präsidentet.
Mama, Daddy, meine jüngeren Geschwister Barbara und Irvin und ich rutschten so nah wie möglich ans Radio. Jimmy und Del-lareen, unsere schwarzen Diener, waren mit ihren fünf Kindern auch da. Mama hatte sie eingeladen, damit sie hören konnten, wie Mr Roosevelt seinen Amtseid ablegte. Normalerweise arbeiteten sie nur die Woche über bei uns.
Es war, als hielte Amerika die Luft an und wartete darauf, dass dieser neue Präsident uns von uns selbst erlösen würde. 

Ich war vor Anspannung ganz nervös und Mama hatte ihr Sonntagslächeln aufgesetzt, aber Daddy machte keinen Hehl aus seiner düsteren Stimmung. Daddy war Banker und an jenem Morgen des 4. März 1933 hatte selbst die letzte Bank in den Vereinigten Staaten ihre Türen geschlossen. Das ganze Land fürchtete sich - na ja, war gelähmt vor Angst, traf es vielleicht besser.
Während wir auf die Antrittsrede warteten, ging Mama zu Dad-dy und gab ihm einen Kuss auf die Wange. „Holden, glaub mir, Mr Roosevelt kriegt das Land wieder auf Kurs."
„Zu spät, Dot", war alles, was er sagte.

Typisch, dachte ich und ärgerte mich, weil er drauf und dran war, diesen historischen Moment zu ruinieren. Auch wenn er Grund hatte, pessimistisch zu sein. Als Vorstandsmitglied der Georgia Trust Bank hatte er angesichts der Wirtschaftslage wenig Hoffnung auf ein Wunder.

„Er wickelt die Leute mit seinen schönen Worten um den Finger, dieser Roosevelt", sagte Daddy. „Aber was er konkret machen will,
hat er noch nicht ein einziges Mal gesagt. Seine Reden bestehen aus blumiger Rhetorik mit einem Schuss Humor. Aber was wirklich dahintersteckt, weiß kein Mensch."
Mama tätschelte Daddys Hand und zuckte verständnisvoll mit den Schultern. Im Hintergrund hörten wir Musik und dann und wann leitete der Ansager kurze Werbepausen ein, in denen für
Coca-Cola, Sears, Roebuck and Company oder Haverty's Furniture geworben wurde. Schließlich kam die Rede des neuen Präsidenten.
Dellareen ermahnte zwei ihrer Jungs, die auf dem Boden saßen und sich zankten. Ich saß auf dem Wohnzimmertisch, die Füße auf Ir-vms Schoß, und niemand scheuchte mich runter.
Ich glaube, wir beteten alle um ein Wunder. Ganz Amerika brauchte eins - vom Banker bis zur Haushaltshilfe Republikaner,
Demokraten, Alte und Junge. Ich war ziemlich froh, dass Herbert Hoover nicht mehr Präsident war. Ich hatte genug von den Elends-
vierteln, die wir nur „Hoovervilles" nannten, und von hundert anderen Sachen, über die wir nur die Köpfe schütteln konnten. Der Gedanke an eineeränderung ließ mein Herz höherschlagen.
Mr Roosevelts Sflrnme kam knisternd durch den Radiolautsprecher und wir beugten uns gespannt vor.
Dieses große Volk wird weiter durchhalten, wie es bisher durchgehalten hat, es wird wieder aujblühen und gedeihen. So lassen Sie mich denn als Allererstes meine feste Überzeugung bekunden, dass das Einzige, was wir zu flirchten haben, die Furcht selbst ist - die namenlose, blinde, sinnlose Angst, die die Anstrengungen lähmt, derer es bedarf um den Rückzug in einen Vormarsch umzuwandeln.
Wir lauschten gebannt, verzückt - außer vielleicht Daddy -‚ ließen uns von seinem väterlichen Ton beruhigen und hörten die zuversichtlichen Ankündigungen, die in meinen Ohren wie der Startpunkt für ein Wunder klangen.
„Und Präsident Roosevelt demonstrierte diese Stärke und den Optimismus höchstpersönlich, indem er sich aus dem Rollstuhl erhob und trotz seiner Gehbehinderung über die Bühne zum Rednerpult schritt", verkündete der begeisterte Radiosprecher nach Roosevelts Rede.
Ich hoffte, dass die Rede des neuen Präsidenten auch Daddys Laune heben würde. Er war im Lauf der letzten Monate imiiier mürrischer geworden. Normalerweise vertraute mir mein Vater vieles an, was seine Arbeit betraf; die mich immer wieder faszinierte. Aber in letzter Zeit war er viel allein im Arbeitszimmer gewesen und gestern Abend hatte ich gehört, wie er sich mit Mama über die Situation in den Banken gestritten hatte.
Mama blickte mit einer Portion Optimismus auf das Leben, was meinen vor sich hin brütenden Vater oft besänftigte. Manchmal machte seine finstere Laune seinen Haaren alle Ehre - sie waren kohlrabenschwarz und es war nicht ein graues dazwischen. Komisch, dass mein Vater, der so oft melancholisch war, jung und frisch aussah, während Mama Ringe unter ihren hübschen grünen Augen hatte und alle zwei Monate ihr dunkelblondes Haar färben lassen musste, ein Luxus, den wir nie als Luxus angesehen hatten, bis Daddy letzten Monat wütend nach Hause gekommen war und der armen Mama den Besuch im Schönheitssalon untersagt hatte.
Aber Mama war erfinderisch und schaffte es auch so, einen neuen Schnitt und neue Farbe zu bekommen - Dellareen kannte sich zum Glück gut damit aus und hatte schon vielen weißen
Damen die Haare gemacht. Ich hatte Dellareen dabei zugesehen, wie sie ihr Gebräu anrührt hatte, und inständig gehofft, dass es funktionieren würde, damit meine Freunde aus Atlanta nicht auf den Gedanken kamen, bei den Singletons wäre die Armut ausgebrochen.
An jenem Samstag Anfang März hatte Präsident Roosevelt die Nation mit seinen Worten besänftigt und ich verspürte so etwas wie Hoffnung.- Ich hatte Freunde, Partyeinladungen und Massen an Verabredungen, und der Präsident würde es schon irgendwie - schaffen, die Wirtschaft wieder auf Trab zu bringen. Und die Banken. Oh, bitte, auch die Banken, vor allem die von Daddy.
„Perri, ich möchte, dass du mich nachher zum Bahnhof begleitest", sagte Mama nach dem Mittagessen. Irvin war schon wieder nach draußen entwischt, um mit seinen Freunden Baseball zu spie- - len. Barbara besuchte ihre Freundin LüIu und Daddy war im Ar-
beitszimmer verschwunden. -
Ich wollte eigentlich meine Freundin Mae Pearl besuchen, um sie zu fragen, was sie von Roosevelts Rede hielt. Missmutig verzog ich das Gesicht. „Och, Mama. Warum?"
‚josephine Chandler holt -ihre Nichte aus Chicago ab. Sie wird den Rest des Jahres bei den Chandlers wohnen und aufs Washington Seminary gehen."
-,‚Sie fängt jetzt mit der Schule an? Im März?"
„Ich glaube, ihre Familie hat es ziemlich hart getroffen und Mrs Chandler hat angeboten, das Mädchen aufzunehmen und für eine
ordentliche Schulbildung zu sorgen." -
Alle hat es hart getroffen, dachte ich und ärgerte mich darüber, dass Mama gerade meine Nachmittagspläne durchkreuzt hatte. - Aber dieses Mädchen hafte echtes Glück. Die Chandlers lebten im größten Haus in unserer Nachbarschaft und veranstalteten fast jede Woche irgendein Fest. Ich kannte jede Menge Mädchen, die ihren - Eistee im August hebend gern gegen einen Besuch im Haus der -
- Chandlers eingetauscht hätten. -
„Holden, wir nehmen den Buick", rief Mama. Mein Vater musste wohl seine Zustimmung gegeben haben, denn kurz darauf fuhren wir schon in Daddys Zweitürer, dem Buick Victory Coup& die Wesley Road hinunter in Richtung Peachtree Street zu den Chand- lers. Daddy liebte sein Auto so sehr, dass er Mama eigentlich fast nie damit fahren ließ.
Dann hat er bestimmt wegen Mr Roosevelt gute Laune, dachte ich.
Mama war wie immer etwas nervös beim Fahren, aber obwohl das auf mich abfärbte, ließ ich mir nichts anmerken. Mrs Chandler wartete schon auf uns und ihr Fahrer stand bereit, um uns im Pierce Arrow Cabriolet zum Balinhöf zu bringen. Oh, was für ein elegantes Auto! Mrs Chandler stieg auf der Beifahrerseite ein und Mama und ich kuschelten uns auf dem Rücksitz aneinander, während der Frühlingswind uns die Haare durcheinanderwirbelte.
„Das Mädchen heißt Mary Dobbs Dillard. Sie ist sechzehn oder siebzehn und wird in deine Klasse gehen, Perri." Mrs Chandler drehte sich beim Reden um und ihr perfekt frisiertes Haar wehte etwas durcheinander. „Ich hatte sie jahrelang nicht gesehen und als ich dann letzten Herbst in Chicago war, musste ich feststellen, wie schwer es meinen Bruder und seine Familie getroffen hat. Ich bestand darauf, dass Mary Dobbs hierherkommt. Sie ist ziemlich intelligent und hat eine gute Schulbildung verdient." Mrs Chandler sah kurz nach vorn.
„Mein Bruder Billy meint es natürlich gut. Er möchte wohltätig sein, aber ich hafte den Eindruck, seine Familie hungert, während er großzügig seine Almosen gibt. Ich wollte ja eigentlich die beiden jüngeren Schwestern auch herholen, aber Billys Frau Ginnie meinte, sie seien zu jung, um von zu Hause wegzugehen."
Ich stellte mir - Mrs Chandlers Nichte vor - dürr, hohläugig, schüchtern und ausgehungert. Mrs Chandlers Bruder sah in meiner Vorstellung aus wie der Mann auf Dorothea Langes Foto mit dem Titel „White Angel Breadline". Darauf waren müde Männer zu sehen, die für Brot anstanden. In der Mitte war ein Mann der Kamera zugewandt Er hatte einen abgewetzten Hut auf dem Kopf und lehnte sich über einen Holzzaun, auf dem eine Blechtasse stand, um die er die Arme gelegt hafte. Er sah bettelarm aus. Dorothea Lange war meine Heldin damals Wie sie wollte ich auch fotografieren können.
Wir hielten vor dem stattlichen Bahnhof mit seinen Bögen und Türmchen. 

Mrs Chandler, Mama und ich beeilten uns, das Gleis ausfindig zu machen, an dem das arme Mädchen aus meiner Vorstellung gleich ankommen sollte. Ein paar Minuten Später stieg - Mary Dobbs Dillard in einer Wolke aus Rauch und Dampf aus dem Zug und es verschlug mir den Atem.
Ich war vom ersten Augenblick an von ihrer Erscheinung gefesselt. Mary Dobbs War das hübscheste Mädchen, das ich je gesehen hatte, aber auf eigenartige, unkonventionelle Art. Ihre Haut war leicht gebräunt - und stand damit in starkem Kontrast zu der vornehmen Blässe, die bei uns Mode war. Ihre dichten, schwarzen Locken, die bis zur Taille reichten, trug sie offen. Ihre Augen waren tiefschwarz - wie große, ovalförmige Onyxsteine - und ihr Gesicht war genauso oval, mit hohen Wangenknochen und einer Haut, die noch nie ein Pickelchen verunstaltet hatte, da war ich mir sicher. Sie war zierlich und nicht besonders groß, aber zugleich wirkte sie stark und entschlossen. Das ausgeblichene dunkelblaue Baumwollkleid, das sie trug, hing an ihr herunter.
Vielleicht hatte ihre Familie ganz schön zu kämpfen, aber Mary Dobbs sah weder schüchtern noch kleinlaut aus. Sie stand gerade, die Schultern zurückgeschoben und auf ihrem hübschen Gesicht spiegelte sich Erstaunen.
„Hallo, Mary Dobbs", sagte Mrs Chandler und legte ihr freundlich eine Hand auf die Schulter.
Mary Dobbs stellte ihren kleinen Koffer ab. Er war grauweiß, hatte etliche Schrammen und wies viele Gebrauchsspuren auf, um es positiv auszudrücken. Sie schlang die Arme um Mrs Chandler. „Ich freue mich ja so, endlich hier zu sein, Tante Josie!"
Etwas überrascht löste sich Mrs Chandler vorsichtig aus Mary Dobbs' Umarmung. „Na, na. Schön, dass du heil angekommen bist." Dann wandte sie sich an Mama und mich. „Mary Dobbs, ich möchte dir eine gute Freundin vorstellen. Das ist Mrs Singleton und das ihre Tochter Perri."
Mary Ddbbs begutachtete uns, zeigte ihre perfekten Zähne und griff nach meiner Hand, um sie im nächsten Moment kräftig zu schütteln. „Freucmich", sagte sie, und fügte dann leise hinzu „Mey sagt keiner zu mir. Ich heiße einfach Dobbs.”
Ich wurde rot.
„Also schön, Mary Dobbs", sagte Mrs Chandler, „dann lasse ich den Chauffeur mal deine Taschen holen."
Sie gab dem Fahrerein Zeichej%, aber Dobbs schüttelte den Kopf und zeigte auf ihren alten Koffer. „Mehr habe ich nicht."
Mrs Chandler sah wieder ziemlich überrascht aus, aber nur für einen kurzen Augenblick. „Na schön, wenn das alles ist, dann können wir ja fahren." Der Fahrer nahm den Koffer und ging uns voraus.
Auf dem Weg nach Hause saß ich zwischen Mama und Dobbs. Fasziniert beobachtete ich, wie ihre lange schwarze Mähne wie eine Fahne auf der Maiparade im Wind flatterte. Ich kannte kein anderes Mädchen mit langen Haaren.
Mama stieß mich heimlich an, was wohl so viel bedeuten sollte wie Sag irgendwas, Pen-i! Also fragte ich: „Warst du schon mal in Atlanta?"
„Ein oder zwei Mal, vor langer Zeit. Ich kann mich nicht mehr an viel erinnern, aber mein Vater hat mir einiges über Atlanta erzählt."
„Dann kommt er von hier?"
Dobbs sah mich zweifelnd an. „Natürlich. Mein Vater ist doch Mrs Chandlers Bruder. Er ist in dem Haus aufgewachsen, in dem sie wohnt."
Mir wurde heiß. Natürlich. Was Ar eine dumme Frage!
Ich wollte ihr sagen, was für ein großes Glück sie hatte, in dieses riesige Haus zu ziehen, aber das wäre nicht höflich gewesen.Und egal welche Fehler ich sonst haben mochte, ich wusste wann ich höflich zu sein hatte, vor allem jetzt, wo Mama neben mir saß. Ich wollte Dobbs nach ihrem Leben in Chicago fragen,- aber angesichts dessen, was Mrs Chandler erzählt hatte, wäre das wohl auch unhöf-lich
nhö&lich gewesen.
Also herrschte Schweigen.
Mami versuchte ein Gespräch in Gang zu bringen. „Perri, Liebes, warum erzählst du Mary Dobbs nicht ein wenig von deiner Schule, von den Mädchen in deiner Klasse? Das interessiert sie bestimmt."
Ich machte ein finsteres Gesicht. Es schien sie nicht nur zu interessieren, sie schien geradezu gierig danach zu sein. Ihre Augen waren groß vor Erwartung und das störte mich. „Die Schule heißt Washington Seminary. Das weißt du bestimmt schon
 „Oh ja!", unterbrach mich Dobbs. „Washington Seminary, dabei