Der schwarze Rächer
Es war im Jahre 1685. Die Junisonne goss ihre goldenen Strahlen über die etwas verfallene Pracht von Schloss Fenwickl mit seinen Schutzwällen und Türmen, seinen gepflegten Rasenflächen, ausgedehnten Wäldern und üppigen Gärten.
An diesem warmen Junitag hatten sich ein älterer und zwei junge Männer zum Mittagsmahl im großen Speisesaal des Schlosses niedergelassen. Der Raum war dreizehn Meter lang und sieben Meter breit, und seine Decke bestand aus einem Gitter dicker Eichenbalken. Wildschwein-, Wolfs- und Hirschfelle bedeckten den steinernen Fußboden. Im Kamin war frisches Holz aufgestapelt.
Der Mann am Kopfende des Tisches war eine imposante Erscheinung. Trotz seiner siebzig Jahre war seine Gestalt ungebeugt und volller Lebenskraft. Er war gewiss über einen Meter achtzig groß, und seine breiten Schultern verrieten große körperliche Kraft. Diese Gestalt hätte auf rücksichtsloses Durchsetzungsvermögen schließen
lassen können, doch dem widersprachen der edel geformte Kopf mit der langen Mähne grauen Haares, die freundlichen blauen Augen und das ernste Gesicht, in das Angst und Leid tiefe Furchen gegraben hatten. Das Haus Fenwick hatte böse Zeiten gesehen, und nun, im Alter Donalds des Guten, mehrten und verdichteten sich die drohenden Schatten.
Als im Jahre 1559 John Knox nach Schottland zurückgekehrt war, hatten sich die von Fenwick zusammen mit anderen schottischen Edlen dem Protestantismus verschrieben, weil sie mit der Annäherung der königlichen Politik an Frankreich unzufrieden waren. 1638 unterzeichnete Donald, Herzog von Fenwick, auf dem Kirchhof von Greyfriars in Edinburgh zusammen mit vielen anderen Schotten die Gründungsurkunde des schottischen Glaubensbundes. Sie verpflichteten sich, die neugegründete Presbyterianische Kirche von Schottland mit Leib, Leben und Gütern zu unterstützen und zu verteidigen und das Papst- und Prälatentum und alle verkehrten Formen des Glaubens auszurotten.
Zwischen den beiden jungen Männern, die mit ihm am Tisch saßen, bestand ein auffälliger Kontrast. Obwohl beide ihn Vater nannten, war doch deutlich, dass sie nicht blutsverwandt waren. Sie waren beide in ihrem einundzwanzigsten Jahr. Der junge Mann auf
der linken Seite hätte in jedem Kreis durch seine auffallende Schönheit hervorgestochen. Er hatte das wie in Kupfer gestochene Gesicht eines Patriziers, glatte Haut, glänzende schwarze Augen und ein energisches Kinn. Dass er schön war, war nicht zu leugnen, doch sein gutes Aussehen mochte nicht jedermanns Geschmack sein. Seine Lippen waren zu dünn, und in seinen Augen glühte bisweilen Hass. Sein Stiefvater, Gilbert Crawford von Maybole, war ein guter Freund des Herzogs von Fenwick gewesen. Während seiner Garnisonzeit in Edinburgh hatte er Senora Amanda de Ferrari kennengelernt und geheiratet, die Witwe des Grafen de Ferrari. Sie war mit ihrem Sohn
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nach dem Tode ihres Gatten in die schottische Hauptstadt gekommen. Die Ehe dauerte nur drei Jahre, bis die Senora starb und ihr Gatte ihr ein Jahr später ins Grab folgte. Vor seinem Tod ersuchte
Gilbert Crawford seinen alten Freund, sich des Waisenknaben anzunehmen. Auch Donald Fenwicks Sohn hatte bereits seine Mutter verloren, und so hatte der Herzog den damals zehnjährigen Jungen mit sich nach Hause genommen. So kam Luis Salvador de Ferrari in das Haus Fenwick und nahm den Namen seines Wohltäters an, womit er auch alle Rechte und Privilegien eines Fenwicks erlangte.
Dem jungen Mann, der ihm gegenübersaß und den Kopf eines großen, schwarzen Jagdhundes an seiner Seite streichelte, konnte,man ansehen, wie sein Vater vor einem halben Jahrhundert ausgesehen haben musste.
Duncan Fenwick war genauso groß, mit denselben breiten Schultern, der kräftig gebauten Figur, dem braunen Haar und den klaren blauen Augen, die sein Vater besaß, aber sein Aussehen hielt einem Vergleich mit dem seines Adoptivbruders kaum stand. Seine Züge waren so grob, dass man ihn fast
hätte hässlich nennen können, wären nicht der offene und ehrliche Gesichtsausdruck gewesen und der Humor, der gewöhnlich aus seinen Augen blitzte. Doch heute war sein Gesicht verfinstert,
und seine Augen blickten besorgt zum Vater hinüber.
»Aber Vater«, sagte er, »warum meint Ihr, sie würden uns jetzt behelligen? Warum sollten sie uns gerade jetzt verhaften, nachdem sie uns all die Jahre in Frieden gelassen haben?«
Der andere junge Mann sagte nichts, doch sein forschender Blick war auf den Mann gerichtet, den er Vater nannte.
Eine Zeit lang schien es, als hätte Donald Fenwick die Frage seines Sohnes überhört. Er starrte ins Leere, und seine Gedanken weilten in der Ferne. Die Sonne vergoldete das lebhafte Grün des Rasens, das Heidekraut und die Farne, die von Schloss Fenwick bis zur alten Straße nach Maybole den Abhang des Berges bedeckten. Weit im Süden konnte man den Shalloch und den Minnoch, die höchsten Gipfel der Pentlands, in das Blau des Himmels ragen sehen. In dem feierlichen Schweigen, in das die drei Männer verfallen waren,
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konnten sie das Rauschen des Girvan hören, der auf dem Weg zum Meer zwischen waldigen Ufern an dem kleinen Weiler Craigfin vorbeifloss. Heide und Ginster, Wald und Wasser, Berge, Täler, Hochmoore und Schluchten, der Gesang der Lerchen und das Blöken der Lämmchen, alles verwob sich zu einem wunderbaren Bild, auf das die milde Sonne herabstrahlte wie die Liebe Gottes aus der Herrlichkeit des Himmels.
Reinigung schienen ihre Strahlen zu verheißen, die Reinigung Schottlands von dunklen Taten unmenschlicher Menschen, die ihre Landsleute erschlugen, nur weil diese die Kirche Christi, sein Reich und seinen Glaubensbund liebten.
Donald Fenwick fuhr aus seinen Gedanken auf und wandte sich dem Sohn und seiner Frage zu.
»Mein Junge«, sagte er, »ich weiß, dass uns die Feinde des Herrn nicht mehr lange in Frieden lassen werden. Der Feuerofen wird noch siebenmal heißer gemacht werden, und mancher wird sein Leben
opfern müssen, wenn das Papsttum in Schottland nicht den Sieg erringen soll. Wohl stimmt es, dass Charles, der Hauptübeltäter, tot ist.
Er starb, wie er lebte, seine Huren um sich, seine Seele sündenbeschmutzt, von Menschen der Vergebung versichert, aber von Gott verdammt. Ein paar Worte eines antichristlichen Priesters sollten ihm helfen, aus den Armen Delilas in den Schoß Abrahams zu springen. Doch ich fürchte, mein Junge, dass unser Land immer mehr von Unruhen heimgesucht werden wird, solange noch ein papistischer Stuart auf dem Thron sitzt. Wie der große Apostel Paulus weiß ich, dass der Tag meines Scheidens nicht mehr fern ist. Unsere Feinde wissen, dass wir viele der Bergbewohner geschützt haben, und werden bald ihre Wut an mir auslassen.
Dass sie mir mein Leben nehmen können, bedeutet mir wenig. Die meisten meiner Freunde sind
mir schon vorausgegangen. Deine liebe Mutter ist auch dort drüben auf der anderen Seite. Dort sind ein Cargill und ein Cameron, ein Eccles, Horne, McCarron, McHarrie, McWhirter, Rodger und viele
andere tapfere Männer und Frauen, für die diese Welt zu schlecht war. Warum sollte ich länger ausgenommen sein? Und wenn die Opferung meines armen Lebens den Tag der Befreiung Schottlands
beschleunigen könnte, wie gern würde ich es weggeben und zehntausend andere Leben, wären sie mein!«»Aber warum müsst Ihr Euer Leben wegwerfen?«, warf Luis ein.
»Sicher geht es nicht um unverrückliche Prinzipien, wenn man sich der Befragung unterzieht und dem König als Haupt des Reiches und der Kirche Treue und Ergebenheit schwört. Gibt es nicht das schottische Sprichwort: ›Bück dich, damit dich die Welle nicht trifft!‹?
Warum sollte man sich da nicht ein klein wenig bücken?«
Donald Fenwick sah seinen Adoptivsohn an, und Tränen standen ihm in den Augen.
»Mein Junge, du weißt wenig vom Wort Gottes und von der Wahrheit, die wir in Jesus Christus haben. Ich fürchte Gott und ehre den König, wie es die Schrift befiehlt, und wie du wohl weißt, bete ich täglich für ihn. Doch das Haupt der Kirche ist Christus allein, und in der Sache Christi gibt es kein ›Bücken‹. Mein Junge, ich fürchte, das Papsttum, in dem du aufgewachsen bist, und das Prälatentum, das du in St. Andrews aufnahmst, haben dich für die Lehre Christi verdorben. Möge der Herr dich aus dieser Falle Satans erretten.«
Der junge Mann, dem diese Worte galten, wurde rot vor Zorn, und aus seinen schwarzen Augen loderte Feindseligkeit. Er öffnete den Mund, um etwas zu sagen, verschluckte aber dann mit
sichtlicher Anstrengung seine Worte. Als er seine Fassung wiedergewonnen hatte, sagte er:
»Sicherlich seht Ihr diese verrückte Bande von psalmensingenden Demagogen, die für eine bestimmte Art der Kirchenverwaltung gleich zum Märtyrer werden wollen, nicht in demselben Licht wie die studierten und ehrwürdigen Prälaten und Theologen der katholischen Kirche? Übrigens waren es ja diese, die das Licht der Gelehrsamkeit durch die Jahrhunderte hindurch leuchten ließen und der Nachwelt diese Bibel erhielten, auf die Ihr Euch fortwährend beruft.«
Wenn Donald Fenwick über die Worte des jungen Mannes traurig war, so zeigte er es nicht. Er war diese Ausbrüche gewöhnt und hatte nur eine Freundespflicht erfüllt, als er den Knaben unter die Obhut von Männern gegeben hatte, die über die Dinge des Glaubens anders als er dachten. Er liebte den jungen Mann wegen seines Widerstandes gegen die Wahrheit nicht etwa weniger, sondern eher mehr.
Wie David über seinen abtrünnigen Sohn Absalom Schmerz empfand, so hatte auch Donald Fenwick Mitleid mit seinem Pflegesohn. »Es war Gott, mein Junge, der sein Wort bewahrte. Die Instrumente, die er dazu benutzt, wählt er selbst aus, und manchmal lässt er es auch zu, dass eine schwarze Hand ein helles Licht trägt. Die Männer des Glaubensbundes sind keine verrückten Enthusiasten, wie du
annimmst, und streiten auch nicht um eine bloße Besonderheit der Kirchenverwaltung. Sie wollen eine reine Lehre und eine freie Kirche, und vor allem wollen sie alle Menschen vor den Gnadenstuhl
Christi bringen. Sie suchen das Martyrium ebenso wenig wie Stephanus oder Paulus oder die glorreiche Schar unter der Herrschaft Neros, die lieber von den Löwen zerrissen wurde, als der Diana auch nur ein wenig Weihrauch zu opfern.«
»Aber Eure Bibel lehrt Euch auch, den König zu ehren«, war die gereizte Entgegnung. »Und Gott zu fürchten«, fügte der alte Mann ernst hinzu. »Ich gehorche Seiner Majestät, dem König, so lange, wie er dem Gesetz und Gott gehorcht. Das solltest du in den Jahren, in denen du unter meinem Dach lebtest, gelernt haben.« Der junge Mann öffnete den Mund zu einer Entgegnung, besann sich aber eines Besseren und erhob sich ohne ein weiteres Wort.
»Wenn mein Vater mich entschuldigen möchte«, sagte er mit einer Verbeugung. »Ich habe einige Tage in Edinburgh zu tun.« Als er gegangen war, schlug der alte Mann einen Gong neben dem Kamin
an. Der Diener, der daraufhin erschien, war mindestens ebenso alt wie sein Herr. »Du kannst die Tafel abräumen, Farson«, sagte Donald Fenwick, »und danach möchte ich mich mit dir unterhalten.«
»Sehr wohl, mein Herr«, erwiderte der alte Bedienstete mit dem Ausdruck äußerster Ergebenheit und Zuneigung. »Wenn ich mit Farson geredet habe, werde ich dich draußen auf der Terrasse treffen, Duncan.«
Sein Sohn nickte ernst und ging hinaus in den strahlenden Sonnenschein. Gerade als er dabei war, das friedliche Bild vor seinen Augen in sich aufzunehmen, begegnete ihm sein Adoptivbruder,
gestiefelt und gespornt für seinen Ritt nach Edinburgh. »Ich fürchte, die Tage unseres Vaters sind gezählt«, sagte Luis, als sei das eine feste Tatsache.
Duncan fuhr zusammen. »Warum sagst du das?«, fragte er. Sein Gegenüber zuckte mit den Schultern. »Du bist doch nicht taub«, war seine ungeduldige Antwort. »Du hast ja gehört, was er sagte. Er erwartet Claverhouse und seine Dragoner jederzeit. Das wird das Ende sein.«
»Nein, Bruder, das wird nur der Anfang sein«, sagte Duncan ernst. »Aber du erwartest sie scheinbar auch.«
»Was soll das heißen?«, fragte Luis ärgerlich. »Genau das, was ich sagte, Luis. Du hast den Geist eines Jesuiten
und das Herz eines Judas. Mein Vater bot dir ein Heim und eine Ausbildung, weil er die Wünsche deines Stiefvaters respektierte. Er hat dich ernährt, dich gekleidet, dich mit seiner Zuneigung überhäuft und versucht, dich auf den schmalen Pfad zu führen, der zu Gott führt. Wie hast du es ihm gedankt? Mit Hohn, Spott, Gleichgültigkeit und, wie ich vermute, noch weit Schlimmerem.«
Luis war blass geworden, doch er schwieg. Nur das Flackern seiner Augen zeigte, wie groß der Hass war, den er mühsam zurückhielt.
»Lass uns nicht streiten, Duncan«, sagte er schließlich. Hart und drohend war seine Stimme. »Es tut mir leid, dass ich deinen Gefühlen zu nahe getreten bin. Menschen sterben jeden Tag, und keine
Stunde schlägt, in der nicht Hunderte vom Tod, dem letzten Feind, gerufen werden. Ich möchte nur gern wissen, welchen Weg du gehen würdest, sollte deines Vaters Prophezeiung sich als wahr erweisen.«
Duncan sah den Mann, der vor ihm stand, furchtlos an, und derm Blick seiner blauen Augen schien bis ins Innerste des Spaniers zu dringen. »Ich gehe den geraden, den schmalen Weg, den Weg des Glaubensbundes, des Kreuzes und der Krone!«, sagte er mit aller Leidenschaft seines frommen Herzens. Luis’ Augen funkelten vor Überraschung und Erregung.
»Adios«, sagte er. »Dann trennen sich unsere Wege hier, und wenn Gott nicht noch ein Wunder tut, dann wirst du – wie eines eurer langweiligen schottischen Sprichwörter sagt – den Faden deines eigenen Schicksals spinnen und ich den meinen.«
Er kehrte auf dem Absatz um und verschwand um die Ecke des Gebäudes. Einige Augenblicke später hörte Duncan das Klappern der Hufe seines Pferdes auf der Straße nach Maybole, und im gleichen Moment fühlte er die Hand seines Vaters auf seiner Schulter.
»Setz dich, mein Sohn«, bat Donald Fenwick und zeigte auf eine Bank neben ihnen.
Eine Weile saßen Vater und Sohn schweigend nebeneinander. Das Bild der Landschaft vor ihren Augen, vergoldet vom Licht der Sonne und leuchtend wie an einem Frühlingstag, hielt sie in seinem Bann.
»Ich bin froh, dass Luis nicht hier ist«, sagte der Vater leise, »denn ich möchte mich gern mit dir allein unterhalten.« Duncan wagte nicht zu sprechen und nickte nur. »Welchen Weg wirst du gehen, wenn ich von dir gehe, Duncan?«
Erstaunt blickte ihn sein Sohn an, wurde ihm diese Frage doch schon zum zweiten Mal innerhalb kurzer Zeit gestellt.
»Luis fragte mich vor wenigen Augenblicken dasselbe, Vater.«
»Das überrascht mich nicht. Was antwortetest du ihm?«
»Müsst Ihr noch fragen? Ich sagte ihm, dass mein Weg der Eure sei und kein anderer.«
»Ich danke dir, mein Sohn«, war die einfache Antwort. »Doch höre mir zu. Eines Tages wird diese große Finsternis des Schreckens aufhören, und Schottland wird frei sein. Ich werde es nicht mehr erleben, doch du wirst diesen Tag sehen. Du hast einen starken Körper, und dein Geist ist ihm ebenbürtig. Ich bezweifle, dass dir in Schottland oder England ein Mann an Stärke gewachsen ist.
Wenn ich auch weiß, dass der Herr kein Gefallen hat an eines Mannes Schenkeln, so hat er uns doch einen Körper gegeben, den wir achten sollen als den Tempel des Heiligen Geistes. Ich habe dich in der Kunst des Ringens und des Schwertkampfes alles gelehrt, was ich weiß, damit du ein Kämpfer seist, der für die Schwachen eintritt und den Unterdrückten aufhilft. Bist du in Edinburgh je in einem Kampf besiegt worden?«
»Niemals, Vater, obwohl ich mehr als hundert Freundschaftskämpfe ausgetragen habe. Ich glaube, es war die Zähigkeit der Fenwicks, die mich in vielen Kämpfen durchgebracht hat. Wir sind ja
dafür bekannt, dass wir nie wissen, wann wir genug haben.«
Donald Fenwick lächelte. »Das Einzige, was ich niemals ganz gebilligt habe, Duncan, war deine Schauspielerei«, sagte er.
»Aber Vater, sie hatte doch kaum etwas zu bedeuten und hat meine Studien in keiner Weise beeinträchtigt. Es war nur ein harmloser Zeitvertreib, dass ich in meinen Räumen Personen zu imitieren versuchte. Ihr wisst, Vater, dass ich mich jeder Person anpassen kann, die ich kenne oder von der ich gelesen habe. Ich passe mich niemals dem Charakter an, sondern was ich zu sein vorgebe, das bin ich für eine Weile selbst.«
Der alte Mann nickte zustimmend. »Ich weiß, mein Sohn, ich weiß. Schon in den Tagen deiner Kindheit hattest du diese eigenartige Fähigkeit, jeden Menschen genau nachzuahmen, auch wenn
du ihn nur wenige Augenblicke gesehen hattest. Gott hat dich mit dieser Gabe beschenkt, damit du sie in seinem Dienst gebrauchen kannst – selbst wenn wir jetzt noch nicht wissen, wie. Ich glaube,
dass du in diese Zeit des Reiches hineingeboren werden musstest.
Hör mir zu. Im Jahre 1661 war ich in Edinburgh, als James Guthrie, die Hände gefesselt, die High Street entlang zur Hinrichtungsstätteder Stadt schritt. Wir nannten ihn Sicherfuß, denn sicheren Fußes ging er den Weg der Gerechtigkeit. Ich hörte seine letzten Worte, als er sich auf dem Schafott umdrehte und zur Menge sagte: ›Ich rufe Gott zum Zeugen an, dass ich dieses Schafott nicht für Palast und Bischofsmütze des größten Prälaten in Britannien eintauschen würde.‹ Ich sah, wie er gehenkt und dann geköpft wurde und wie sein Haupt auf das Untertor gesteckt wurde, wo es noch heute hängt.
Als ich ein Jahr später wieder zu diesem Haupt emporblickte, sah Das Haupt James Guthries hing dort 25 Jahre lang. ich einen kleinen Knaben an meiner Seite. Er mochte sechs Jahre alt
sein, und Tränen liefen seine Wangen hinunter. ›Mein kleiner Mann‹, sagte ich zu ihm, ›hier gehörst du nicht hin. Dies ist kein Ort für dich.‹ Bis an mein Lebensende werde ich den Anblick seines Gesichtchens nicht vergessen, als er mich ansah und sagte: ›Herr, das ist das Haupt meines Vaters.‹ Es war der kleine Willie Guthrie, der Sohn des Märtyrers.«
Donald Fenwicks Stimme versagte, und das Gesicht seines Sohnes war aschfahl. »Wie lange noch, o du heiliger und wahrer Gott; wie lange noch hältst du nicht Gericht und rächst unser Blut?«, flüsterte der Vater.
»Hilf, Herr! Die Heiligen haben abgenommen, und der Gläubigen
sind wenig unter den Menschenkindern.«
»Was geschah mit Willie Guthrie?«, fragte Duncan, als sein Vater
wieder Herr seiner Gefühle war.
»Vor einigen Jahren starb er, ein frommer, junger Gelehrter mit einer vielversprechenden Zukunft. Er wurde begraben, während seines Vaters Haupt noch immer auf dem Untertor bleichte«, war die traurige Antwort. »Wie du weißt, mein Sohn, haben wir seit jenem Tag den Bundesgenossen geholfen und ihnen hier Zuflucht gewährt, wenn sie sich vor Claverhouse und seinen Unholden verstecken mussten.
Weiß übrigens Luis von dem Geheimzimmer und dem Tunnel zum Fluss?«
Duncan schüttelte den Kopf. »Ich bin sicher, er weiß nichts davon. Er war lange Zeit in St. Andrews, und wenn er auch weiß, dass wir hier Männer des Glaubensbundes verborgen haben, so war es doch
meist im Winter, wenn er nicht hier war. Das Zimmer und den Tunnel kennt er nicht. Vater, ich habe Luis niemals getraut und bin sicher, dass er uns übelwill.«
Sein Vater seufzte und nickte.
»Ich weiß, mein Junge, ich weiß, wir müssen jeden Tag mit einem Besuch der Dragoner rechnen. Duncan, wenn sie kommen, um mich zu holen …«
»Sollen wir kämpfen?«, unterbrach ihn sein Sohn. »Wir würden schon mit ihnen fertig werden.«
Der alte Mann schüttelte den Kopf. »Es wäre nutzlos und würde zu nichts führen. Mein Leben ist bald vollendet, aber das deine beginnt erst – und ein lebendiger Hund, Duncan, ist immer besser als ein
toter Löwe«, fügte er lächelnd hinzu. »Du wirst Schloss Fenwick verlassen und in die Berge gehen müssen. Nimm deinen stählernen Bogen mit und deine Pistolen, damit du der Schrecken unserer
Feinde bist, wie der Schwarze Douglas es für die Engländer war, als er mit Robert Bruce für die Befreiung Schottlands kämpfte. Ich habe
mit Farson gesprochen, und er will versuchen hierzubleiben, bis die
Sache des Herrn triumphiert und seine Kirche frei ist. Doch schau,
wir bekommen Besuch.«
Die beiden sahen eine Gestalt über die mit Gras und Farn bedeckten Berghänge auf das Schloss zukommen. Als sie näher kam, erkannten die Beobachter, wer es war.
»Es ist Peden«, sagte Donald Fenwick. »Armer, alter Sandy; er
bringt schlechte Nachrichten, fürchte ich.«
Alexander Peden war eine der malerischsten Figuren der verfolgten Bundesgenossen. Achtundzwanzig Jahre lang hatte er selten in einem Bett geschlafen. Sein Heim waren die Schlupfwinkel und Höhlen in den Bergen von Ayrshire und Galloway, sein Lager bestand aus Heidekraut und Farn, seine einzige Decke im Sommer war oft nur der Himmel über ihm. Seine häufigen Voraussagen über sein Schicksal und das anderer hatten ihm den Titel »Peden der Prophet« eingebracht. Die beiden Männer beobachteten ihn, wie er mit eiligen Schritten über den Abhang auf sie zukam. Seine Gestalt war klein, aber sein Körperbau athletisch.
Er trug eine Schottenmütze, unter der sein langes, dunkles Haar zerzaust hervorsah. Das Gesicht
war fahl und eingefallen, doch seine dunklen Augen blickten scharf und durchdringend um sich. Seine Kleidung bestand aus einem kurzen Mantel, ausgebeulten Hosen, langen Strümpfen und alten, derben Schuhen. Als ihn Donald Fenwick erkannt hatte, hatte er Farson sofort eine Mahlzeit herrichten lassen.
»Seid uns gegrüßt, Sandy, und willkommen auf Schloss Fenwick«, rief er, als Peden zu ihnen heraufgekommen war.
»Ich wünsche Euch und Eurem tapferen Sohn Duncan einen guten Tag, auch wenn es ein trauriger Tag für die Presbyterianische Kirche Schottlands ist. Ich bringe schlechte Nachrichten, Donald.«
»Berichtet uns während des Essens, Sandy. Ich sehe, dass Euch Farson etwas zubereitet hat.«
»Gott wird Euch belohnen für Eure Freundlichkeit gegen mich und alle Verfolgten, denen Ihr in diesen vielen Jahren Schutz unter Eurem gastfreundlichen Dach gewährt habt.«
Bevor er aß, hob Peden die Hände zum Dankgebet empor und zu
der leidenschaftlichen Bitte, der Allmächtige möge seinem bedrängten Land Frieden schenken und seine verfolgte Kirche erlösen.
»Ihr müsst fliehen, Donald«, sagte Peden, als er mit dem Essen
begonnen hatte. »Ich bin gekommen, um Euch zu warnen. Sie werden bald kommen, um Euch abzuholen. Davie Watret aus Maybole
bat mich, Euch zu warnen. Davie ist ein treuer Sohn des Bundes
und wusste, dass ich mich in einer Höhle am Berg Kildoon verbarg,
wo ich auch manchmal Gottesdienst halte. Er brachte mir, unter
beträchtlicher Gefahr für sich selbst, etwas zu essen und gab dabei
die schlimme Nachricht an mich weiter.«
»Konnte er Euch sagen, wie viel Zeit uns noch verbleibt, Sandy?«
Peden schüttelte den Kopf. »Nein. Er bekam die Botschaft von seinem Neffen Sam Gibson, der aus Sanquhar gebürtig und ein Gefolgsmann Ritchie Camerons ist. Sam erfuhr es von einem betrunkenen Soldaten in Maybole und erzählte es seinem Onkel weiter. Ich
fürchte, es wird nicht mehr lange dauern, Donald. Was gedenkt Ihr
zu tun?«
»Hierzubleiben, Sandy.«
»Ihr wisst, was das bedeutet«, sagte der alte Prediger, »aber ich
habe diese Antwort von Euch erwartet. Euer Krönungstag wird bald
kommen, Donald, und ich wünschte, ich könnte den meinen zusammen mit Euch begehen. Ihr werdet den König in seiner Schönheit
sehen und sein Lob empfangen. Wer wollte nicht diesen herrlichen
Anblick gegen die Finsternis und das Leid dieser schrecklichen Zeiten eintauschen? Aber was wird aus Duncan?«
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»Ich gehe zu den Bergbewohnern«, sagte Duncan, »um ihre Leiden und Sorgen mit ihnen zu teilen, um ihre Schlachten zu schlagen
und, wenn es der Wille Gottes ist, das Unrecht zu rächen, das ihnen
widerfährt.«
»Wenn es der Wille Gottes ist«, wiederholte Peden ernst. »Das ist
recht, mein Sohn. Die Rache ist mein; ich will vergelten, spricht der
Herr. Aber manchmal gebraucht Gott menschliche Instrumente, um
die Strafe zuzumessen, und ich betrachte dich als einen Hammer Gottes, der seine Feinde niederschlägt. Auch wenn meine alten Augen
den Tag nicht sehen werden, an dem der Kopf Satans in Schottland
zertreten und Christus allein regieren wird, so sehen sie ihn doch
jetzt.« Pedens Stimme klang laut und beinahe schrill durch den Saal,
und in seinen Augen brannte ein prophetisches Feuer. Seine Zuhörer
waren überzeugt, dass er in diesem Augenblick wahrhaft die Weissagungen Gottes redete.
Peden wandte sich an seinen Gastgeber: »Donald, ich muss weiter
nach Culzean. Die Kennedys beherbergen einige unserer Leute, die
gewarnt werden müssen.«
»Nein, Sandy, Ihr seid müde. Ruht Euch diese Nacht bei uns
aus und lasst Duncan die Botschaft ausrichten. Er interessiert sich
nämlich für ein Mitglied der Familie Kennedy. Ich glaube, es heißt
Marion und ist das reizendste Mädchen im Süden Schottlands.«
Der Sohn errötete bei diesen Worten. »Ich richte gern die Botschaft aus«, sagte er. »Mein Pferd wird mich in sechs Stunden dorthin tragen. Ich müsste also bis morgen Abend zurück sein.«
»Nimm deinen berühmten Bogen und deine Pistolen mit, Duncan«, rief ihm Peden nach. »Vielleicht kannst du sie gebrauchen.«
Eine halbe Stunde später führte Farson Duncans Pferd auf den
Platz vor dem Schloss. Dort wartete der junge Mann schon mit
Peden und seinem Vater. Das Tier war wunderschön und verdiente
den Namen ›Mitternacht‹ zu Recht, denn sein glänzendes schwarzes
Fell zeigte nicht die geringste Färbung. Peden sah das Tier prüfend
an und bewunderte die weiche Rundung der Schulter, den geschmeidigen Schritt und den edlen Kopf.
Die leicht vorstehenden Augen waren voll Feuer und verrieten das Blut und die Rasse der arabischen
Vorfahren. »Sage deinem Vater noch einmal Lebewohl«, wandte sich Peden an Duncan, der gerade sein Pferd besteigen wollte. »Du musst damit rechnen, dass du das nächste Mal erst im Himmel wieder mit ihm sprichst.«Diese Worte erschreckten Duncan zutiefst, doch er gehorchte.
Dann bestieg er sein Pferd, rief seinen großen Hund Major und machte sich auf den Weg nach Westen, der Küste zu. Auf der Terrasse von Schloss Fenwick sahen ihm zwei Männer traurig nach.
Zwanzig Stunden später hielt ihn Peden auf dem Weg an, der von Culzean nach Maybole führte. Sechs Stunden lang hatte sich der alte Mann versteckt und auf Duncan gewartet. Schlecht waren
seine Nachrichten. Die Dragoner waren um Mitternacht gekommen.
Glücklicherweise hatte Peden die geheime Kammer bewohnt und war so den Häschern entkommen, aber der Herzog von Fenwick war als Gefangener nach Edinburgh gebracht worden. Drei Wochen später stand ein großer Mann in der Menge vor dem Schafott am Mercat Cross in Edinburgh. Von Kopf bis Fuß verhüllte ihn ein schwarzer Umhang, und dazu hatte er einen Hut tief in die
Stirn gezogen. Der Sohn sah seinen Vater auf das Schafott steigen, sah
den Glanz einer anderen Welt auf seinem Antlitz, sah, wie er seinen
Hals der Axt des Henkers beugte, sah, wie sein Kopf auf dem Untertor neben dem gebleichten Schädel James Guthries aufgesteckt wurde.
Ein Schaudern durchfuhr die herkulische Gestalt in der Menge, und
ein ohnmächtiges Stöhnen kam über Duncans Lippen.
Unrecht macht den Weisen rasend. Angenehm im Umgang,
entschlossen in der Tat war Duncans Vater gewesen. Doch in dieser Stunde wurde »Duncan der Schreckliche« geboren, der durch Ayrshire und Galloway gehen sollte wie Sir Aretgals eiserner Mann
Talus mit seinem Dreschflegel, »mit dem er Falschheit ausdrosch und die Wahrheit entfaltete, unbestechlich und ohne dass ihm jemand widerstehen konnte, schnell wie eine Schwalbe und wie ein Löwe so stark«.
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In den frühen Morgenstunden des nächsten Tages klopfte Duncan an die Tür einer einsamen Berghütte, fünf Meilen entfernt vom Haus seiner Väter. Die Frau, die öffnete, brach in Tränen aus, als sie ihn sah. »Ist alles vorbei, Duncan?«, fragte sie traurig.
Der Mann nickte. »Alles vorbei, Alison, außer der Abrechnung.«
Verwundert sah ihn Alison Purdie an. Sie war über siebzig Jahre alt, groß und mager. Ihr Haar war schlohweiß, und ihr Gesicht war von Leidens- und Sorgenfalten gezeichnet.
Die Hütte, die sie bewohnte, hatte dem Herzog von Fenwick gehört und war der Frau geschenkt worden, als sie alt und gebrechlich wurde. Die Hütte enthielt einen großen Raum, der als
Küche und Schlafzimmer diente und in dem ein Klappbett stand, das tagsüber aussah wie ein Schrank, doch nachts in ein Lager umgewandelt werden konnte. Zwei kleine Kammern befanden sich
hinter der Küche; jede von ihnen war mit einer Strohmatratze ausgestattet.
Aus einer dieser Kammern drangen Geräusche, und eine seltsame Gestalt schwankte hervor. Dieser Mann war gut und gern so groß wie Duncan, doch nicht so gerade gewachsen. Sein Haar war
lang und ungekämmt, er hatte vorstehende Zähne, und ein großes,
rötliches Muttermal entstellte seine rechte Gesichtshälfte. Sobald er Duncan erblickte, stieß er einen schrillen Freudenschrei aus und kniete sich vor ihm hin. Er nahm Duncans Hand in beide Hände und drückte sie an seine Wange. Das war der Blöde Jimmy, der Schwachsinnige, der sich geistig nie entwickelt hatte. Er war, wie man in Schottland sagt, ein »natürliches« (uneheliches) Kind, und war nach dem Tode seines früheren Vormundes von Herrn von Fenwick zu Alison geschickt worden.
Körperlich sehr kräftig, war er der alten Frau eine große Hilfe. Den meisten Bewohnern der Besitzung war er als »Ja-nu-Jimmy« bekannt, da er fast jeden Satz mit »Ja-nu« begann.
Seine Herren von Fenwick liebte er mit einer Hingabe, die an Vergötterung grenzte, und vor allem Duncan, der ihm stets gegen seine Peiniger beigestanden hatte.
Jimmy sah seiner Adoptivmutter die Tränen die Wangen hinunterlaufen und wimmerte: »Ja-nu, Herr Duncan, ja-nu, ja-nu, wo ist der Herr? Ja-nu, ja-nu, nicht totmachen den Herrn. Ja-nu, Jesus,
ja-nu Herr, nicht totmachen den Herrn.« Nun standen auch in Jimmys Augen Tränen.
»Sei still, Jimmy«, sagte Alison sanft. »Der Herr hat’s gegeben, der Herr hat’s genommen; der Name des Herrn sei gelobt.«
»Ja-nu, ja-nu, nicht wegnehmen den Herrn. Ja-nu, ja-nu, wegnehmen den Clavers und Johnstone und Bothwell und den bösen Papist König James.«
Mit einem Wink brachte Duncan Jimmy zum Schweigen und ließ sich auf einer rohen Bank vor dem Herdfeuer nieder. Alison setzte den Kessel aufs Feuer. »Ihr bekommt ein Stück Schafschinken und
etwas Pastete, die ich von Schloss Fenwick bekam. Farson brachte sie uns neulich.«
»Ich danke dir, Alison. Ich werde lange Zeit nicht mehr in meines
Vaters Haus essen.«
»Vielleicht nicht so lange, wie Ihr denkt«, war die Antwort. »Der Herr wird seinen heiligen Arm ausstrecken und sein Volk erlösen.
Und nun, meine ich, solltet Ihr ruhen.«
Die Abendschatten streckten sich bereits lang über den Berghang, als Duncan aufwachte. »Ich muss mich in die Berge aufmachen, Alison, und das harte Los meiner angefochtenen Landsleute teilen.
Glücklicherweise habe ich so etwas vorausgesehen und mich darauf vorbereitet. Ich darf dich und Jimmy nicht länger durch mein Bleiben gefährden, aber ich werde mit euch von Zeit zu Zeit in Verbindung treten.«
»Zu welcher Stunde des Tages oder der Nacht Ihr auch kommt, Duncan – das Haus steht Euch offen«, sagte sie mit tränenerstickter Stimme. »Danke, Alison. Peden prophezeite mir, ich würde zum Hammer Gottes werden. Vielleicht hat er recht, und ich bin eigens für diese Zeit des Königreichs geboren worden.« Während dieser Unterhaltung hatte der Blöde Jimmy in offener Bestürzung von einem zum anderen geblickt.
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»Ja-nu, ja-nu, Herr Duncan – nicht weggehen, nicht weggehen, ja-nu, Gott bewahre, Gott bewahre.« »Ja, Jimmy, Gott bewahrt; darum wollen wir uns ihm anbefehlen.« Der Schwachsinnige fiel auf die Knie und hob die Hände empor, während Duncan betete: »O Gott, der du für alle sorgst und allen vergeben kannst, weil du alle Menschen kennst und weil du gerecht bist; in all unserer Trübsal leidest du mit uns. Sieh auf dein leidendes Volk und deine leidende Kirche in Gnaden hernieder. Breite aus den Mantel deines Schutzes über uns, deine Kinder. Lege Ehre ein, wo
Menschen wider dich wüten und bringe unserem geängsteten Land wieder Frieden. Um dessentwillen, der sein kostbares Blut für uns vergoss. Amen.«
Und so erstand in Ayrshire ein Name, bei dessen Klang die Bösen, die einen Strom unschuldigen Blutes vergossen, erbleichten – ein Name, den selbst Claverhouse in drei langen Jahren fürchten lernte. Eine rätselhafte, geheimnisumwitterte Gestalt wurde zum Sinnbild der Hoffnung unter den verfolgten Bundesgenossen. Nur wenige hatten das Gesicht dieses Mannes gesehen oder kannten seinen Namen. Er rettete die Verurteilten von den Galgen, befreite Gefangene aus den Händen der Häscher und übte mit unnachsichtiger Hand Gerechtigkeit an denen, die gnadenlos Unschuldige erschlugen.
Der Aberglaube erzählte, er führe mit dem Wind, und die Legende berichtete, er habe die Stärke Simsons, die List eines Drachens und den Mut eines Löwen. Feinde der Bergbewohner sangen
ihre Kinder mit diesem aus der Angst geborenen Lied in Schlaf: »Still, mein Kind, mein kleines Herzlein, Still, mein Kindlein, musst nicht bang sein, Dich fängt der Schwarze Rächer nicht ein.«
Als das Haupt Donald Fenwicks auf das Untertor gesteckt wurde, wurde Luis Salvador de Ferrari auf Anordnung des papistischen Königs James VII. von Schottland Herr der Besitzungen von Schloss
Fenwick.
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In der Herberge zum Eberkopf
Eine Woge der Verfolgung überzog den ganzen Süden Schottlands und verschonte weder Alter noch Geschlecht derer, die der Ketzerei verdächtigt wurden. Jedes Dorf in Ayrshire und Galloway hatte seine eigene blutige Geschichte. In der einen Familie fehlte der grauhaarige Vater, in der anderen der hoffnungsvolle Sohn. Unter Flüchen und Verwünschungen drangen die ruchlosen Dragoner in
die Hütte des Bauern ein, erschlugen die alte Großmutter, die in der Kaminecke saß, und vergewaltigten die Tochter.
Dem Vater legten sie die Schwurformel vor, mit der er dem Presbytertum absagen sollte,
und ließen ihn, wenn seine einzige Antwort ein zitterndes und doch ruhiges »Gottes Wille geschehe« war, drei Minuten später auf der Schwelle seines eigenen Hauses in seinem Blute liegen.
In vielen schottischen Wohnungen war die Lücke noch deutlich zu spüren, die der Märtyrertod eines Familienmitgliedes zurückgelassen hatte, und jedes Kind konnte sagen, wo in der Heide das
noch frische Grab zu finden war.
Es war ein halbes Jahrhundert vergangen, seit Jenny Geddes dem Dekan von St. Giles in Edinburgh ihren Schemel mit den historischen Worten entgegengeschleudert
hatte: »Ihr werdet vor meinen Ohren keine Messe lesen« – fünfzig blutige Jahre, fünfzig Jahre des Schreckens.
Man könnte darüber streiten, ob es recht oder unrecht war, dass die Bundesgenossen das Schwert ergriffen, aber nach dreißig Jahren der schrecklichsten Verfolgung, die gottlose..
* Fast vier Jahrhunderte lang war Schloss Fenwick eines der großen Bollwerke gewesen, die die Freiheit und Unabhängigkeit Schottlands garantierten. Wer sich dafür interessiert, kann noch heute seine Ruinen finden.
*Sie stehen drei Kilometer vor dem hübschen Städtchen Maybole in der Grafschaft Ayr am Abhang eines Berges über dem Tal des Flusses Girvan. Die Fenwicks waren eine Familie, die ihre Ahnenreihe in ununterbrochener Linie von jenen Sachsen ableiten konnte, die nach der normannischen Eroberung nach Schottland geflohen waren. Sie waren der Fahne von Robert Bruce gefolgt, und es waren Lord Archibald Fenwick und seine Lanzenreiter gewesen, die in der Schlacht von Bannockburn das Blatt zugunsten Schottlands gewendet hatten.
*Die Urkunde über die Verleihung Schloss Fenwicks als Grundbesitz ist noch heute im schottischen Nationalmuseum zu Edinburgh vorhanden. Darauf ist der Wahlspruch der Familie zu lesen, der ihr von König Robert Bruce verliehen wurde: »Suaviter in Modo, Fortiter in Re« (»Angenehm im Umgang, entschlossen in der Tat«). Die Geschichte lehrt uns, dass wenige derer von Fenwick die Ehre ihres Wappenschildes beschmutzt haben, obwohl sie Feudalherren waren und obwohl ihre Geschichte von Kriegen, Aufständen und Streifzügen voll ist.