Kein Job für eine Lady, Cathy Marie Hake

01/11/2024
von Christ-und-Buch Günter Arhelger

Kapitel 1 New York, 1890
Rexall Hume stützte seine Hände auf den Schreibtisch und beugte sich mit wutverzerrtem Gesicht331139.jpg?1704990922372 nach vorne. „Sie haben meine Geduld lange genug strapaziert, Lady Hathwell. Ein Jahr und einen Tag warte ich nun schon.“
Sydney Hathwell erwiderte unerschrocken seinen Blick. „Sie wollen damit sicher nicht andeuten, dass mein Vater nicht das angemessene Trauerjahr verdient hätte?“
„Welches vor zehn Tagen vorbei war.“ Hume schritt über den aufwendig gewebten Teppich und blieb am anderen Ende des Raumes stehen. Dann drehte er sich wieder zu Sydney um. Mit zusammengekniffenen Augen musterte er sie, als sehe er sie gerade zum ersten Mal.
Sydney stand ruhig da und erwiderte seinen Blick mit Selbstbewusstsein und Offenheit. In der Woche, die sie nun schon hier war, hatten sie gerade einmal drei steife Mahlzeiten miteinander eingenommen. 

Nachdem er die Anordnung gegeben hatte, dass seine Angestellten Sydney und ihrer Tante jederzeit zur Verfügung stehen sollten, hatte er die meiste Zeit mit Geschäften außer Haus zu tun gehabt. Kein Wunder, dass er sie nun anstarrte, als kenne er sie gar nicht.

Was wussten sie schon voneinander? Rein gar nichts. Im vergangenen 
Jahr hatte er sich nicht darum gekümmert, mit ihr Kontakt aufzunehmen. Oh, natürlich hatte er nach dem Tod ihres Vaters eine Beileidsbekundung per Telegramm geschickt. Sie hatte ihm, wie es sich gehörte, mit einer kleinen Dankeskarte geantwortet. Danach hatte jedoch wieder absolute Funkstille zwischen ihnen geherrscht. Sie selbst hatte dieses Schweigen natürlich nicht brechen dürfen. Eine Frau knüpfte nicht von sich aus Kontakt zu einem Mann. Das gehörte sich einfach nicht. 



Ein ganzes Jahr ohne jegliche Begegnung oder Kontaktaufnahme – und dann hatte er ihr plötzlich telegrafiert, dass sie zu ihm kommen sollte. Sie war mehr als überrascht darüber gewesen, aber sie hatte auch gewusst, dass sie dazu verpflichtet war, Hume um sich werben zu lassen. 
Sydney war es allerdings schwergefallen, ihm auf seine Aufforderung hin mehr als nur ihre Ankunftsdaten zu schreiben. Sie hatte niemals ein Bild von ihm gesehen, kannte den Klang seiner Stimme nicht und hatte nicht einmal seine Handschrift gesehen – trotzdem war sie ihrer 
Verpflichtung nachgekommen. Jetzt, wo sie den weiten Ozean überquert und zu ihm nach Amerika gekommen war, sogar unter seinem Dach wohnte, hatte er keinen Versuch mehr unternommen, um sie zu werben. Wie konnte er nur erwarten, dass sie ihre Herzen für immer 
miteinander verbinden würden?
Hume stolzierte mit einem steifen Lächeln im Gesicht auf sie zu. Seine Hände waren genauso kalt wie die ihren, als er sie ergriff. „Sie müssen sich doch nicht aufregen, meine liebe Cindy.“
Cindy! Er will mich heiraten und kennt nicht einmal meinen Namen!
„Ruhig. Ich sehe ja, Sie sind … verstört.“ Er drückte ihre Hand. 
„Manchmal ergeben sich für jemanden wie mich eben unerwartete Geschäftsreisen. So ist das nun einmal, wenn man erfolgreich sein will. Ich hatte gehofft, Sie würden es als Flitterwochen ansehen.“
Vielleicht hatte ich Unrecht. Vielleicht schätzt Hume mich als Beraterin. Vater hat Mutters Meinung immer respektiert und geschätzt. „Soll ich Ihnen etwa bei Ihren Verhandlungen helfen?“„Sie?“ Hume lachte kurz und hart auf. „Natürlich nicht. Wir können 
morgen auf dem Weg zum Bahnhof an der Kirche anhalten. Da Sie 
hier ja niemanden kennen und gerade die Trauerzeit hinter sich haben, 
tut Ihnen eine ruhige Hochzeit sicher gut. In Boston und Philadelphia können Sie dann Museen und dergleichen besuchen, während ich 
mich um meine Geschäfte kümmere. Wäre das nicht wundervoll?“
Sydney befreite sich aus Humes Griff. „Mr Hume, ich habe Ihnen schon einmal gesagt, dass ich befürchte, dass wir nicht zusammenpassen.“
Er stieß einen langen Seufzer aus. „Vielleicht sollten wir das mit der Geschäftsreise vergessen.“
Stellt er mich doch über seine Geschäftsinteressen?
„Wenn ich von der Reise zurückkomme, werden wir heiraten. Das wird Ihnen genug Zeit geben, sich einzuleben und sich um all die unwichtigen Dinge zu kümmern, mit denen Frauen sich eben beschäftigen.“ Er wirkte unendlich zufrieden mit seiner großartigen Idee.
Sydney hatte nicht zum ersten Mal das Gefühl, dass sie hier einem kaltherzigen Mann gegenüberstand. „Mr Hume, es tut mir wirklich leid –“
„Nein, nein.“ Er hob abwehrend seine Hände. „Sie brauchen sich 
nicht bei mir zu bedanken, liebe Cindy.“
Der Butler trat leise ein und räusperte sich. „Entschuldigen Sie, Sir. 
Mr Boland wäre jetzt hier.“
„Ah ja.“ Hume warf Sydney noch einen abwesenden Blick zu. „Sie entschuldigen mich jetzt bitte. Ich muss mich um wichtigere Dinge kümmern.“
Abgewimmelt, als sei sie ein kleines Kind, das um eine Süßigkeit 
gebeten hatte, nickte Sydney kurz und ging die Treppe zu ihren Zimmern hinauf. Sie hatte nun schon zweimal versucht, Mr Hume zu erklären, dass sie ihn nicht heiraten konnte. Er hatte ihre Einwände beide Male ignoriert und sie beiseitegeschoben, als seien sie lediglich lästige 
Nebensächlichkeiten. Sie hatte versucht, ihre Verbindung ehrenhaft zu lösen – jetzt musste sie zu wirksameren Mitteln greifen.
* * *
Fünf Tage später wollte Sydney endlich ihren Plan in die Tat umsetzen. Mitten in der Nacht hörte sie ein leises Klopfen an ihrer Tür und gleich darauf betrat Serena Hathwell das Zimmer. „Tante Serena! Warum bist du um diese Uhrzeit noch wach?“
Serena starrte auf die Hutschachteln, den großen Schrankkoffer und die kleineren Taschen, die im ganzen Raum verstreut waren. „Das Telegramm, das du gestern erhalten hast! Genauso hat es dein Vater mit deiner Mutter gemacht! Hume will seinen Anspruch auf dich geltend 
machen. Wie romantisch! Ich hätte niemals gedacht, dass er der Typ Mann ist, der mit seiner Verlobten durchbrennt. Aber du weißt ja, was man sagt: Stille Wasser sind tief.“
„Romantisch und Hume sollte man nicht im gleichen Atemzug verwenden. Ich kann ihn nicht heiraten.“ Sydney nahm das Kleid, das eigentlich ihr Hochzeitskleid hätte sein sollen, und stopfte es in den großen Schrankkoffer.

„Du reagierst über!“ Tante Serena nahm das mit Spitze besetzte wunderschöne Seidenkleid wieder aus dem Koffer. „Mr Hume ist natürlich nicht der perfekte Traummann, aber welcher 
Mann ist das schon?“ Serena wandte sich zu Sydney und tätschelte ihr die Wangen. „Du bist nur nervös vor der Hochzeit. Das ist alles.“
„Nein!“ Sydney ergriff die Hände ihrer Tante. „Am Montagabend bin ich noch einmal zu ihm gegangen, um einen letzten Versuch zu wagen, mich ihm zu erklären. Ich wusste nicht, dass Mr Jameson noch da war. Zufällig habe ich gehört –“
„Du hast sie belauscht? Sydney!“ Serenas vorwurfsvoller Unterton wich schnell einer gewissen Neugierde. „Was hast du erfahren?“
Hitze stieg Sydney in die Wangen. „Hume hat seinem Freund erzählt, dass ich nur seinen Zwecken diene. Alles, was er will, ist Zugang zum Adelsstand und einen legitimen Erben.“
„Natürlich will er einen Sohn. Das wollen doch alle Männer.“ Serenas Gesicht wurde plötzlich so rot wie das Kleid, das sie trug. „Oh Liebes, ist es das, wovor du dich fürchtest? Deine ehelichen Pflichten?“
Immer noch schockiert von dem, was sie ansonsten gehört hatte, flüsterte Sydney weiter: „Er hat eine Geliebte und will sie behalten.“
„Er ist ein Mann, Liebes. Alle Männer sind Streuner. Das wird dir nichts ausmachen. Du hast seinen guten Namen, seine Kinder und sein Geld. Tu das, was andere Ehefrauen auch tun: Ignoriere seine Taktlosigkeiten.“
Sydney schüttelte ihren Kopf so vehement, dass sich einige Strähnen aus ihren sorgfältig frisierten Haaren lösten. „Ich werde keinen Mann heiraten, der sein Eheversprechen nicht hält. Ich kann es einfach nicht. Außerdem wollte er mir weder eine schöne Hochzeit noch eine 
Hochzeitsreise gönnen. Er wollte auf dem Weg zu einer Geschäftsreise schnell nebenher in einer Kirche heiraten. Während er dann mit seinen Partnern verhandelt hätte, hätte ich mir allein Boston und Philadelphia anschauen müssen. Ist das nicht schrecklich?“
„Dieser Schuft!“ Die stets anständige Serena musste sich zusammenreißen, nicht üblere Schimpfwörter zu verwenden. „Dieser schreckliche Mann verweigert dir eine angemessene Hochzeit? Jede einzelne meiner Verkupplungen hat bisher in einem rauschenden Fest geendet! 
Was für ein Mann würde seiner Frau den wichtigsten Tag ihres Lebens verderben? Du armes Kind! Kein Wunder, dass du das Hochzeitskleid zuerst eingepackt hast. Ich werde dich hier herausholen.“ Eine Sekunde später hatte sie das elegante Kleid in den Tiefen des Schrankkoffers verschwinden lassen.Erleichterung durchflutete Sydney.
„Wie konntest du etwas so Schreckliches so lange für dich behalten?“
„Ich habe so lange nichts gesagt, bis ich Maßnahmen getroffen hatte, 
die uns beiden weiterhelfen werden. Du erinnerst dich doch daran, 
dass Mutter einen älteren Bruder hat, nicht wahr? Ich habe Kontakt zu 
ihm aufgenommen. Onkel Fuller erwartet mich bereits.“
Serena seufzte. „Das kann ich nicht zulassen. Ich bin für dich verantwortlich und ich sage, du kommst mit mir nach Hause. Das ist das einzig Richtige.“
„Immer das einzig Richtige zu tun hat mich doch überhaupt erst in 
diese Situation gebracht. Wäre es nicht an der Zeit, endlich einmal 
etwas Unvernünftiges zu tun?“, warf Sydney ein. 
Serena hörte auf, Sydneys Kleidung zu verstauen. „Oh nein, ich kenne diesen Blick. Du siehst genauso aus wie deine Mutter, wenn sie eine 
ihrer haarsträubenden Ideen hatte. Also, was hast du vor?“
Ihre Tante war wirklich nicht hinters Licht zu führen. Sydney war 
klar, dass sie nun offenbaren musste, was sie eigentlich geheim zu halten gehofft hatte. „Es gab nur ein kleines Missverständnis, das ist alles.“ 
„Was für ein Missverständnis?“
Sydney zuckte mit den Schultern. „Onkel Fuller dachte, dass ich ein 
Mann bin. Wahrscheinlich wegen meines Namens.“
„Aber du hast ihn natürlich aufgeklärt –“ Serena schnappte nach 
Luft. „Sydney!“
„Warte bitte einen Moment. Hör mir zu.“ Sydney ließ ihrer Tante 
keine Zeit zum Nachdenken. „Als Frau alleine zu reisen wäre schwierig. 
Als mein Onkel mich jedoch verwechselte, wusste ich sofort, was zu 
tun ist, um dieses Problem zu lösen.“
Entsetzen breitete sich auf dem Gesicht ihrer Tante aus. „Du kannst 
doch nicht … du würdest doch nicht … Eine Frau aus gutem Hause 
würde niemals Männersachen tragen. Wenn sich das zu Hause herumspricht, wird nie wieder jemand etwas mit dir zu tun haben wollen. 
Dein guter Ruf –“
„Tante Serena, so einem Gerücht würde zu Hause niemals jemand Glauben schenken. Ich muss diese Maskerade doch nur für kurze Zeit aufrechterhalten. Du musst zugeben, dass es mich schützen wird, in Verkleidung zu reisen.“
„Liebling, wie wirst du das nur anstellen? Du hast doch keine Ahnung von Männern und der Welt, in der sie leben.“
Sydney wandte sich ab, um ihr Lächeln zu verbergen. Tante Serena schwankte schon. Noch ein bisschen Überzeugungsarbeit und sie würde nachgeben. „Es kann nicht so schwierig sein. Niemand wird von 
einem Gentleman aus der britischen Aristokratie erwarten, dass er sein 
Gepäck selber trägt oder irgendeine andere schwere Arbeit verrichtet.“
„Selbst wenn du mit diesem skandalösen Plan durchkommst, was 
wirst du dann tun?“
„Ich habe alles schon geplant. Onkel Fuller hat versprochen, dass er 
sich um mein Wohlergehen kümmern wird. Du musst zugeben, dass 
er näher mit mir verwandt ist als Harold. Wenn sich jemand aus meiner Familie um mich kümmern sollte, dann doch wohl er. Ich werde 
im Januar volljährig. Bis dahin werde ich wissen, ob ich wirklich nach 
England gehöre oder nach Amerika, und egal, wie ich mich dann entscheide, werde ich auf jeden Fall endlich finanziell unabhängig sein.“
„Es dauert noch Monate, bis es Januar ist.“
Die ältere Frau schüttelte den Kopf. „Selbst wenn ich deinem Plan zustimmen sollte, würde dir doch nie jemand Hosen verkaufen.“
Wieder musste Sydney lächeln. „Es muss mir auch niemand mehr 
welche verkaufen.“ Sie öffnete eine Schublade und zog drei Hosen und 
doppelt so viele Hemden heraus. „Diese seltsamen Amerikaner haben 
sich nicht einmal gewundert, als ich Männerkleidung gekauft habe.“
Sydney packte die Kleidungsstücke ordentlich in eine Reisetasche, 
die sie unter dem Bett hervorzog. Männerkleidung ist so viel einfacher zu 
handhaben. „Wie schwer kann es schon werden? Männer müssen sich 
nicht der Mode und Etikette unterwerfen. Sie machen, was sie wollen, 
und gehen dahin, wo sie es wünschen. Sicher kann ich die Rolle des 
reichen Neffen eines Gentlemans aus dem Landadel übernehmen.“
Serena starrte die Hemden an. „Was ist mit deinen … äh … hm.“
Sydney sah ihre Tante einen Moment lang an und wartete darauf, 
dass sie zu Ende sprach. Serena tippte sich schnell auf die Brust. Sydney 
ignorierte die Hitze, die ihr in die Wangen stieg. „Ich werde meinen 
Brustkorb mit einer Bandage umwickeln“, sagte sie schnell. „Es kann nicht unbequemer sein, als ein Korsett zu tragen.“

Serena sah sie schockiert an, ließ sich in einen Stuhl fallen und fächelte sich mit der Hand Luft zu. „Es ist schlimm genug, dass du dich wie 
ein Mann kleiden wirst. Aber dann nicht einmal Damenunterwäsche?“
„Ich schaffe das schon. Schau dir nur einmal diesen Mantel an. Er ist perfekt.“ Sydney zog einen hellgrünen Mantel aus den Tiefen der 
Schublade hervor. „Der sieht genauso aus wie der, den Billy Daniels am letzten Weihnachtsfest getragen hat. Also werde ich darin aussehen wie ein Mitglied des Landadels. Die Amerikaner werden bestimmt sogar erwarten, das ich einen solchen Mantel trage.“
„Kind, du rennst in dein Unglück!“
„Tante, ich weiß, was ich tue. Jetzt ist es genug. Wir müssen uns beeilen. Ich habe die Überfahrt für dich schon gebucht. Das Schiff legt erst 
morgen ab, aber das muss ja hier keiner wissen. Wir lassen dich nach 
dem Mittagessen mit der Kutsche zum Hafen bringen.“
„Ich werde bis zum letzten Augenblick bei dir bleiben.“Sydney legte den Mantel zusammen und legte ihn auf die anderen Kleidungsstücke in ihrer Reisetasche. „Ich danke dir, dass du immer 
für mich da bist. Aber dieses Mal wäre es besser, wenn du mir helfen würdest, sie in die Irre zu führen. Stell dir das doch einmal vor – wenn sie merken, dass ich nicht mehr da bin, denken sie, ich bin mit dir nach England zurückgefahren!“
Serena massierte ihre Schläfen. „Irgendetwas stimmt nicht mit mir. 
Ich denke mittlerweile, dass dein Plan nicht verrückt ist – er ist brillant.“
„Ich werde nicht schauspielern müssen, wenn ich morgen früh vor den Angestellten so tue, als würde ich dich bald ganz schrecklich vermissen. Nach deiner Abreise gehe ich in mein Zimmer zurück und warte bis Sonnenuntergang. Dann mache ich mich auf zum Bahnhof. 
Hume wird erst am nächsten Tag von seiner Geschäftsreise zurückkommen. Dann sind wir beide längst auf und davon.“
* * *
Sydney behielt recht. Sie musste ihre Traurigkeit nicht vortäuschen, als sie ihrer Tante Lebewohl sagte. Da sie Angst hatte, dass eines der Zimmermädchen den leeren Schrank bemerken und seine Schlüsse ziehen könnte, konnte Sydney ihre Tante nicht zum Hafen begleiten. 

Sie aß kaum etwas vom Mittag- und Abendessen, das der Koch auf ihr Zimmer schicken ließ. Um Mitternacht klingelte sie dann nach einem Zimmermädchen, das sie sehr befremdet ansah, als Sydney ein Frühstück bestellte. Doch das Mädchen weckte den Koch und der ließ 
ihr das Tablett schicken. Sydney aß den Kompott und die Eier auf, den gebratenen Schinken legte sie zwischen die Brotscheiben und wickelte sie in eine Serviette. Das würde ihre erste Mahlzeit im Zug sein. 
Kurz vor Sonnenaufgang las Sydney noch einmal Onkel Fullers Telegramm. Geld anbei. Erfreut, einen Neffen zu haben. Kein Bedarf an Frauen hier. 
Bring Stiefel, Hosen und Hemden mit. Um den Rest kümmere ich mich. Grüße, Fuller Johnson.
Serena erwartete, dass Sydneys Maskerade auf der Forsaken-Ranch ein Ende haben würde. Sydney wusste es allerdings besser.
Nur ein einziges Detail musste noch geändert werden. Sydney fuhr sich mit der Hand durch ihr Haar. Das ihrer Mutter hatte den gleichen kastanienbraunen Ton gehabt. Sydney war immer mit ihren Haaren 
zufrieden gewesen, obwohl in England blonde Haare der Renner waren. In einem kurzen Anflug von Eitelkeit starrte sie ihr Spiegelbild an. 
Gentlemen trugen ihr Haar ungefähr bis zum Kinn und strichen es 
dann mit Pomade zurück, aber sie konnte es nicht übers Herz bringen, 
ihre Haare derart zu kürzen. Als Kompromiss könnte sie ihr Haar bis 
kurz unterhalb der Schulter schneiden. Das wäre gerade kurz genug für 
einen Mann und zu kurz für eine Frau. Ja, so würde sie es machen. Immerhin hatten Männer wie George Washington, Napoleon und Custard – nein, Custer – ihr Haar auch zurückgebunden getragen. Sydney atmete noch einmal tief durch und fing an zu schneiden.
Nichts.
Sie hatte nicht eine einzige Strähne abgeschnitten. Zumindest dachte 
sie das, als sie ihre leere Hand sah. Vorsichtig öffnete sie die Schere wieder. Da rutschte eine lange Strähne an ihrem Arm entlang und landete sanft auf dem Boden. Sydney starrte sie an, dann blickte sie wieder in den Spiegel. Jetzt gibt es kein Zurück mehr. Sie streckte ihr Kinn vor 
und schnitt weiter. Als sie die Hälfte ihrer Haare abgeschnitten hatte, 
betrachtete sie sich erneut im Spiegel. Lange, lockige Haare auf der linken, kurze, zottig geschnittene auf der rechten Seite. So war ich – und so werde ich sein. Ich schneide mich selbst frei.

Das Feuer sprühte Funken, als Sydney ihre langen Haarsträhnen verbrannte. Nachdem sie die verbliebenen Haare zu einem Pferdeschwanz 
gebunden hatte, zog sie sich eine Hose an. Sofort zog sie sie wieder herunter. Ihre lange Unterwäsche schob sich unter der Hose zusammen und bildete einen dicken Knubbel. Hastige Schnitte mit der Schere lösten dieses Problem. Nachdem der Stoff entfernt war, ließ sich die 
Hose ohne Probleme hochziehen und saß richtig.
Mit kritischem Blick musterte Sydney sich. „Ich sehe immer noch aus wie eine Frau.“ Da das Hemd länger war, als sie gedacht hatte, rollte sie es hoch und stopfte es in den Hosenbund. Das verdeckte ihre weibliche Figur gut genug. Socken und Stiefel vervollständigten ihre 
Verkleidung.
Der dicke, flauschige Teppich dämpfte das Stampfen ihrer etwas zu großen Stiefel, als sie nach unten in die Halle ging. Die schwere Reisetasche legte sie dabei auf das Geländer. Leise rutschte sie neben Sydney entlang.
Zufrieden damit, wie gut ihr Plan funktionierte, erreichte Sydney die Haustür. Der große, eiserne Türknauf fühlte sich kalt an und die Tür wirkte unnachgiebig und schwer. Noch nie hatte Sydney eine andere Tür als die zu ihrem Zimmer öffnen müssen. Überrascht von der 
Schwere der Tür, lehnte sich Sydney mit aller Kraft dagegen. Mit einem plötzlichen Ruck öffnete sie sich. Sydney war völlig überrascht und stolperte mit einer sehr uneleganten Bewegung über ihre Tasche. 
Ein Laut der Überraschung entfuhr ihr.
Besorgt darüber, dass vielleicht jemand die seltsamen Geräusche in 
der Halle gehört haben könnte, rappelte Sydney sich schnellstens wieder auf, packte ihre Tasche und hastete aus der Tür. 
Als Sydney schließlich die Zufahrt zu Humes Haus hinuntereilte, war sie nicht mehr alleine. Oscar, Humes Windhund, wich ihr nicht von der Seite. „Geh nach Hause“, befahl sie.
Oscar gehorchte ihr nicht. Er lief weiter neben Sydney her, als habe sie ihn an der Leine. Vielleicht wäre es gar nicht so schlecht, wenn er sie begleitete. Immerhin war es noch dunkel. „Ich laufe davon. Ich könnte verstehen, wenn du das auch tun würdest. Er ignoriert dich genauso, wie er es bei mir getan hat.“
Nach einer Weile gesellte sich ein Terrier zu ihnen. „Kusch, kusch! Verschwinde!“ Er ignorierte Sydneys Befehl und bellte sie freundlich an. Dann schloss sich ihnen ein dritter Hund an. Sydney bog um eine Häuserecke, ging noch ein paar Schritte und blieb dann stehen. Wo 
der vierte Kläffer plötzlich hergekommen war, konnte sie nicht sagen. 
Verärgert murmelte sie: „Ich versuche, möglichst unauffällig zu sein.“
Vier haarige Hundeschwänze wedelten ihr – unbeeindruckt von ihrem Protest – freudig zu. Der Terrier setzte sich auf ihren Fuß.
„Also ehrlich.“ Sydney beugte sich herab, um ihn zur Seite zu schubsen, kraulte ihn aber schließlich zwischen den Ohren. „Guter Hund. 
Jetzt musst du mich aber in Ruhe lassen.“
Er bewegte sich nicht.
Oscar beschnupperte Sydneys Tasche. 
„Ach das wollt ihr! Ihr seid nicht mehr als eine Bande Bettler.“ Sie 
hörte sich selbst sprechen und zuckte zusammen. Ich höre mich an wie 
ein Mädchen. Mit tieferer Stimme sagte sie: „Jetzt reicht es.“
Als sie ihr mit Schinken belegtes Brot aus der Tasche zog, umringten sie die Hunde. Sie verschlangen den gesamten Schinken und einen Großteil des Brotes. Als sie fertig waren, verschwanden alle Hunde bis auf Oscar. „Geh nach Hause, mein Guter.“ Er blickte sie traurig an. 
Plötzlich war das Geklapper von Hufen und einer Kutsche auf der Straße zu hören. Als das Gefährt vorbeirollte, rief der Insasse plötzlich seinem Fahrer zu, er solle anhalten. 
Sydney gefror das Blut in den Adern. 

Kapitel 2
Er ist es! Das darf nicht sein – er ist viel zu früh! Sydney bekämpfte den Wunsch zu fliehen. Sie konnte Hume nicht entkommen – vor allem nicht in diesen Stiefeln. Ihr einstiger Verlobter öffnete die Tür der Kutsche und kam auf sie zu. „Das ist mein Hund.“
Sydney zuckte nur mit den Schultern. Sie konnte sich nicht auf ihre Stimme verlassen. 
Hume kam näher. Der Geruch von Zigarren und Brandy strömte ihr entgegen – zusammen mit dem Duft eines blumigen Damenparfums. 
„Oscar. Geh nach Hause!“
Oscar trottete mit dem Schwanz zwischen den Beinen von dannen.
„Kenne ich Sie?“ Hume blinzelte sie an.
„Sir“, rief der Fahrer der Kutsche, „kommen Sie?“
„In fünfzig Metern bin ich zu Hause. Das Stück kann ich auch laufen“, rief Hume böse.
„Sie schulden mir einen Dollar.“
Während Hume seine Taschen abklopfte, wagte Sydney einen Blick auf die Kutsche. Sie bemühte sich, barsch zu klingen. „Ich brauche eine Kutsche.“
„Jameson Winthrop! Ich wusste, dass ich Sie kenne. Sie sind Prestons Neffe. Verlassen Sie uns schon wieder?“ Hume klopfte ihr väterlich auf die Schulter. „Bringen Sie den Jungen zum Zug. Hier, nehmen Sie, das wird ja wohl genug sein.“ Mit diesen Worten überreichte Hume dem 
Fahrer einen Geldschein.
Sydney tippte sich an den Hut und murmelte: „Danke sehr.“
Für eine Sekunde wartete sie darauf, dass Hume ihr die Tür öffnen 
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und beim Einsteigen helfen würde. Sofort fiel ihr ihr Fehler auf. Sie 
öffnete die Tür und kletterte plump in die Kutsche. Für die nächsten 
sechs Monate würde sie auf die gewohnten Annehmlichkeiten verzichten müssen, aber diese Erkenntnis entfachte ihre Abenteuerlust nur 
umso mehr.
Während sie sich zurücklehnte, warf Sydney noch einen letzten 
langen Blick auf das, was sie hinter sich ließ. Hume entfernte sich in 
der anbrechenden Dämmerung. Eine Hochzeit mit ihm hätte für sie 
lebenslanges Unglück bedeutet. Es wäre wie ein Gefängnis gewesen. 
Erleichterung durchströmte sie. Sie war entkommen.
* * *
Drei Tage später stand Sydney vor dem Schalter des Chicagoer Bahnhofes und hoffte, ihr Verhalten wäre mittlerweile männlich genug. „Einmal erste Klasse nach Austin. Dann weiter nach Gooding, Texas.“„Wollen Sie einen Schlafplatz?“
Sie nickte.
„Das macht dann einhundertachtzehn Dollar und neunundzwanzig 
Cent.“
Sydney kramte in ihrer Hosentasche. Männer hatten ja keine Ahnung, wie praktisch ihre Kleidung war. Man konnte alles in diese Hosentaschen hineinstopfen. Sie zog sieben Banknoten hervor.
Der Mann am Schalter inspizierte jeden Geldschein genauestens. 
„Die sind alle in Ordnung. Sie würden nicht glauben, wie viele Menschen mir hier Falschgeld andrehen wollen.“ Er sah ihr direkt in die 
Augen. „Mich kann niemand zum Narren halten. Ich erkenne jeden 
Betrug.“
Sydney hielt den Atem an. Weiß er es?
„Hier ist Ihr Wechselgeld, junger Mann. Es dauert noch eine gute Stunde, bis Ihr Zug abfährt.“
„Vielen Dank.“ Sie sah sich im Bahnhofsgebäude um, konnte allerdings keinen Kaugummiautomaten erspähen. Obwohl sie der Meinung war, dass Männer, die Tabak oder Kaugummi kauten, aussahen 
wie Vieh, das sein Futter verzehrte, schien ein Mann scheinbar dennoch immer etwas kauen zu müssen. Vielleicht würde es sie männlicher 
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wirken lassen, wenn sie auch auf etwas kaute. Sie räusperte sich. „Entschuldigung. Gibt es hier keinen Kaugummiautomaten?“
Der Mann am Schalter schüttelte den Kopf. „Dieses neumodische 
Zeug haben wir hier nicht. Der Laden auf der anderen Straßenseite 
führt Kaugummi.“
Sydney hastete über die Straße und beeilte sich, einer Dame, die 
den Laden gerade betreten wollte, die Tür aufzuhalten. „Erlauben 
Sie, Ma’am.“
„Vielen Dank, Sir.“ Die Dame stolzierte in den Laden. Während 
der Angestellte der Dame bei ihrem Einkauf behilflich war, schlenderte Sydney durch das Geschäft. In London war sie in Boutiquen und 
Schneidereien gewesen, aber sie hatte nie die Erlaubnis gehabt, alleine 
einkaufen zu gehen. Dieser Ort war voll von wunderbaren, unbekannten Dingen. Sydney blieb einen Moment stehen, um ihre neu gewonnene Freiheit zu genießen. 
„Ihre Reisetasche können Sie hier bei mir abstellen.“ Der Ladenbesitzer hielt einen Korb hoch. „Hier können Sie Ihre Waren einräumen.“
„Wunderbar.“ Sydney merkte, dass sie ihre Stimme nicht verstellt 
hatte und hustete. „Entschuldigung.“
„Hinter Ihnen steht Dr. Pepper. Das wird Ihnen helfen.“
Sydney griff nach einer Flasche des Getränkes und legte sie in ihren Einkaufskorb. Außerdem erschienen ihr gepökeltes Rindfleisch und Kaugummi als angemessene Dinge für einen echten Mann. Sydney versuchte, nur Nahrungsmittel auszuwählen, die sich auf ihrer Reise 
möglichst lange halten würden. Die Erdbeeren, die sie am liebsten gekauft hätte, ließ sie stehen, aber Plätzchen wären eine gute Alternative. Fünf Tage im Zug bedeuteten, dass sie auf jeden Fall auch in den 
Speisewagen gehen müsste, aber sie hoffte, einige Mahlzeiten umgehen 
zu können, indem sie jetzt klug einkaufte. Die Preise im Zug waren 
überhöht und Sydney wollte Geld sparen, wo es nur ging.
Bis jetzt hatte sie nur wenig geredet. Was Frauen sagen konnten und 
durften, kam immer darauf an, wer anwesend war. Seit dem ersten Tag, 
an dem sie sich verkleidet hatte, war ihr eine Tatsache ins Auge gestochen, die sie so nicht erwartet hätte: Männer änderten ihre Gesprächsthemen und die Art, wie sie redeten, wenn eine Frau anwesend war. 
Onkel Fullers Telegramm ließ sie vermuten, dass sie es auf der Farm 
ausschließlich mit Männern zu tun haben würde. Wenn ihre Maskerade funktionieren sollte, würde sie lernen müssen, sich wie ein Mann zu unterhalten.
Den Männergesprächen um sie herum zuzuhören erschreckte Sydney. Und was sie für Ausdrücke benutzten! Irgendwie hatte Sydney immer gedacht, Männer würden über Familie, Arbeit und Politik reden. 
Sie redeten allerdings kaum über ihre Familien. Männer identifizierten sich nur mit ihrem Handwerk oder Beruf und was die Politik anging – Sydney musste die Zeitung lesen, um überhaupt zu verstehen, worüber die Männer in ihrer Umgebung sprachen. Bis jetzt hatte sie immer nur mit den Schultern gezuckt, wenn man sie nach ihrer Meinung gefragt hatte und geantwortet: „Ich komme aus England.“
Sie ging auf die Kasse zu. „Haben Sie auch Zeitungen?“
„Der Junge an der Ecke verkauft sie.“ Der Ladenbesitzer zeigte in die entsprechende Richtung. „Ich habe aber eine Auswahl an bester Unterhaltungslektüre.“
Sydney wagte das zu bezweifeln. „Das sind doch bestimmt Groschenromane.“
„In der Tat. Sie gehen weg wie heiße Semmeln. Sie sind doch aus England, nicht wahr? Dann werden Sie Westerngeschichten lieben. Buffalo Bill ist ein wahrer Mann.“
„Danke für den Tipp.“ Sydney nahm sich zwei der dünnen Heftchen und legte sie zu ihrem Einkauf in den Korb. Dann räusperte sie sich. 
„Was schulde ich Ihnen?“
„Der Tabak ist heute im Angebot, junger Mann.“ Eine hochgezogene 
Augenbraue ließ diese Aussage wie eine Frage erscheinen.
„Das Kaugummi reicht, danke.“ Nachdem sie ihren Einkauf in ihre 
Tasche gepackt hatte, bestieg Sydney den Zug nach Texas. Eine Meile 
nach der anderen flog vorbei, während Sydney von einem kecken Mann 
namens Buffalo Bill und seinen haarsträubenden Abenteuern las. 
Tapfer erduldete sie den Gestank, der ihre Mitreisenden umgab. 
Die Männer achteten nicht sonderlich auf ihre Körperpflege. Trotzdem wunderte sich Sydney, dass es ihr so leicht fiel, die Rolle des 
jungen englischen Adligen zu spielen. Fast war es zu einem Spiel geworden. Durch das Beobachten und Imitieren der anderen hatte sie 
gelernt, wie sie sich zu verhalten hatte. Allerdings zog sie eine Grenze, 
wenn es darum ging, auf den Boden zu spucken oder den Mund am 
Ärmel abzuwischen.
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Je weiter der Zug fuhr, desto weiter schienen sie sich auch von der Zivilisation zu entfernen. Sie hatte die Amerikaner immer für unkultiviert und undiszipliniert gehalten, aber als die Meilen an ihr vorbeiflogen, fand sie ihr Verhalten und ihre seltsamen Ausdrücke immer 
faszinierender. Wo auch immer sie war – jedes Mal, wenn ihr etwas Seltsames passierte, was sie eigentlich als Frau hätte verraten müssen, schoben die Männer es darauf, dass sie aus England kam. 
Sydney wusste noch nicht, was sie von dieser wilden Umgebung halten sollte. Die Landschaft war wunderschön, offen und unberechenbar. 
Als die Tage vergingen und Sydney nur noch in der Ferne kleine Inseln der Zivilisation erblickte, verstand sie allmählich, dass Texas eine völlig andere Welt war als die, die sie bisher kannte. Ihre Maskerade würde schwieriger aufrechtzuerhalten sein, als sie gedacht hatte.
* * *
Gooding, Texas
Kopfschüttelnd beobachtete Timothy Creighton von dem Rücken seines Pferdes aus, wie der Junge langsam näher kam. Er streckte sich, nahm seinen Hut ab und schüttelte sein kurzes Haar, um sich ein wenig Abkühlung zu verschaffen. Der Junge ging so langsam, dass er immer noch fast an genau der gleichen Stelle zu sein schien wie vor fünf Minuten. Tim lehnte sich weiter nach vorne und kniff seine Augen zusammen, um den Jungen genauer betrachten zu können. 
Das, was er sah, hielt er zuerst für das Ergebnis eines zu arbeitsreichen Tages. Vielleicht hatte Tim zu lange im Sattel gesessen und die Sonne hatte seine Augen geschädigt. Doch auch ein tiefer Schluck aus seiner Wasserflasche änderte nichts an dem Bild, das sich ihm bot.

Fullers Neffe war genau so, wie Tim befürchtet hatte. Schlimmer, wenn das überhaupt noch möglich war. Dieses Kind schien keinen einzigen Muskel am Körper zu haben. Er konnte nicht einmal seine Tasche vernünftig tragen. Er zog seine Füße über die staubige Straße 
wie ein lustloser Schuljunge. Und dann diese Aufmachung – die bunte 
Kleidung. Wo hatte er nur die gelbe Hose her? Und dieser grüne Mantel! Welcher Mann würde freiwillig so etwas anziehen? 
Der Knilch würde es nicht mal innerhalb der nächsten Stunde zur Ranch schaffen, wenn er so weiterschlurfte. Nicht gewillt, dem Jungen den Weg auch nur ein wenig zu erleichtern, zog Tim sanft an den Zügeln seines Palomino und führte ihn so in die entgegengesetzte Richtung. Er hatte noch genug Zeit, um den Wasserstand im Teich zu überprüfen, bevor er nach Hause zurückkehren und den Jungen begrüßen 
müsste. 
„Herr, wenn es dir nichts ausmacht“, betete Tim und erhob seinen 
Kopf gen Himmel, „schick Fuller möglichst schnell hierher zurück. Ich 
habe kein gutes Gefühl, was diesen Jungen betrifft.“
* * *
„Was ist das denn für ein Weichei?“, ächzte Bert, als er den neuen 
Mann die Straße heraufkommen sah.
Tim blieb im Schatten des Stalles stehen und beobachtete die Szene. 
Er war zu dem Entschluss gelangt, dass sein vorschnelles Urteil ungerecht gewesen war. Der Junge verdiente die Chance, sich selbst zu 
beweisen. Wenn Tim sah, wie er mit den Farmarbeitern umging, würde 
er wissen, wie er Fullers Neffen einzuschätzen hatte.
Die Männer schauten auf und starrten in die Richtung, in die Bert 
wies. Anschließend warfen sie sich verstohlene Blicke zu. Dann richteten sie ihre Aufmerksamkeit wieder auf den Jungen. Ungläubigkeit 
machte sich unter ihnen breit, dann fingen sie an zu murmeln. Fuller 
hatte sie zwar gewarnt, dass sein Neffe in Londons besserer Gesellschaft 
aufgewachsen war und nichts über das harte Leben eines Rancharbeiters wusste, aber auf diesen Anblick waren sie doch nicht gefasst gewesen.
„Hab mal einen Leierkastenmann gesehen.“ Pancake spuckte einen 
Klumpen Tabak auf den Boden. „Sein Affe hatte genau so ’ne Jacke 
an.“
Alle Männer mussten bei dieser Äußerung grinsen. Das sagte mehr 
als tausend Worte. Doch Pancake hatte recht. Kein Mann würde freiwillig eine weihnachtsbaumgrüne Jacke mit goldenen Fransen und 
Knöpfen tragen. Tim würde jeden erschießen, der ihm dieses Kleidungsstück anböte, und dann das beleidigende Stück verbrennen ... 
natürlich nachdem er die goldenen Knöpfe abgetrennt hätte.

„Der Affe hat ziemlich gut getanzt. Und mit ’ner Tasse in der Hand gebettelt. Sonst konnte er nix.“ Pancake kratzte seinen üppigen Bauch und murmelte leise: „Könnten Brüder sein.“ 
„Der Affe war bestimmt nützlicher, als der hier sein wird.“ Juan starrte immer noch auf den seltsamen Anblick, der sich ihm bot. 
„Darauf hat Fuller uns wirklich nich’ vorbereitet, oder?“
Gulp fuhr sich mit der Hand über seinen Dreitagebart. Sein großer Adamsapfel hüpfte, als er schluckte, was ihm auch seinen Spitznamen „Gulp“ – schlucken – eingebracht hatte. „Er konnte ja nich’ ahnen, dass es so schlimm sein würde. Heiliger Strohsack, das konnte niemand ahnen.“
Merle unterbrach ihn. „Ich hab auch schon mal so was Ähnliches 
gesehen. Ich bin umgekippt, weil ich ’n bisschen was getrunken hatte, 
und als ich wieder aufgewacht bin, hat sich die Witwe O’Toole über 
mich gebeugt. Das war ’n Schock!“
Spöttisches Gelächter folgte dieser Äußerung. Es gab nur wenige 
Dinge, die schlimmer waren, als von der Witwe O’Toole unter die 
Fittiche genommen zu werden. Die Zunge dieser Frau war schärfer 
als eine Rasierklinge und sie machte keinen Hehl daraus, was sie vom 
Alkoholgenuss hielt.
„Ich sag euch, diese Frau tickt nich’ mehr ganz richtig. Welcher 
Mann kann zu ’n paar Bier schon Nein sagen?“ Noch mehr Gelächter 
feuerte Merle an weiterzuerzählen. Er schwankte vor und zurück wie 
ein Matrose auf Landgang. „Ich sag euch die Wahrheit, Leute. Jeder 
Mann, der in den Armen der Witwe O’Toole aufwacht, betet automatisch um Erlösung!“
Der Fremde kam näher. „Ho!“
„Ho!“, riefen die Männer zögernd.
Fullers Neffe schien ihre Erwiderung für Enthusiasmus zu halten, 
denn er strahlte vor Stolz. „Was für eine überaus freundliche Begrüßung! Ich bin Lord Sydney Hathwell. Mein Onkel erwartet mich.“
„O Lord, hilf ihm“, murmelte einer der Farmarbeiter in die plötzliche Stille hinein.
„Es ist nicht nötig, meinen Titel zu verwenden. Das machen Amerikaner nicht so häufig, wissen Sie?“ Der Junge lächelte. „Aber ja, ich hoffe tatsächlich, meinem Onkel eine Hilfe zu sein. Wie ich schon sagte, er erwartet mich, meine Herren.“

Einen Moment lang schwiegen alle, verblüfft darüber, dass der Junge die Beleidigung nicht verstanden hatte. „Ich wette, dass er dich nicht erwartet“, murmelte jemand anderes. „Auf manche Dinge kann man 
einfach nich’ gefasst sein.“
Mit vorgerecktem Kinn fragte der Junge: „Ist mein Onkel ausgeritten 
oder finde ich ihn im Haus?“
„Er is’ in Abilene. Für ’n paar Wochen oder so.“ Pancake kratzte sich 
wieder gedankenverloren am Bauch. 
„Dann vielleicht meine Tante –“
„Söhnchen, Fuller hatte nie ’ne Frau.“
„Ich verstehe.“ Nachdem er seine Tasche auf den Boden fallen gelassen hatte, musterte der Junge die Männer um sich herum mit hochmütigem Blick. „Hätten die Herren wohl die Güte, wenigstens so höflich 
zu sein und sich vorzustellen?“
Immerhin blickten die Männer ein bisschen beschämt drein. Sie drucksten herum. Schließlich zeigte Merle mit dem Daumen auf jeden der Männer und stellte sie vor: „Bert, Pancake, Juan, Boaz, Gulp. Ich bin Merle.“
Anstatt ihnen die Hand zu schütteln, nickte Hathwell den Männern der Reihe nach zu. „Ich bin erfreut, die Angestellten kennenzulernen.“Angestellte?! Tim unterdrückte ein Stöhnen. Der Junge hatte wirklich keine Ahnung vom wahren Leben. Das hatte er in den letzten Minuten 
zur Genüge bewiesen.
Die Männer starrten Hathwell an. Endlich brach Merle das Schweigen. „Velma is’ zu Etta Sanders gegangen, um ihr mit dem Baby zu 
helfen. Sie is’ seit gestern weg. Wahrscheinlich hatte sie noch keine 
Zeit, dein Zimmer vorzubereiten. Aber geh ruhig rein. Creighton muss 
jeden Augenblick wiederkommen.“
„Creighton?“
Pancake nickte. „Tim Creighton. Er und Fuller sin’ Geschäftspartner. 
Er leitet den Laden hier, wenn der alte Fuller nich’ da is’. Ihm gehört 
ein Viertel von dem Land hier.“
„Ich verstehe.“
Das nahm Tim zum Anlass, endlich aus dem Schatten des Stalles 
hervorzutreten. „Das ist hier kein Kaffeekränzchen. Geht zurück an 
die Arbeit, Männer.“
Sydney Hathwell drehte sich um und starrte ihn an. 

Um nicht zu grinsen, wiederholte Tim seine Aufforderung. „Los, an die Arbeit! Ihr werdet nicht fürs Herumstehen bezahlt.“
Die Männer gingen murmelnd davon. Tim zog langsam seine Lederhandschuhe aus, schlug sie gegen seinen Oberschenkel und wischte sich dann mit dem Ärmel den Schweiß von der Stirn. Auch nachdem er das getan hatte, änderte sich der Anblick, der sich ihm bot, nicht. Wenn überhaupt, sah der Junge noch alberner aus als vorher. Bevor Tim etwas sagen konnte, was er später bereute, erklärte er: „Du hast gehört, was die Männer gesagt haben. Geh zum Haus. Velma ist schon wieder da.“
Der Junge streckte sich, sein inn hob sich etwas. Daran gewöhnt, Männern Befehle zu erteilen, starrte Tim ungerührt zurück. 
Hathwell sah zur Seite. Er zögerte, nahm seine Tasche und nickte. „Also gut.“
Obwohl er sich dazu entschlossen hatte zu gehorchen, musste der 
Junge anscheinend doch das letzte Wort haben. Hathwells Mangel an 
Körpergröße, Kraft und Erfahrung in der Landwirtschaft waren große Nachteile. Aber seine Einstellung – Tim schüttelte den Kopf. Ein 
Knilch wie er konnte alles durcheinanderbringen. Das Erste, was Tim 
tun musste, war, diesem Bürschchen einen Platz und eine Aufgabe zuzuweisen.
Tim Creighton beobachtete den Jungen, wie er zum Haus schlurfte.
Pancake kam zu Tim herüber. „Was war ’n das?“
„Das“, sagte Tim mit Grabesstimme, „ist Fullers Verwandtschaft.“
„Wie zum Henker konnte Fuller sich nur so ’nen Neffen anlachen?“ 
Der Farmhelfer schüttelte den Kopf. „Der is’ ja zimperlicher als die sechs Richardsonmädchen.“
Tim verzog das Gesicht.„Sein Gesicht is’ immer noch so weich wie ’n Babypopo.“„Habe ich gesehen, Pancake.“Der Arbeiter stichelte weiter: „Wenn der Wind hier mal ’n bisschen 
kräftiger weht, haut er das Bürschchen doch um. Hast du seine Hände gesehen, Boss? Weich wie Seide, keine einzige Schwiele zu seh’n. Ich wette, der hat noch nie gearbeitet.“
Tim merkte, dass er diesen Sticheleien ein Ende machen musste. „Er 
ist noch jung.“

„Ja. Seine Stimme kiekst noch. Wenn der überhaupt jemals was in seinem Leben erreicht, wird er wohl Pfarrer. Die feinen Ausdrücke hat er jedenfalls schon drauf.“
Tim warf Pancake einen schiefen Blick zu und behielt seine Gedanken für sich. So gerne er auch einen Kommentar zu diesem extravaganten Bürschchen abgegeben hätte, wusste er, dass es nicht richtig wäre. 
Immerhin war er der Neffe seines Partners. Tim musste also loyal und diskret sein. „Ich kann nicht riskieren, dass Fuller nach Hause kommt und dann dieses Bürschchen hier vorfindet. Wir müssen uns um den Jungen kümmern und etwas aus ihm machen.“
„Da brauchen wir aber ’n Wunder, sonst wird das nix.“
„Mit Wundern kenne ich mich nicht aus, aber mit Männern schon.“
„Boss, du wirst ziemlich genau hinschauen müssen, wenn du an dem Jungen was finden willst, was man in Form bringen kann. Ich hab schon Frauen gesehen, die männlicher war’n als er!“ Pancake lachte kurz. „Die Witwe O’Toole zum Beispiel.“
Tim konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen. Dann sah er wieder bedrückt in Richtung Haus.
„Wenn Fuller nach Hause kommt und diesen Witz von ’nem Mann 
sieht, wird seine Kur umsonst gewesen sein. Er fällt auf der Stelle tot 
um“, warnte Pancake.
„Das wird nicht passieren.“ Tim straffte sich. „Ich werde etwas unternehmen.“
„Was willst du tun?“
Tims Gesichtsausdruck wurde entschlossen. „Was auch immer getan werden muss. Für das Bürschchen wird es aber bestimmt mehr als unangenehm.“
„Das kann ich mir denken, Boss.“ Pancake schüttelte wieder fassungslos den Kopf. „Oh Mann, was denkt der sich nur dabei, solche Klamotten zu tragen?“
„Kleidung kann man ablegen.“
Pancake spuckte seinen Kautabak in Richtung eines Löwenzahnes 
und bewies erstaunliche Treffsicherheit. „Ich glaub nicht, dass aus dem 
noch was wird.“
Tim presste seine Lippen aufeinander. Es gab eben Zeiten, da bot einem das Leben nichts anderes als Gesäßschmerzen, wenn man den ganzen Tag reiten musste. Er hatte zwar keinerlei Lust darauf, aber er war kein Mann, der vor seiner Verantwortung davonlief. Er seufzte tief bei dem Gedanken daran, was ihm die nächsten Tage bringen würden. „Morgen fangen wir damit an, den Jungen zu einem Mann zu machen.“
„Oh nein, Boss!“
„Die Bibel sagt uns, dass wir die Last unseres Nächsten mittragen 
sollen.“
Das Gesicht des Farmarbeiters verdüsterte sich. „Das is’ ein Grund 
dafür, warum ich mich nich’ in der Kirche blicken lasse. Aber wenn 
du schon anfängst, die Bibel zu zitieren, dann denk dran, dass es einen 
Unterschied zwischen der Last deines Nächsten und einer ausgewachsenen Katastrophe gibt.“ Pancake deutete mit der Hand in Richtung 
Haus. „Dieser Junge is’ eindeutig ’ne Katastrophe.“
„Es liegt jetzt an mir, etwas aus dem Jungen zu machen, bis Fuller 
zurückkommt.“
Pancake konnte sich ein Lachen nicht verkneifen. „Soll ich Wetten darüber annehmen, wen von euch wir zuerst beerdigen müssen?“
„Versuch das und du bist der Erste, der hier einen Sarg braucht.“„Is’ ja schon gut, Boss.“
„Hast du nichts mehr zu tun, Pancake? An die Arbeit mit dir.“
Pancake machte sich langsam wieder auf den Weg zur Koppel, doch über seine Schulter hinweg rief er: „Und du hast auch noch was zu tun, Boss. Ich beneide dich nicht um deine Aufgabe. Der Junge wird ’n harter Brocken, denke ich.“
* * *
Sydney ging auf das zweistöckige, mit Schindeln gedeckte Farmhaus zu. Ihr Verstand sagte ihr, dass sie die rauen Kerle hinter sich lassen und sich auf die Aufgaben im Haushalt beschränken sollte, doch ihr Stolz verlangte das Gegenteil von ihr. Sie weigerte sich, den selbst ernannten 
Boss dieser Farm zu ernst zu nehmen. Er würde ihr dieses Abenteuer nicht kaputt machen.
Und was würde das für ein Abenteuer werden! Sydney sah sich um 
und lächelte. Die Ranch war meilenweit von duftenden Wiesen umgeben, auf denen zahllose Kühe grasten. Einige Kälber drängten sich an 
ihre Mütter. Die Luft war vom Gesang der Vögel erfüllt und Tausende 
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wilder Blumen zauberten bunte Tupfen in die Landschaft. In so einer 
Umgebung zu leben konnte weder Mühsal noch Entbehrung bedeuten.
Das Gewicht ihrer Reisetasche zerrte an ihrem Arm und ihrer Schulter. Den Angestellten hier musste mal jemand Manieren beibringen. 
Nicht nur, dass sie sich nicht vorgestellt hatten – sie hatten auch ihr Gepäck geflissentlich übersehen. Und dann dieser letzte Mann, dieser Tim sowieso, dem würde sie schon noch ihre Meinung sagen.
Mama hat immer gesagt, dass selbst die besten Angestellten machen, was sie wollen, wenn der Herr nicht im Haus ist. Dem Aussehen der Ställe und Weiden nach zu urteilen wurde diese Farm vorbildlich geführt. 
Doch jetzt war Onkel Fuller nicht da. Vielleicht war das der Grund für das Desinteresse der Angestellten an seinem Neffen. Nun – es würde sich alles regeln.
Sydney bekämpfte den Impuls, sich noch einmal zu dem schwarzhaarigen Mann umzudrehen. Sie hatte sich fast den Hals verrenkt, um 
zu ihm aufzusehen. Der Staub auf seinen Hosen ließ darauf schließen, 
dass er ein Mann war, der hart arbeitete. Er hatte auch so gerochen, 
als habe er gearbeitet – nach Leder und Schweiß. Aber auch er hatte 
ihr nicht seine Hand zum Gruß angeboten. Sydney konnte nicht beurteilen, ob es daran lag, dass er schüchtern war, oder ob er sich wegen seiner schmutzigen Kleidung unwohl gefühlt hatte. 
Plötzlich traf sie eine Erkenntnis: Der Mann war nicht schüchtern. 
Er hatte sich wegen seines Aufzuges auch nicht geschämt. Er war sogar stolz darauf gewesen. Sein Auftreten brachte ihm den Respekt und den Gehorsam der anderen Männer ein. Ein Lächeln umspielte Sydneys Lippen. Ein Mann zu sein war ... einmalig. Und auch ein bisschen 
lustig.
Sydney ging weiter auf das Haus zu und schaffte es, noch einen Blick auf diesen Tim zu erhaschen. Sogar aus dieser Entfernung sah er so aus, als könnte er alles schaffen, was Buffalo Bill in den Westerngeschichten tat. 
Ihre Stiefel stapften laut über die hölzerne Veranda des Farmhauses. Zu ihrer Linken hing eine gemütliche Schaukel von der Decke. Sydney stellte sich vor, wie es sein würde, dort zu sitzen und ein Glas Limonade zu genießen. Nach der langen Reise konnte sie jetzt endlich ihre schrecklichen Stiefel loswerden, dieser Velma sagen, sie solle ihr einen kühlen Trunk bringen und –