Manchmal wünschte ich mir Flügel, Noreen Riols

11/03/2022
von Christ-und-Buch Rolf Rosskopf

Manchmal wünschte ich mir Flügel, Noreen Riols

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Ein Blitz aus heiterem Himmel

Das Telefon neben meinem Bett klingelte schrill und riß mich aus einem tiefen, unruhigen BN1663-3.jpg?1667463026924 Schlaf. Blinzelnd sah ich die wässrige Novembersonne durch den Vorhangspalt, doch ich wollte nicht aufwachen. Ich wollte mich dem neuen Tag nicht stellen. Aber das Telefon schrillte unerbittlich. Widerwillig streckte ich den Arm aus, um den Hörer abzunehmen. Dabei fiel mein Blick auf das Kinderbettchen neben mir. Das Baby war wach. Mit seinen dunkelblauen Augen sah es mich an, und mein Herz zerschmolz vor Liebe. „Kit", flüsterte ich, „Kit!" Es war ein Sonntagmorgen, und mein Sohn war erst drei Tage alt.

Schlaftrunken hörte ich, wie auf der Straße ein Messerschleifer lauthals seine Dienste anbot, während er mit seinem Karren langsam weiterfuhr. Seine Stimme vermischte sich mit denen der Frauen, die mit prallgefüllten Einkaufstaschen vom Markt nach Hause eilten. Ein gewöhnlicher Sonntagmorgen, aber hier war alles so anders, als ich es aus meiner Kindheit kannte. Während mein Kopf allmählich klarer wurde, dachte ich wehmütig an die sonntägliche Stille einer englischen Vorortstraße.

„Hallo", sagte ich schläfrig in den Hörer. Es war mein Vater, der aus Essex anrief. „Geht es dir gut?" fragte er besorgt. „Ich kann dich kaum verstehen. Die Verbindung scheint ziemlich schlecht zu sein." Die Verbindung war ganz in Ordnung. Es lag an mir. Ich hatte einfach keine Lust zu reden. „Es tut mir leid", gähnte ich, „ich schlafe noch halb." „Wie geht es dem Kleinen?" Ich schaute noch einmal in das Kinderbett. Das sanfte, gleichmäßige Atmen verriet mir, daß mein Junge eingeschlafen war.

„Er ist so niedlich", murmelte ich. „Ich gebe dir mal Mutter." „Wie geht es dir?" vernahm ich die fürsorgliche Stimme meiner Mutter durchs Telefon. „Großartig", log ich. „Wie heißt er?" „Christopher Robert." Robert war der Name meines Großvaters, und ich wußte, daß für meine Mutter dieses Neugeborene etwas ganz Besonderes sein würde.

Ich legte auf und blickte aus dem Fenster. Die Bäume standen schwarz und kahl in dem kleinen Hof des Hertford British Hospital am Rande von Paris. Das fahle Sonnenlicht hatte es aufgegeben, sich einen Weg durch die Wolkendecke zu suchen; ein trübes Grau lag über allem. Genauso war meine Stimmung. Tränen rannen mir langsam über das Gesicht, und ich verstand nicht, warum es in mir so leer und düster aussah.

Anstatt mich über den Anfang dieses neuen Lebens zu freuen, fühlte ich mich, als sei alles Leben erloschen. Wie die Hyazinthenzwiebeln, die ich ein paar Tage zuvor eingepflanzt hatte, hätte ich mich am liebsten in die Erde vergraben, um erst im Frühjahr wieder zum Vorschein zu kommen. Ich konnte mich selbst nicht verstehen. Christopher war ein hübsches, neun Pfund schweres Baby. Wir hatten uns alle auf ihn gefreut und ihn bereits ins Herz geschlossen. Und doch war da diese Dunkelheit, diese Hoffnungslosigkeit, dieser Widerwille, der Zukunft ins Auge zu sehen.

Es klopfte, und ein zierlicher weißhaariger Mann trat ein. „Ich bin der katholische Priester", sagte er schüchtern. Dann lächelte er, und ein Strahlen ging über sein Gesicht. „Ich bin evangelisch", erwiderte ich. Ein Funken Hoffnung leuchtete auf. Vielleicht konnte dieser gütige alte Herr mir helfen und mir sagen, warum ich mich so niedergeschlagen fühlte. Ich lächelte zurück, aber er wandte sich bereits wieder zum Gehen.

„Ihr Pfarrer wird bald vorbeikommen", sagte er freundlich. „Übrigens findet heute nachmittag in der Kapelle ein anglikanischer Gottesdienst statt." Er blickte auf das schlafende Kind. „Gott segne sie beide", flüsterte er sanft und ging hinaus. Mir wurde das Herz wieder schwer. Der evangelische Pfarrer - oder vielmehr sein Vikar - hatte kurz hereingeschaut, um mir Guten Tag zu sagen und zu gratulieren. Aber er war jung und erst seit kurzem verheiratet. Ich hatte nicht das Gefühl, daß er verstehen könnte, was in mir vorging.

Um halb drei Uhr nachmittags saß ich allein in einer der hinteren Bankreihen der kleinen Krankenhauskapelle. Als der Gottesdienst begann, kamen mir wieder die Tränen. Ich senkte den Kopf, unfähig zu singen, unfähig, irgend etwas anderes zu tun als einfach dazusitzen und meinen Tränen freien Lauf zu lassen. Ich kann mich kaum noch an den Gottesdienst erinnern. Als er zu Ende war, ging ich rasch hinaus. Ich wollte mit niemandem sprechen, wollte nur so schnell wie möglich zurück auf mein Zimmer. Mein Gesicht sollte wieder in Ordnung sein bevor meine Familie eintraf. Aber sie waren schon da, zumindest die beiden ältesten Jungen. Sie standen verlegen im Raum und wußten nicht, was sie tun oder sagen sollten.

Mein Zimmer lag im Erdgeschoß; Jacques, mein Mann, stand draußen im Hof mit Yves und Bee, die nicht hereinkommen durften, weil sie noch zu klein waren. Als ich ans Fenster trat, hob Jacques den kleinen Yves hoch, damit er mit mir sprechen konnte. Aber der Dreijährige war ungnädig. „Ich will rein und meinen kleinen Bruder angucken"; maulte er. „Ich auch", stimmte die zehnjährige Bee ein. Ihre dünnen Zöpfe wippten auf und ab, während sie am Fenster hochsprang, um ins Zimmer zu sehen.

„Warum kann ich nicht rein?" jammerte Yves. Seine blauen Augen blickten zornig und verständnislos. „Wenn Olivier und Hervé ihn sehen dürfen, will ich das auch!" „Ich bringe das Baby ans Fenster", unterbrach ich ihn, nahm den Kleinen aus dem Bettchen und legte ihn Olivier in den Arm: „Halte ihn hoch, damit sie ihn sehen können", sagte ich.

Aber mit seinen fünfzehn Jahren war Olivier in einem Alter, in dem ihm alles peinlich war, und ein Baby auf dem Arm zu halten, war ihm ganz offensichtlich peinlicher als alles andere. „Hier", sagte er und gab das Bündel an seinenjüngeren Bruder weiter. „Nimm du ihn." Hervé ging zum Fenster und hielt Christopher hoch, damit ihn die jüngeren Geschwister sehen konnten.

Bee stand auf Zehenspitzen. Die braunen Augen leuchteten. „Ihre Haare müßten geschnitten werden" dachte ich. Der Pony hing ihr fast bis in die Augen. Yves zappelte aufJacques Arm herum. „Ich will Mami einen Kuß geben", jammerte er. „Ich bin bald wieder zu Hause, Schatz", tröstete ich ihn und preßte mein Gesicht gegen die Scheibe. „Ich will dich aber jetzt", heulte er und rieb sich mit seinen kleinen Fäustchen die Augen.

Bei diesem Anblick füllten sich auch meine Augen wieder mit Tränen, und ich wandte mich ab. Ich merkte, daß die Geduld meines Mannes langsam zu Ende ging. Olivier und Hervé sehnten sich offensichtlich auch danach fortzukommen, wußten aber nicht so recht, wie sie es anstellen sollten. „Ich denke, es ist besser, wenn ihr geht und Vati helft", sagte ich und nahme Hervé das Baby ab. „Er hat anscheinend Schwierigkeiten mit Yves." Erleichtert verabschiedeten sie sich mit einem flüchtigen Kuß und gingen hinaus. Ich blieb mit Christopher auf dem Arm auf dem Bett sitzen. Wieder begannen die Tränen zu fließen; es schien kein Mittel zu geben, sie aufzuhalten.

Der Tag schleppte sich langsam dahin. Im Krankenhaus begann die allabendliche Routine: Die Krankenschwester, eine kleine, etwas rundliche Schottin mit strahlend blauen Augen, kam in das Zimmer. Aber als sie sich zu mir aufs Bett setzte, sah sie mich besorgt an. „Wir hätten gerne, daß Sie noch mit einem Atzt sprechen, bevor Sie nach Hause gehen", begann sie. Ich sah sie erstaunt an: „Aber die Ärzte kommen doch jeden Tag vorbei." „Dieser nicht", entgegnete sie und holte tief Luft. „Ich glaube, er kann Ihnen helfen." „Ach, wenn ich erst wieder zu Hause bin, wird es mir bald wieder besser gehen", wandte ich ein. „Da wollen wir eben sichergehen", schloß sie. „Ich habe Dr. Dufour gebeten vorbeizuschauen. Morgen um drei wird er hier sein."

„Aber warum?" fragte ich. „Wer ist das?" Die Schwester holte noch einmal tief Luft. „Ein Psychiater." Ich sah sie bestürzt an. „0 nein", rief ich aus. „Ich brauche keinen Psychiater. Ich bin nur ein bißchen müde, das ist alles." „Es ist mehr als das", sagte sie ruhig. Sie streichelte meine Hand, stand auf und ging hinaus. Ich nahm den Handspiegel vom Nachttisch und blickte hinein. Sah so eine glückliche junge Mutter aus? „Du bist keine junge Mutter", sagte eine innere Stimme. „Du bist fast vierzig." „Das wird es wahrscheinlich sein", seufzte ich, während ich den Spiegel beiseite legte und mich ins Kissen zurücklehnte. Einen Augenblick lang fühlte ich mich beruhigt. Das war wenigstens, eine Erklärung.

Dr. Dufour sah aus wie ein Teddybär, klein und untersetzt, sogar aus seinen Ohren schauten Haare heraus. Er kam ins Zimmer, setzte sich an mein Bett, nahm meine Hand und grunzte etwas vor sich hin. Und ich weinte. Wir kamen nicht sehr weit. Ich kann mich nur noch daran erinnern, daß er sagte: „Ich bin bei Ihnen, machen Sie sich keine Sorgen, ich bin doch bei Ihnen." Aber ich machte mir über alles mögliche Sorgen, und die Tatsache, daß er bei mir war, half mir überhaupt nicht. Vermutlich habe ich auch mit ihm geredet, aber ich kann mich nicht mehr daran erinnern. Jedenfalls schrieb er mir ein langes Rezept aus und sagte, er mich gern in einem Monat wiedersehen.

Wie froh war ich, als ich endlich die Treppen des Krankenhauses hinuntergehen konnte zum Ausgang! Mit einem Arm hatte ich mich bei Jacques eingehängt, die andere Hand hielt Yves fest umklammert. Er plapperte unaufhörlich. Der vierzehnjhrige Hervé trug behutsam und vorsichtig das Baby. Seinen dunklen Schopf hatte er ehrfurchtsvoll über das kleine Bündel gebeugt, das ihm später nicht nur äußerlich so ähnlich werden sollte. Mit seinen sieben Tagen war Christopher mit seinen weit auseinanderstehenden Augen und dem weichen, dunklen Haar, das so charakteristisch für Jacques Familie ist, so etwas wie ein kleiner rundlicher Eskimo. Während ich das Krankenhaus hinter mir ließ und in den feuchten Novembermorgen hinausging, dachte ich: "Jetzt wird alles wieder gut; es ist vorbei, und ich gehe nach Hause." Aber es war bei weitem nicht alles in Ordnung. Jacques kaufte die verschriebenen Tabletten, aber ich legte sie beiseite. Er erinnerte mich an meinen Termin bei Dr. Dufour, aber ich sagte ihn ab.

Nach meiner Rückkehr gab es zu Hause bisweilen Augenblicke, in denen mir das Leben schön erschien und ich mich an den Kindern freuen konnte. Meist jedoch wachte ich morgens mit einem Gefühl der Lustlosigkeit und Leere auf. Der Tag erschien mir wie eine endlose Wüste, die ich irgendwie durchqueren mußte, bis mir der Nachtschlaf ein paar Stunden des Vergessens schenkte. Mechanisch schleppte ich mich von Woche zu Woche, und mit jedem Tag zog ich mich mehr in mich selbst zurück. Ich war neununddreißig Jahre alt, und niemand hatte mich darauf vorbereitet, dass die Jahre allmählich ihren Tribut forderten.