Marianne, Glynn Mills

10/08/2022
von Christ-und-Buch Günter Arhelger

Glynn Mills MARIANNE BV11029.jpg?1665241459436

Mariannes nächste Zukunft scheint klar: zusammen mit ihrer Freundin Gerda will ..sie studieren. Doch kurz bevor die beiden ihre Heimatstadt verlassen wollen, stirbt Mariannes Mutter. Da ihr Vater pflegebedürftig ist, stellt Marianne ihre Pläne zurück. Als sie nach Jahren des Wartens schließlich frei wird, tut sich ein völlig anderer Weg vor ihr auf: Sie besucht die Bibelschule in der Hoffnung, mit Daniel, dem sie sich versprochen hat, auf das Missionsfeld zu gehen. Doch wieder kommt alles anders. Von Marianne wird das Äußerste gefordert. Wird sie sich bewähren?

IN DER „HEILEN WELT'

mehr Erzählungen

„Die Kinder werden langsam erwachsen und flügge." Prediger Hans Lindenmeier sprach die Worte nachdenklich; seine Stimme klang ein wenig wehmütig.
Leise trat seine Frau zu ihm ans offene Fenster, von dem aus man einen herrlichen Blick auf die weite Rasenfläche vor dem Haus hatte. Von drüben unter den hohen Bäumen erscholl lustiges Lachen und Stimmengewirr. Zwei etwa achtzehnjährige Mädchen ließen sich gerade erschöpft in ihre Liegestühle fallen, während ein junger Mann die liegenge-ldssenen Tennisschläger einsammelte und ein andbrer gekühlte Getränke herbeibrachte. Stolz beobachteten die Eltern Sohn und Tochter. Die beiden anderen waren Freunde.
„Wenn die beiden erst einmal an der Universität sind, wird sieh ihr Leben gewaltig ändern. Kein Wunder, daß Gerda und Marianne sich riesig darauf freuen." Die Stimme von Frau Lindenmeier klang hell und freundlich und entsprach ganz ihrer äußeren Erscheinung. Sie war eine freundliche, gut aussehende Frau mit braunem Haar und blitzenden braunen Augen.
„Die Umstellung wird ihnen gut tun! In diesem ländlichen, abgelegenen Nest rostet man ja ein!" ließ sich aus dem Hintergrund die spröde Stimme von Tante Mathilde vernehmen. Damit hatte sie ihr persönliches Urteil über das ehrbare Meine Landstädtchen Heiddorf gefällt, 
wo sie nunmehr seit einem Jahr im ruhigen Haus ihres Bruders und ihrer

Schwägerin lebte. Die beiden tauschten belustigte Blicke. Ihr beider Sinn für Humor, verbunden mit Daniel Lindenmeie'rs zuvorkommender Höflichkeit und Gerdas Geduld gegenüber der manchmal etwas auf die Nerven gehenden Art ihrer Tante hatten verhindert, daß die Situation in den vergangenen zwölf Monaten für beide S&ten unangenehm geworden war.
Die kritische Stimme fuhr fort: „Ich verstehe einfach nicht, wie sich Daniel bei seinen hervorragenden Schulzeugnissen für das Studium an einer Bibelschule entscheiden konnte."
„Ich glaube schon, daß er genau weiß, was er tut. Er ist sehr für das Praktische, und der Stundenplan bietet reichlich Gelegenheit hierzu", gab ihr Bruder geduldig zur Antwort.
„Ein dummer Junge ist er! Wo bleibt bloß sein Ehrgeiz?'
Gemessen an Tante Mathildes materiellen Maßstäben besaß er wirklich keinen Ehrgeiz. Aber Daniel ging es in erster Linie um etwas anderes. Er war ein entschiedener Christ und wollte sein Leben Gott weihen, den er liebte und dem er dienen wollte.
„Außerdem.ist es eine Schande, daß Richard Thiele, auch ein Junge mit Grips, in der Gefahr steht zu verkümmern, weil er wegen der Züstände in seinem Elternhaus nicht studieren kann, sondern sich in Kursen weiterbilden mußt"
Jetzt konnte Frau Lindenmeier nicht länger schweigen. „Richards Entscheidung war bestimmt uneigennützig. Aber er faßt sie dennoch nicht als ‚Opfer' auf oder fühlt sich ihretwegen gar gehemmt. Ihm ist so wohl wie einem Fisch im Wasser - Gott sei Dank!" Sie blickte voller Sympathie zu Ri-:hard hinüber, der neben Gerda saß. Beide schienen sich gerade über einen Scherz zu amüsieren, den Richard gemacht hatte; sein Gesicht war vom Lachen gerötet und fast ;o rot wie sein Haar. Von Hemmung oder Behinderung konnte bei Richard Thiele keine Rede sein.
„Es ist trotzdem Blödsinn. Gerda absolviert ein Hochschulstudium, und Richard muß arbeiten und sich in seiner Freizeit mit dem Studium abplagen - das ist doch einfach nicht richtig. Da komme ich nicht mit!" Die Stricknadeln kapperten schneller.
„Gerda muß aber doch das Staatsexamen machen, wenn sie einmal in der Schule unterrichten will, Mathilde", erinnerte sie ihr Bruder freundlich.
„AÖh Quatsch! Das ist nur Geldverschwendung und sonst nichts! Wenn sie ein paar Jahre unterrichtet hat, wird sie heiraten. Vielleicht haltet ihr mich in meinen Ansichten für altmodisch; aber die alte Mathilde spürt genau, woher der Wind weht."
Frau Lindenmeier lachte leise. „Meine liebe Mathilde, wenn du etwa an Richard denken solltest, so laß dir gesagt sein, daß es sich bei den beiden bloß um eine harmlose Freundschaft handelt. Sie kennen sich seit ihrer Kindheit, sind also sozusagen miteinander aufgewachsen, haben die gleichen Interessen, und außerdem verbindet sie, ähnlich wie bei Marianne Dorn und Daniel, das starke Band des Glaubens an Jesus Christus. Sie haben ihr junges Leben diesem Herrn geweiht, und alle vier sehen in ihrer geplanten beruflichen Laufbahn eine Berufung Gottes." Frau Lifidenmeier war ernst geworden. Liebevoll und etwas wehmütig sah sie ihre Schwägerin an. Wenn doch die liebe Mathilde auch etwas von der Freude und dem Frieden wüßte, die Jesus ihnen gegeben hatte! Aber sie hielt sich abseits, schien sich persönlich nicht festlegen zu wollen und sagte bei Gelegenheit jedem, der es hören wollte, Religion sei reine Privatsache und man solle sie bitte damit in Ruhe lassen.
Das entstandene Schweigen wurde von den vier hereinstürmenden jungen Leuten jäh unterbrochen. „Was gibt es zum Tee?' riefen sie durcheinander, und dann, nach einem anerkennenden Blick auf den reichlich gedeckten Abendbrottisch, stürmten sie wieder davon, um sich vor dem Abendbrot noch etwas zurechtzumachen.
„Wie weiß deine Mutter bloß immer, was wir am liebsten mögen, Gerda? Sie ahnt immer, wonach uns der Appetit steht. Wie wird wohl die Kost im Studentenheim sein? Ich kann mich noch gar nicht an den Gedanken gewöhnen, daß wir bereits in vier Wochen dort sein werden." Marianne wusch sich die Hände und ging dann auf ihre Freundin zu, die sich am Toilettentisch kämmte. „Deine Frisur hält immer so gut, mein Haar ist ständig durcheinander!" jammerte sie und machte sich daran, ihre dichten blonden Locken zu bändigen.
„Mein Haar sähe schrecklich aus, wenn ich es so lang trüge wie du", bemerkte Gerda.
„Flechte dir doch einfach Zöpfe!" bemerkte Marianne scherzhaft. „Bei deinen blonden Haaren sieht das sicher gut aus. Du kannst sie dir dann wie eine Krone um den Kopf legen." Scherzhaft gab sie ihrer Freundin einen Schubs und widmete sich dann wieder ihren eigenen widerspenstigen Locken. „Horch - der Gong!" Eilig rannten die beiden die Treppe hinunter.
„Schon wieder zu spät! Vom nächsten Monat an werdet ihr beiden euch etwas schneller bewegen müssen", bemerkte Daniel scherzhaft, als sie sich an den Tisch setzten.
„Ich glaube, dir liegt das spartanische Training auch mehr als uns, alter Junge", erwiderte Marianne prompt und sah ihn mit ihren braunen Augen streitlustig an.
„Ich glaube, man wird uns allen ein bißchen mehr Disziplin beibringen. Unser Richard hat es gut! Er ist sein eigener Herr!"
„Auf diese Ehre würde ich ganz gern verzichten. Tagsüber muß ich mich schwer abschinden, und abends soll ich noch das einpauken, wozu ihr den ganzen Tag über Zeit und Muße gehabt habt"
„Muße? Daß ich nicht lache!" ließ sich nun Gerda ver nehmen. „Anne Heizmann hat gerade ihr erstes Studienjahr hinter sich gebracht und ist das reinste Nervenbündel geworden. Eine Vorlesung jagte die andere, und in der Freizeit mußte sie riesige Mengen von Büchern durchackern."
„Ihr scheint ja schrecklichen Zeiten entgegenzugehen", neckte der Vater. Als er seine Tochter so über den Tisch hinüber ansah, wurde ihm ganz eigenartig ums Herz; plötzlich erfaßte ihn Sorge. Gerda hatte noch kaum etwas von der Welt gesehen; sie kannte nur die christliche Atmosphäre des Elternhauses und war stets von Liebe umgeben gewesen. Wie würde ihr das Neue bekommen? Von jetzt an war sie schließlich mehr oder weniger einer weltlichen Umgebung ausgesetzt.
Sein Blick wandte sich Marianne zu, und ihr Lächeln gab ihm wieder Mut. Er war froh, daß die beiden Mädchen zusammen ins Studium gingen. Marianne strahlte eine gewisse Festigkeit aus, obwohl sie noch sehr jung war. Sie hatte es manchmal zu Hause nicht ganz leicht, weil sich ihre Eltern ihrem offenen Bekenntnis zu Jesus entgegenstellten. Vielleicht war sie gerade deshalb so gefestigt. Frau Lindenmeier hatte in dieser Hinsicht keinerlei Befürchtungen. Die jungen Leute von heute waren ausgeglichen, voller Selbstvertrauen, mehr als sie besessen hatte, als sie bereits doppelflo alt war. Diese vier jungen Menschen waren glücklich und hoffnungsvoll; ihr Fundament stand fest. Man brauchte keine Angst um sie zu haben.
Tante Mathilde sah das Ganze mehr skeptisch und pessimistisch an. Wenn das Leben angenehm dahinfloß, war es ja keine Kunst, glücklich zu sein - aber das dauerte gewöhnlich nie lange. Ihr Leben jedenfalls war ein Auf und Ab gewesen - und es war öfter durch Täler als über Höhen gegangen. So war sie bitter geworden. Und auch diese jungen Leute da würden es früher oder später schon noch erfahren, wenn sich
erst einmal herausstellte, daß sich Lieblingspläne am Ende meistens zerschlugen.
Das Telefon klingelte. Daniel sprang auf, eilte in den Flur und hob den Hörer ab. Mit einem verwirrten Ausdruck auf seinem Gesicht kam er zurück
„Für dich, Mutter", sagte er: Frau Lindenmeier entschuldigte sich und verließ eilig das Zimmer.
„Was ist denn los?' wollte Gerda wissen, die den Blick ihres Bruders aufgefangen hatte. „Mutter wird doch oft ans Telefon gerufen - Frauenkreis und was sonst nicht alles."
„Wer hat denn gesagt, daß etwas los sei?" gab ihr Bruder zur Antwort, wobei er ihrem Blick sorgfältig auswich.
„Du brauchst gar nichts mehr zu sagen, mein lieber Bruder! Ich spüre immer in Bruchteilen von Sekunden, wenn dich etwas bewegt", neckte Gerda gutmütig.
„Wir wollen wissen, was los ist", scherzte Marianne.
„Laß dich auf nichts ein - die ewige Neugier der Frauen!" mahnte Richard seinen Freund.
Sie lachten und stritten sich, bis Frau Lindenmeier wieder hereinkam; jetzt merkten alle, daß etwas nicht stimmte. Sie war ganz bleich und offensichtlich außer Fassung.
„Ist etwas passiert, Liebste?' fragte ihr Mann besorgt
Ein flüchtiger Blick von Frau Lindenmeier genügte, und Marianne wußte;daß die Nachricht sie selbst betraf. Ihr Herz schien stillstehen zu wollen. Leise brachte sie heraus: „Ist es Mutter?'
Frau Lindenmeier war um den Tisch herumgekommen md legte ihr die Hand auf die Schulter.
„Ich muß gehen", flüsterte Marianne, ehe noch jemand Jazu kam, etwas zu sagen.
„Wir werden dich hinüberbringen. Hans - hol bitte den Wagen heraus!"
Daniel sprang auf. „Dann war es also Herr Dorn?" mur-ielte er.
‚ja, es war dein Vater, Marianne. Deine Mutter ist ins Krankenhaus gebracht worden, und du sollst auch hinkommen. Wir werden dich begleiten."
„Ein Unfall?' fragte Marianne und schob ihren Stuhl zurück
„Nein, Liebes, es muß ein Herzanfall gewesen sein. Gerda, lauf nach oben und hole Mariannes Sachen!"
„Nein, ich kann das schon selber r' rief Marianne, und beide verließen eilig den Raum.
„0 Marianne! Das ist ja schrecklich! Ich wollte, ich könnte mitkommen!" rief Gerda ganz erschüttert, als sie ihr Zimmer betraten.
„Das geht nicht, Gerda - aber du kannst etwas anderes für mich tun - beten", bat Marianne und suchte ihre Sachen zusammen.
„Das will ich tun. Vielleicht ist es nicht mehr so schlimm, wenn du hinkommst", tröstete Gerda.
Die beiden jungen Männer erwarteten die Mädchen schon unten an der Treppe. Sie sahen niedergeschlagen aus. Alles war zu überraschend gekommen. Der plötzliche Einbruch des Unerwarteten in ihre „heile Welt" hatte sie aus der Fassung gebracht. Daniel trat vor und drückte Marianne teilnahmsvoll die Hand; dann führte sie Frau Lindenmeier behutsam zum Wagen.

ZERBROCHENE PLÄNE

Etwa vierzehn Tage nach der Beerdigung ihrer Mutter suchte Marianne Dorn Prediger Lindenmeier zu einem persönlichen Gespräch auf. Er bat sie in sein Studierzimmer, setzte sich ihr gegenüber und sah sie prüfend an. Es war das erstemal seit dem traurigen Ereignis, daß sie allein miteinander reden konnten. Marianne kam ihm heute besonders jung vor; auch schien sie ziemlich erschöpft zu sein. Die übermäßige Anspannung der vergangenen Tage war ihr noch deutlich anzusehen. Richtig krank sah sie aus. Ihr Blick
war ratlos. -
„Es ist alles, so schrecklich verworren", bekannte sie. „Ich weiß, auch das Leid gehört mit zum menschlichen Leben - aber dies hat alle meine Pläne zunichte gemacht - das Studium und meine berufliche Laufbahn. Ich kann jetzt einfach nicht von zu Hause fort und Vater allein mit seinem Kummer zurückiasseh - ich habe Mutter versprochen, ihm beizustehen." Beim Gedanken daran bekam ihre Stimme wieder einen festen Klang, ihr Blick wurde selbstsicherer.
„Mein Liebes, du sprachst eben davon, alles sei verworren. Was hast du damit gemeint?'
„Gott scheint mir so ferngerückt. In mir ist alles kalt und empfindungslos. Mir scheint; Gott kümmert sich nicht um uns Menschen - als seien wir ihm irgendwie gleichgültig. Ich weiß; das stimmt nicht. Ich habe unrecht - aber das Gefühl weicht nicht."
Einige Minuten herrschte Schweigen. Nur das stete Ticken der Uhr und das Knistern brennender Holzscheite im Ofen war zu hören, denn die Septemberabende waren bereits recht kühl, und der Wind blies frisch vom Moor herüber. Dann stand der Prediger wortlos auf, trat um den Schreibtisch herum zu dem mutterlosen Mädchen und führte sie zu seinem eigenen Sessel. Nachdenklich lehnte er sich an den Bücherschrank und blickte in Mariannes erwartungsvolles Gesicht.
„Hier geht es nicht um recht oder unrecht, meine liebe Marianne. Gott führt dich augenblicklich einen Weg, den du nicht verstehst. Geh durch das Dunkel hindurch, und du wirst schließlich erkennen, was Gott von dir will. Halte aus im Glauben, vertraue Gott, liebe Marianne, wenn es auch im Augenblick so scheint, als sei dein himmlischer Vater kein liebender Vater. Laß dich nicht verwirren. Gottes Wege sind vollkommen, wenn wir sie auch oft nicht verstehen."
Die ruhige Bestimmtheit seiner Stimme wirkte wie Balsam auf das wunde Gemüt und ließ Marianne ruhiger werden.
„Aber ich habe doch darum gebetet, Gott möge mich den rechten Weg führen, und alles schien im rechten Gleis zu verlaufen", warf sie ein.
„Dies ist kein endgültiger Rückschlag, nur eine Verzögerung deiner Pläne, hoffe ich", tröstete Prediger Lindenmeier. „Ich denke, bis zum Sommersemester wird sich alles geklärt haben."
„Ich hätte aber so gern mit Gerda zusammen das Studium begonnen", seufzte Marianne, und Tränen traten ihr in die Augen.
„Das wäre mir auch lieb gewesen!"
Der grimmige Ton in der Stimme des Predigers schreckte Marianne aus ihrem Selbstmitleid auf. Auch sein Gesicht schien plötzlich düster geworden zu sein.