Mina, die wahre Geschichte einer kleinen Frau, Maza gut

03/06/2024
von Christ-und-Buch Günter Arhelger

SELBSTVERSTÄNDLICH EIN BUB

Frühling war's, herzerfreuender Frühling. Die Sonne gab sich jede Mühe, mit ihren wärmendenBN2980-2.jpg?1709715126726 Strahlen die allerletzten Schneerestchen schmelzen zu lassen. Die Vögel probten eifrig ihr. Osterlied. Doch der werdende Vater merkte nicht viel von diesen Herrlichkeiten. Besorgt und leicht benommen drehte er immerzu seine Runden um den rechteckigen Wohnzimmer-Tisch. Manchmal starrte er gedankenverloren auf den Boden, hie und da schweifte sein Blick durch die kleinen Fenster mit den weißen Vorhängchen hinaus ins Weite.
Eigentlich war diese Wohnung wirklich sehr klein, aber dennoch besaß sie einen recht großen Vorteil: Von hier oben konnte man nämlich das ganze Tal bestens überblicken. Unten lag das Dorf mit seinem übermütigen Dorfbach. Allerdings plätscherte er meist brav, sanft und .einschläfernd in seinem Bett dahin. Aber nach einem langen Regen etwa, da stürmte und brauste er daher wie ein Großer. Und wenn es gar zu schlimm war mit den Wassermassen, die vom Himmel fielen, dann, ja dann verließ er einfach sein gewohntes Bett und suchte sich egoistisch einen eigenen Weg - so wie es ihm gerade gefiel.


Drüben, auf einem kleinen Hügel, thronte die kleine Kirche. Mit ihrem spitzen, gen Himmel weisenden Turm, war sie nicht zu übersehen. Auf der anderen Talseite fiel der Blick auf einen Höhenzug mit jenen dunklen Tannen, die dem Schwarzwald zu seinem berühmten Namen verhalfen.
Plötzlich ertönte der lang ersehnte erste Schrei des neuen Erdenbürgers. Der nagelneue Vater strahlte über das ganze Gesicht. Sein Sohn entwickelte ja eine auffallende Lautstärke. Und schon hörte man die fröhliche Stimme der Hebamme vom Nebenzimmer her:
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„Heü Huber, kommen Sie. Ich darf Ihnen Ihr erstes Kindlein zeigen.”
Mit dem gebührenden Ernst, den der wichtige Augenblick erforderte, betrat er langsam das Schlafzimmer. Er war sehr bewegt, denn soeben würde er seinen erstgeborenen Sohn erblicken! Der sollte später ein tüchtiger Soldat werden und dem über alles bewunderten Kaiser siegen helfen. Aber nicht nur er allein; sein Erstgeborener sollte noch sechs weitere Brüder erhalten. So hatten sie, die beiden jungen Leutchen, sich immer wieder die Zukunft vorgestellt und damit ganz den Alltag vergessen. Und das war eigentlich gut so.
Karl hatte die unerhörte Frechheit besessen, sich ein Jüngferchen vom Nachbardorf anzulachen.
„Was fällt dir eigentlich ein? Du willst die Mami vom Nachbardorf heiraten? Je schneller du dir diese Idee- aus dem Kopf treibst, desto besser", entschied die früh verwitwete Mutter mit scharfer und bestimmter Stimme.
„Das ist für uns eine Fremde, die hier nichts zu suchen hat!"
Doch das war nur ein Vorwand. Denn insgeheim hatte sie ihre Fäden schon zu einer hablichen Familie mit einer heiratsfähigen Tochter vom Dorf gesponnen. Das Geld, das diese als Hochzeitsgabe einbringen würde, könnte man gut zum Ausbau des Hauses und des Lebensmittelladens brauchen! Doch beide, Mutter und Sohn, hatten harte Schwabenschädel. Keines gab nach.
„Wenn du diese Erbschleicherin heiraten willst, werde ich euch beiden die Suppe gründlich versalzen, da kannst du sicher sein", schrie die Mutter ihren trotzig dastehenden Sohn an. „Sucht euch eine Wohnung zur Miete. Hier in diesem Haus ist kein Platz für solche Leute." Und damit war das Gespräch beendet. Die Mutter antwortete nichts mehr auf die beschwichtigenden Worte des angehenden Ehemannes.
Karl heiratete sein Mareili trotzdem. Sie fanden eine winzige Wohnung, etwas oberhalb des Dorfes. Nun hatten die
8 Dorfweiber wieder einmal genug Stoff zum Klatschen:
„Denkt euch, diese Schande! Sie wohnen als Untermieter bei den alten Kleins!"
Die Dörfler teilten sich rasch in zwei Lager. Die einen fanden es außerordentlich hartherzig von Frau Huber, ihrem einzigen Sohn das Dach über dem Kopf zu verwehren - die andern rügten den Starrsinn und die Unnachsichtigkeit von iCeri:
--,‚Welch bösen Zeiten würden wir entgegengehen, wenn die Eltern in solchen Sachen nicht mehr bestimmen könn-n, sondern die Jungen ihre eigene Meinung einfach nur so durchsetzen wollten!"
Die beiden Liebenden ließen sich aber durch das dumme Gerede nicht stören.. Auch den Spott der Leute, daß die Braut ja einen ganzen Kopf größer sei als der Bräutigam, Ubersahen sie beinahe amüsiert. Sie wußten es besser, oder meinten es wenigstens.
- Der klein gewachsene Karl hatte seinem geliebten Mareili oft genug ins Ohr geflüstert:
„Mein herziges, mein herzallerliebstes Mareili, wie schön du doch bist! Die Allerschönste auf Erden! Und so kräftig und gut gebaut! Ich wünsche mir von dir sieben Söhne, alles tapfere und tüchtige Soldaten für meinen verehrten Kaiser. Was meinst du dazu?"
„Ja, mein lieber Schatz, mein Goldiger. Ich werde dir die gewünschten und ersehnten sieben Söhne schenken", flüsterte Mareili mit roten Backen zurück, und vor ihrem inneren Auge erstand eine wunderschöne Zukunftsvision: Sie in dem großen, geräumigen Hause unten im Dorf, Platz genug für die Kinder, genug Geld -und genug zu essen dank des gut rentierenden Geschäftes! Dem von Haus aus armen Mareili glänzten die Augen vor Freude, und Karl fand seine zukünftige Ehefrau hinreißend schön. -


Wir kennen jedoch bereits die Reaktion von Karls Mutter. Das ganze, schöne Zukunftsgebäude stürzte damit krachend  ein. Aber Karl hielt auch als armer Untermieter an seinem Wunsche fest, dem Kaiser sieben Soldaten zu liefern.
Nun also war der große Augenblick gekommen. Die Hebamme legte ihm sein erstgeborenes Kind in den Arm und meinte anerkennend: „Für ein Mädelchen hat es eine ausgesprochen kräftige Stimme. Das wird bestimmt ein gesundes, starkes Kind."
Der Vater ließ die Kleine beinahe fallen und stotterte enttäuscht:  „Ein Mädel? Haben Sie ‚ein Mädel' gesagt? Das kann doch nicht wahr sein!"
Fassungslos starrte er zu seiner blassen Frau in den Kissen: „Mareii, sag, daß es nicht wahr ist!"
Aber seine Frau erwiderte kein Wörtchen; sie brach vielmehr in ein trostloses Schluchzen aus, so daß die tapfere Hebamme erschrocken vom einen zum andern schaute. Daß Bauersleute sich unbedingt einen Erben wünschten, das hatte sie schon oft erlebt. Aber daß arme Schlucker .. nein, das war ihr neu.
Sie besaß jedoch ein warmes Herz und wußte, wie fragen. Schnell hatte sie herar'gefunden, wo hier der Schuh drückte.
„Ihr kennt doch das Sprichwort, daß Gott zuerst ein Mädchen als Kinderbetreuerin schickt, wem Er nachher einige Buben schenken will?"
Mit diesem Argument brachte sie die enttäuschten Eltern endlich doch noch zum Schmunzeln. Sie nannten die Kleine einfach Wilhelmine, anstatt Wilhelm wie vorgesehen.
Die Kunde flog auf unsichtbaren Flügeln durch das Dorf, gaßauf und gaßab. Jedermann lächelte spöttisch. Leider hatte Karl seinen Wunsch nach sieben strammen Söhnen eben nicht nur dem Mareii ins Ohr geflüstert! Die Nachricht drang auch zur frischgebackenen Großmutter im Dorf unten. Sie grollte immer noch, vor allem der Schwiegertochter. Als fromme Frau, als die sie überall bekannt war, wußte sie
was sich gehörte. Sie schickte die Ladentochter mit einem Korb voll Lebensmittel in die kleine Wohnung hinauf. - Aber gratulieren? Im neuen Haushalt nach dem Rechen sehen? Nein, dazu konnte sie sich nicht überwinden.
Die Schadenfreude im Dorf über den Wilhelm, der eine Wilhelmine wurde, war groß. Noch größer wurde sie, als beim nächsten Mal eine Albertine statt ein Albert anrückte, ,später eine Pauline statt ein Paul, und statt einem Otto gab aea gar eine Ottilie. Aber endlich konnte die Dorfchronik
doch noch die Geburt eines Wilhelm Huber melden. Die Phantasie von Vater Karl, hatte durch all die Mädchen-Ankunften einen argen Knacks erlitten. Aber jetzt schoß sie wieder kräftig ins Kraut. Vor seinen inneren Augen sah er seinen Sohn als strammen Soldaten. Er würde Heldentaten am laufenden Band vollbringen, und der Kaiser würde seinen Sohn - und natürlich auch den Vater - vor allen Leuten ehren. Der Meine hielt sich aber nicht an dieses Wunschbild. Er war und blieb als rachitisches Asthma-Bub-lein ein Sorgenkind.
Nach einigen Jahren erblickten zwar noch drei weitere Söhne das Licht der Welt. Sie schlugen aber allesamt dem Vater nach; sie blieben kleingewachsen.
Und doch vollbrachte Albert, der zweite Sohn, als 14jähriger eine Heldentat, aber auf eine andere Weise, als die Phantasie von Vater Karl sie sich ausgedacht hatte.
Der erste Weltkrieg neigte sich dem Ende zu. Verzweifelt übersah 4r Kaiser seine schlimme militärische Lage. Als letzte Reserve mußten eiligst auch noch die Jüngsten einrücken und ein bißchen ausgebildet werden. Dann wurden sie an die Front abkommandiert. Albert war auch dabei.
Laut Befehl mußten die jungen Soldaten einen Unterstand bewachen; keine schwere, dafür eher langweilige Aufgabe. Da wurde eines Tages Albert Huber durch eine verirrte Kugel tödlich getroffen. Er hätte eigentlich Urlaub gehabt, war aber auf das instäl)dige Bitten eines brandneuen Vaters eingesprungen. - Nie vernahm der Kaiser etwas von dieser stillen Heldentat. Er hatte genug damit zu tun, seinen Kopf und einige Mark ins Ausland zu retten.


 WALDGEISTER

Wilhelmine wurde überall nur „Hubers Minchen" genannt rund Albertine das „Tmchen" Die beiden brachten mit ihrer uhbeschwerten Fröhlichkeit und ihrem sonnigen Lachen viel reude m den schweren Alltag der Eltern Die Kinderzahl wuchs, nicht aber das Einkommen. Im Gegenteil Im Stadt )hen, etwa eine halbe Stunde Fußmarsch vom Dorf entfernt, 'Satte die Neuzeit Einzug gehalten. Eine Schuhfabrik wurde eröffnet. Damit konnte der arme, geplagte Familienvater nicht mehr Schritt halten. Er war gelernter Schuhmacher. Nach dem Krach mit seiner Mutter mußte er seine Werkstatt im Elternhaus räumen. Im gleichen Haus, in dem sie nun wohnten, wurde ein Nebenraum als Arbeitszimmer eingerichtet. Wohl stellte Karl von Hand und mit viel Einfühlungsvermögen gutpassende Schuhe her. 
Aber die wollte niemand mehr kaufen. Die Fabrikschuhe kamen billiger. Nur noch zum Sohlen. und Absätzeflicken war er gut genug. Schweren Herzens gab Karl schließlich seine Werkstatt auf. Sie wurde zum Kinderzimmer umfunktioniert. Das bißchen Geld, das er beim Verkauf des Handwerkzeugs erhielt, stopfte ein Loch im Haushaltbudget. Vater Karl hatte jedoch keine Mühe, eine Stelle als Arbeiter in der Schuhfabrik zu erhalten. Aber sein Stolz! Nun war er nicht mehr Selbständigerwerbender, sondern nur noch Lohnempfänger. Wie oft kam er mißmutig und niedergeschlagen heim! Seine Frau verstand ihn und versuchte zu trösten. Sie wollte so wenig als möglich jammern. Sie streckte deshalb ihr Haushaltgeld mit allen Tricks, die ihr zur Verfügung standen. Noch im hohen Alter erzählte Minchen aus ihrer Jugend- 
 ISBN: 3727100737 Verlag: Trachsel Verlag  Jahr: 1982  Einband: Paperback  Seitenzahl: 158  Format: 13,5 x 20,5 cm