Tränen die man nicht vergißt, Jean Marie Campbell

04/08/2023
von Christ-und-Buch Günter Arhelger

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Ich gähnte herzhaft und klopfte mit meinem Buch Der scharlachrote Buchstabe gegen die Scheibe. Vier oder fünf Goldfische auf meiner Seite des Aquariums wurden durch das Geräusch aufgestört und schossen davon. Drei gestreifte Fische huschten spielerisch durch die Algen. Doch der kleine rote Neonfisch bewegte sich nicht. 

Erneut versuchte ich, seine Aufmerksamkeit zu gewinnen. Diesmal wölbte sich der kleine Körper und bewegte sich ruckartig ein wenig nach links, bis er in Seitenlage an die Oberfläche gelangte. Er war krank und dem Tode nahe. Das erkannte ich.
„Campbell,Jean!"
Ich starrte weiter auf den winzigen Körper. Warum mußte er sterben? Warum? Warum gerade dieser und nicht die anderen? Er war so :wunderschön.
Jeanie?" unterbrach die Stimme an der Tür. Die weißgekleidete Frau lächelte mir zu und hielt die Tür auf. „Du bist dran"
Ich nickte, tastete nach meinem Täschchen und stand auf. Kurz vor der Tür drehte ich mich um und warf noch einen letzten Blick -auf das Aquarium.,, Ich vermute, das ist ein Neonfisch dadrin", sagte
Ich zu der Schwester und deutete auf das Aquarium. „Er ist krank. Man sollte ihn lieber rausnehmen, damit er die anderen nicht ansteckt Vielleicht wird er wieder gesund wenn er allein ist Ich machte eine Pause und fügte dann hinzu „Meinen Sie nicht auch? 0Ich weiß nicht ‚erwiderte die Frau mittleren Alters, „aber danke für den Hinweis. Ich werde mich später darum kümmern. Hast du zu Hause Fische?
„Nein",erwiderte ich und sauste an ihr vorbei in den engen Gang Fische nicht."
Sie deutete auf eine Tür zur Rechten „Tjntersuchungsraum C ist
Ich folgte ihr auf den Fersen und fuhr fort: „Fische nicht, aber ei-
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nen Kater. Er heißt Tiger. Und Bernd— das ist mein einer Bruder - hat einen Hund. Das ist vielleicht ein Köter! Er will einen immer abschlecken. Immerzu. Ich mag keine Hunde", meinte ich sachlich, „nur Katzen. Aber ein Aquarium hätte ich gern, wenn ich dürfte. Fische sehen so friedlich aus, finden Sie nicht? Sogar der kleine rote da drüben. Er kämpft um sein Leben. Halten Sie es für möglich, daß Fische Gefühle haben? Nehmen Sie an, daß der Fisch da weiß, daß e krank ist und daß er bald stirbt?"
„Du stellst heute aber viele Fragen", lachte sie. Die Schwester zögerte einen Augenblick an der Tür zum Behandlungsraum, wandte sich dann um und schaute mich an.
„Ich denke schon, daß Fische fühlen können. Warum eigentlich nicht?"
‚Ja", erwiderte ich „Warum nicht? Aber ich mag nicht sehen, wie der Neonfisch leidet. Ich meine, ich mag nicht
Sie hob die Hand wie ein Polizist an einer Kreuzung. „Dieser Fisch macht dir ja wirklich zu schaffen. Nun sei nicht traurig, Jeanie. Wir kümmern uns um ihn. Geh jetzt am besten hinein, damit wir dich wiegen und deine Temperatur messen können, bevor Dr. Bradford zu dir kommt! Kopf hoch! Deine Sachen legst du auf den gelben Tisch da drüben."
Ich betrat das kleine Zimmer und schmiß mein Täschchen und das Buch auf den Tisch. Das Buch blieb liegen, doch das Täschchen rutschte über die Kante und fiel zu Boden.
„Es ist leicht wie eine Feder", sagte ich nervös und kniete mich hin, um den verstreuten Inhalt aufzusammeln. „Nichts weiter drin als ein Kamm, ein Notizbuch und ein paar Zettel von der Schule."
Die Schwester trat einen Schritt zurück und verdrehte ihre großen braunen Augen. „Vergiß deinen Kuli nicht! Er ist unter dem Untersuchungstisch Ganz hinten."
Ich lag nun in voller Länge auf dem Boden und tastete mit verdrehtem Arm unter den Tisch. „Tut mit leid. Ich hab's nicht mit Absicht getan. Sie ist einfach runtergefallen. Es. . . es war ein Versehen. Es tut mir leid, weil - -
„Beruhige dich, Jeanie. Das macht doch nichts. Ist ja nichts passiert. Laß dir nur Zeit!"
‚Ja, aber ich möchte nicht.. . nicht.. . ach nichts. Ich hab ihn", flüsterte ich und kroch wieder hervor. Umständlich stopfte ich den Kuli in die Tasche, wischte mit der Hand über meine Hose und hielt mich am Tischbein fest, um schneller hochzukommen. Als ich mich auf richtete, rutschte ich mit dem rechten Fuß nach hinten aus und verfing mich in einem fahrbaren Dreifuß aus Metall, an dem eine besondere Lampe befestigt war. Ich hatte ihn weder gesehen noch ge-
spürt. Da war es geschehen!
„Volltreffer!" rief die Schwester, während sie das Tischchen auffing. „Das nächste Mal müssen wir größere Untersuchungsräume bauen!"
Sie versuchte, dem ganzen Vorfall eine lustige Seite abzugewinnen, aber ich war zutiefst erschrocken. Zudem hatte ich mir das Knie ziemlich angeschlagen, als ich auf den harten Boden hinknallte. Ich spürte einen klopfenden Schmerz. Nur mit Mühe konnte ich die Tränen zurückhalten. Das Blut schoß mir ins Gesicht und ich stotterte: ‚Meine Schuld. Es tut mir leid. Es tut mir so leid. Ich mache alles verkehrt. Überall, wo ich bin..

„Nun hör einmal auf, Jeanie!" sagte die Schwester und zog mich hoch. „Ist doch alles in Ordnung, oder? Es war doch nur ein Versehen. Stell dir vor, ich selbst hab diese Lampe auch schon runtergeworfen! Vor ungefähr acht Monaten. Da stand nur niemand hinter mir, der sie auffing." Sie lächelte mir aufmunternd zu und fuhr fort.
‚Du hast also wirklich Glück gehabt, kleines Fräulein."
‚Nein. Nein, Sie verstehen das nicht", brachte ich zitternd hervor.
‚Das war meine Schuld. Ich bin unvorsichtig und ungeschickt. Ich... ich bemühe mich wirklich, aber dann passiert doch wieder etwas." „Ist doch nichts geschehen", sagte die Schwester. „Setz dich hin und beruhige dich erstmal! Lies doch ein wenig, bis der Doktor kommt! Wovon handelt dein Buch eigentlich?"
Mein Knie schmerzte noch immer, und ich beugte mich hinunter,
--um es zu massieren. Ich tat einen tiefenAtemzug. „Ich habe es letzte Woche im Schulbuchladen gekauft. Es heißt Der scharlachrote Buchstabe. Ich habe es fast durch."
‚Wie! In welcher Klasse bist du denn?" -
„In der siebten."
„Und wie alt bist du?"
‚Zwölf."
Sie griff nach dem Buch. /
- - „Das habe ich erst gelesen, als ich mindestens in der letzten Klasse
des Gymnasiums war oder sogar erst, als ich mein Studium begonnen hatte. Ich kann mich gar nicht mehr recht erinnern. Es ist schon solange her."
Sie warf einen flüchtigen Blick auf den Einband und blätterte ein wenig darin herum. „Nathanlel Hawthorne. Das ist ganz schön ha pig für ein Kind in deinem Alter, weißt du das eigentlich?"
„Ich ... ich lese viel", sagte ich und setzte mich hin. Ich fühlt mich jetzt wohler und wurde ruhiger. Bei diesem Thema war ich meinem Element. „Wenn ich lese, habe ich etwas zu tun und kom nicht in Schwierigkeiten. Dies Buch gefällt mir besonders gut."
„Verstehst du es denn?" Ihre Stimme klang überrascht.
„Einige Abschnitte sind schwer. Aber ich denke schon. Ich meine ich verstehe es. Die Frau im Buch heißt Hester, und sie hat ein klei nes Baby. Aber sie will nicht sagen, wer der Vater ist. Wissen Sie, ihr Mann ist drüben in England." Ich hob meinen Zeigefinger zur Beto nung. „Und sie ist hier. Diese Leute - Puritaner waren das— wolleij sie dafür bestrafen. Darum muß sie immer den Buchstaben E an da..
Kleidung tragen, der für. . . für. . . Sie wissen schon ... für Ehebruch steht."
„Ganz genau, das war's. Na dann, du Kanone, nur weiter so!" „Kanone?" wiederholte ich. „Hat Ihnen das Buch gefallen?"
„Sagen wir mal so: ich beschäftigte mich damals mehr mit Natu wissenschaften. Mit Literatur hatte ich nichts im Sinn."
„Aha", bemerkte ich. ‚Jetzt habe ich Sie drangekriegt" Sie lachte nur.
„Ich vermute, wenn ich das Buch durchhabe, werde ich es nochmal lesen." Ich machte eine Pause. „Da steckt viel drin. Besonders wie Menschen in ihrem Innern denken und fühlen."
Die Schwester runzelte die Stirn und nickte zustimmend. Dann legte sie das Buch auf den Tisch zurück und war wieder voller Taten drang. „Sag mal, meinst du, ich könnte dich dazu bewegen, ein paar Sekunden auf der Waage zu stehen? Wenn ich deine Temperatur
messe, kannst du dich wieder deinem Buch und Lady Hester zuwenden. Was hältst du davon?"
„Klar", sagte ich. „Ganz wie Sie wollen."
Als Dr. Bradford kam, hatte ich schon alle Gegenstände auf seinem Instrumententisch genau betrachtet und mir eingeprägt: ein großes Glasgefäß mit kleinen und großen Holzspateln, drei Thermometer in einem Metallbehälter, einige bunte Glasfläschchen und verschiedene Ampullen, ein Karton mit Mull, verschiedene Bandagen, drei unterschiedlich große Scheren, Zangen, eine riesige Flasche Alkohol mit der Aufschrift Gift in leuchtend roten Buchstaben, fünf Päckchen mit Spritzen (ohne Nadeln), einige Tupfer, zwei Rollen weiße
Mullbinden und ein Gerät zum Blutdruckmessen. Das war nur die obere Ablagefläche.
„Wie geht es uns denn heute, kleines FräuleinJeanie?" fragte Dr.
aciford und gab mir einen kräftigen Klaps aufs Bein. Er war ein lustiger rundlicher Mann, der mich stets auf die gleiche Weise begrüßte.
Ich zuckte mit den Schultern. „Wenn Sie es wirklich wissen wollen

‚.Aber unbedingt!" erwiderte er fröhlich.
„Mir geht es nicht gerade glänzend. Meine Mutter war beunruhigt und hat mir darum für heute nach der Schule einen Termin bei hnen geben lassen. Sie muß bald hier sein, um mich abzuholen.
Das hoffe ich wenigstens."
Er öffnete die braune Mappe, auf der mein Name stand. „Nun sag
mal, wo es dir wehtut!"
- »Es ist der Magen. Immer noch der Magen."
„Na, dann wollen wir mal sehen", sagte er und blätterte einige zu-snmmengeheftete Unterlagen im Ordner durch. „Am fünfzehnten letzten Monats habe ich dir ein Rezept ausgestellt. Hat das Medika-
ment nicht geholfen?"
„Etwas. Aber hier ist alles so angespannt." Ich legte meine Hand auf die betreffende Stelle. „Genau hier. Und manchmal muß ich mich übergeben, wenn es wirklich schlimm wird."
Dr. Bradford kratzte sich am Kopf und erwiderte: „Nimmst du an, daß es am Essen liegt? Oder schlingst du es zu schnell hinunter? 

Was meinst du?"
„Ich denke nicht, daß es daran liegt. Manchmal kann ich gar nichts essen. Dann stochere ich nur im Teller herum."
„Hast du Schmerzen? Ungefähr eine halbe Stunde nach dem
‚Nein, eigentlich nicht. Das heißt, zumindest nicht mehr, als zu
anderen Zeiten."
„Leg dich mal hier oben hin!" forderte er mich auf und klopfte mit der Handfläche auf den Untersuchungstisch.
Nachdem ich seiner Anweisung gefolgt war, zog er meinen Pullover ein Stückchen hoch und tastete mit den Fingern meinen Bauch ab. Zuerst kitzelte es. „Tut es jetzt weh? Wenn ich hier drücke?"
„Nein, nein, es ist eine andere Art von Schmerz. Ich weiß nicht, wie ich es beschreiben soll."
Dr. Bradford drehte sich nach meiner Akte um, öffnete sie und nahm einen silbernen Kuli aus seiner Kitteltasche. „Versuch einmal, ganz genau zu beschreiben, was für ein Gefühl es ist, wenn es dir wehtut!"
„Meistens ist es so eine Art langsamer Schmerz", erklärte ich. „Und dann ist es oft so, als würde sich alles zusammenziehen. Es ist ganz angespannt da drinnen. Ich wache sogar manchmal mitten in der Nacht davon auf"
Er machte ein paar Notizen auf meiner Karteikarte. Dann mußte ich mich aufsetzen. Zuerst hörte er sorgfältig meinen Herzschlag ah. „Es ist ein wenig schnell heute. Doch das ist kein Grund zur Beunruhigung. Wollen mal sehen, wie es in deinem Hals aussieht. Mach mal deinen Mund auf."
Der trockene Holzspatel hinten im Rachen war sehr unangenehm. „Dein Hals ist leicht gerötet. Bekommst du ausreichend Schlaf?" „Ich liege lange genug im Bett, wenn Sie das meinen. Aber ich weiß nicht, wieviel ich schlafe. In Stunden, meine ich. Manchmal kann ich schlafen, manchmal nicht." „Dreh dich jetzt mal um,Jeanie! Wir wollen uns mal unterhalten."- Ich ließ meine Füße vom Tisch baumeln, und Dr. Bradford setzte sich neben mich. Er klopfte mit der Hand auf mein Knie, während er nach den richtigen Worten suchte.

‚Jeanie,Jeanie", sagte er leise, fast flüsternd. „Ich kenne deine Familie seit vielen Jahren, und dich kannte ich schon, als du noch so klein warst." Er hielt die Hände ein Stück weit auseinander. „Ich war am Krankenbett deiner Mutter, als sie mehrfach diese Herzschwäche haue. Zwei - nein drei —Jahre lang habe ich deine ältere Schwester behandelt. Und als dein Bruder Bernd Blutvergiftung hatte und vor Jahren den Unfall überstand, war ich an seiner Seite. Ich war im Krankenhaus bei deiner Familie. Ich war mehrfach bei euch zu Hause, und deine ganze Familie hat mich oft in meiner Praxis aufgesucht."
Er hielt inne, um sich zu räuspern. „Wenn ich zurückblicke, so kann ich sagen, daß deine Familie mehr als genug Belastungen überstanden hat, Jeanie. Aber dies hier? Das ist etwas anderes. Kannst du mir sagen, was mit dir los ist, Jeanie? Was macht dir wirklich zu schaffen?"
Der Kloß in meinem Hals war trügerisch. Gerade, als ich dachte, er sei groß genug, um Worte und Tränen aufzuhalten, zerbarst er unvermittelt wie ein morsches Schleusentor, und die Wellen stürzten hervor.
Die Zeit schien stillzustehen. Ich schluchzte und schluchzte und hielt dabei meine Hände vors Gesicht. „Doktor", weinte ich, „ich weiß selbst nicht mehr, was los ist. Zu Hause geht alles kaputt. Wirklich alles."
„l3eruhige dich, mein Kleines", sagte Dr. Bradford behutsam. Sein langer Arm umschloß mich, und seine Hand drückte meine Schulter 80 fest, daß es wehtat.
‚Es war schon schlimm, ehe Mama im letzten Jahr die Scheidung einreichte. Aber jetzt ist es furchtbar. Streit! Streit! Streit! Wenn es ruhig ist, dann sitze ich da und warte, daß es von neuem knallt. Morgens und abends. Und besonders am Wochenende. Es kommt mirso vor, als ob es schon immer so gewesen ist. Ich habe das Gefühl, es wird nie aufhören. Mein Papa... mein Papa...!"
„Sch, sch", unterbrach der einfühlsame Arzt mein Wehklagen. ‚Sch, sch." Sein starker Arm stützte meine bebenden Schultern.
„Nichts kann ihn beruhigen, wenn er wütend ist. Dann brüllt er. Und nicht nur das. Ich habe solche Angst vor ihm. Ich gehe raus oder verstecke mich in meinem Zimmer. Dort kann ich ihn aber immer noch hören. Ich sitze dann auf meinem Bett und weine und weine. ßinen Augenblick lang geht es mir besser. Dann ist mir wieder so Übel, daß ich mich übergeben muß. Alles geht kaputt! Alles! Manchmal denke ich, ich selbst auch."
„Oh, Jeanie!" Dr. Bradford seufzte und zog mich noch näher zu sich heran. „Das habe ich nicht gewußt. Das habe ich wirklich nicht gewußt."
lin angrenzenden Waschraum des Arztes hatte ich mein Gesicht in eiskaltes Wasser getaucht. Aber es war noch immer krebsrot. Ich betrachtete es im Spiegel über dem Waschbecken. Meine Nase lief Die Augen brannten. Die Lippen waren geschwollen. Das Haar war zottelig und stumpf Selbst bei leicht verschwommener Sicht erkannte Ich, daß ich fürchterlich aussah.
Ich trocknete mir die Hände und setzte mich auf einen Stuhl. Er bot meinem erschöpften Körper etwas Halt, während ich versuchte, - mich zu sammeln. Wenn ich allein war, haue ich schon oft so geweint, doch niemals in der Gegenwart eines Erwachsenen. Ganz besonders nicht vor einem Fremden.
- Einerseits fühlte ich mich leichter und freier als seit Monaten. Andererseits aber hatte ich Angst. Was wäre, wenn Dr. Bradford meiner Mutter die ganze Geschichte erzählte? Es wäre mir lieber, sie wüßte nichts davon. Ich wußte zwar, daß sie mich liebhatte. Aber sie würde fürchterlich böse werden. Dessen war ich mir sicher.

Selbst jetzt, während ich über die samtene Armlehne des Stuhles strich, kamen mir wieder ihre Worte aus der vergangenen Woche in den Sinn. ‚Halt dich da raus, Jean" befahl sie streng. „Geh in dein Zimmer und halt dich raus! Es wird dir nicht so viel ausmachen, wenn du nicht dabei bist und alles mitkriegst."
Ich hatte nicht den Mut, meiner Mutter zu widersprechen, aber nichts war weiter von der Wahrheit entfernt. Das Durcheinander zu Hause machte mir sehr wohl etwas aus. Es zerfraß mich im Innern wie eine Säure. Tag und Nacht.
Langsam verstrich die Zeit, und ich blieb wohl noch weitere zehn oder fünfzehn Minuten sitzen. Schließlich betrachtete ich noch einmal mein Gesicht im Spiegel und stellte fest, daß ich wieder einigermaßen normal aussah. Dieses neue Bewußtsein, daß das Leben von selbst wieder in mich zurückkehrte, gab mir Mut, wieder in den Untersuchungsraum zurückzukehren. Dr. Bradford war gerade von einem anderen Patienten gekommen. Ich fand ihn in der kleinen Nische am Fenster, wo er sich mit seinem silbernen Kugelschreiber Notizen machte.
‚Jeanie", begann er und drehte sich zu mir. „Geht es dir besser?" Er wartete einen Augenblick und fuhr dann behutsam fort: „Da hast du dich aber ordentlich ausgeweint."
„Ich bin müde", antwortete ich, „und erschöpft. Heute nacht werde ich wahrscheinlich schlafen wie ein Stein. Das ist mal was anderes."
Er schrieb einen letzten Satz in meine Akte und griff dann nach dem Rezeptblock. ‚Jeanie, ich werde dir zwei Medikamente verschreiben. Das eine wird deinen Magen ein wenig mehr beruhigen 1 als die Tabletten, die ich dir das letzte Mal verschrieben habe. Das andere ist eine kleine blaue Pille. Die wird dir helfen, dich insgesamt 1 zu entspannen. Wir wollen es damit einmal versuchen und hoffen, daß sich die Lage zu Hause bald normalisiert."
„Ich bete jeden Tag darum", flüsterte ich. „Wirklich."
Dr. Bradford riß die Zettel vom Rezeptblock und reichte sie mir. „Sag deiner Mutter, sie soll die Rezepte sofort einlösen! Heute abend oder morgen."
„Was meine Mutter betrifft", begann ich verlegen, „bitte, sagen Sie ihr doch nichts. Zumindest jetzt noch nicht. Bitte! Sie würde es nicht verstehen. Manchmal denkt sie, ich würde alles nur vorspielen, um zu Hause nichts tun oder nicht in die Schule gehen zu müssen. Bitte,
bitte, sagen Sie ihr nichts!"
DerArzt kratzte sich am Kinn und dachte nach. „Na gut, ich werde ihr erstmal nichts sagen. Wollen einmal sehen, wie die Arznei an-
schlägt."
Dann war es lange still zwischen uns. Ich war zu erleichtert, um
ein Wort herauszubringen.
‚Jeanie, du sollst wissen, daß ich mir um dich und um deine
Familie Gedanken mache. Verstehst du?"
Verlegen wich ich seinem Blick aus und gab die einzige Antwort,
die mir einfiel: „Ich bin davon überzeugt!"
„Hast du dich jetzt ein wenig gefangen?"
»Ja, ein bißchen. Ich brauche nur etwas Schlaf. Das ist alles."
„Ich möchte, daß du in ein paar Wochen wiederkommst. Anfang
des nächsten Monats. Dann wollen wir sehen, wie es dir geht."
„Klar", erwiderte ich. „Dann habe ich schon etwas, worauf ich
mich freuen kann . . . falls . . . falls es zu Hause schlimmer wird.
Wenigstens kann ich mit Ihnen darüber reden."
„Gut", meinte er zustimmend. Er drückte mir kurz die Hand.
Ich versuchte ein Lächeln, doch es wollte mir nicht gelingen. Dann griff ich nach meinem braunen Täschchen. „Bis dann", verab-
schiedete ich mich.
„Vergiß dein Buch nicht!"
„Ach ja." Ich griff nach dem Buch, öffnete es und stopfte die Rezepte hinein. Wir nickten uns zu, und ich trat auf den Flur.
Ich war überrascht, als ich das Wartezimmer auf der anderen Seite des Korridors völlig leer fand. Auf meinem weg zum Ausgang machte ich noch einen kurzen Abstecher ins Schwesternzimmer und warf einen Blick auf die Wanduhr. Wie lange mochte ich wohl hiergewe-
sen sein? Es kam mir vor wie Stunden.
„Ach, Jeanie", rief mir die freundliche Schwester von hinten zu. „Deine Mutter ist gerade noch einmal zum Auto gegangen, um die Scheinwerfer auszumachen. Jetzt ist es erst halb sechs und schon dunkel draußen. Ich mag den Herbst. Aber daß die Tage immer kur-
zer werden, gefällt mir gar nicht."
Ich nickte zustimmend.
‚Wenn du dich beeilst, kannst du ihr den Rückweg ersparen", fuhr
die Schwester fort.
Geistesabwesend schaute ich sie an, und sie wiederholte: „Deine
Mutter. Draußen auf dem Parkplatz."