Kapitel 1
Sulfur Falls, Colorado-Territorium
26. Juli 1876
Molly Ellen Whitcomb stieg aus dem Zug und betrat den Bahnsteig von Sulfur Falls. Einen Moment
lang blieb sie stehen, da sie nicht sicher war, wohin sie gehen und was sie tun sollte. Und das nicht
nur in einer Hinsicht. Der Pfiff des Zuges hallte schrill von den Bahnhofswänden wider und wehte
über den offenen Bahnsteig, auf dem sich viele Menschen drängten.
Die Lokomotive stieß unablässig Rauch und Ruß aus. Ein unmissverständliches Räuspern hinter ihr
drängte sie, endlich weiterzugehen. Jeder Schritt kostete sie viel Kraft und machte ihr schmerzlich
bewusst, warum sie überhaupt hier war. Und wie tief sie gefallen war.
Sie klemmte sich die abgegriffene Zeitschrift unter den Arm und folgte dem Strom der aussteigenden
Fahrgäste. Vier Tage früher als geplant kam sie in Sulfur Falls an. Dem Bürgermeister von Timber
Ridge hatte sie ein Telegramm geschickt, um ihn über ihr früheres Eintreffen zu informieren, aber auf dem Telegrafenamt hatte man ihr mitgeteilt, dass die Telegrafenleitungen aufgrund schwerer Regenfälle außer Betrieb waren.
Sie warf einen Blick zum grauen Himmel hinauf, rieb sich den schmerzenden Rücken und bezweifelte, dass sich daran etwas geändert haben könnte. Hoch über der kleinen Viehhandelsstadt thronten im Westen die majestätischen Gipfel der Rocky Mountains, die stellenweise immer noch schneebedeckt waren. Bilder von den Bergen hatte sie schon gesehen. Schon die grauen Schwarz-Weiß-Fotos waren sehr eindrucksvoll gewesen, aber diese Pracht mit eigenen Augen zu sehen, war etwas völlig anderes.
Fast hatte sie das Gefühl, sie müsse aus Respekt einen Knicks machen. Doch dann kam plötzlich ein stärkerer Wind auf und sie verzog das Gesicht. Der Gestank von Dung lag schwer in der Luft, Müll säumte den Bahnsteig und den Straßenrand. Plötzlich reagierte ihr Magen auf den unangenehmen Geruch, und sie hielt sich eine Hand vor die Nase. Als der Schaffner ihr gestern in Denver erklärt hatte, dass Sulfur Falls die Endstation sei, hatte er nicht übertrieben. Hundert Meter hinter dem Bahnhof endeten die Zuggleise und führten in einem Bogen zum Bahnhof zurück.
"Das Gepäck kann dort hinten abgeholt werden, Ma am! Ganz hinten, links."
Obwohl sie kaum Luft bekam, hob Molly den Blick und sah, wohin der Schaffner deutete.
Er warf einen Blick auf die Zeitschrift unter ihrem Arm. "Soll ich das für Sie entsorgen, Ma am?"
Sie verstärkte ihren Griff um die Zeitschrift. "Nein, ich will sie noch behalten. Trotzdem vielen " Der
Dank erstarb ihr auf den Lippen, weil sich der Mann bereits abgewandt hatte.
Sie bewegte sich in die Richtung, in die er gedeutet hatte, als ihr Blick auf ein Geschäft auf der
anderen Straßenseite fiel. Das Holzschild über der Ladentür schaukelte im Wind, als wolle es Molly zu
sich locken. So leise wie das Flattern eines Schmetterlingsflügels regte sich ein Gedanke in ihr.
Sie zögerte und trat zur Seite, um die anderen Fahrgäste vorbeizulassen.
Sie hatte Skrupel. Dieser Gedanke stellte ihre Integrität infrage und widersprach allem, was sie ihren
Studenten am Franklin College in Athens, Georgia, nach Kräften hatte vermitteln wollen.
Skrupel. Integrität. Ehrlichkeit.
"Unrecht gepaart mit Unrecht ergibt noch kein Recht, Miss Cassidy", hatte sie im letzten Herbst eine
Studentin getadelt, die betrogen hatte und danach versucht hatte, sich durch Lügen aus der Affäre zu
ziehen.
Molly starrte das Holzschild an und wusste, dass sie genau das Gleiche versuchen würde, wenn sie
jetzt ihrem Impuls folgte: Sie würde versuchen, ein Unrecht durch ein zweites aufzuheben.
Plötzlich wurde ihr heiß und kalt, als sie sich daran erinnerte, wie sie erst vor drei Wochen am frühen
Morgen vor Beginn der ersten Vorlesung ins Büro des Collegepräsidenten bestellt worden war. Ihre
Entlassung vom Franklin College war schnell und demütigend gewesen. Was sie getan hatte, war
falsch gewesen. Das wusste sie. Das hatte sie nie infrage gestellt. Aber die Strafe war viel zu hart
ausgefallen, und sie hatte sich nicht damit abfinden wollen. Zumindest anfangs nicht.
Doch als Präsident Northrop ihr dargelegt hatte, was geschehen würde, falls sie sich weigerte, das
College zu verlassen und ihre Stelle aufzugeben, hatte sie sich gefügt. Sofort. Er hatte ihre einzige
Schwachstelle gefunden und sie erbarmungslos ausgenutzt.
Seinem "eindringlichen Rat", diese Stelle anzunehmen und hier ein neues Leben zu beginnen, hatte
er dadurch Nachdruck verliehen, dass er sich geweigert hatte, ihr für irgendeine andere Stelle ein
Referenzschreiben zu geben; nicht einmal für die Schulen im Osten, die sie ihm vorgeschlagen hatte.
Und ohne ein Referenzschreiben würde ihr kein angesehenes College und keine Schule je eine
Chance geben.
Sie atmete vorsichtig ein und strich mit ihrem Spitzenhandschuh über ihre blaue Jacquardweste. Sie
hatte hart dafür gearbeitet, sich ihren Doktortitel zu verdienen und einige Zeit später genauso wie ihr
Vater den Professorentitel zu bekommen. Damit hatte sie für Frauen in akademischen Berufen eine
Bresche geschlagen. Aber das alles hatte sie durch eine einzige Dummheit zunichte gemacht.
Am Ende hatte Präsident Northrop gewonnen, wie das bei Männern in einflussreichen Positionen
immer der Fall war. Denn jetzt stand sie hier, weitab von der Zivilisation und der Gesellschaft, und
alles, was sie sich erarbeitet hatte, zählte nicht mehr.
Molly traf ihre Entscheidung und steuerte zielstrebig auf das Geschäft zu.
Sie schaute sich um, um sich zu vergewissern, dass niemand sie beobachtete, doch dann schüttelte
sie leicht den Kopf und schluckte ein bitteres Lachen hinunter. In dieser Stadt kannte sie niemand.
Keine einzige Menschenseele. Einen entlegeneren Ort hätte man nicht für sie finden können, außer
vielleicht die Wildnis in Alaska. Wenn dort eine Stelle frei gewesen wäre, würde sie jetzt
höchstwahrscheinlich in der weiten, gefrorenen Tundra aus einem Zug steigen.
Gleichzeitig hatte das Franklin College Professor Jeremy Fowler eine strenge Ermahnung erteilt und
seine Professur bestätigt. Jeremy Fowler verschickte bereits Hochzeitseinladungen. Aber darauf
stand nicht ihr Name. Den bitteren Geschmack in ihrem Mund schluckte sie herunter. Vielleicht hätte
sie sich inzwischen an die ungleichen Maßstäbe für Männer und Frauen gewöhnen sollen, aber damit
tat sie sich immer noch schwer. Mit gesenktem Blick wartete sie, bis eine Kutsche vorbeigefahren war, bevor sie ihren Fuß auf die Straße setzte.
"Entschuldigen Sie, Ma am, aber das Gepäck müssen Sie dort hinten abholen."
Sie drehte sich um, um dem Schaffner zu sagen, dass sie nur eine kurze Besorgung erledigen müsse,
aber dieses Mal stand nicht der Schaffner hinter ihr. Aus dem regennassen Mantel und dem
triefenden, weitkrempigen Hut des Mannes schloss sie, dass er kein Angestellter der Eisenbahn war.
Und sie war sich ganz sicher, dass sie ihn noch nie gesehen hatte. An diesen Mann würde sie sich
erinnern.
Das Wort "attraktiv" beschrieb ihn nicht einmal ansatzweise. Früher hätte das genügt, um ihr
Interesse zu wecken. Doch das war vorbei.
Das Gesicht dieses Mannes wirkte offen und ehrlich, besonders sein Lächeln. "Mir ist aufgefallen,
dass Sie gerade erst aus dem Zug gestiegen sind, und nun ja, Ma am, dieser Stadtteil ist nicht
gerade besonders sicher. Ich wollte nur, dass Sie wissen, wohin Sie gehen. Denn falls Sie das nicht
wissen, Mädchen " Ein verschmitztes Funkeln trat in seine Augen, als er in einen makellosen
schottischen Akzent wechselte. " könnte es leicht passieren, dass Sie an einem Ort landen, an dem
Sie nicht sein wollen." Mit einem leisen Lachen tippte er an seinen abgetragenen Cowboyhut. "Dieser
Rat meines Großvaters, Ian Fletcher McGuiggan, kostet Sie nichts. Ich kann ihn auswendig, denn
diesen Satz hörte ich jedes Mal, wenn ich das Haus verließ."
Molly erkannte einen Flirtversuch genauso schnell wie eine Kakerlake an der Wand. Als Professorin
für romanische Sprachen schien sie eine Anziehungskraft auf Männer zu haben, die gern flirteten.
Aber das Verhalten dieses Mannes zeigte nicht die geringsten unlauteren Absichten. Ganz im
Gegenteil. Sein Tonfall klang ehrlich und offen und seine Aussprache verriet, dass er aus den
Südstaaten kam.
"Das klingt, als wäre Ihr Großvater ein sehr weiser Mann gewesen, Sir."
"Das war er. Starrköpfig wie ein Esel, aber auf der ganzen Erde findet man kaum einen
freundlicheren, einfühlsameren Menschen."
Molly brauchte eine Sekunde, bis sie merkte, dass sie jetzt lächelte. Und noch eine weitere Sekunde,
um sich bewusst zu werden, dass ihr Lächeln dieses Mal echt und nicht so mühsam und gekünstelt
war wie in den letzten Wochen, als sie sich dazu hatte zwingen müssen.
Aufgrund seines Akzents schätzte sie, dass der Fremde aus Tennessee stammte. Vielleicht auch aus
South Carolina. Eindeutig aus der Bildungsschicht. Sein Akzent war nicht mehr sehr stark ausgeprägt,
woraus sie schloss, dass er den Süden schon vor einer ganzen Weile verlassen hatte. Auch den
schottischen Akzent seines Großvaters hatte er erstaunlich gut nachgeahmt.
Sein Blick wurde wehmütig. "Es vergeht kein Tag, an dem ich nicht an ihn denke."
"Und an dem Sie sich nicht wünschten, er wäre noch bei Ihnen", ergänzte Molly, die ahnte, was er
nicht sagte.
"Ja, Ma am." Er legte den Kopf schief. "Ich nehme an, Ihr Großvater war ein ähnlich guter Mensch?"
"Mein Vater. Aber er ist schon gestorben." Es verging kein Tag, an dem sie nicht wünschte, er wäre
noch bei ihr. Aber gleichzeitig hatte sie Gott in den letzten Wochen dafür gedankt, dass er nicht mehr
lebte. Ihre Bestrafung war schlimm genug, ohne dass sie auch noch ihrem Vater unter die Augen
treten musste.
"Mein Beileid, Ma am." Er nahm den Hut ab und seine Stimme wurde leiser. "Ist er erst vor Kurzem
gestorben?"
"Vor einem Jahr. Gestern war sein Todestag. Er war krank. Ich wusste also, dass seine Tage gezählt
waren. Wenigstens konnte ich mich von ihm verabschieden", flüsterte sie und staunte über dieses
sehr persönliche Gespräch mit einem völlig fremden Menschen. Und dann auch noch auf dem
Bahnhof einer abgelegenen Kleinstadt in Colorado. Ihr Vater hatte gesagt, dass ihr Abschied nicht für
immer wäre, sondern nur für eine Weile. Aber manchmal hatte sie das Gefühl, dass der Abschied
endgültig und nicht nur vorübergehend war.
Der Mann schaute sie an, ohne etwas zu sagen. Sie erwartete, dass durch das Schweigen eine
unangenehme Atmosphäre entstehen würde. Aber das geschah nicht. Eine unerklärliche
Unbefangenheit erfüllte sie. Etwas sagte ihr, dass Schweigen für ihn nichts Ungewohntes war, dass er
nicht jede Sekunde mit Worten füllen musste, obwohl er derjenige war, der sie angesprochen hatte.
So weit im Westen hatte sie eine solche Höflichkeit nicht erwartet, besonders nach der Begegnung
mit einigen sehr ungehobelten Männern, denen sie während ihrer zweiwöchigen Fahrt begegnet
war.
"Nun " Er setzte seinen Hut wieder auf. Bei dieser Bewegung klappte sein Mantel auf und ein
Sheriffstern, der an seiner Weste steckte, kam darunter zum Vorschein. "Entschuldigen Sie, wenn ich
Sie aufgehalten habe, Ma am. Ich wünsche Ihnen einen schönen Tag und hoffe, es gefällt Ihnen in
Sulfur Falls."
Ihr lag auf der Zunge, ihn zu fragen, was er über Timber Ridge wusste, aber als sie den Sheriffstern
sah, gab sie diesem Wunsch nicht nach. Mit einem Mann in einer einflussreichen Position wollte sie
nichts zu tun haben, auch wenn er noch so freundlich und aufrichtig wirkte. "Guten Tag, Sir. Und
noch einmal danke für Ihre Fürsorge."
Molly wich dem Matsch und den Hinterlassenschaften der Tiere so gut sie konnte aus und setzte
ihren Weg über die Straße fort. Sie widerstand dem Wunsch, sich noch einmal nach dem Sheriff
umzusehen. Ein Lieferwagen polterte viel zu schnell durch die Straße. Der Fahrer, dessen Wangen
und breite Koteletten sich aufblähten, sah nicht so aus, als wollte er anhalten. Molly schaute ihn
finster an, blieb aber mitten auf der Straße stehen, bis er vorbeigefahren war. Ungehobelter
Hinterwäldler!
Die Hauptstraße wies tiefe Fahrrillen und Schlaglöcher auf. Das Überqueren der Straße stellte eine
Herausforderung dar, besonders in ihren Stiefeln mit den hohen Absätzen.
Eine ziemlich große und stinkende Hinterlassenschaft eines Rindes lag vor ihr auf dem Weg. Sie wich
zur Seite, um nicht hineinzutreten. Aus der großen Menge derartiger Hinterlassenschaften schloss
sie, dass eine Viehherde mitten durch die Hauptstraße getrieben worden war. Unglaublich.
Sie war dankbar, als sie unbeschadet von Menschen und Tieren den Gehweg auf der anderen Seite
erreichte, stieg die Stufen hinauf und bahnte sich mit einem unguten Gefühl ihren Weg über den
ungleichmäßigen hölzernen Brettersteg. Vor der Ladentür blieb sie stehen und zog die Taschenuhr
ihres Vaters aus ihrer Handtasche. Die Postkutsche nach Timber Ridge würde in einer halben Stunde
abfahren, und sie müsste vorher noch ihren Gepäcktransport in die Wege leiten. Ihr blieb also nicht
viel Zeit.
Sie zwang ihre zitternden Nerven, sich zu beruhigen, und öffnete die Tür.
Ein Mann stand hinter der Verkaufstheke und suchte etwas in einer Schublade. Erst als Molly ihn sah,
wurde ihr bewusst, wie sehr sie sich gewünscht hatte, eine Frau würde sie bei diesem Kauf bedienen.
Vor ihr tauchte das Bild ihres Vaters auf, begleitet von einer mahnenden Stimme und einem unguten
Gefühl im Magen. "Gut gemacht, Dr. Whitcomb", hatte ihr Vater geflüstert, als sie mit ihrer Urkunde
in der Hand neben ihm gestanden hatte. "Ein Vater könnte nicht stolzer auf seine Tochter sein."
Das war vor vier Jahren gewesen. Seine Worte und die Erinnerung daran waren für sie immer noch
sehr lebendig, wenn auch im Moment aus einem völlig anderen Grund. Als sie daran dachte, was ihr
Vater von den Entscheidungen halten würde, die sie in letzter Zeit getroffen hatte, stellte sie infrage,
ob sie das, was sie jetzt vorhatte, wirklich tun sollte. Aber da sie wusste, wie ihre Zukunft aussehen
würde, wenn sie es nicht machte, ignorierte sie die warnende Stimme.
Der Verkäufer hob den Blick. "Guten Tag, Ma am. Was kann ich für Sie tun?"
Sie warf einen schnellen Blick auf die Uhr, die hinter ihm an der Wand hing. Sie wollte direkt zur
Sache kommen. "Ich möchte " Sie atmete tief ein. " einen Ring kaufen."
"Ah!" Die Miene des Mannes strahlte auf. "Dann sind Sie hier genau richtig, Ma am. Brentons
Juweliergeschäft hat die größte Auswahl an Ringen in ganz Sulfur Falls."
Molly bemühte sich, beeindruckt zu wirken.
Er schaute sie an. "Lassen Sie mich raten. Ihr Geschmack geht eher in Richtung Rubine."
Sie schüttelte den Kopf und suchte nach den richtigen Worten. Das zu verlangen, was sie wollte, fiel
ihr schwerer, als sie gedacht hatte. "Was ich möchte, ist "
"Nein, nein!", lächelte er. "Verraten Sie es mir nicht." Er rieb sich nachdenklich das Kinn. "Saphire",
sagte er mit hoffnungsvoller Miene.
Er schien ganz nett zu sein und sie wollte ihn nicht enttäuschen, aber ihr lief die Zeit davon. "Nein,
Sir. Diese Steine sind sehr hübsch. Aber mir schwebt etwas anderes vor. Und ich habe nicht viel Zeit.
Wenn ich Ihnen also einfach "
"Diamanten!", strahlte er. "Das hätte ich mir gleich denken können. Kommen Sie! Folgen Sie mir! Wir
haben hier drüben einige schöne Diamantringe."
Die abgestandene Luft in dem Laden wurde noch stickiger, als Molly ihren nächsten Satz formulierte.
"Ich suche keinen Ring mit einem Stein, Sir. Ich suche etwas viel " Sie schluckte und hörte das Klirren
seiner Schlüssel. "Einfacheres."
Er hatte sich gebückt, um einen Schrank aufzusperren, erstarrte jetzt aber in seinen Bewegungen und
richtete sich langsam auf. "Ah, ja. Ich verstehe." Er schmunzelte leise. "Dann sollten wir die Sache
vielleicht anders angehen, Ma am. Beschreiben Sie mir doch einfach, welche Art von Ring Sie
suchen. Dann zeige ich Ihnen, was wir für Sie haben."
Ihr Mund fühlte sich an, als wäre er mit frisch gepflückter Baumwolle ausgestopft. Sie biss sich
seitlich auf die Zunge, nur ein wenig, um ihren Mund zu einer natürlichen Reaktion zu bewegen.
Diesen Trick hatte ihr ein älterer Professor mit auf den Weg gegeben, bevor sie ihre erste Vorlesung
am College gehalten hatte. "Was ich suche, ist ein Ehe " Sie brach ab. Sie brachte das Wort nicht
über die Lippen. Aber sie musste es sagen.
Sie konnte sich nicht überwinden, dem Verkäufer in die Augen zu schauen. Herr, bitte vergib mir.
Wieder einmal. "Ich würde mir gern Ihre Eheringe ansehen, Sir. Nichts Ausgefallenes. Ihr
schlichtester Ring genügt."
Er starrte sie an. "Verstehe", flüsterte er, aber Zweifel traten in seine Miene. Er schaute hinter sie.
"Kommt Ihr Mann auch noch? Um den Ring mit Ihnen gemeinsam auszusuchen?" Er sagte das fast
hoffnungsvoll, als wollte er sie nicht vorschnell verurteilen.
"Nein", antwortete sie leise.
Der Verkäufer schaute sie prüfend an, bevor er zu einem Schrank im hinteren Teil des Ladens ging.
"Wir haben normalerweise verschiedene Silber- und Goldringe, aber die einzigen Silberringe, die wir
im Moment haben, sind mit Edelsteinen besetzt. Wenn ich Ihnen also die billigsten Ringe, die wir
haben, zeigen soll "
Bildete sie sich nur ein, dass er dieses Wort betonte?
" haben Sie zwei Möglichkeiten." Er legte ihr zwei Ringe hin, benahm sich dabei aber deutlich
barscher als am Anfang.
Sie konnte es nicht erwarten, das alles hinter sich zu bringen, und nahm den einen in die Hand. Er sah
hübsch aus. Glänzendes Gold mit zarten Gravierungen, die dem Ring ein gebürstetes Aussehen
verliehen. "Wie viel kostet dieser Ring bitte?"
Er nannte ihr den Preis, und sie versuchte, den Ring nicht zu schnell zurückzulegen. Dafür müsste sie
als Lehrerin drei Monate arbeiten! Sie griff nach dem anderen Ring. Auch er glänzte, aber ihm fehlten
die Kunstfertigkeit und die Farbtiefe. "Wie viel kostet dieser Ring?"
Er antwortete ihr nicht sofort. "Der hier kostet vier Dollar."
Das entsprach ihrem finanziellen Rahmen eindeutig besser. Sie hielt ihn in verschiedenen Winkeln ins
Licht. "Warum ist dieser Ring so viel billiger?"
"Weil er nicht aus reinem Gold ist. Er ist nur aus Messing mit einer dünnen Goldbeschichtung."
Sie betrachtete den Ring genauer, dann zog sie ihre Handschuhe aus und steckte ihn sich an den
Ringfinger ihrer linken Hand. Er passte perfekt, als wäre er eigens für sie angefertigt worden. Vor
ihrem inneren Auge ging sie ihre Optionen ein letztes Mal durch und kam zum gleichen Schluss wie
vorher. Sie wusste, dass ihr keine andere Wahl blieb. "Ich nehme ihn. Danke." Schnell zählte sie ihre
Scheine ab, legte sie auf die Theke und wandte sich zum Gehen.
"Ich möchte Sie nur noch einmal darauf hinweisen, Ma am: Ihnen ist klar, dass der Ring, den Sie
gekauft haben, nicht echt ist?"
Molly blieb an der Tür stehen und hatte schon die Hand auf dem Türgriff liegen, als seine Worte in
der Stille nachschwangen und ihr ihre tiefere Bedeutung bewusst wurde. Ohne sich noch einmal
umzudrehen, öffnete sie die Tür. "Ja, Sir. Das ist mir sehr wohl bewusst."
Alexander Tamera