Zion Die Rückkehr

09/28/2022
von Christ-und-Buch Günter Arhelger

PROLOG Jerusalem - Tempelberg Der neunte Tag des Ab, 70 n. Chr.
Anaias wußte genau, daß es keine Hoffnung mehr auf ein Entrinnen gab. Es war zwar noch Vormittag, aber der dichte Rauch, der den Himmel verdeckte, hüllte alles in Dunkelheit und verbarg die endgültige Zerstörung des Tempels von Zion vor den trauernden Augen des Himmels.
Der achtzehnjährige Anaias war, wie zahlreiche andere jüdische Pilger, die aus allen Teilen der Welt zusammengeströmt waren, nach Jerusalem gezogen, um in eben diesem Tempel das Passahfest zu feiern. Der junge Mann war zwar erst das zweite Mal in Jerusalem, aber er wußte, daß es das letzte Mal war. Es ging das Gerücht um, daß mehr als hunderttausend Menschen bei der Belagerung den Tod gefunden hätten. 

Die Täler rings um die Stadt quollen über vor Toten, und der Gestank, der von den in der Sommerhitze verwesenden Leichen aufstieg, war unerträglich geworden. Und nun war selbst der Tempelplatz - die letzte Zuflucht der Juden vor Titus' Legionen -‚ übersät von Toten und Menschen, die ebenfalls bald den Tod finden würden.
Anaias lehnte sich gegen eine Säule im Vorhof der Priester und dachte daran, mit welcher Begeisterung er vor sechs Monaten den Tempel betrachtet hatte. In Weiß und Gold glitzernd, hatte er in der Morgendämmerung wie die Kuppe eines schneebedeckten Berges ausgesehen. Als ihn die Morgensonne dann in ihr erstes Licht getaucht hatte, da hatte Anaias seine Augen von der gleißenden Helligkeit dieses heiligen Gebäudes abwenden müssen. Mit geschorenem Kopf und beseelt von seinem Gelübde, war er klopfenden Herzens durch die großen korinthischen Tore gegangen, um sein Dankopfer darzubringen und sich auf das Passahfest vorzubereiten. Aber all das schien in unvordenklich fernen Zeiten gewesen zu sein.

Danach hatten sich die jüdischen Rebellen, von den Römern verfolgt, in die Stadt zurückgezogen und sich hinter den schweren Toren verbarrikadiert. Anaias schloß vor Grauen die Augen, als die Erinnerung daran in ihm wieder wach wurde. Er hatte nicht einmal Zeit gehabt, seinen Mantel zu holen, geschweige denn, sich in den umliegenden Hügeln zu verstecken. Dann war die Stadt langsam gestorben.
Die Kampfgruppen von Johannes und Simon waren nicht in der Lage gewesen, die tosende Flutwelle des römischen Zorns zurückzuhalten, und die Menschen, die aus der Stadt geflohen waren, um die Römer um Gnade zu bitten, waren gekreuzigt oder aufgeschlitzt worden, weil die Soldaten Goldstücke oder Juwelen in ihrem Inneren vermuteten.
Unter den Zurückgebliebenen hatte eine furchtbare Hungersnot gewütet und die Menschen solange zu Tausenden niedergemäht, bis schließlich die Stadtmauer der Wucht des feindlichen Ansturms nicht mehr standgehalten hatte. Und nun wußte Anaias, daß dies der letzte Tag war, daß nun auch der Tempel fallen würde. Vor sechs Tagen hatte er sich den letzten überlebenden angeschlossen, die sich im Vorhof der Priester verschanzt hatten. Acht starke Männer waren nötig gewesen, um die hölzernen Tore zu schließen, die den Hof schützten. Aber nun leckte das von den römischen Legionären gelegte Feuer an dem Gold, das Anaias noch vor einem halben Jahr geblendet hatte. Geschmolzenes Metall rann an den Toren hinunter und entzündete das darunter liegende Holz zu roter Glut. Und der Wind wirbelte die Funken so hoch in die Luft, daß nun auch der Tempel selbst bedroht war.


Die jüdischen Soldaten, die noch die Kraft hatten, ein Schwert zu tragen, gingen zwischen den Überlebenden einher, um deren Leben ein Ende zu setzen, bevor die Tore zu Asche zerfielen und die Römer den Hof stürmten. Immer wieder winkte jemand mit kraftloser Hand einen Soldaten herbei und bat ihn um einen schnellen Tod. Denn nicht nur Anaias wußte, daß die Römer die wenigen, die das Gemetzel überleben würden, verschleppen würden, um sie für ihre grausamen Spiele zu benutzen. Die letzten überlebenden ganzer Familien von frohen Pilgern boten daher nun ihren Hals dem Schwert dar und legten sich Seite an Seite zum Sterben nieder.
Ein tödliche Stille hatte sich über den Tempel gelegt.
Unter seinem Umhang trug Anaias ein kleines, silbernes Kästchen. Darin lag der Tallith, den ihm sein Vater vor der Reise geschenkt hatte. Ein bitterer Zug trat auf seine Lippen, als er an seine Eltern in Antiochia dachte. Würden auch sie durch die Hände der römischen Eroberer umkommen? Wie es auch kommen mag, dachte er schweren Herzens, wenn es so sein soll, dann werden wir zumindest gemeinsam vor unserem Heiland stehen. Und es geschieht hier nichts, was er nicht vorausgesagt hat. Aber ich hätte nie gedacht, daß ich selbst bei der Zerstörung des Tempels dabeisein würde.
„Es brennt!" schrie plötzlich ein Soldat vom Portikus her und deutete zum Dach des Tempels. „Der Tempel brennt!" Anaias folgte dem ausgestreckten Schwert des Soldaten mit den Augen und sah winzige Flammen auf dem Dach der heiligen Stätte züngeln. Eine der noch lebenden Frauen stieß einen hohen, schrillen Klageschrei aus, dem sich auch die anderen Sterbenden anschlossen, so daß es schien, als steige ein einziger Schrei mit dem Rauch gen Himmel.
„Mein Gott!" weinte Anaias, der das sichere Gefühl hatte, das Ende der Welt mitanzusehen. „Wir sind ja alle bereit zu sterben, aber laß unsere Heilige Stätte nicht untergehen! Komm und mach unserem Elend ein Ende, Herr!" flehte er so laut, daß er die Schreie und Rufe der anderen übertönte. Tatsächlich richteten einige ihren Blick zum rauchgeschwärzten Himmel, als erwarteten sie von dort das Erscheinen des Messias. 

Aber der Himmel hüllte sich in Schweigen.
Das Inferno um sie herum loderte immer stärker, und der dicke Qualm, der sich auf sie herabsenkte, nahm selbst den Kräftigsten die Luft. Anaias fühlte, wie ihm die Sinne vor der Unausweichlichkeit des Todes zu schwinden begannen. „Vater!" rief er aus. „Ich habe noch nicht in meinem neuen Tailith gebetet. Er wird heute mein Leichentuch werden. Aber das wäre er auch geworden, wenn ich nach einem langen, erfüllten Leben gestorben wäre!" Das Kästchen fiel klappernd zu Boden, es sprang auf, und das feine, weiße Gebetstuch entfaltete sich zu seinen Füßen. Anaias hob es, sich mühsam an der Säule abstützend, wieder auf und hielt es hoch über seinen Kopf, so daß es im Winde flatterte. Hier war das letzte Reine in der Stadt. Sein strahlendes Weiß hob sich wie ein Banner der Hoffnung von der rauchgeschwärzten Umgebung ab. Seine Borte in hellem Davidsblau erinnerte ihn daran, daß es trotz allem einen Himmel über ihnen gab und Gott auf Seinem Thron regierte.
„Aber ich habe keinen Anteil daran!" schrie er, von Zweifeln gequält. „Und heute stirbt das Haus Israel zusammen mit mir!" Heftig weinend barg er sein Gesicht im Geschenk seines Vaters. Dann wurde er wieder teilnahmslos. Das Stöhnen der Sterbenden nahm er nur wie aus weiter Ferne wahr. Er legte sich das Gebetstuch sorgfältig über die linke Schulter. „Höre, o Israel, der Ewige, unser Gott, ist einzig." Dann schlang er es über seinen Rücken und verhüllte seinen Kopf mit dem Rest des Talliths. 

Die Augen fest auf die großen Tore gerichtet, die zum Allerheiligsten und zum Altar selbst führten, bahnte er sich Schritt für Schritt, mit wehendem Tallith, wie eine weiße Engelsgestalt, seinen Weg über die Leichen hinweg. Die Sterbenden schrien bei seinem Anblick auf. Als Anaias die vierzehn Stufen zu dem Tisch der Schaubrote und zu der goldenen Menorah hinaufstieg, rief ihn ein Soldat an und wollte ihn, ein bluttriefendes Schwert in der Hand, zur Rede stellen: „Halt! Wo willst du hin?"
Doch Anaias ging wortlos weiter, während hinter ihm die Flammen röhrend ihren Sieg über das korinthische Tor verkündeten. Dann sackten die riesigen Balken in sich zusammen, Funken stoben auf und wurden vom Wind davongetragen. Über die gepflasterten Straßen rannen Ströme flüssigen Metalls. Mühsam schleppte sich Anaias bis zur obersten Stufe. Dort sah er sich um. In der glühenden Hitze, die von dem brennenden Tor ausströmte, standen römische Soldaten - in Rüstung, mit Schwertern und stoßbereiten Lanzen - und warteten auf das letzte Gemetzel. „Wie schnell waren diese Tore geschlossen, und die römischen Legionen haben sechs Monate gebraucht, um sie wieder zu öffnen", murmelte Anaias vor sich hin.
Er starrte die Männer, die sein Schicksal besiegeln würden, noch einen Moment lang an. Dann ging er auf das Tor zum Allerheiligsten zu. Als er den Raum betrat, verriet sein Gang, daß er an innerer Sicherheit gewonnen hatte. Er sah die Gruppen goldener Trauben, die in Mannesgröße von der Decke hingen, und Schleier aus Gold, Purpur und Azurblau, deren miteinander verschmelzende Farben Himmel, Erde und Meer symbolisierten.
Anaias zog seinen Tallith enger um sein Kinn und ging, während der Lärm der letzten Schlacht vom Hof hereinschallte, um den ersten Schleier herum. Zu seiner Rechten befand sich der goldene Tisch, auf dem das Schaubrot gestanden hatte, nicht weit davon entfernt die riesige Menorah, der Leuchter, der vor dem Allerheiligsten brannte. Genau gegenüber stand ein Tisch, auf dem die Rauchopfer dargebracht worden waren. Anaias atmete tief den Zimtgeruch ein, der hier viele Jahre lang aufgestiegen war. Und vor ihm befand sich der Altar, der durch den purpurnen Schleier vom Allerheiligsten getrennt war. 

Ein Gefühl der Ehrfurcht durchrieselte Anaias. Er lächelte trotz der Schreie, die von draußen hereinschollen. Hier - im Herzen des Tempels - war Frieden. Anaias wußte allerdings sehr wohl, daß Gott nicht mehr an diesem Ort weilte, aber er wußte auch, daß er hier früher einmal seine Heimstatt gehabt hatte.
Während der junge Mann sich langsam um sich selbst drehte und die Schönheit des verbotenen Raumes in sich aufnahm, vernahm er klirrende Schritte auf der Außentreppe und rauhe, fremdländische Stimmen im Vestibül auf der anderen Seite des Schleiers. Er atmete heftig. Sein junges Herz schrie danach zu leben, obwohl schon so lange keine Hoffnung mehr bestand.
Er umklammerte heftig den Rand seines Talliths und wünschte, daß er noch seine Gebetsriemen besäße, die er sonst immer zum Beten um Arme und Stirn gewunden hatte. Aber diese hatte er bereits vor Monaten verkauft, um sich Lebensmittel zu verschaffen. Er trat an den Altar heran und legte seine Hände darauf. „Oh, Herr!" schrie er. „Ich kann dir kein anderes Opfer darbringen als den Dank für den Einen, den du für mich hingegeben hast! Nimm mein Leben! Nimm meine Seele! Ich flehe dich an!"
»Wer ist da hinten?" rief eine harte Stimme. „Da ist ein Jude drin! Los, den holen wir uns!"
Anaias neigte den Kopf und sank vor dem Altar auf die Knie, während sich der Schleier hinter ihm teilte und römische Schwerter sichtbar wurden. Er war nach Zion gekommen, um zu beten und zu danken. Zu guter Letzt war seine Reise also doch nicht vergeblich gewesen. Während er die Kühle des Altars und die Weichheit seines Talliths spürte, wurde dieser ihm zum Leichentuch.

Inhaltsverzeichnis
Prolog  7
Teil 1 Das Geheimnis  12
1. Kontrollpunkt  13
2. Das Geschenk  25
3. Die Einladung  40
4. Vorbereitungen  53
5. Die Trauung  67
6. Hochzeitsnacht  78
7. An der Palestine Post  98
8. Nachrichten  108
9. Wo ist Gott> 122
Teil 2 Der Traum 129
10. Pläne  130
11. Angela  145
12. »Auch wenn die Zeit vergeht«  155
13. Abschied vonJerusalem  163
14. Vergebung  176
15. Totenwache  195
16. Die Rettung
17. Die Enthüllung  225
18. Der armenische Bäcker  236
19. Korn und Kugeln 246
20. Verrat  263
21. Schabbatopfer  275
Teil 3 Die Tat 286
22. Für den Frieden Jerusalenis 287
23. Eine Zeit, etwas zu wagen . 301
24. Hoffnung in der Bedrängnis  312
25. Die Informanten 322
26. Purim . 330
27. Unerwartete Hilfe  342
28. Die Bombe  352
29. Der Schatten 364
16. Die Rettung
30. Die Entführung  372
31. Die Flucht 379
32. Jehudits Plan  386
33. Aus dem Grab erstanden 394
34. Montgomery 405
35. Warten 417
36. Der Flug des Storchs  424
37. Das Wunder 432
Epilog 442 Erläuterungen und ergänzende Informationen 444
Verzeichnis der Bibelstellen und religiösen Zitate 465