Bino - Was ist bloß mit Bino los, Zahnd Hildegard

12/15/2023
von Christ-und-Buch Günter Arhelger

Martin steckt den Kopf durch die Türspalte. Mutter steht am Herd und rührt in einer großen Pfanne. Es duftet verheißungsvoll. Martin läuft das Wasser im Mund zusammen. Hm, Gulasch, sein Lieblingsgericht!
„Tag, Mama! Sieh mal her - ich kann wirklich nichts dafür!" Mit todtrauriger Miene hält er der Mutter seinen roten Anorak hin. „Ehrenwort, ich war es nicht. Bino hat ihn zerrissen."
Mutter dreht sich um. Seit Tagen die gleiche Begrüßung. „Was ist denn jetz wieder passiert?"
Die Windjacke, die morgens noch tadellos war, gleicht dem Prachtstück eines Lumpensammlers. Die Seitennaht ist geplatzt, die Tasche heruntergerissen. Die Kapuze hängt gerade noch an einem Fädchen, und der Reißverschluß baumelt einsam in der Luft.


Mutters Augen wandern von der mißhandelten Jacke zu ihrem schuldbewußten Besitzer.
>i5er bietet einen jämmerlichen Anblick. Schmutzige Hände, zerzauste Haare, an der linken Wange eine blutige Schramme Das Ge-
Mundwinkel klebt ein Stück undefinierbarer, schwarzer Masse - vielleicht Schokolade? Martins Augen blicken unsicher auf die Mutter. „Sei nicht böse, Mama, ich kann wirklich
nichts dafür!"


Der Junge schlüpft wieder zur Tür hinaus, froh darüber, so glimpflich davonzukommen Aber so schnell ist Mutter nicht zufrieden - obwohl es bald zwölf Uhr ist und sie eigentlich keine Zeit hat, sich mit zerrissenen Windjacken
zu beschäftigen.
„Martin, komm her! Sag mal, wie kommt es eigentlich, daß du jeden Tag Löcher in den Kleidern hast? Einmal in der Hose, dann im Pullover. Gestern hatte die Kappe keine Quaste mehr, und heute ist die Jacke nur noch ein Lumpen! Was treibt ihr denn in der Schule?"
Mutter Stimme tönt nicht mehr so sanft und verständnisvoll wie gestern und vorgestern. Ist ja begreiflich - in den letzten Tagen hatte sich Martin allerhand geleistet. Das heißt, nicht er—er war nur mitbeteiligt. Bino, ein Junge aus der Nachbarschaft, sorgt dafür, daß Frau Denners Flickkorb täglich Zuwachs erhält.
„Mama, glaub es doch, ich kann wirklich nichts dafür. Er hat nach der Schule auf mich gewartet und mich niedergeboxt Ich mußte mich doch wehren - dabei ist die Jacke zerrissen."
6
Mit hängendem Kopf steht der Junge da; Ein Bild des Jammers. Mutter muß heimlich lächeln, nur gerade in den Mundwinkeln zuckt es. Sie fährt dem Bürschchen übers Haar.
„Wasch deine Hände! Dann komm und deck den Tisch. Dabei kannst du mir erzählen, wie du zu den vielen Löchern und der Schramme im Gesicht gekommen bist."
Gehorsam dreht sich Martin um und verschwindet im Badezimmer. Heute wagt er nicht, die Mutter daran zu erinnern, daß der Bruder Küchendienst hat. Diese blöde Jacke!
„Gibt es Suppe?" Auf Mutters Nicken holt Martin Suppenteller, Besteck, Gläser und Servietten aus dem Schrank. Auffallend langsam geht das Tischdecken vor sich. Er muß der Mutter haargenau erzählen, was in der letzten Zeit alles passiert ist.
„Der Bino ist ein Ekel. Letzte Woche stieß er Gabi die Treppe hinunter. Sie hatte ein großes Loch im Kopf. Fräulein Salberg mußte ihrer Mutter telefonieren. Die brachte sie sofort ins Krankenhaus. Der Arzt hat die Wunde genäht. Jetzt trägt sie ein dickes Pflaster über der Stirn und hat immer Kopfweh."
„Und was geschah mit Bino?"
„Er mußte zum Direktor. Aber diesem Jungen ist alles Wurst. Er lachte nur und sagte, es geschehe ihr recht."
„Geht Bino nicht mit Heiner in, die gleiche Klasse?” erkundigt sich Mutter. Es scheint ihr,
als hatte sie den Namen schon gehört. Heiner ist Martins älterer Bruder. „Wer ist denn Binos Freund?"
„Freund? Hat er keinen Mit dem will niemand gehen."
Martin erzählt noch viel von Bino. Die Mutter erfährt, daß er vor einem Jahr mit den Eltern aus Italien gekommen ist. Der Vater ist Schreiner, die Mutter arbeitet in einem Restaurant.
„Stell dir vor, Mama, seine Großmutter kommt jeden Tag auf den Schulhof. In der großen Pause gibt sie acht, daß er keine Dummheiten macht Aber es nutzt nichts Er verhaut doch immer jemand."
„Hallo, Mama - was gibt's zu essen?" Im Treppenhaus poltert es. „Ich bin halb tot vor Hunger!" ruft Heiner vor der • 'für. Zweistimmig grölt es: „Ich habe Hunger, Hunger, Hunger!"
Die Mappen fliegen in die Ecke. Im Badezimmer schubst jeder den anderen zur Seite. „Ich war zuerst da!"
Endlich sitzen alle am Tisch. Fast aller- der Vater ist noch nicht da Er kommt zu spät. Wie ..üblich. Mutter stimmt das Tischlied an „Vater, wir danken dir." Das Essen. schmeckt. Nach vier Stunden Schule hat man sich das Mittagessen wohl verdient Hetty, mit ihren zwölf Jahren beinahe eine junge Dame, beklagt sich über die Französischlehrerin.
„Weißt du, Mama, sie ist einfach zu ungerecht. Gestern hab ich s000 gebüffelt. Und heute, bei der Klassenarbeit, stellt sie ganz andere Fragen! Ich weiß wirklich nicht, wie die Arbeit wurde Na, schlechter als ungenügend kann sie ja nicht sein."
„Schwacher Trost", stellt Heiner trocken fest.
Mutter bedauert die. geplagte Tochter ausgiebig und bittet sie, mit ihrem Klagelied erst zu beginnen, wenn die Klassenarbeit zurük-kommt.
Da erscheint Vater im Türrahmen.. „Du kommst wieder einmal reichlich spät. Die Suppe ist fast kalt!" begrüßt ihn die Mutter.
„Macht nichts. Wie geht's, ihr Knöpfe?"
„Gut danke. Du, Papa, heute ist bei uns eine Stinkbombe losgegangen", berichtet der zehnjährige Heiner. „Wir müssen unseren neuen Lehrer testen Klaus und Andreas haben die Bombe abgefeuert Herr Grossen hat nichts bemerkt Uhhh, haben wir gelacht' Mir tut jetzt noch der Bauchweh!" .In Gedanken an die duftende Gesangsstunde
9
prustet Heiner los. Sein Gelächter wirkt so ansteckend, daß alle einstimmen. Sogar Papa, der zuerst ganz finster dreinschaute, schließt sich dem Lachquintett an.
„So, jetzt aber wieder vernünftig", mahnt er endlich. „Sonst wird alles kalt. Außerdem möchte ich auch einmal zu Wort kommen."
Als sich die Kinder beruhigt haben, wendet sich Vater an Heiner: „Wie ist das mit eurem Lehrer? Wozu soll er getestet werden? Ich denke, es ist an ihm, euch zu testen?"
„Na schon. Aber wir müssen doch herausfinden, ob er ein netter Kerl ist. Er sieht so komisch aus - trägt eine furchtbar dicke Brille. Die Augen dahinter sehen wie winzige Steck-nadelköpfe aus."
„Eine solch dicke Brille zu tragen ist wahrhaftig kein Vergnügen. Ich hoffe, du hast dich an der Bombenaktion nicht beteiligt?" Streng blickt der Vater seinem Sprößling in die Augen.
„Wo denkst du hin, Paps! Gelacht hab ich natürlich auch! Vielleicht ist Herr Grossen gar nicht übel, wenn man ihn näher kennt."
Herr Denner ist Pastor. In den Augen der Kindef ein unmöglicher Beruf. Sie geben ihn in der Schule mit gemischten Gefühlen an, wenn man sie danach fragt. Inzwischen wissen es alle, 'Lehrer und Schüler.
Vor zwei Jahren, als Herr Denner in die schöne Stadt am See versetzt wurde, mußte jedes der Kinder sich in der Schule vorstellen und von daheim erzählen.
Hetty und Heiner machten es kurz und bündig. Werner, damals in der ersten Klasse, er-, zählte gerne. Es machte ihm auch nichts aus, daß einige der Jungen sich anstießen und kicherten. Martin kam gerade in den Kindergarten. Zum Glück ging die Mutter mit und stellte sich selbst vor, so daß ihm die peinliche Angelegenheit erspart blieb.
„Wie geht es übrigens dem kleinen Peter?" wendet sich Frau Denner an ihren Mann. Er hat heute vormittag verschiedene Leute seiner Gemeinde besucht. Peter ist ein kleiner, schwerkranker Junge. Unheilbar krank. Die Mutter pflegt ihn voller Hingabe. Der Arzt hat ihm nur noch wenige Wochen gegeben. Heute hat Herr Denner wieder nach dem Kind gesehen.
„Er ißt kaum noch. Etwas Milch und Fruchtsaft, mehr kann ihm Frau Fehr nicht geben. Er freut sich darauf, bald zu Jesus in den Himmel zu kommen."
„Papa, kommt Peter gewiß in den Himmel?" erkundigt sich Martin. Daß der kleine Junge, den er seit zwei Jahren kennt, der zur Sonntagsschule kam, bald nicht mehr •hier sein wird,
10
macht ihm schwer zu schaffen. „Kann der Doktor ihm denn gar nicht helfen?"
„Nein, Martin. Gegen seine Krankheit gibt es noch kein Medikament. Peter hat keine Angst vor dem Sterben. Er weiß, daß es im Himmel schön ist. Dort hat er keine Schmerzen mehr; Dort kann er mit anderen Kindern spielen. Darauf freut er sich sehr. Hier muß er immer das Bett hüten. Weißt du noch, wie mager seine Arme und Beine waren, wie wenig Kraft er hatte? Deshalb wollen wir nicht traurig sein, nicht wahr, Kinder?"
Die fröhliche Stimmung ist wie weggeblasen. Per Gedanke an den kleinen Peter hat sogar Heiners Lachmuskeln lahmgelegt.
Vor ihren Augen steht der kleine Peter, wie sie ihn zuletzt gesehen haben. Bleich, mager, müde - wie einwelkes Blümchen hat er neben Martin gesessen. Und jetzt geht er bald in den Himmel?
Nach dem Essen nimmt Mutter die Bibel aus der Schublade. Es ist keine richtige Bibel, sondern das „Erzählbuch der Biblischen Geschichte" von Anne de Vries.
Die Kinder hören interessiert zu. Sogar Mar tin, der Zappelphilipp, hält seine Beine still und will unbedingt wissen, wie es weitergeht. Meistens beten zwei Kinder und der Vater. Nur heute bleibt alles stumm. Martin denkt an die zerrissene Jacke, Heiner: an die Stinkbombe und Hetty grübelt ihren Fehlern in der Französischarbeit nach
„Werner, willst du beten?" fragt Vater den Drittklassler.
Nach Tisch macht sich jedes an die Arbeit Abwaschen, abtrocknen, Geschirr versorgen Heute sind Heiner und Martin an der, Reihe Ohne Murren geht die Sache nicht ab Abwaschen und abtrocknen, wie schrecklich' Man sollte endlich in jedem Haushalt Papiergeschirr einführen zur Entlastung der armen, geplagten Kinder!
Heiner kann es kaum erwarten, bis der letzte Teller gewaschen ist. Christoph steht auf der Straße und pfeift ungeduldig.
Struppi, der Vierbeiner, hat den Pfiff auch verstanden; Er sitzt wartend vor der Tür. Man: könnte ihn für einen Pudel halten, aber der Schein trügt. Struppis Vorfahren setzen sich aus mindestens drei verschiedenen Rassen zusammen Er ist die perfekte Promenadenmischung. Und der beste Freund der Kinder. Er folgt, wenn es ihm paßt. Im anderen Fall ist er furchtbar schwerhörig.
Jetzt sitzt er da und wartet ungeduldig Er halt den Kopf schief und wedelt mit dem Schwanz. Die großen, schwarzen Kulleraugen schauen Heiner bettelnd an „Beeil dich, ich
11
will hinaus! Siehst du nicht, wie schön die Sonne scheint?"
Heiner versteht sehr gut. Auch ihn zieht es an allen Haaren hinaus. Christoph und Stefan, die Jungen von nebenan, haben schon zu lange gewartet. Die beiden sind immer schneller fertig mit dem Essen. Bei ihnen gibt es keine Andacht!
Hetty hat mit Mutter eine wichtige Besprechung. Morgen hat Heiner Geburtstag. Er wird zehn Jahre alt. Da Hetty eine gute Köchin ist, übernimmt sie die Verantwortung für die Torte. Zum Glück hat sie an diesem Nachmittag schulfrei. Sie will sich sofort an die Arbeit machen. Aber Mutter hebt warnend den Finger. „Zuerst Klavierspielen!"
Das Klavier ist ein Problem für sich. Seit drei Jahren hat Hetty Unterricht. Aber sie ist immer viel zu beschäftigt, um ans Üben zu denken. Zuerst kommen die Hausaufgaben, dann die neuesten Bücher, manchmal eine Handarbeit und schon ist es Zeit, zu Bett zu gehen. Abends, wenn die Mutter fragt: „Hetty, hast du heute geübt?" schüttelt ihre Tochter bestürzt den Kopf. „Ganz vergessen!"
Heute sorgt Mutter dafür, daß Hetty das Üben nicht vergißt. Nach einer endlos langen Stunde am Klavier klappt das Kind den Deckel energisch zu. Schluß für heute!
Gegen Abend wird noch einiges eingekauft und schnell ein letzter Stich an der Buchhülle angebracht. Hetty hat sie mit viel Liebe aus Jute genaht und bestickt Ob Heiner das wertvolle Geschenk auch mit gebührender Ehrfurcht behandeln wird?
Abends herrscht im Hause Hochbetrieb Einige Kinder kommen zum Religionsunterricht, andere lernen Gitärre spielen, eine dritte Gruppe verzieht sich in den Keller, um ein Theaterstück zu proben.
Dienstagabends gibt's bei Denners meistens Stehbuffet. Jeder kommt zu einer anderen Zeit nach Hause und muß schleunigst wieder weg. Für die Mutter bedeutet das Küchendienst am laufenden Band, für die Kinder ein willkommenes Ausbrechen aus der üblichen Ordnung. Gut, daß alles zwei Seiten hat!
Als Mutter abends ans Bett kommt, um zu beten und gute Nacht zu wünschen, packt Hei-ner sie am Arni. „Mama, du hast es doch nicht vergessen - morgen habe ich Geburtstag' Ich freue mich ja s000 darauf -• besonders auf den Nachmittag. Da kommen Christoph, Stefan und Urs."
„Und Mädchen?" erkundigt sich Hetty. „Kommt auch ein Mädchen aus deiner Klasse? Ich will nicht immer nur mit euch Bengeln zusammen sein!"
12
„Mädchen sind doof — die lade ich nicht ein”, erklärt Heiner. „Du bist die große Ausnahme, das weißt du ja", fügt er schnell hinzu, als er bemerkt, daß Hetty die Stirn kraus zieht.
Die Schwester darf er heute auf keinen Fall verärgern, sonst kann er sich morgen seinen Geburtstagstee selber machen.
„Nicht wahr, Hetty, du bist morgen unsere Kellnerin?" bettelt Heiner mit schmeichelnder Stimme. „Kriegst dafür das größte Tortenstück! Wenn es nur schon morgen wäre!"
„Kommt, Kinder, wir wollen beten und Gott für alles Schöne danken, das er uns heute geschenkt hat. Es ist nicht selbstverständlich, daß wir immer genug zu essen haben. Viele Menschen müssen hungern. Nicht einmal ein Bett hat jeder!"
Heiner weiß das. Aber heute hat er keine Zeit, daran zu denken. Heute hat nur der Gedanke an seinen Geburtstag Platz in seinem Kopf.

2
Der Tisch im Kinderzimmer ist hübsch gedeckt. Zehn Kerzen brennen. Neben Heiners Teller liegen bunte Päckchen. Ein riesiger Blumenstrauß aus dem Garten prangt in der Mitte. Heiner und seine Freunde zappeln ungeduldig vor der Tür.
„Dürfen wir jetzt hinein?"
„Wartet noch einen Augenblick - gleich bin ich fertig!' antwortet Hetty.
Langsam öffnet sie die Tür. Mit lautem „Ahhh" und „Ohhh" bestaunen die Jungen die festliche Tafel. „Du, so eine Schwester möcht ich auch", raunt Christoph seinem Freund ins Ohr, „Meine Mutter macht es viel weniger feierlich."
Als die Kinder am Tisch sitzen, kommt auch Mama schnell herein, um die Gäste ihres Sohnes zu begrüßen. Alle stimmen in den Song ein: „Happy birthday to you!" Englisch können die Jungen zwar nicht, aber sie singen wacker mit - mehr oder weniger verständlich!
Hettys Tone wird gebührend bewundert. Das Mädchen trägt eine kleine weiße Schürze und bedient die Bürschchen wie eine ausge-

Für Jungen von 8— 12 Jahren


ISBN:    9783877397404
Format:    18 x 11 cm
Seiten:    130
Gewicht:    113 g
Verlag:    Schulte & Gerth
Erschienen:    1977
Einband:    Taschenbuch