Der verschlossene Garten Patricia St.John

11/06/2023
von Christ-und-Buch Günter Arhelger

»Es war einmal ein Mann da«, murmelte Eliane.

»Früh am Morgen, der schaute ins Fenster.« »Mit dieser Aussage wirst du der Polizei einen Dienst erweisen können. Peter wird ja schon eifersüchtig sein, wenn du einen regelrechten
Einbrecher gesehen hast«, meinte Pfarrer Morton erfreut. Eliane, das egoistische Mädchen
aus der Stadt, erlebt mit ihren Freunden Janet und Peter viele Abenteuer auf dem Land –
Einbrecher, Muscheldiebstahl, Zeltferien am abgelegenen Baggersee ... Gemeinsam entdecken
sie dabei, dass ungetrübte Lebensfreude dort zu finden is ...
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Inhaltsverzeichnis

Der Kloß im Hals ................................................................. 7
Der erste Tag ...................................................................... 17
Eine Vorahnung .................................................................. 27
Unter dem Schnee .............................................................. 35
Der fremde Mann ............................................................... 43
Das offene Fenster ............................................................. 51
Die Regenbogen-Muschel .................................................. 59
Im Buchenwald .................................................................. 69
Leben im Licht! .................................................................. 81
Weiße Kleider .................................................................... 89
Der lebendige Garten ......................................................... 97
Bist du gut? ...................................................................... 107
Der unvergessliche Geburtstag .........................................115
Die unerwartete Begegnung ............................................. 125
Vor der Tür ....................................................................... 133
Das Zeltlager am See ....................................................... 141
Barbaras Tag .................................................................... 151
Im Nebel ........................................................................... 159
Die Rettung ...................................................................... 167
Der richtige Weg? ............................................................. 177

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Der Kloß im Hals
Der Zug ratterte im gleichmäßig eintönigen Takt. Die Landschaft Mittelenglands raste am Fenster vorbei. Die Luft im Wagen war warm und dick und mit den verschiedensten Gerüchen der vielen anderen Reisenden durchsetzt.
Meine Mutter hatte mich einer Dame anbefohlen, die von London nach Irland fuhr. Aber ich war nicht gerade ein liebenswürdiges Kind – nach der scheußlichen Verabschiedungszeremonie von vorhin erst recht nicht – und schenkte ihr keine Aufmerksamkeit, sodass auch sie mich bald nicht mehr beachtete.
Ich kuschelte mich in die Ecke meiner Sitzbank und las in meinen Comic-Heften, die mir meine Mutter kurz vor der Abfahrt auf dem Bahnhof am Kiosk gekauft hatte. Von Zeit zu Zeit steckte ich mir ein Gummibärchen in den Mund und schaute zum Fenster hinaus. Kilometerweit konnte ich nichts als nasse, gelbliche Felder und kahle, dunkle Hecken und Bäume erblicken, hinter denen die Ferne sich im Nebel verlor. Alles sah so kalt und schmutzig, einsam und hässlich aus,
dass ich es bald satt hatte hinauszuschauen.
Stattdessen gingen meine Gedanken spazieren. Erst vor drei Tagen hatte mich meine Mutter vor die Tatsache gestellt, dass ich zum Schulbeginn nach den Winterferien aufs Land fahren
müsse. Sie hätte eine interessante Arbeit im Ausland erhalten
und könne sich so einen lang ersehnten Wunsch erfüllen. Leider könne sie mich nicht mitnehmen.
Meine Mutter war dabei gewesen, meine Haare zu frisieren, als sie mir diese Neuigkeit an den Kopf geworfen hatte. Noch jetzt konnte ich meinen verdutzten Gesichtsausdruck im Frisierspiegel sehen. Mit einem Lächeln im Gesicht versuchte sie mir zu erklären, dass sie eine nette Familie für mich gefunden
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hätte: Eine frühere Schulfreundin würde mich liebend gern in ihre Familie aufnehmen. Sie hätte selber sechs Kinder. Janet wäre nur ein paar Monate jünger als ich. Mit ihr zusammen könnte ich die Schule besuchen. Die Gedanken an diese letzten drei Tage schwirrten mir durch den Kopf, während die Räder der Eisenbahn gleichmäßig stampften. In meinem Hals saß ein dicker Kloß. Würde
ich – verwöhnt als Einzelkind, eitel und meist sehr egoistisch, wie mir Frau Moody, unsere Haushälterin, oft gesagt hatte – würde ich es je aushalten bei einer Familie? Würde ich die
Stadt London, mein schön eingerichtetes Zimmer und Frau Moody nicht schrecklich vermissen? Könnte ich je wieder glücklich werden?
Die Landschaft veränderte sich kaum. Hässlich und einsam sah sie aus – genauso, wie ich mich fühlte. Es gab aber kein Zurück mehr. So fügte ich mich in mein Schicksal, kuschelte mich
noch tiefer in die Ecke meiner Sitzbank und schlief fest ein.
Hätte mich die gute Dame nicht geweckt, ich hätte den Zeitpunkt des Aussteigens glatt verschlafen. So aber stolperte ich mit meinem großen Koffer aus dem Wagen und blieb
abwartend, noch ganz schläfrig und verwirrt, auf dem Bahnsteig stehen. Der Zug fuhr sofort weiter. Das Erste, was mir hier – nach der Großstadt London – auffi el, war die Stille:
kein Verkehr, kein Getrampel von tausend Füßen – nur das gedämpfte Rauschen des Meeres jenseits der Bahnhofshalle und das weiche Rieseln von Wellen über Kieselsteine. Ich schnupperte. Die Luft roch salzig und frisch.
In diesem Augenblick sah ich eine Frau auf mich zueilen, so schnell, wie drei kleine Kinder, die an ihren Händen und an ihrem Mantel hingen, es ihr erlaubten. Sie hatten am anderen Ende des Bahnsteigs gewartet. Ich nahm an, dass das die Mortons sein müssten. Ich ging ihnen nicht entgegen, sondern blieb ruhig bei meinem Koffer stehen. Dann streckte
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ich meine behandschuhte Hand aus und sagte in dem kühlen, unverbindlichen Gesellschaftston meiner Mutter, mit dem sie Leute begrüßte, die ihr unsympathisch waren: »Guten Tag,
Frau Morton!«
Sie war sichtlich überrascht, und im trüben Licht jenes Februarnachmittags wechselten wir stumm einen abwägenden Blick. Dann huschte eine Bewegung über ihr Gesicht, die ich nicht zu deuten wusste: Wollte sie lachen oder weinen?
Jedenfalls schob sie meine Hand beiseite, küsste mich sanft auf beide Wangen und sagte: »Wie schön, dass du zu uns kommst, Eliane! Wir sind alle ganz aufgeregt. Peter und Janet
sind traurig, dass sie nicht rechtzeitig aus der Schule heimkommen konnten, um dich abzuholen. Aber Johnny, Rosmarie und Robert sind hier, und die anderen erwarten dich zu
Hause. Komm, das Taxi steht bereit.«
Johnny, Rosmarie und Robert schienen ebenso wenig wie ich zu wissen, was wir voneinander halten sollten. Ich nahm an, sie erwarteten ein Wort oder einen Kuss von mir. Aber ich hatte keine Ahnung vom Umgang mit kleinen Kindern. In ihren wollenen Kappen, dicken Mänteln und festen Stiefeln sahen sie fast ebenso breit wie lang aus.
Als wir das Taxi erreichten, kugelten sie alle drei auf den Rücksitz und begannen unter einer Decke miteinander zu tuscheln. Ich saß vorn neben Frau Morton, antwortete »Ja« oder
»Nein« auf ihre Fragen und fühlte mich schrecklich schüchtern und elend.
Wir ließen die kleine Stadt hinter uns. Die Gegend, durch die wir fuhren, war die trübseligste Gegend, die ich je gesehen hatte. Es herrschte ein kaltes, dunstiges Zwielicht, und Bäume und Hügel blieben unsichtbar. Ich konnte nichts erkennen außer nassen Straßen und eine trostlos eintönige Landschaft.
Und nirgends eine Menschenseele! Was in aller Welt konnte man hier den ganzen Tag treiben?
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Ich hörte nicht mehr, was Frau Morton sagte, und starrte aus dem Fenster. Die Kleinen streckten wie Häschen ständig die Köpfe unter der Decke hervor, kicherten und verschwanden wieder. Ich glaube, es war ihre Art, Annäherungsversuche zu machen, aber ich achtete nicht darauf.
Auf einmal rief Johnny: »Da ist unser Haus!« Er stieß mich ziemlich unsanft in den Rücken und zeigte nach vorn.
Ich folgte, plötzlich gespannt, mit den Blicken seinem Zeigefinger.

Wir waren zwischen Baumreihen dahingefahren; jetzt fuhren wir wieder auf offener Straße. Dort am Abhang leuchteten uns die hellen Fenster eines Hauses entgegen. Es waren die einzigen Lichter in jener Richtung, denn das Haus stand abseits vom Dorf, und sie schienen Wärme und herzlichen Empfang zu verheißen. Ich warf einen scheuen Blick auf Frau Morton.
Sie lächelte mir zu. »Willkommen im Pfarrhaus, Eliane, hier sind wir zu Hause!«
Als das Taxi durch das Gartentor fuhr, öffnete sich die .
Haustür, und zwei stämmige Kinder samt einem gewaltigen Schäferhund stürzten uns unter Hallogebrüll und Gebell entgegen. Ich verabscheute laute Kinder und schreckte zurück.
Aber sie schienen es nicht zu merken. Sie tanzten wie wild um ihre Mutter herum, und als ich schließlich doch ausstieg, sprang der Hund an mir hoch, legte mir die Vorderpfoten auf
die Schultern und versuchte, mir das Gesicht zu lecken. Die Kinder jauchzten vor Vergnügen, denn gerade das hatten sie ihm anscheinend beigebracht. Ich aber meinte, er wolle mich
beißen, und schrie vor Entsetzen laut auf.
Frau Morton hatte mich im Nu befreit und beruhigte die aufgeregte Gesellschaft. »Er will dich nur begrüßen, Eliane«, erklärte Janet. »Er kann dir auch die Hand schütteln. Streck die Hand aus, dann streckt er dir die Pfote entgegen. Er ist ein sehr höfl icher Hund.«
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Aber ich fand ihn grässlich und wich immer weiter zurück. Die Kinder waren höchst erstaunt. Sie konnten nicht begreifen, dass jemand sich vor Nero fürchtete. Ich bemerkte, wie
Janet und Peter einen belustigten Blick austauschten, während wir irgendwie allesamt den Gartenweg hinaufgingen und durch die Haustür ins Haus gelangten. Es war klar: Ich hatte
einen schlechten Anfang gemacht.
Janet nahm einen neuen Anlauf, mich willkommen zu heißen, und sagte freundlich: »Du schläfst bei mir. Ich will dir das Zimmer zeigen und dir beim Auspacken helfen.«
Damit führte sie mich die Treppe hinauf, und Peter kam mit dem Koffer hinterher. Sie öffnete die Tür zu einem kleinen Schlafzimmer, in dem zwei Betten nebeneinander standen.
Es gefi el mir nicht, und ich gab mir auch keine Mühe, dies zu verbergen. In London hatte ich ein eigenes Zimmer bewohnt mit elektrischer Heizung, einem dicken Teppich, einem kleinen Büchergestell aus Eichenholz, einem bequemen Sessel und einem Spielzeugschrank – alles für mich ganz allein. Dies hier war, so fand ich, ein schäbiges, kaltes, kleines Zimmer. Ich sah nicht die vielen Willkommenszeichen, die die Kinder liebevoll darin angebracht hatten: die Hyazinthenknospe auf der Kommode, Rosmaries liebsten Teddybär auf meinem Bett, Peters Lieblingsbild, ein Schlachtschiff, das an der Wand über meinem Kissen klebte, und das winzige Moosgärtchen, das in einem Blechdeckel auf meinem Stuhl lag.
Janet beobachtete mich gespannt, aber ich zeigte nicht die kleinste Regung einer Freude, und der erwartungsvolle Ausdruck auf ihrem Gesicht erlosch. Schüchtern wies sie auf mein
Bett und meine Schubladen und sagte, sie müsse ihrer Mutter beim Zubereiten des Abendessens helfen.
Ich spürte, dass sie froh war wegzugehen, und ich selbst war froh, dass sie ging. Widerwillig betrachtete ich die dünnen Bettvorleger, die alten Vorhänge und Bettdecken, und da-
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bei bemerkte ich zwei klebrige Karamellen und einen welken Zweig Winter-Jasmin auf meinem Kissen. Ich schleuderte alles zornig in den Papierkorb. Mama und Frau Moody würden nie dulden, dass auf dem Kissen eines Gasts solches Zeug läge, und ich verstand nicht, wie Frau Morton dies erlauben konnte. Ich öffnete meinen Koffer und begann, meine Kleider in den Schrank zu hängen. Es tat mir wohl zu sehen, dass sie viel hübscher waren als Janets Kleider. Mein neues Nachthemd mit den vielen Fältchen breitete ich in seiner ganzen Pracht auf dem Bett aus. Vielleicht hatte ich Janet doch einiges voraus, auch wenn ich mich vor Hunden fürchtete!
Als ich gerade dabei war, die Fältchen hübsch zu legen, erschien Frau Morton mit dem Jüngsten auf dem Arm, einem rundlichen, strampelnden Baby, das noch kein Jahr alt sein konnte.
»Das ist Klein-Anne«, sagte sie. »Ich hoffe, du hast kleine Kinder gern. Ich zähle nämlich auf deine Mithilfe. Sechs Kinder machen eine ganze Menge Arbeit, und du wirst nun meine
älteste Tochter sein. Du bist doch elf, nicht wahr?«
»Ja«, erwiderte ich und schaute gebannt auf Klein-Anne, die plötzlich einen glucksenden Laut von sich gab und breit lächelte, wobei zwei Zähnchen sichtbar wurden. Es war mir
ganz neu, dass man von mir irgendwelche Mithilfe im Haushalt erwarten konnte. Zu Hause verrichtete Frau Moody alle Arbeit allein. Ich spielte oder saß vor dem Fernseher oder
las. Nun wusste ich nicht recht, was ich von diesem neuen Gedanken halten sollte. Das Baby pfl egen zu helfen, würde vielleicht Spaß machen. Ich konnte es jedenfalls einmal versuchen. Und wenn es mir dann nicht gefallen sollte, würde ich es einfach wieder bleiben lassen. Denn ich wollte auf meine Weise glücklich sein. Und das bedeutete: haben, was ich wollte, und tun, was mir gefi el. Von irgendeinem anderen Glück wusste ich nichts.
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Ich sah zu, wie Frau Morton Anne in ihr Bettchen legte und zudeckte, und folgte ihr dann ins Esszimmer hinunter. Mit Erleichterung stellte ich fest, dass der riesige Kartoffelauflauf, der soeben aufgetragen wurde, von einem rotbackigen Mädchen namens Emma auf den Tisch gestellt wurde. Ich hatte schon befürchtet, es sei keine Hausangestellte da und man erwarte von mir, dass ich das Geschirr spülen oder Staub wischen solle, was ich auf keinen Fall vorhatte.
Als alles bereit war, kam Pfarrer Morton aus seinem Studierzimmer. 

Er war ein großer, schlanker Mann mit ernsten Zügen, aber freundlichen blauen Augen. Er hob Robert hoch, über den er beinahe gestolpert wäre. Dieser hatte ihm nämlich, sobald die Tür aufgegangen war, die Arme um die Beine geschlungen. Er begrüßte mich sehr herzlich. Nachdem er das Tischgebet gesprochen hatte, setzten wir uns unter unbeschreiblichem Stimmengewirr zu Tisch. Der Pfarrer war eben erst von seinen Hausbesuchen zurückgekehrt, und da Peter
und Janet ihn seit dem Frühstück nicht mehr gesehen hatten, wussten sie ihm unglaublich viel zu erzählen. Johnny und Rosmarie schienen seit dem Mittagessen ebenfalls unerhört
viel erlebt zu haben und platzten fast vor Neuigkeiten.
»Papa«, begann Peter, »ich sitze jetzt neben Glyn Evans. 
Er sagt, er würde mir für ein paar Marken und eine Schleuder zwei Kaninchen geben. Darf ich sie nehmen, Papa?«
»Papa«, fi el Janet ein, »vielleicht komme ich zur Basketball-Mannschaft. Könnten wir nicht im Garten einen Pfosten einschlagen, damit ich üben kann?«
»Darf ich, Papa?«, fragte Peter.
»Papa, Papa«, schrie Johnny, weil ihm plötzlich etwas ungeheuer Aufregendes einfi el, »wir sind gerade auf der Brücke gewesen, als der Zug unten durchgefahren ist, und der ganze
Rauch ist rings um uns heraufgekommen!« 
»Können wir, Papa?«, wiederholte Janet.
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»Wir haben zwei ganz kleine Lämmer auf dem Feld gesehen, ich hab sie schreien hören«, sagte Rosmarie laut genug, um ihren Vater über all den Lärm hinweg zu erreichen. Sie strahlte ihn selig an, da sie ihre Neuigkeit ohne Zweifel für die allerwichtigste hielt. Und er strahlte zurück, denn er wusste genau, wie viel solche Erlebnisse seiner Fünfjährigen bedeuteten.
»Darf ich, Papa?«, fragte Peter wieder. Er war ein sehr ausdauernder Junge, wie ich später herausfi nden sollte. »Können
wir, Papa?«, rief Janet fast gleichzeitig. 
»Ich glaube, ja«, erwiderte der Vater ruhig. »In der Garage liegt ein alter Pfosten, Janet. Wir könnten einen Ring aus Draht daran befestigen und ihn im Garten aufstellen. Und ich
will sehen, ob ich eine Kiste und etwas Drahtgefl echt für deine Kaninchen auftreiben kann, Peter. Wie steht’s mit dir, Eliane? Spielst du auch Basketball?«
»Manchmal schon«, murmelte ich und wünschte, man würde mich in Ruhe lassen. Ich fühlte mich schrecklich verlegen all diesen fröhlichen, zutraulichen Kindern gegenüber. Wie
unangenehm, dass Janet so versessen auf Basketball war! Ich selbst hatte mir nie viel aus Spielen gemacht. In den Ferien war ich entweder im Haus geblieben oder mit meiner Mutter
einkaufen oder spazieren gegangen. Ich hatte nie gelernt herumzutollen, zu springen und zu spielen.
Der Kartoffelaufl auf schmeckte mir auch nicht. Ich wäre gern nach Hause gegangen. Die Tränen stiegen mir in die Augen und wären vielleicht gefl ossen, hätte ich nicht plötzlich bemerkt, dass Rosmarie mich geheimnisvoll ansah, das runde Gesicht voll mühsam unterdrückter Erregung.
»Hast du sie gesehen?«, fl üsterte sie. Ihre Frage blieb von den anderen ungehört, weil eine heftige Diskussion zwischen Peter und Janet entbrannt war. Es ging bei den beiden anscheinend darum, ob sie weiße oder braune, alte oder junge, männliche oder weibliche Kaninchen haben wollten. Es schien da zahllose Möglichkeiten zu geben.
»Was?«, fl üsterte ich schüchtern zurück.
»Meine Überraschung«, erklärte sie leise, mit glänzenden Augen. »Was ich auf dein Kissen gelegt habe – hast du’s gesehen?«
Da fi elen mir die klebrigen Karamellen und der welke Zweig ein. Ich hatte gemeint, es sei wertlos, aber nun merkte ich, dass es kostbare Dinge sein mussten. »Ja«, sagte ich, »ich
hab’s gesehen … Danke, Rosmarie.«
Plötzlich trat Stille ein. Johnny legte eine Bibel vor seinen Vater auf den Tisch. Der Vater schlug sie auf, und sofort wurde die ganze lebhafte Schar ruhig. Ich hatte immer gedacht,
die Bibel sei ein todlangweiliges Buch, aber hier schien jedermann aufmerksam zu werden, sogar die kleine Rosmarie.
Ich selbst machte gar keinen Versuch zuzuhören, war ich doch davon überzeugt, dass ich auch beim besten Willen nichts verstehen würde. Es war von einem Weinstock und ein
paar Reben die Rede, aber erst der letzte Vers ließ mich aufhorchen.
»Ich habe euch dies gesagt, damit meine Freude euch erfüllt und an eurer Freude nichts mehr fehlt.« (Johannes 15,11)
Der Klang dieser Worte gefi el mir; ich sagte sie in Gedanken noch einmal auf. Da schlossen auch schon alle die Augen und neigten die Köpfe zum Gebet. Ich merkte es, weil Frau Moody mich manchmal das Vaterunser hersagen ließ. Aber ich spürte auch sofort, dass dies hier etwas anderes war. Pfarrer Morton sprach wie zu jemandem, der bei uns im Zimmer war, und sein Gebet schloss uns alle auf geheimnisvolle Weise in eine große Geborgenheit ein: Mama weit weg in London, die Kinder rund um den Tisch, die schlafenden Kleinsten in ihren Bettchen – wir alle wurden jemandem nahegebracht, der sich um uns kümmerte und uns gut und glücklich machen wollte.

Eine Stunde später, nachdem Frau Morton uns einen Gutenachtkuss gegeben hatte und Janet neben mir eingeschlafen war, lag ich wach in meinem Bett, noch ganz benommen von
allem, was ich erlebt hatte. Waren bereits Jahre vergangen, seit das Taxi in London um die Ecke gebogen und Frau Moody meinen Blicken entschwunden war? Wieder füllten sich meine Augen mit Tränen der Verlassenheit, und ich sehnte mich nach Hause zurück. Doch da stiegen jene seltsamen Worte in mir auf, die irgendwie einen wunderbaren Trost zu versprechen schienen: »Ich habe euch dies gesagt, damit meine Freude euch erfüllt und an eurer Freude nichts mehr fehlt.«
»Was war mit ›dies‹ gemeint? Was hat er wohl gesagt?«,
fragte ich mich. Und ich wünschte, ich hätte besser zugehört.


Taschenbuch, 192 Seiten
Artikel-Nr.: 255564
ISBN / EAN: 978-3-89397-564-8

Originaltitel: »Rainbow Garden«
erschienen bei: Scripture Union (Bibellesebund), London
©1960 by Patricia St. John
Deutsch von Elisabeth Aebi
© der deutschsprachigen Ausgabe:
1986 by Verlag Bibellesebund, Marienheide
Umschlag: Georg Design, Münster
Illustrationen: Lena Franke
Satz: CLV
Druck: Ebner & Spiegel, Ulm
ISBN 978-3-87982-717-6 (BLB)
ISBN 978-3-89397-564-8 (CLV)