Wanja ein russischer Hengst - PferdeLiteratur, Danica Langenstein

07/06/2023
von Christ-und-Buch Günter Arhelger

Smetankas Sohn

Ein eisiger Wind pfiff durch den Innenhof des Gestüts, dessen Umrisse in der Morgendämmerung nur schemenhaft zu erkennen waren.
Oleg schüttelte sich und vergrub seine Hände noch tiefer in den Taschen des pelzgefütterten Ledermantels. Schnee
knirschte unter seinen Stiefeln. -
Völlig unerwartet hatte der nächtliche Wettersturz den nahenden Frühling. zurückgetrieben. Oleg grummelte ein paar unverständliche Worte und versuchte sein Gesicht hinter dem hohen Kragen zu verbergen
Am Stutenstall angekommen, verharrte er einen Moment und lauschte angespannt. Als er nur das entfernte Heulender wilden Hunde hörte sowie das Ächzen und Knarren hölzerner Pfosten und Bretter im Wind, öffnete er die Stalltur. Vorsichtig trat er ein und tastete nach dem Lichtschalter. Kaum leuchtete die spärliche Lampe auf, raschelte es in den Ecken der Holzboxen, und dicke, graue Ratten flitzten fiepend durch den Stall zu ihren Schlupflöchern.
Oleg stieß mit der Stiefelspitze nach einer Ratte, verfehlte sie aber. Am liebsten hätte er sie mit der Mistgabel gejagt, ließ es aber, um die Stuten nicht aufzuschrecken.

Aus der ersten Box blinzelte verschlafen und ein wenig geblendet eine Schimmelstute. Oleg strich ihr im Vorbeigehen aber die Nase
„Nein, mein Mädchen, du bist noch nicht soweit." Seine rauhe Stimme nahm einen zärtlichen Klang an
Vor der großen Abfohlbox am Ende des Stalles spürte Oleg sein bekanntes Kribbeln in der Magengegend. Fünfzehn Jahre lebte und arbeitete er auf dem Achal-Tekkiner-Gestüt, südlich der Stadt Alma-Ata. Viele Fohlen waren mit seiner Hilfe auf die Welt gekommen, doch vor jeder Geburt zitterte er wieder, ob alles gutgehen würde.
Er entriegelte die Boxentür und schob sie zur Seite. Die zierliche, dunkelbraune Stute wendete ihm den Kopf zu. Schweißnaß glänzten ihr Hals und die bebenden Flanken. Unruhig schlug ihr Schweif hin und her.
Mehr als vierzehn Stunden waren vergangen, seit der kleine Anatol aufgeregt ins Verwalterhaus gerannt gekommen war und verkündet hatte, bei Smetanka sei schon Milch ins Euter eingeschossen. Da nun die Geburt sehr schnell eintreten konnte, war Oleg sofort zu ihr gegangen. Um ein Verlegen der Stute während des Geburtsvorganges zu verhindern, mußte die .Box an den Wänden mit Strohballen abgepolstert werden. Alle Anzeichen hatte dafür gesprochen, daß Smetan-ka noch m dieser Nacht abfohlen wurde, aber bis jetzt hatten noch nicht einmal die Austreibungswehen eingesetzt.
Oleg überlegte kurz, ob er den Tierarzt selbst verständigen sollte Schnell schob er den Gedanken wieder fort, denn er, als alter kasachischer Gestutswarter, haue nur dem Verwalter Meldung zu machen Seine asiatischen Gesichtszuge verfinsterten sich. ». .
Smetanka wandrte in ihrer Box auf und ab, gelegentlich hielt sie an und drehte den Kopf zu ihrem Bauch Die Schweißbildung verstärkte sich zusehends Das ungute Kribbeln in Olegs Magengegend wurde deutlicher. Als erfahrener
Pferdemann spürte er instinktiv,, daß Schwierigkeiten bevor. standen Eilig verließ er den Stall und marschierte zum Verwalterhaus Draußen war es inzwischen hell geworden. 

Die Pfleger hatten mit der morgendlichen Arbeit begonnen. Von allen Seiten ertönte das erwartungsvolle Wiehern und Prusten der Pferde, dazu das gewohnte Klappern .der Futterwagen. Oleg genoß diesen Augenblick, er vergaß für einen Moment die Sorge um die trächtige kleine Stute Tief atmete er die kalte, klare Luft ein Er liebte dieses vertraute Stuck Erde vor dem gewaltigen, von ewigem Schnee bedeckten Vorgebirge des Tienschan Hier, bei seinen Pferden, war er zu Hause, hier war er glücklich.
Siedend heiß fiel ihm dann Smetanka wieder ein, und er beschleunigte seine Schritte Fast stolperte er über die Schwelle des großen Steinhauses, als er hastig die grüne Tür aufstieß; „Andreji Pecrowitsch! Andreji Petrowitsch!" rief er laut durchs Treppenhaus.
Im ersten Stock erschien der Sowchosenleiter am Geländer. „Was ist in dich gefahren' Warum kommst du nicht in mein Büro, wenn du etwas von mir willst?«
Olegs Mut war wie weggeblasen Verlegen drehte er seine Pelzmutze zwischen den Fingern ‚Ich wollte nur sagen", stammelte er, „daß die Smetanka aus Stall eins wohl Probleme beim Abfohlen hatl« Wütend auf sich selbst setzte er seine Mutze wieder auf. Er hatte sich fest vorgenommen, energisch nach einem Tierarzt zu verlangen, und nun war er vor dem Verwalter wieder unsicher wie ein Kind Andreji Petrowitsch mußte lächeln. 

Nur zu gut kannte er den besten und treuesten seiner Gestutswarter. Keiner konnte besser mit Pferden umgehen als der mürrische, schweigsanie Oleg. Petrowitsch hatte sich auch damit abgefunden'daß der alte Asiate ihn zwar als Vorgesetzten akzeptierte, nicht jedoch als Pferdemann »Meinst du, daß es notwendig ist, den Tierarzt zu holen? Wir sollten noch mal nach ihr schauen;'Petrowitsch zwängte sich in die Lederstiefel, warf sich den reich bestickten Ledermantel über die Schulter und setzte seine Pelzkappe auf.

Als sie Seite an Seite zum Stutenstall stapften, trafen sie auf einige Männer der Belegschaft, die sofort stehenblieben und grüßten. Dankend hob Petrowitsch die Hand, obwohl er di&se militärische Ehrenbezeugung nicht mochte. Er wollte einer, von ihnen sein und nicht, nach über einem Jahr, immer noch der Neue aus Moskau
Oleg war vorausgegangen. Als Petrowitsch die Abfohlbox erreichte, hockte Oleg neben der auf der Seite liegenden, schwer atmenden Stute und redete beruhigend auf sie ein. Heftige Wehen ließen Smetanka aufstöhnen.
„Das sieht nach Preßwehen aus", murmelte der Verwalter. Oleg sah zu ihm auf. „Scheint so."
Kurz nach Beginn der Preßwehen sollten die beiden Vorderhufe des Fohlens im Schamspalt sichtbar werden, wenig später Mund, Nüstern und Stirn des Fohlenkopfes, meist noch mit der Fruchthülle bedeckt Das wußten die Manner.
Auf einmal kam Bewegung in Andreji Petrowitsch. „Ich werde dafür sorgen, daß sofort der Tierarzt kommt Richte du alles Notwendige her?'
Oleg wußte, was er zu tun hatte: Schweif umwickeln, Spannstricke zurechtlegen, eine saubere Ablagemöglichkeit und wihnes Wasser bereitstellen. So würde der Tierarzt sofort nach seinem Eintreffen mit der Untersuchung beginnen können. Zunächst hieß es dann allerdings, Smetanka zum Aufstehen zu bewegen. Ein Blick auf das stöhnende Pferd genügte, um zu wissen, daß dies nicht einfach werden würde Als Oleg fertig war, setzte er sich wieder neben die Stute
„Smetanka, Dua, du schaffst es schonl' Leicht strih er ihr über die fiebrig glänzenden Augen Wo blieb nur Petrowitsch mit dem Tierarzt. Es schien eine Ewigkeit her, seit der Verwalter fortgegangen war. 
In seiner Hilflosigkeit nahm Oleg zwei Strohbüschel und begann den Hals und die Schulter des Pferdes trockenzureiben Mit ziemlicher Sicherheit lag das Fohlen verkeilt im Mutterleib und drohte zu ersticken oder die Mutter erheblich zu verletzen.

Endlich wurde die Stalltür aufgerissen und. Petrowitsch stürmte mit dem Tierarzt herein
„Hier, Dr. Fedossejew, das ist sie, schon seit Stunden überfällig." 
Der Tierarzt musterte die Stute kurz „Sie muß aufstehen, schnell, holt noch jemanden, der euch helfen kann!" . - Schon bei den ersten Worten war Oleg aufgesprungen und kam atemlos mit dem kleinen Anatol zurück. Gemeinsam brachten sie Smetanka mit energischen Zurufen und Klapsen auf die Beine. 
Dr. Fedossejew hatte Mantel und Jacke abgelegt und einen. langen Plastikhandschuh über den Arm gestreift, den er mit Gleitcreme versah »Habt ihr sie fixiert?" . .
„Ja, alles fertig'"
„Anatol, lenk Smetanka ein bißchen ab, sprich mit ihr!'
Schnell und geübt untersuchte der Tierarzt die Stute und ertastete die Lage des Fohlens „Verdammt, der Kopf ist nach hinten verdreht, ich komme nur an die .Vorderbeine heran!" »Und nun?" Olegs Stimme zitterte.
Dr. Fedossejew antwortete unterdrückt:
gehen; ich muß versuchen, den Kopf an der Nase nach vorn zu ziehen Bisher fühle ich allerdings nur die Ohren'"
Die drei Männer starrten wie gebannt auf den Tierarzt Wurde es Dr. Fedossejew gelingen, das Fohlen in die richtige Lage zu drehen? Und wenn ja, welche Überlebenschancen hatte das Kleine noch? Anatol vergrub seine Finger in die weichen Schopfhaare der Stute und flüsterte ihr leise Worte ins Ohr. „So, jetzt noch ein kleines Stück, dann ist es geschafft!" Mehr zu sich selbst als zu den Männern preßte der. Tierarzt die Worte heraus Dann fuhr er fort Da haben wir Gluck gehabt!" Mit einem erleichterten Seufzen streifte der 'Arzt den Handschuh ab.. „Am besten lassen wir sie nun in Ruhe. Innerhalb der nächsten fünf, Minuten müßte das Fohlen da sein. Ich glaube, sie schafft es jetzt allein!"
Tatsachlich beruhigte sich Smetanka bald und legte sich auf dem dick eingestreuten Stroh nieder. Dann ging alles ganz schnell. In weniger 'als. einer Viertelstunde hatte Smetanka ohne Hilfe ein kräftiges Hengstfohlen auf die Welt gebracht. Rabenschwarz, noch mit feuchtem, verklebtem Fell, lag es quer zur noch liegenden Mutter. Olegs Augen funkelten vor' Freude und Stolz, so als wäre er selbst der Vater.
„Ist er nicht wunderschön? Ein prächtiger Bursche!" Er kniete neben dem Fohlen und säuberte dessen Nüstern und' den. Maulspalt von übrigen Schleimresten. Energisch schüttelte der Kleine den Kopf. -
„Du bist ihm jetzt schon lastig", lachte Andreji Petrowitsch erleichtert »Aber kümmere dich nur um deinen Schützling. Der Doktor und ich werden erst mal einen 'Schluck auf unseren.Neuzugang'tl'inken. Kommen Sie, Dr. Fedossejew!" Als er sich schon auf den Weg machen wollte, hielt ihn der Arzt' zurück.
„Warten Sie,, mir gefällt Smetanka nicht. Schauen Sie, sie ‚iußte langsam wieder aufstehen!" Smetanka hatte 'aber nur den Kopf gehoben und suchte ihr Neugeborenes, das Oleg kräftig trockenrieb.
„Hier ist dein Baby. Es tut ihm keiner etwas!" Oleg schob 'den  Kleinen etwas in ihre Blickrichtung. Ganz leise wieherte Smetanka.
Langsam und mühsam stand sie auf. Für einen Moment sah es aus, als könne sie ihr Gleichgewicht nicht finden. Unsicher näherte sie sich ihrem Bohlen und begann es abzulecken. Als das Hengstchen versuchte,. Kopf, Hals und Vorderbeine zu strecken, um sich aufzurichten, wich Smetanka plötzlich stark schwankend zurück.
„Schnell, haltet sie fest!" Der Arzt hatte die Stute nicht aus den Augen gelassen.' Er war sehr besorgt. „Ich muß sofort nachschauen, was mit ihr los ist!-
Blitzschnell zog er einen neuen Handschuh über. Auf das Fixieren der Stute verzichteten sie. Es mußte schnell gehen, - und Smetanka war ohnedies viel zu geschwächt, um sich zu wehren. Sie konnte sich kaum auf den Beinen halten und zitterte vor Erschöpfung. In ihren großen, .dunklen Augen zeichneten sich unsagbare Angst', und starke Schmerzen ab. Immer wieder sah sie sich nach dem kleinen Hengst um, der seine Aufstehversuche unermüdlich fortsetzte.'
Dr. Fedossejew untersuchte sie gründlich. Dann wurde sein Gesicht hart und kantig Die Adern traten an den Schlafen hervor, und der Schweiß rann ihm über die Stirn
„Sie wird es nicht überleben", stieß er hervor. Ein Gebar-mutterriß. Ich kann ihr nicht mehr helfen. Sie verblutet innerlich."
„Das kann doch nicht sein, tun Sie doch irgend etwas! Das Fohlen!" Oleg zerrte an seinem Arm.
„Ich kann nicht mehr für sie tun, als ihr Leiden zu verkürzen", sagte. der Arzt resigniert.

» Sie tun ihr einen Gefallen, wenn ich es- schnell machen kann«, wandte er sich. an Petrowitsch
Der Verwalter nickte stumm, sagen konnte er nichts.
„Die Stute muß in einen anderen Stall gebracht werden Oleg soll beim Fohlen bleiben."
Zu dritt führten sie die inzwischen völlig . entkräftete Smetanka aus der Box Kläglich rief der Kleine seiner Mutter nach, die ihm leise, aus immer größerer Entfernung, antwortete;
Oleg traten die Tranen in die Augen Schluchzend druckte er sein Gesicht in das weiche Fell des Fohlens..
„Sei ganz ruhig, mein Kleiner"; stammelte er. .Dir passiert nichts! Der alte Oleg läßt dich nicht allein. Wird gut für dich sorgen, der alte Kerl!" Er wischte sich mit dem Anne! die Tränen aus dem Gesicht. „Paß nur auf, eines Tages wirst du
der schnellste und stärkste Hengst von . ganz Kasachstan sein!"
Unaufhörlich redete der alte Gestütswärter auf das neugeborene Fohlen ein, um das klagende Wiehern Smetankas zu übertönen. Gleichzeitig rieb er wieder mit einem Strohwisch das noch immer feuchte Fell des Kleinen ab.
Nach einer Weile gab er ihm einen zarten Klaps auf die Krippe »Wie war's mit Aufstehen, mein Sohn'"
Als: hätte das Hengstchen ihn verstanden, stemmte es die - Vorderhufe ins Stroh und stellte sich mit einer gewaltigen Kraftanstrengung ruckartig auf die Beine. Er bekam den Namen Wanja.

Wanja bekommt einen Freund
Wolkenlos bläu spannte sich der Frühlingshimmel über Alma-Ata am Fuß des Berges Weringina. Wiesen und Felder hatten ein saftiges Grün angenommen und die endlosen Obstgärten an den Hängen der Stadt waren von einem hellrosa Schimmer überhaucht.
Auch vor den Toren des Gestüts hatte der Frühling nicht haltgemacht. Die Belegschaft war emsig damit. beschäftigt, neben der täglichen Arbeit die Winterschäden an den Gebäuden auszubessern. Das ganze Gestüt schien nach dem langen, harten Winter von neuem Leben erfüllt. Endlich konnten die schweren Stalltüren offen bleiben und die hölzernen Fensterläden zurückgeklappt werden.

Mit dem ersten Vogelgezwitscher begannen die Stuten und ihre Fohlen unruhig zu werden und ins Freie zu drängen. Auch Smetankas Fohlen Wanja wurde von Tag -zu Tag übermütiger.
Wie ein großer, schwarzer Hund verfolgte er Oleg auf Schritt und Tritt. Es hatte eine Weile gedauert, bis das kleine: Hengstehen seine Mutter vergessen und Oleg als. Ersatz angenommen - hatte. Seitdem aberließ es den- alten. Pfleger kaum aus den Augen. -
Oft, wenn Oleg keine Zeit hatte, sich- mit ihm -zu beschäftigen, versuchte Wanja mit auffälligem Benehmen auf sich aufmerksam zu machen. Meist stakste er zunächst ganz nahe an den Gestütswärter heran und schnoberte ihn prustend von oben bis unten ab, um ihn gleich darauf mehr oder weniger heftig mit seiner samtweichen Nase anzustoßen. 

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