Die traurigen achtziger Jahre 882‑1889

01/21/2023
von Christ-und-Buch Günter Arhelger

Die traurigen achtziger Jahre (1882 ‑ 1889)

Die Ramsgate‑Frage war, wie gesagt, nur der erste Programmpunkt der „New‑Lump- Schule“. Das Jahrzehnt danach bildet die traurigste und dunkelste Phase in der Geschichte der "Brüder". Zwei Lehrer, Grant in Nordamerika und Stuart in Groß­britannien, wurden unnötigerweise ausgestoßen mit einer großen Anzahl von Gläu­bigen, die ihnen treu blieben. 

Nicht, daß diese Brüder keine unrichtigen Lehren brachten, aber diese Lehren hätten niemals Anlaß zur Trennung werden dürfen. Diejenigen, die hierfür verantwortlich waren, stellten sich dadurch nach 1881 noch eindeutiger auf sektiererischen Boden. Ist es nicht sektiererisch, wenn man sich von Brüdern trennt lediglich aufgrund unterschiedlicher Einsicht in die Wahrheit? Die achtziger Jahre waren aus mehr als einem Grund traurige Jahre; verschiedene Führer unter den Brüdern aus der Anfangszeit wurden kurz nacheinan­der von dem Herrn weggenommen.

I. Sterbebetten

(1) Der erste Führer, der nach den Ramsgate‑Wirren entschlief, war Dr. Edward Cronin, der in großem Schmerz die letzten Jahre völlig außerhalb des Kreises der "Brüder" gestanden hatte. Zwar nicht ganz ohne seine eigene Schuld, aber durch Maßnahmen, die das Ausmaß seiner eigenmächtigen Tat weit übertrafen.

Ein rührender Vorfall, der sich einige Zeit vor den Heimgang Dr. Cronins zutrug, sei hier erwähnt. Eines Tages stieg er in eine Straßenbahn, um seinem alten Freund J.N. Darby nach alter Gewohnheit einen Besuch abzustatten. Es war ein langer Weg von seinem zu Darbys Haus. 

Der alte Herr hatte in seiner zunehmenden und durch die ihm widerfahrene grausame und kränkende Behandlung beschleunigten Altersschwäche (er war beinahe 80 Jahre alt) sein damaliges verändertes, so un­angenehmes Verhältnis zu Darby gänzlich vergessen und freute sich auf dem ganzen Weg im voraus auf das Wiedersehen. Nicht weit vvn Darbys Wohnung stieg er aus. Plötzlich fiel ihm der traurige, seitdem eingetretene Wechsel in Darbys Gesin­nung und Stellung gegen ihn ein. "Ach", sagte er, „Ich vergaß, daß es nicht län­ger mein alter John Darby ist!“ Und mit einem tränenvollen Seufzer bestieg er eine andere Straßenbahn und fuhr nach Hause zurück.

Obwohl Darby aber sehr scharf gegen Cronin gewesen war, trug er viel Leid um seinen früheren Freund und trachtete weiter danach, ihn zurückzugewinnen. Noch am 5. Januar 1881 hatte er ihm geschrieben: „Wenn Sie das [private] Brotbrechen aufgeben und anerkennen würden, daß der Schritt, den Sie in Ryde unternommen ha­ben, falsch war, wäre ich der erste, Ihre Wiederherstellung [in Gemeinschaft] vorzuschlagen und mich darüber zu freuen" ‑ was leider nicht geschah, wessen Schuld es auch immer war. 

Wohl ist es erfreulich zu wissen, daß Cronin kurz vor seinem Heimgang Darby doch einen unerwarteten Besuch machte und daß die Unter­haltung freundlich war. Im Februar 1882 starb Bruder Cronin mit 81 Jahren in Brixton. Einige Fanatiker wagten zu sagen: "Er starb mit einer ungerichteten Sünde auf dem Gewissen", oder: "Dieser böse alte Mann wird nun endlich Rechena­schaft ablegen müssent"28 In Wirklichkeit ging er in einem beneidenswerten Ge­mütszustand heim. 

Nicht lange vor seinem Abschied hatte er, von einem kurzen Schlummer erwacht, ausgerufen: "Lieber John Darby!" Sein Sohn schrieb später: Niemals machte er Anspielungen auf das große schmerzliche Leid, das das Herz unserer geliebten Mutter gebrochen, ihren Tod beschleunigt und auch ihn selbst gebrochen hatte! Ich denke an seinen Ausschluß aus dieser Gemeinschaft, die er so geliebt und der er gedient hatte, beinahe ein halbes Jahrhundert ... Er wie­derholte beständig die Namen unseres Herrn.“ Kurz vor seinem Heimgang sang er deutlich den Vers:

Ruhm und Ehre, Lob und Stärke

Sei dem Lamm auf immerdar!

Jesus Christus ist mein Heiland

Halleluja! Preist den Herrn!

Ein anderer treuer Mitstreiter Darbys, der ebenfalls in den letzten Jahren von ihm getrennt war, war Andrew Miller, der am 8. Mai 1883 mit 73 Jahren starb. Kurz vor seinem Heimgang rief er noch aus: "Nichts zählt außer Christusl" In demselben Jahr starb auch ein großer Führer unter den "Of fenma Brüdern", zu­gleich ein Pionier der allerersten Jahre, nämlich Lord Congleton. An frühen Mor­gen des 23. Oktober entschlief er im Alter von 78 Jahren. 

Häufig hatte er die Worte ausgesprochen: "Herr Jesus, nimm meinen Geist auf » und zu verstehen gege­ben, daß dies all sein Verlangen umfaßte. Beinahe ein Jahr später ging ein ande­rer großer Pionier heim, nämlich Captain Percy F. Hall, der am 11. Oktober 1884 im 80. Lebensjahr in Weston‑Super‑Mare entschlief. In demselben Jahr starb affl 14. August der Patriarch von Neuseeland, der beinahe 77‑jährige Dichter und Bru­der James G. Deck.

(3) Den größten Verlust erlitten die "Brüder", ja, erlitt die ganze Versammlung Gottes auf der Erde durch den Heimgang J.N. Darbys am 29. April 1882 im 82. Le­bensjahr. Die letzten Jahre war er bereits sehr schwach und häufig krank gewe­sen. Mm August 1881 schrieb er: "Ich bin auf einer örtlichen Konferenz außerhalb Londons [Oxford], das erste Mal, daß ich meine Kraft wieder auf die Probe stel­le. Es ist nun einige Monate her, seitdem ich gepredigt habe, aber ich bin vier­mal zum Brotbrechen gewesen!" 

Am 2. September schreibt er: "Ich bin sehr schlecht daran gewesen, so schlecht, daß ich nicht wußte, ob ich wieder aufstehen würde"; in diesem Monat vollendet er doch noch eine ausführliche Betrachtung über das Evangelium nach Johannes. Ein Oktober erlebt er noch eine Konferenz in Croydon mit, der auf Einladung von Dr. Wolston auch verschiedene amerikanische Brüder beiwohnen (wir werden davon noch hören), aber in demselben Monat bekommt er auch einen leichten Schlaganfall, der seine Arbeitslust stark vermindert. 

Seine Wange wird lahm, aber sein Geist und seine Gliedmaßen bleiben glücklicherweise unangetastet, so daß er schreibt: "Zum Studieren bin ich so frisch wie immeru34, und obwohl er keine schwere Arbeit mehr wird tun können, schreibt er: "Doch nichts scheidet von der Liebe Christi". In seinen Briefen kann man sehen, wie alle seine Bande mit der Erde all­mählich gelöst werden und er mit seinem Geist bereits "in der anderen Welt" ver­weilt, "jenseits des Flusses"“ Im Dezember schreibt er noch eine ausführliche Einleitung zu der neuen französischen Übersetzung der Bibel, ein prächtiges, sehr gediegenes kleines Meisterwerk.

In der Nacht vom 24. auf den 25. Januar 1882 meint er zu sterben. Sein Zustand bleibt sehr schwach; er läuft mit einem Stock und kann nicht mehr predigen. DM Februar bekommt er dazu noch eine schwere Erkältung, weshalb er nicht einmal liegen kann; „doch alles ist Liebe, unbewölkt“ Er erholt sich wieder etwas, kann jedoch nicht schlafen und hat wenig Kraft, zu schreiben. 

Er fühlt sich je­doch zufrieden und glücklich und schreibt sogar noch einen Traktat über die Ver­söhnung, worüber die Brüder in Schweden in Verwirrung waren. Anfang März verläßt er London für immer, um zu seinem Freund, Bruder H.A. Hammond, zu ziehen, einem früheren Pfarrer und begabten Lehrer, wohnhaft in Sunbridge House, East Cliff (Bournemouth) an der englischen Südküste. Dort sind auch zwei Freunde bei ihm, beides Ärzte, Dr. Christopher Wolston und Dr. Alfred H. Burton. Ersterer war ein Bruder des bekannten Evangelisten Walter T.P. Wolston und ging, im Gegensatz zu diesem, später nicht mit Raven. Der zweite, zu der Zeit noch gerade erst in den Dreißigern, wurde ein großer Evangelist, der in allen Teilen der Welt predigen sollte, bis hin nach Japan.

Trotz seiner körperlichen Schwachheiten ist Darby sehr munter. Tag für Tag er­freut er sich im dem Herrn und zeugt von Ihm. Die "Einheit des Zeugnisses" liegt ihm besonders am Herzen, hauptsächlich wegen der Trennung von so vielen gelieb­ten Brüdern, und es ist dann auch eine Erquickung, ihn sagen zu hören: "Ich wer­de im besonderen Einspruch erheben gegen jeden Angriff, der auf William Kelly gemacht wird."

 Im Blick auf die besonders tiefe Einsicht, die Kelly in die Schriften des Apostels Johannes hatte, ist es auch sehr interessant, daß Darby auf seinem Sterbebett sagt: "Laßt den Dienst des Johannes nicht in Vergessenheit geraten, indem ihr den Nachdruck auf den des Paulus legt. Der eine gibt die Haushaltung, in der die Entfaltung geschieht; der andere gibt das, was entfaltet wird. Später haben die Raven‑Brüder behauptet, daß Darby dies gesagt habe, weil er im voraus die Uneinigkeit fühlte, die entstehen würde, wenn die "wahre" Auslegung der Schriften des Johannes ins Licht gestellt würde (nämlich durch Ra­ven) ‑ und das, während Ravens Lehre so völlig im Gegensatz stand zu den Schrif­ten Darbys, um nicht zu sagen, zu denen des Apostels.

Am 9. März fragte Wolston Darby, ob er vielleicht bestimmte besondere Gedanken im Blick auf den `IM habe. Er antwortet: "Es gibt drei Dinge, über die ich viel nachgedacht habe: Gott ist mein Vater, und ich bin Seine Gabe an Seinen Sohn; Christus ist meine Gerechtigkeit; Christus ist mein Ziel im Leben und meine Freude in Ewigkeit.

" Ein anderes Mal sagte er: "Ich kann sagen, obwohl in großer Schwachheit, daß ich für Christus gelebt habe. Es gibt keine einzige Wol­ke zwischen mir und dem Vater." Mehrere Male spricht er ungefähr diese Worte: "Gewiß, es wird fremd sein, mich im Himmel anzutreffen, aber es wird kein frem­der Christus sein ‑ Einer, den ich seit vielen Jahren gekannt habe. Wie wenig kenne ich von Ihml Ich bin froh, daß Er mich kennt: 'Ich kenne meine Schafe'."

In seinem wahrscheinlich letzten Brief (der während seines Begräbnisses vorgele­sen wurde) sagte er: "Ich zeuge von der Liebe, nicht nur des allezeit treuen Herrn, sondern auch von der meiner geliebten Brüder in aller Geduld mir gegenüber ‑ wieviel mehr von seiten Gottes: aufrichtig zeuge ich davon. Doch kann ich sagen, daß Christus mein einziges Ziel gewesen ist ‑ Gott sei Dank, auch meine Gerechtigkeit. 

Ich bin mir nicht bewußt, daß ich etwas widerrufen muß ‑ wenig habe ich nun hinzuzufügen. Haltet fest an Ihm. Rechnet auf überfließende Gnade in Ihm, um Ihn zu offenbaren in der Macht der Liebe des Vaters; und seid wachsam und wartet auf Christus. Ich habe nichts mehr hinzuzufügen als meine aufrichtige und dankbare Zuneigung zu Ihm."

Am Samstagmorgen, 29. April, um 5 nach 11, entschlief er, umringt von seinen Freunden, seine Hand in der von Dr. Burton. Am Dienstag, dem 2. Mai, wurde er auf dem Friedhof von Bournemouth begraben. An der Beerdigung nahmen ungefähr tausend Personen teil, die sich in kleinen Gruppen zum Friedhof begaben, weil Darby eine "Demonstration" hatte vermeiden wollen. Das Wetter war zwischen zwei stürmischen Tagen besonders schön. Der Sarg wurde von etwa hundert Brüdern ge­tragen, reihum in Gruppen von zwanzig. Verschiedene Brüder (Stuart, W.T.P. Wolsten, Stanley) hielten Ansprachen an dem geöffneten Grab. Zwei Sonderzüge waren nötig, um die Besucher zu befördern. Der Grabstein trägt die folgenden Worte

JOHN NELSON DARBY "Unbekannt und doch wohlbekannt? Entbunden, um bei Christus zu sein 29. April 1882, 81 Jahre alt 2. Korinther 5,21 "Herr, laß mich harren auf Dich allein, mein Leben soll nur dieses sein: Dir hier auf Erden ungekannt zu dienen und dann Deine himmlische Freude zu teilen."

II. NEUE FÜHRER

(1) Alte Brüder gingen heim, andere Brüder traten an ihre Stelle. Für den weite­ren Verlauf meiner Geschichte will ich nun noch eine Anzahl Brüder vorstellen, von denen vor allem die ersten drei nach 1880 eine Hauptrolle gespielt haben. Der erste von ihnen ist James Butler Stoney. Eigentlich gehörte dieser Bruder bereits zur alten Garde, denn er wurde schon am 13. Mai 1814 in Portland (Ir­land) geboren, hatte aber im besonderen während des letzten Abschnitts seines Lebens einen beträchtlichen Einfluß unter den "Brüdern".

 Er war, ebenso wie Bel­lett, Darby und Kelly, ein brillianter Schüler des Trinity College in Dublin, wo er klassische Sprachen und Rechte studierte. Er wurde 1831 von einer Choleraepi­demie erfaßt, was zu seiner Bekehrung führte. Er begann nun Theologie zu studie­ren, wurde aber Evangelist statt Pfarrer. im Jahre 1834 schloß er sich den "Brüdern" an. Während die meisten Lehrer unter ihnen die objektive Seite der Wahrheit betonten, legte Stoney, wie wir gesehen haben, den Nachdruck auf die sub­jektive oder erfahrungsmäßige Seite. 

Er war ein Mystiker, dessen geistliche Kraft (wie bei allen Mystikern durch die Jahrhunderte) in der verborgenen Gemeinschaft. mit Gott lag. In den letzten Jahren des Lebens Darbys Übte Stoney ei­nen großen Einfluß auf diesen aus, und im besonderen war er verantwortlich dafür, daß Darby schließlich doch die Seite der New‑Lumpisten wählte. Auch in der kommenden Stuart‑ und Raven‑Frage spielte Stoney eine Hauptrolle. Er starb am 1. Mai 1897.

(2) Eine zweite Hauptfigur wurde Clarence Esme Stuart, der 1828 in Sandy geboren wurde und einem vornehmen Geschlecht entstammte. Sein Großvater war der Edelmann William Stuart, Erzbischof von Armagh und Vertrauter des Königs George III. Die Familie war verwandt mit dem alten Königshaus Stuart, und man behauptete, daß C.E. Stuart Charles I. gliche. Seine Mutter war Hofdame der Königin Adelaide als Herzogin von Clarence, die seine Patentante war; daher sein Vorname. 

In Eton und am St. John's College (Cambridge) in Literatur und Theologie erzogen und in jugendlichem Alter bekehrt, wollte er Pfarrer werden, doch ein Sprachfehler scheint dies verhindert zu haben. Er ließ sich in Reading nieder, wo er an kirchlicher Arbeit beteiligt war. Ungefähr 1860 schloß er sich den "Brüdern" am Ort an, unter denen Bruder W.H. Dorman diente und auf Stuart großen Eindruck

machte. Dies brachte ihn 1866 in Konflikt, denn wir wissen, daß Dorman zu der Zeit die "Brüder" verließ wegen Darbys Gedanken über die Leiden Christi. Stuart blieb auf der Seite Darbys, und das tat er wiederum in den Jahren 1879 ‑ 81: Er war einer der ersten, die Cronins Schritt verurteilten und auf Zuchtmaßnahmen drängten. Um so tragischer war es, daß Stuart selbst ernste Widerstände hervor­rief, die eine erneute Trennung verursachten, wie wir sehen werden. 

Er, der die Seite der Park Street gewählt hatte, fiel nun selbst der Anmaßung dieser Versammlung zum Opfer. Die größten Lehrer, die die Brüder in den achtziger Jahren hatten, waren ohne Zweifel Kelly, Grant und Stuart; und es ist zutiefst bedauer­lich, daß gerade diese drei noblen und begabten Männer von der "New‑Lump Schule" hinausgeworfen wurden. Erst als diese Schule in den Ravenismus gemündet war,

konnten die Hinausgeworfenen, wieder in ihren früheren Zustand zurückkehren; so begannen sehr langsam die glücklichen Wiedervereinigungen.

(3) Es liegt auf der Hand, wen ich als dritten Bruder nenne. Daß muß der Führer sein, der, ebenso wie Stoney, gegen Kelly und gegen Stuart war, doch schließlich aus dieser Parteisucht befreit wurde, indem er sich auch gegen Stoney und Raven kehrte und sich von der "New‑Lump Schule" löste. Es war William Joseph Lowe. Er wurde 1838 in London geboren und fiel bereits früh durch eine große Begabung auf. Merkwürdigerweise bekam er von drei bekannten "Brüdern" Schulunterricht. Auf der unteren Schule von J.G. Deck, danach von William Hake, dem Freund und Gefährten Robert Chapmans, und in den höchsten Klassen war Henry Soltau sein Mentor. 

Er erhielt 1857 silberne Auszeichnungen in Griechisch, Lateinisch, Fran­zösisch, Deutsch und Mathematik. Jung bekehrt, nahm er bereits früh seinen Platz unter den "Brüdern" in Kennington (London) ein, wo Cronin und Oberst Langford Führer waren und wohin auch Kelly manchmal kam. Lowe wurde Wasserbauingenieuur und übernahm 1859 eine sehr verantwortungsvolle Stelle in Madras (Indien), wo ihm bereits mit 23 Jahren Tausende Menschen direkt unterstanden. Er mir ein beg­abter Maler, verlagerte aber sein Interesse immer mehr auf das Werk des Herrn, indem er Besuche machte und auch schrieb.

Mit Rücksicht auf seine Gesundheit mußte er Indien verlassen, und so finden wir ihn 1864 in der Schweiz, wo er wieder zu Kräften kommen und sein Französisch vervollkommnen wollte. In dieser Zeit waren Darby und andere in Pau gerade mit der Anfertigung einer französischen Bibelübersetzung beschäftigt. Beiläufig be­kam Lowe die Probeblätter des Neuen Testaments in die Hände und versah sie mit einem Kommentar. Seine Verbesserungsvorschläge waren so ausgezeichnet, daß Darby ausrief: "Sie sind genau der Mann, den wir hier haben wollen. 

Sie müssen nun hierbleiben und uns helfen." So begann eine echte Freundschaft und Zusammenar­beit, die bis zu Darbys Heimgang dauerte. In seinen letzten Jahren sagte Darby häufig, daß er niemanden kenne mit der Kenntnis und der allgemeinen Einsicht in die Wahrheit und ihre Besonderheiten, wie Lowe sie besaß1 Als er Darby am 2. April 1882 (vier Wochen vor dessen Heimgang) besuchte, küßte dieser ihn, dankte ihm herzlich für alle Mitarbeit und sagte: "Wir haben zusammen gearbeitet und uns zusammen gefreut. Gott segne Sie." Danach bat er ihn: "Beschäftigen Sie sich mit den jüngeren Brüdern, und richten Sie ihre Herzen auf Christus."

Bruder Lowe war sehr viel auf Reisen und dadurch wohlbekannt in den Versammlun­gen in Holland, Belgien, Frankreich, Spanien, Deutschland und der Schweiz, wovon verschiedene die Frucht seiner eigenen Arbeit waren. Auch besuchte er verschiedene Male die Vereinigten Staaten und Kanada. Er konnte sich in zehn oder elf Sprachen ausdrücken; Spanisch z.B. lernte er während vier Besuchen in Spanien! 1885 heiratete er eine Tochter des Bruders Christopher McAdam; nach dessen Heimgang setzte er die Herausgabe der Letters of Interest (Briefe von Interesse) fort, die Mitteilungen über das Werk des Herrn beinhalteten. 

Wie Darby ihn gebe­ten hatte, galt sein besonderes Interesse den jüngeren Brüdern, auf die er auch eine große Anziehungskraft ausübte, nicht zuletzt durch seinen Sinn für Humor. Er spielte eine entscheidende Rolle in der Raven‑Frage von 1890 und in der Tun­bridge Wells‑Frage von 1909, wie wir sehen werden. Er starb am 29. September 1927 in Wimbledon, im 88. Lebensjahr. Er machte also 1926 gerade noch die glück­liche Wiedervereinigung derer mit, die seitdem die Kelly‑Lowe‑Continental‑Brüder genannt werden; allerdings erlebte er diese Wiedervereinigung nicht bewußt, weil zu der Zeit seine geistigen Kräfte bereits stark nachgelassen hatten.

III. DIE GRANT‑ FRAGE

(1) Wir haben gesehen, daß in Amerika Frederick W. Grant ohne. Zweifel der größte Lehrer unter den "Brüdern" war. Er war zudem befreundet mit Darby, obwohl sie in den letzten Jahren einige unterschiedliche Gedanken über die Lehre hatten. Diese Unterschiede hatten vor allem Bezug auf das neue Leben des Gläubigen, die Versiegelung mit dem Heiligen Geist und die Auslegung von Römer 7 und von Matthäus 13, doch hatten sie niemals zu ernsten Konflikten geführt. Wohl entstand ein

Wortwechsel zwischen Grant und Darby während der erwähnten Konferenz in Croydon (Okt. 1881), wobei Grant sogar aus dem Saal hinauslief; doch am Ende der Zusam­menkunft versöhnten die Brüder sich wieder, und Darby schrieb mit großer Begei­sterung über die Konferenz.

Nach Darbys Heimgang jedoch bemühten sich die englischen Führer eifrig, die Leh­re Darbys überall durchzusetzen ‑ als hebe diese Lehre irgendeine formelle Auto­rität oder dürfe nur sie gelten1 Es ist allzu häufig (und mit schlechten Folgen) geschehen, daß Brüder sich auf Darby beriefen, anstatt auf die Schrift. Nun hat man andererseits behauptet, daß Grant gerade auf Darbys Heimgang gewartet habe, um seine abweichenden Ansichten zu verbreiten. In der Tat erschien im September 1883 eine kleine Broschüre aus seiner Feder mit dem Titel Leben und der Geist. 

Doch ich hoffe in dieser Frage keine Partei zu wählen, und deshalb beeile ich mich zu sagen, daß es ebensogut möglich ist, daß Grant gerade aus Respekt vor Darby damit gewartet hat. Vielleicht kann man überhaupt nicht von "warten" sprechen, weil seine Auffassungen erst gerade 1883 zu einer gewissen Reife gekommen waren. Er hatte die letzten Jahre über die genannten Probleme nachgedacht, mit. durch einige Mißstände. So war einem jungen Mann in Toronto, der auf dem Sterbebett zur Belehrung gekommen war, die Zulassung zum Brotbrechen (das dann in sei­nem Krankenzimmer gehalten werden sollte) kühl verweigert worden, weil die Brü­der, die ihn besuchten, behaupteten, daß er nicht mit dem Geist versiegelt sei. 

Dies rief einen Artikel (Wann wird der Gläubige versiegelt?) von einem entrüste­ten Robert T. Grant hervor, der in der Zeitschrift seines Bruders, Helps by the Way, erschien (Bd. 3, 1880). Hierauf reagierte Lord Adalbert P. Cecil mit einem heftigen Gegenartikel, der (nach Rücksprache) in gemäßigter Form veröffentlicht wurde (Wiedergeburt, Errettung und Versiegelung), versehen mit einer Anmerkung von F.W. Grant, daß er den Artikel nicht deshalb aufnehme, weil er "mit dem ge­liebten Bruder" einig sei, sondern um ihn den Lesern zur Beurteilung vorzulegen. Auch sprach er die Hoffnung aus, zu einem späteren Zeitpunkt selbst seine Ge­danken über das Thema zu äußern. Im Februar 1881 veröffentlichte Darby seine Broschüre Über die Versiegelung mit dem Heiligen Geist, die Grant sorgfältig studierte, und 1883 veröffentlichte er dann seine eigenen gereiften Auffassun­gen.

(2) Es gibt keinen einzigen Beweis, daß Grant seine Broschüre schrieb, um damit einen geehrten, heimgegangenen Bruder anzugreifen, wie man behauptet hat. Er ließ lediglich achtzig Exemplare davon drucken und legte sie nur führenden Brü­dern in Amerika und England vor. Die Anhänger sagten: Das war seine Bescheiden­heit, daß er seine Gedanken nicht plötzlich überall herumposaunte, sondern zu­erst begabten Brüdern zur Beurteilung vorlegte. 

Die Gegner sagten: Das war seine Taktik, daß er zuerst versuchte, die Führer für seine Ideen zu gewinnen, die sie ihrerseits wieder weitertragen sollten. Stellungnahmen bekam er übrigens genug, positive, neutrale, negative. Er hatte u.a. geschrieben, daß auch die Gläubigen im Alten Testament das ewige Leben besaßen, wenn sie auch selbst noch nicht wis­sen konnten, was das beinhaltete, und weiter, daß die Person in Römer 7 sowohl das Leben als den Geist besäße, wenn sie selbst das auch nicht wüßte.

Diese Auffassungen riefen scharfe Kritik der englischen Brüder hervor; deshalb schrieb Grant eine ausführliche Broschüre mit dem Titel Leben in Christus und Versiegelung mit dem Geist, die das heiße Eisen in der Frage wurde. Verschiedene Brüder drängten bei ihm darauf, diese Broschüre nicht zu veröffentlichen. Unter ihnen war Lord Cecil, der Grant persönlich vor dem großen Widerstand unter den englischen Brüdern gegen ihn warnte, da der Kurs, dem er anscheinend zu folgen schien, sicher eine Trennung verursachen werde! 

Dies ist ein wichtiger Aus­spruch, weil er den Kern der Frage berührte: (1) Lag der Gegensatz nun in der unterschiedlichen Einsicht in die Lehre selbst oder in dem Vorwurf, daß Grant sektiererisch auftrat, indem er eine Partei um neue Lehren bildete? (2) Doch wer trat nun eigentlich sektiererisch auf: Grant, der seinen Mitbrüdern neue Auffas­sungen vorlegte, oder Cecil mit den Seinigen, der von Anfang an versuchte, Grant, mit Drohungen Schweigen aufzuerlegen?

Daß es in dieser ganzen Frage nie und nimmer um Lehren ging, die die Person oder das Werk Christi oder sonst irgendwie die Fundamente des Christentums antaste­ten, ist vollkommen sicher. Und daß es auf beiden Seiten Fanatismus gab, ist vollkommen sicher. Vielleicht hätte Grant sich besonnener geben müssen, so daß er weniger den Eindruck eines Sektierers erweckte; vielleicht hätte er für die Veröffentlichung seiner Broschüre einen passenderen Augenblick abwarten müssen ‑doch vielleicht hätte er dann bis ins Unendliche warten müssen. 

Vielleicht hät­ten die englischen Brüder besonnener sein müssen. Statt dessen zog Cecil ‑übrigens ein dem Herrn sehr ergebener und gottesfürchtiger Bruder ‑ aus England nach Amerika, zusammen mit Bruder Alfred Mace, einem eifrigen und sehr fruchtba­ren Evangelisten. Beide waren sie übrigens begabte Evangelisten, die mit viel Segen in Amerika arbeiteten; aber leider waren sie in der vorliegenden Frage nicht die geeignetsten Personen, um über feine Besonderheiten der Lehre zu dis­kutieren, denn eigentlicher Lehrer war keiner von beiden. Und das gegenüber ei­nem Bruder mit solch großen Lehrgaben wie Grant!

(3) Die erste Konfrontation fand während einer Konferenz im Plainfield (New Jer­sey) im August 1884 statt. Am Ende der Besprechungen bemerkte Land Cecil, wie Grant das Manuskript seiner Broschüre einer Gruppe von Brüdern vorlas. War es weise von Grant, dies öffentlich zu tun? Cecil beschwor ihn, das Manuskript ein­zuziehen, und drohte, daß die englischen Brüder es nicht hinnehmen würden, wenn er es doch aufrechterhielte. War dies weise von Cecil? 

Muß ein Bruder Auffassun­gen zurückhalten, die er selbst als Wahrheit ansieht, die nicht die Fundamente antasten, aber mit denen führende Brüder nicht einig sind? Umgekehrt: Wie weit kann ein Bruder im Veröffentlichen von Auffassungen gehen, von denen er weiß, daß sie große Unruhe und Zwietracht verursachen? Da liegt das Problem! Ist derjenige, der seine (nicht wesentlichen) Auffassungen mit Gewalt durchdrückt, sek­tiererisch? Wer ist derjenige, der (nicht wesentliche) Auffassungen, mit denen er nicht einig ist, mit Gewalt unterdrückt, sektiererisch? Wir wollen beide Sei­ten besehen.

Cecil kommt nach Amerika im Namen der führenden englischen Brüder. Diese waren bereits früher verstimmt worden durch die Tatsache, daß Grant die Einheit der Londoner Versammlungen verwarf, und waren nun entrüstet über seine neuen Auffas­sungen. Cecil droht, daß eine Trennung folgen wird, wenn Grant seine Auffassun­gen veröffentlicht, und wird ermahnt wegen seiner heftigen Sprache. Überall, wo­hin er kommt, zitiert er aus Briefen englischer Brüder, um zu zeigen, daß diese hinter ihm stehen. Ist Cecil nun ein Sektierer, einer, der eine Partei bildet?

Grant gibt als Antwort: "Ich werde veröffentlichen, auch wenn wir auseinander­brechen“, und er veröffentlicht in der Tat seine Broschüre, die er als Wahrheit sieht und deshalb nicht zurückhalten will. Bei einer späteren Gelegenheit (15. November) drückt er sich so aus: "... und wenn die Wahrheit uns trennen sollte, je eher wir auseinandergehen, desto besser“ Grant hält überall Vor­träge und Besprechungen, um seine Auffassungen zu erläutern. Ist Grant nun ein Sektierer, einer, der eine Partei bildet?

(4) Im September 1884 beginnen Cecil und Mace einen Evangelisationsfeldzug in Montreal (Kanada), doch Cecil hält im besonderen auch Vorträge gegen Grant. Sei­ne Gegner sagen, daß Cecil Montreal gewählt habe, weil es als Podium für seine Auffassungen sehr geeignet sei. Andererseits gibt es gerade in dieser Stadt ei­nige feurige Anhänger Grants, besonders die Brüder J. James und E.S. Lyman, die seine Broschüre verbreiten und Grant warnen, daß Cecil damit beschäftigt ist, Uneinigkeit zu säen. Grant schreibt an einen Bruder in Montreal, daß Darby bis zuletzt denen, die anders über die Sache dachten, in Liebe begegnet sei und daß Cecil selbst sich in seinen Auffassungen grundsätzlich von denen Darbys unter­scheidet

Am 13. November kommt Grant persönlich nach Montreal. Er selbst sagt, daß er er­schrocken sei über die Feindschaft, ihm gegenüber und gekommen sei, nicht, um seine Auffassungen durchzusetzen, sondern um die Uneinigkeit zu verhindern. Sei­ne Gegner sagen, er sei gekommen, um sich zu verteidigen und den Parteigeist ge­gen Cecil anzufachen. 

Seine Anhänger sagen, daß, wenn er nicht gekommen wäre, ihm später zur Last gelegt worden wäre, daß er nicht alles getan habe, um eine Trennung zu verhindern. Am folgenden Abend hält Mace einen Vortrag im Lokal, und Grant hält eine Wortbetrachtung in dem Haus von James. Grant sagt: "Die Betrach­tung wurde für die gehalten, die keine Freimütigkeit hatten, Mace zuzuhören we­gen seines Auftretens." Cecil sagt: "Sie machen eine Trennung, denn während eine Zusammenkunft als Versammlung stattfindet, halten sie privat eine sektiererische Zusammenkunft." Das ist jedoch nicht ganz richtig, denn ein biblischer Vortrag ist eine öffentliche Zusammenkunft und kein Zusammenkommen als Versammlung.

Vom 17. bis zum 21. November werden jeden Abend Zusammenkünfte gehalten, wo Ce­cil und Grant in Anwesenheit der gesamten Versammlung ihre Gedanken wechselsei­tig darlegen. Am Samstag, dem 22. November, gehen Grant und Lyman nach Ottawa, wo ebenfalls große Uneinigkeit herrscht. Sonntags spricht Cecil in Montreal über den Kolosserbrief, James läuft halbwegs aus der Zusammenkunft hinaus, wird dafür ermahnt, tut aber die Ermahnung als "Geschwätz" (twaddle) ab, wie berichtet wird. Selbst schreibt er später (nach der Trennung): „Was Montreal betrifft, zweifle ich nicht, daß es die Befreiung ist, für die wir mehr als zehn Jahre ge­betet haben"

Am 25. November kehren Grant und Lyman nach Montreal zurück, und abends wird die letzte, allgemeine Besprechung über diese Sache gehalten. Am 27. November wird von 38 Personen ein Protest unterzeichnet, worin die Lehren Grants verworfen werden und er selbst damit als Lehrer im Sinn von Römer 16,17 abgelehnt wird. 

Seinen Anhängern zufolge wußten nur einige der Unterzeichnenden etwas von dem, was sie unterzeichneten; auch waren unter ihnen sehr junge und einfältige Gläu­bige! Am Sonntag, dem 23. November, wird dieser Protest vorgelesen. Grant gibt zur Antwort, daß er sich der ihm verliehenen Ehre für unwürdig erachte, indem man ihn für Christus und die Wahrheit leiden läßt, denn er ist sicher, daß seine Broschüre Wahrheit ist, und nimmt kein Wort davon zurück. James kündigt Privat­zusammenkünfte mit Grant an.

(5) Noch immer weiß ich nicht, wer nun die Schismatiker waren. Grant hält über­all Privatzusammenkünfte. Während einer Ansprache Cecils am 3. Dezember laufen einige (unter ihnen Grant, James und Lyman) aus dem Saal. Am 10. Dezember wird Grant in Ottawa eine letzte, ernste Ermahnung (im Sinn von Titus 3,1o) im Namen seiner Gegner in Montreal ausgehändigt. Grant wirft den Brief aufs Sofa und sagt, daß das die Handlung einer Partei sei und daß er den Brief nur mit Verach­tung zur Kenntnis nehmen könne. Ist Grant ein Schismatiker?

Die Mehrheit in der Versammlung in Montreal ist inzwischen gegen Grant einge­stellt und tut, als ob sie allein die Versammlung sei. Proteste gottesfürchtiger Brüder werden einfach übergangen, Briefe von Brüdern und von anderen Versammlun­gen werden nicht vorgelesen, und eine Einmischung von außen wird nicht zugelas­sen. Cecil und Mace halten überall Zusammenkünfte gegen Grant. Trotz Protesten von wenigstens 40 Personen in der eigenen Versammlung wird Grant schließlich ausgeschlossen. Ist Cecil ein Schismatiker?

Am 17. Dezember fällt die Entscheidung. In einer Versammlungszusammenkunft in Montreal wird über Grants Reaktion auf die letzte Ermahnung berichtet. Eine zu­vor verfaßte Erklärung, Grant auszuschließen, wird vorgelesen; viele Brüder pro­testieren jedoch. Offensichtlich ist keine Kraft da, zu handeln. Erneut wird der Brief gelesen, erneut protestieren verschiedene Brüder, viel mehr als sich für den Brief aussprechen. 

Zum drittenmal wird der Brief vorgelesen, und man bittet die Befürworter aufzustehen. Danach wird der Beschluß für angenommen erklärt! Ein Bruder fragt, ob die Entscheidung endgültig sei, und das wird bestätigt. Hiermit war ein Beschluß gefaßt, den man sehr ausdrücklich nicht hätte fassen dürfen, und zwar aus zwei Gründen: 

(1) Er war auf eine höchst ungeistliche und erzwungene Weise von lediglich einer Partei in Montreal. angenommen;

(2) Montreal hatte absolut keine Befugnis, Grant auszuschließen, denn er war in dieser Gegend lediglich zu Gast (er befand sich im Augenblick der Entscheidung in Ottawa); die einzige Versammlung, die eine Entscheidung hätte fällen dürfen, war die Versammlung, wo Grant zu, Hause war, und das war die in Plainfield, New Jersey ‑ und diese Versammlung verwarf das Urteil Montreals praktisch einstimmig! Der Be­schluß hatte also keine einzige formelle Gültigkeit; in der Tat hat die Versammlung in Montreal dies indirekt selbst zugegeben, indem sie nachträglich Plain­field bat, ihren Beschluß zu übernehmen.

Aber man darf nicht denken, daß Grant währenddessen weiser oder schriftgemäßer handelte. Unmittelbar nach dem Beschluß am 17. Dezember erklärte James, daß er und seine Anhänger sich trennen würden. Am 18. Dezember kamen sie zusammen, und am 19. Dezember sandten sie einen Rundbrief umher, zusammen mit einem Brief von Grant, worin dieser den Protest widerlegte. 

Bereits am Sonntag, dem 21. Dezember, kamen sie in Craik Street getrennt zum Brotbrechen zusammen! Grant hatte geraten, daß, wenn zwei oder drei dazu Glauben hätten, sie das tun müßten; er könne ihnen nicht anraten, zur Natural History Hall (dem gewöhnlichen Versamm­lungslokal) zu gehen, da dort nicht länger der Tisch des Herrn seit Es ist schwierig zu sagen, welche Tat verkehrter war: der durchgedrückte, unbefugte Ausschluß durch die Cecil‑Partei oder die schismatische, prompte Errichtung ei­nes weiteren Tisches durch die Grant‑Partei ...

Die Trennung war jedenfalls eine Tatsache. Doch wenigstens dreiviertel (ungefähr 190) der Versammlungen in Kanada und den Vereinigten Staaten wählten die Seite Grants; nicht, weil sie in allem mit ihm einig waren, aber sie verwarfen die an­maßenden Methoden der Cecil‑Partei. 

In der übrigen Welt nahm man praktisch ein­stimmig die Entscheidung der Natural History Hall an, obwohl 40 Brüder vom europäischen Kontinent am 1. April 1885 an N.H.H. schrieben, daß ihrer Meinung nach der Ausschluß ein ernster Irrtum sei. 1889 ertrank Lord Cecil, erst 48 Jahre alt. Grant telegraphierte an seinen Bruder: "Der gute Cecil ist ertrunken, und mit ihm ist alle Hoffnung auf Überwindung der Uneinigkeit verflogen“. Glückli­cherweise war dies nicht ganz richtig, aber es sollte bis 1953 dauern, bevor die erste Wiedervereinigung zwischen (Teilen von) beiden Parteien stattfand ...

IV. DIE STUART-FRAGE

(1) Zwischen den Lehren Grants und Stuarts sind bestimmte Verwandtschaften zu erkennen, aber es ist doch deutlich, daß die des letzteren fragwürdiger waren als die des ersteren. Das ist vielleicht auch daraus ersichtlich, daß sogar Grant gegen Stuarts Auffassungen protestierte, nachdem sie ihm bekanntgeworden waren. Etwa ab 1880 waren von verschiedenen Seiten Bedenken gegen die Darlegung Stuarts über die Stellung des Christen laut geworden. 

Unstreitig hatte Stuart kein rechtes Verständnis über die christliche Stellung (siehe Abschnitt VI), die er tatsächlich auf die Ebene der alttestamentlich Gläubigen erniedrigte. Später begann er auch, gefährliche Spekulationen über das Werk der Versöhnung zu äu­ßern; er meinte, daß dies nicht auf der Erde, sondern im Himmel ausgeführt wor­den sei, nach dem Tod Christi und vor Dessen Auferstehung. Aber diese Gedanken kamen erst nach der Trennung richtig ans Licht und spielten keine Rolle bei der Trennung selbst.

Beunruhigender war die Behandlung der Streitfrage selbst, erstens wegen der do­minierenden Rolle, die eine Schwester dabei spielte, und zweitens wegen der an­maßenden Rolle des Londoner "Pontifikats". Und zudem sah Stuart sich zwei Geg­nern (Stoney und Mackintosh) gegenüber, die, ebenso wie Grants Gegner, beide keine Lehrer und daher für die Aufgabe weniger geeignet waren. Es ist allerdings merkwürdig, daß wir tatsächlich folgern müssen, daß sowohl Grant als Stuart fal­sche Auffassungen vertraten, daß aber nichtsdestoweniger ihre Gaben als Lehrer von einer weitaus höheren Art waren als die ihrer Gegner, die ihre Auffassungen widerlegen mußten1

(2) Ungefähr ab 1880 hatte Schwester E.K. Higgins in Reading (dem Wohnort Stu­arts) gegen die Unterweisung Stuarts gewirkt, die sie jüdisch und sogar gefähr­lich für das Christentum fand; ihr zufolge würdigte er die Wahrheit Gottes herab und beraubte die Gläubigen ihres eigentlichen Teils. im Mai 1883 weigerte sich Stuart aufgrund von Römer 16,17, Frau Higgins und ihrer Schwester wegen ihres fortdauernden Widerstandes und wegen vermeintlicher Unwahrhaftigkeit die Hand zu geben. Hierauf folgte von Juni bis September ein ausführlicher Briefwechsel und eine Besprechung. Anfänglich wurde der Fall der vermeintlichen Unehrlichkeit beigelegt, doch statt daß Schwester E.K. Higgins hierfür dankbar war, wollte sie genau herausfinden, wie das Gerücht über ihre Unehrlichkeit entstanden sei. Sie trieb die Sache auf die Spitze, indem sie tatsächlich suggerierte, daß entweder Bruder Stuart oder dessen Sprecher böswillig gehandelt habe; dies rief die Reaktion hervor, daß sie selbst böswillig sei.

Da die Sache immer mehr bekannt wurde, widmete die Versammlung in Reading am 12. und 13. März 1884 zwei Zusammenkünfte der Versammlung den Vorwarfen gegen Stu­art, wobei u.a. auch Bruder J.S. Oliphant aus London zugegen war. Die Sache wur­de bis auf den Grund untersucht, alle diesbezüglichen Briefe (72 Seiten!) wurden vorgelesen, und schließlich wurde Stuart von dar Versammlung völlig rehabili­tiert. Das hatte zur Folge, daß einige, unter ihnen Schwester Higgins, die Ver­sammlung verließen und getrennt zusammenkamen. Eine billig verwerfliche und ei­genmächtige Handlung im Widerspruch mit dem Beschluß der Versammlung.

(3) Im Mai 1884 veröffentlichte Stuart seine Broschüre mit dem Titel Christliche Stellung und Zustand, worin er seine Auffassungen darlegte. Diese riefen eine scharfe Reaktion von Brüdern wie C.H. Mackintosh, F.G. Patterson, J.B. Stoney, W.J. Lowe, C. Stanley, H.H. Snell und Dr. Christopher Wolston hervor. Anfang 1885 wurde die Sache von den Brüdern in London zu einer Entscheidung gebracht. Auf einer großen Brüderversammlung in Albion Hall wurde beschlossen, daß man keine Gemeinschaft mit den Lehren Stuarts haben solle. Ohne daß Stuart formal gehört oder formal gewarnt wurde, mußten die Versammlungen sich nun aussprechen, entweder für die große Mehrheit der Versammlung in Reading oder für die kleine Minderheit, die lange gegen Stuarts Lehren protestiert, sich vom Brotbrechen zu­rückgehalten hatte und sich schließlich trennte. Diese abgetrennte Gruppe wurde darauf von den Londoner Versammlungen anerkannt, zuerst von Park Street, danach von Battersea; die Erklärung der letzteren (15. März 1885) wurde allerorts aner­kannt.

Lediglich einige Brüder in London wählten die Seite Stuarts. Doch im Lande waren es an die 120 Versammlungen, die Stuart treu blieben. In Neuseeland drängten die Führer (C.E. Capper und W. Powley) bei den Brüdern darauf, der Linie Londons zu folgen, doch einige holten in England und Amerika Erkundigungen ein. Das hatte zur Folge, daß an fünf Orten eine Anzahl Brüder sich von der Londoner Partei trennte und in Gemeinschaft mit Reading und Plainfield blieben. Auch in Austra­lien wählten einige die Seite Readings. Unter denen, die mit Stuart gingen, wa­ren solche begabten Brüder wie Walter Scott in Hamilton (Schottland), EX. Pressland und E.E. Whitfield. Ersterer ist bekannt durch seine ausgezeichnete Betrachtung über die Offenbarung; der zweite schrieb ein interessantes Buch über die Schattenbilder des Alten Testaments; der dritte war ein gelehrter Mann, der u.a. Übersicht über das Studium des Alten Testaments ‑ historisch und kritisch schrieb.

Interessant ist das Urteil Kellys über die Ablehnung Stuarts. Er schrieb am 23. Februar 1885 (Kelly‑Sammlung): "Uneinigkeit tut ihr trübseliges Werk in Kanada und in den Vereinigten Staaten wegen der F. Grant‑Frage. Und die Londoner Guild­ford Hall [‑Unterstütze< sind dabei, auf eigene Faust (denn Einheit ist Wirk­lich von ihren aufgegeben, außer im Namen) Reading zu verurteilen, so wie sie Ramsgate verurteilten. Was wird das Ergebnis sein? Werden diejenigen, die das vorige Mal ihre Gewissen preisgaben, nun standhalten? Es gibt keinen Zweifel, daß viele absolut nicht an einen einzigen gerechten Grund für das Ausschließen von C.E. Stuart und der Versammlung in Reading glauben und der Meinung sind, daß Jones und Co. nichts als eine Partei sind, die unschriftgemäß handelt. Doch wer­den sie [die dies glauben] nach ihren Überzeugungen handeln? Wir werden sehen. Der Herr wende alles zu Seiner Ehre.“

Dieser Brief Kellys zeigt aufs neue, daß es im Augenblick der Trennung keinen wirklichen Grund dafür gab. Erst später wurden Stuarts Auffassungen über die Versöhnung offenbar und mußte auch Kelly seine Haltung ändern. Bereits am 15. Januar 1887 schrieb er über das "Unschriftgemäße und Fabulöse der Reading­-Partei" (siehe Abschnitt VI und VII).

V. DIE LEHRE GRANTS

(1) Es besteht eine deutliche Verwandtschaft zwischen der Frage Grant und der Frage Stuart. Erstens spielten beide sich in den Jahren 1884 und 1885 ab. Zwei­tens waren die Parteien, die jeweils Grant und Stuart abwiesen, identisch. Nie­mand, der Grant abwies, ging mit Stuart, und umgekehrt ebenso. Dagegen entstan­den bereits früh Kontakte zwischen den Grant‑ und den Stuart‑Brüdern, wie wir sehen werden. (Ich bedaure, daß ich diese sektiererisch klingenden Namen aus praktischen Gründen gebrauchen muß). Drittens gibt es deutliche Verwandtschaften zwischen den Auffassungen Grants und Stuarts. Bruder Patterson drückt es etwa so aus: Grant erhob die alttestamentlichen Gläubigen ihrer Stellung nach auf das Niveau des Neuen Testaments, Stuart erniedrigte die Stellung der neutestamentli­chen Gläubigen auf die des Alten Testaments.

Es sind hauptsächlich zwei Auffassungen von jedem, die wir unter die Lupe nehmen müssen. Was Grant betrifft: (a) Besaßen die Gläubigen im Alten Testament tat­sächlich das, was das Neue Testament „Das ewige Leben" nennt? (b) Wird der neu­testamentliche Gläubige tatsächlich in dem Augenblick, wo er wiedergeboren wird, mit dem Heiligen Geist versiegelt? Und was Stuart betrifft: (a) Ist die höchste Stellung des Christen tatsächlich, daß, er von der Sünde gerechtfertigt ist, und nicht, daß er "in Christus“ ist? (b) Fand das Werk der Versöhnung wirklich im Himmel statt, nachdem Christus gestorben war, und nicht auf dem Kreuz, während Er lebte? Wohlgemerkt: Ich sage nicht, daß diese Fragen so fundamental sind, daß sie jemals zu einem Prüfstein für die Gemeinschaft hätten werden dürfen, wie es leider geschah. Aber weil es doch Bruchstellen wurden, müssen wir sie hier kurz besprechen. Da Stoney und andere behaupteten, daß die Auffassungen Grants und Stuarts so radikal im Gegensatz zu der Lehre Darbys stünden, wird es auch inter­essant sein zu prüfen, ob wohl Stoneys eigene Auffassungen so gut mit Darbys Ge­danken übereinstimmten.

(2) Nach dem Ausschluß Grants gab die Versammlung in Montreal einen Bericht von den Ereignissen heraus, worin die (vermeintlich) falschen Lehren Grants sorgfäl­tig aufgezählt wurden. Er hatte gelehrt, 

(a) daß die Gläubigen des Alten Testa­ments in dem Sohn waren und ewiges Leben in Ihm dadurch hatten, daß sie wieder­geboren waren; 

(b) daß, wenn wir wiedergeboren sind, wir in demselben Augenblick Vergebung empfangen haben, gerechtfertigt sind, nicht länger im Fleisch, sondern in Christus und tot für die Sünde und das Gesetz sind; 

(c) daß diese neue Geburt uns die volle Stellung von Söhnen Gottes schenkt, und da wir Söhne sind, sind wir versiegelt mit dem Heiligen Geist, da Glaube an das Werk Christi nicht not­wendig ist für die Versiegelung; 

(d) daß Römer 7 die Erfahrung von jemandem ist, der in Christus gerechtfertigt ist, versiegelt ist, danach jagt, in Christus zu bleiben und fruchtbar und heilig zu sein; 

(e) daß Seelen Frieden haben können, ohne es zu wissen, den Heiligen Geist haben können und in Knechtschaft sein kön­nen.

Plan muß allerdings bedenken, daß das Vorhergehende von Grants Gegnern verfaßt wurde; seine Anhänger haben die Genauigkeit hier und da angefochten. Dies gilt 2MM Beispiel für den merkwürdigen Schlußsatz von Pmakt (c), dessen Inhalt von Grant selbst folgendermaßen wiedergegeben worden ist: "In der Schrift ist (Versiegelung mit dem Geist) verbunden mit dem Glauben an den auferstandenen und verherrlichten Christus und dem Bekennen davon, mehr als mit einem sich zueignenden Glauben an Sein gesegnetes Werk." Der obenstehenden Aufzählung kann man

unter (b) auch zufügen, daß Grants Gegner ihm übelnehmen, daß er lehrt, daß man im Augenblick der Wiedergeburt das ewige Leben empfängt.

In der ganzen Auseinandersetzung zwischen Graut und seinen Gegnern springen zwei Dinge unmittelbar ins Auge. Erstens gibt es die terminologische Frage: Es hat allen Anschein, daß Graut etwas völlig anderes unter dem Begriff Wiedergeburt versteht als Cecil und seine Anhänger ‑ allerdings ist es schwierig genug her­auszufinden, was beide genau darunter verstanden. Zweitens muß man gut unter­scheiden, daß der Besitz einer Sache etwas völlig anderes ist als das Bewußtsein dieses Besitzes oder der Genuß davon. Wir werden später auch bei der Raven‑Frage sehen, wie leicht dieser Unterschied aus dem Auge verloren wird. 

Ich will mich hier nicht auf eine eingehende Diskussion der Streitpunkte einlassen, denn ich schreibe keine Auslegung, sondern eine Geschichte. Zudem geht es nicht um funda­mentale Unterschiede. Wohl möchte ich zeigen, daß Cecil und Stoney mit ihrer (an sich übrigens belanglosen) Behauptung recht hatten, daß Grant, in seiner Lehre wesentlich von Darby abgewichen war.

(3) In Darbys Broschüre „Über die Versiegelung mit dem Heiligen Geist“, die er kurz vor seinem Heimgang schrieb, lesen wir u.a. folgendes (vgl. die Beschuldi­gung gegen Graut): "Daß eine Person wiedergeboren sein kann, ohne den Heiligen Geist empfangen zu haben, ist nach der Schrift völlig sicher, denn 'jeder der glaubt, daß Jesus der Christus ist, ist aus Gott geboren', und dies taten die Jünger, während Christus auf der Erde war, aber sie konnten nicht den Heiligen Geist haben, der erst am Pfingsttag kam; natürlich hatten sie Leben und waren rein durch das Wort. 

Es ist eingewendet worden, daß der Fall anders war ‑ der Heilige Geist war noch nicht gekommen. Durchaus richtig, aber sie waren aus Gott geboren. Es geht mir um die Tatsache, daß wir zwischen den beiden unterscheiden können. Und in Samaria glaubten sie und wurden getauft, nachdem der Heilige Geist gekommen war; aber der Heilige Geist war auf keinen von ihnen gefallen; das geschah nachher durch das Auflegen der Hände der Apostel. 

Auf dieselbe Weise wurde Paulus, damals noch Saulus, bekehrt, indem Christus ihm auf dem Weg er­schien; und drei Tage danach wurde Ananias gesandt, damit er sein Augenlicht zu­rückerlangte und mit dem Heiligen Geist erfüllt wurde. Ein Christ ist also je­mand, in dessen Leib der Heilige Geist wohnt als in einem Tempel, und Er gibt ihm bewußt die Stellung, in die die vollbrachte Erlösung ihn versetzt.

... die Versiegelung des Gläubigen mit dem Heiligen Geist (aufgrund seines Glau­bens an die Person und das Werk Christi, der das Werk der Erlösung vollbracht hat und zur Rechten Gottes sitzt, so daß er die Wirksamkeit dieses Werkes kennt wie auch seine Stellung vor Gott als Sohn und in Christus) ist eine Wahrheit, die so deutlich in der Schrift beschrieben ist, wie nur möglich.

... das Kapitel [Römer 7] ist die Beschreibung des Wirkens des Gesetzes durch jemand, der den Geist hat und sagen kann: 'Wir wissen'. Er sagt deshalb also nicht: Wir sind fleischlich [sondern: ich bin fleischlich; Vers 14]; Christen könnten das nicht sagen. Wann man mich fragt: 'Hat er den Geist? ‑ Ist er ver­siegelt?', antworte ich: Durchaus nicht, er ist ein Gefangener des Gesetzes der Sünde, und wo der Geist des Herrn ist, dort ist Freiheit; und in 

Kapitel 8 wird er freigemacht und ist nicht mehr im Fleisch. Und wenn jemand durch den Geist geleitet wird, ist er nicht unter Gesetz, aber das ist nun gerade das, was in Römer 7 beschrieben wird, aber von jemandem, der, weil er sich dort nicht befin­det, es durch den Geist beschreiben kann [also: der Schreiber, Paulus, hat den Geist, und deshalb kann er den Zustand klar beschreiben; aber die Ich‑Figur, die er beschreibt, hat den Geist nicht, denn er ist noch im Fleisch, unter dem Ge­setz; in Römer 8 ist er davon freigemacht und also versiegelt] ...

Es war das Evangelium des Heils, das zur Versiegelung der Heiden führte ... Der verlorene Sohn kam zu sich selbst, bereute, bekannte seine Sünde und machte sich auf den Weg, der ihn tatsächlich zu seinem Vater führte; aber er hatte seinen Vater nicht erreicht, kannte dessen Gedanken nicht, konnte nicht rufen „Abba, Vater“, hatte das beste Kleid nicht an, das ihn fähig machte, in das Haus hinein­gehen. Es ist sinnlos zu sagen, daß er das Bewußtsein dieser Dinge nicht hat­te; er hatte sie nicht empfangen. Christus wurde wegen unserer Übertretungen da­hingegeben; aber obwohl Er Frieden gemacht hat durch das Blut Seines Kreuzes, haben wir diesen nicht, bis wir gerechtfertigt sind durch den Glauben. 

Es ist ebenso wichtig zu sehen, daß der Friede vollkommen zustande gebracht ist, wie zu sehen, daß wir diesen nicht haben, bis wir glauben. Es ist wirklich Unsinn zu sagen, daß wir Frieden mit Gott haben und uns dessen nicht bewußt sind. Es ver­wirrt auch den Zusammenhang zwischen der Gegenwart des Geistes und dem Werk Christi. Frei zu sein und im Freiheit zu verkehren, Freiheit bei Gott, Abba Va­ter zu rufen und befreit zu sein von dem Gesetz der Sünde und des Todes, und das nicht zu wissen, ist unsinnig, wenn wir vielleicht auch nicht erklären können, wie es ist; aber wir haben die Freude und wissen es."

(4) Was die alttestamentlichen Gläubigen betrifft, so lesen wir in Darbys Wider­legung von Newtons Betrachtung über die Offenbarung: "Daß Gott den Heiligen des AT Leben mitteilte, kann ich nicht anzweifeln ‑ ewiges Leben. Das ist zu deut­lich für mich, um darüber zu streiten, denn ohne das wird niemand das Reich Got­tes sehen oder in dasselbe hineingehen049 Hiernach scheint es, als hätte Grant recht. Doch kurz zuvor schreibt Darby: "Der Herr zögert nicht zu sagen: Dies aber ist das ewige Leben, daß sie dich, den allein wahren Gott, und den du ge­sandt hast, Jesus Christus, erkennen. Das konnte nicht das Leben früherer Gläu­biger sein. Hatten sie denn kein Leben? Doch, aber es konnte nicht auf diese Weise beschrieben werden ‑ ihr Leben war nicht von dieser Art050 Hiernach scheint es, als hätte Cecil recht gehabt! Doch hieraus sehen wir auch, wie sinn­los die Debatte war ‑ wie sehr man (in Bitterkeit) aneinander vorbeiredete. 

Na­türlich hatten die Gläubigen im Alten Testament Leben aus Gott ‑ aus wem anders waren sie geboren? Und natürlich war dieses Leben unbegrenzt, ewig dauernd, und in diesem Sinne "ewiges Leben". Aber andererseits: Kannten sie den Vater und den Sohn? Konnten sie sagen, daß sie den Sohn als ihr Leben besaßen (vgl. Joh 17,3; 1. Joh 5,11.12.20)? Natürlich nicht. Ist das Problem denn auf den Punkt zurück­zuführen, daß die Gläubigen früherer Tage wohl ewiges Leben besaßen, aber nicht das volle Bewußtsein und den Genuß davon hatten? Nein, so einfach ist es wieder­um auch nicht; denn der Herr sagt, daß Er gekommen ist, auf daß Seine Schafe nicht nur Leben haben (das war im Alten Testament auch der Fall), sondern auf daß sie es in Überfluß haben (Joh 10,10). Dieses Leben in seiner reichen, über­fließenden Form konnte Er erst geben, nachdem Er Sein Leben für die Schafe hingegeben hatte und auferstanden war; danach hauchte Er in sie (vgl. 1. Mb 2,7; 1.Kor 15,45) und schenkte ihnen das höchste geistliche Leben mit den Worten: "Empfanget den Heiligen Geist" (Joh 20,22).

So geschieht es seitdem bei der Wiedergeburt. Welche Grundlage gibt es in der Schrift für den Gedanken, daß man in unserer Zeit zuerst bei der Wiedergeburt ein "gewöhnliches" Leben aus Gott empfängt und dann bei der Befreiung und Ver­siegelung das ewige Leben? Zu Recht widersetzte sich Grant dieser Auffassung ‑Leben hat an sich nichts mit Befreiung vom Gesetz der Sünde oder der Innewohnung des Heiligen Geistes zu tun. Aber andererseits: wer kann leugnen, daß der Genuß des ewigen Lebens und die Einsicht in das ewige Leben erst gefunden werden bei dem, der Frieden mit Gott und den Heiligen Geist in sich wohnend hat? 

Ebenso ist es mit der Vergebung der Sünden; das volle Bewußtsein und den Genuß davon kann nur der besitzen, der freigemacht ist. Aber wer kann leugnen, daß Gott Seiner­seits den Menschen bereits von seinen Sünden reinigt und sie ihm in dem Augen­blick vergibt, wo er seine Sünden bekennt! (l. Joh 1,9) und Gott das reinigende Wasser des Wortes auf ihn anwendet (Joh 3,5; Tit 3,5; vgl. Eph 5,26)? Wenn Cecil sagt, daß der Mensch erst dann Rechtfertigung, Frieden mit Gott und den Heiligen Geist empfängt, wenn er gelernt hat, auf ein vollkommen vollbrachtes Werk Chri­sti zu vertrauen und den Wert dieses Werkes auf sich selbst anwendet, dann denke ich, daß er recht hat; aber wenn Grant sagt, daß der Besitz des ewigen Lebens und die Vergebung der Sünden bereits die direkte Folge der Wiedergeburt bzw. der Bekehrung sind, dann denke ich, daß Grant recht hat. Wem hätte ich mich nun an­schließen müssen?

Vl. DIE LEHRE STUARTS

(1) Die eigentliche Lehre Stuarts, um die es ging, als die Trennung stattfand, hatte Bezug auf die Stellung des Christen; die Auffassung Stuarts über die Ver­söhnung kam erst später zum Vorschein. Das erstgenannte Thema wurde von Stuart in seiner schon erwähnten Broschüre von 1884 behandelt. Der Schlüssel dieser Broschüre ist der Thron Gottes; "nichts", sagt Stuart, Ast höher im Weltall als der Thron der Majestät in den Himmeln .... keinen höheren Platz kann der Gläubi­ge haben als eine Stellung vor diesem Thron ... Mit Stellung [standing] ist das Recht und die Fähigkeit für ein gefallenes und ehemals schuldiges Geschöpf gemeint, sich durch Gnade vor dem Thron Gottes zu befinden, ohne daß das Gericht es überwältigt. Mit Stand [state] oder Zustand [condition] ist gemeint, was die Person ist oder die Umstände, in denen sie ist051 Stuart lehrte nun, daß die Stellung eines Christen vollständig ist durch seinen Glauben an die Versöhnung durch Christus, unabhängig von seiner persönlichen Vereinigung mit Christus als was den Toten auferstanden; diese Vereinigung würde dann unser Zustand sein oder vielmehr ein besonderes Vorrecht über unsere eigentliche Stellung hinaus.

Das ganze Problem ist hier in erster Linie wieder eine terminologische Verwir­rung, und zudem ging es auch noch um Ausdrücke, die als solche überhaupt nicht in der Schrift gebraucht werden. Aber es ist doch ohne Zweifel falsch von Stu­art, zu behaupten, daß unser Sein "in Christus" kein Aspekt unserer Stellung ist. Im Gegenteil. 

Das Hauptkennzeichen der christlichen Stellung ist gerade, daß wir in Christus sind: Alles, was wir sind und was wir haben, sind und haben wir in Ihm, das ist die Lehre des ganzen Epheserbriefes. Der Unterschied, wie Stuart ihn zwischen Stellung und Zustand macht, findet überhaupt keine Grundlage in der Schrift. Wenn man diese Begriffe sinnvoll gebrauchen will, muß unsere Stellung das bezeichnen, was wir in den Augen Gottes geworden sind aufgrund des Werkes Christi und als verbunden mit einem auferweckten und verherrlichten Herrn, in Dem wir versetzt sind in die himmlischen Örter (Eph 2,5.6). Gegenüber dieser grundsätzlichen Stellung steht unser praktischer Zustand, das ist die Weise und das Maß, wie wir unsere Stellung vor Gott praktisch verwirklichen: Wir können straucheln, den Geist auslöschen, unsere Gemeinschaft mit Gott stören; aber das alles hat keinen einzigen Einfluß auf unsere christliche Stellung als solche (wohl auf unser Bewußtsein und unseren Genuß dieser Stellung).

(2) In Verbindung mit dem Vorausgehenden entwickelte Stuart eine komplizierte Theorie über die "neue Schöpfung" (siehe 2. Kor 5,17; Gal 6,15; Eph 2,10.15; 4,24; Kol 3,10). Darin legt er Nachdruck darauf, daß der neue Mensch in Epheser 4 und Kolosser 3 dem alten (palaios) gegenübergestellt wird, aber daß in 2. Kor­inther 5 die neue Schöpfung der alten (archaios) gegenübergestellt wird. Diesen Unterschied zwischen den griechischen Worten erklärt er folgendermaßen: palaias ist das, was alt ist im ungünstigen Sinn des Wortes und völlig verschwinden muß; azvhaios jedoch bedeutet „alt“ in der zeitlichen Bedeutung: "antik, ehemals".

Das, was auf diese Weise bezeichnet wird, braucht nicht zu verschwinden, so daß es aufhört zu bestehen, sondern wird verändert zu dem Neuen (2. Kor 5,17). Die "neue Schöpfung ist also, Stuart zufolge, nicht etwas völlig Neues, das früher noch nicht bestand, sondern eine Umbildung des Alten, ein "Umschaffen".

Stuart vergißt jedoch, daß in 2. Korinther 5 ausdrücklich steht, daß das Alte vergangen ist. Außerdem vergißt er, daß sowohl in Epheser 4 als auch in'2. Kor­inther 5 dasselbe Wort "neu" (kainos) gebraucht wird, das in beiden Fällen be­deutet: etwas völlig Neues, von völlig anderer Art, was es früher noch nicht gab. Gott hat nichts aus der vorigen Schöpfung umgebildet oder verbessert! Was wir in 2. Korinther 5 finden, ist ein System von Dingen, die von alters her ge­wesen sind und einem völlig neuartigen und neugeschaffenen System gegenüberge­stellt werden: der neuen Schöpfung.

(3) Tatsächlich war nur das Vorhergehende ein Streitpunkt. in der Stuart‑Frage, und es ist zutiefst traurig, daß (obwohl Stuarts Gedanken in diesem Punkt tat­sächlich völlig falsch waren) über derartige Themen eine Trennung entstehen konnte. Doch später kam Stuart mit besonderen Lehren über die Versöhnung, die ich auch nennen muß, weil sie bei späteren Wiedervereinigungsversuchen eine gro­ße Rolle gespielt haben. In der Tat begab Stuart sich mit diesen Lehren auf ei­nen gefährlichen Weg, wobei er das Werk der Versöhnung in verstandesmäßiger Wei­se in Stücke und Etappen zu zerlegen versuchte. Einige Zitate aus einer Broschü­re von 1888 mögen dazu dienen, seinen komplizierten Theologisierungsstil zu de­monstrieren.

"... Wenn wir verstehen wollen, was es heißt, Sühnung zu tun [make atonement), müssen wir uns um Belehrung 3. Mose 16 zuwenden: denn allein dort, in dem für den Versöhnungstag vorgeschriebenen Ritual, werden wir völlig lernen, insoweit es vorbildliche Belehrungen illustrieren können, was in dem Gedanken, Sühnung zu tun, enthalten ist ... Man möge sogleich zur Kenntnis nehmen, daß dasjenige, was gefordert wird, um Sühnung zu tun, das Thema der Mitteilungen Gottes an den Ge­setzgeber bei dieser Gelegenheit ist. Das Hauptwort Sühnung findet man darin nicht ein einziges Mal [d.h. im Grundtext), lediglich das Tätigkeitswort [Süh­nung tun; im Hebräischen ein Wort] wird gebraucht, um durch vorbildliche Beleh­rung die Aufmerksamkeit auf das Tun zu richten. Dazu nun waren vier Dinge abso­lut notwendig. 

(1) Ein Opfer mußte gefunden werden, das Gott annehmen konnte (3. Mo 16,6), und dieses Opfer mußte sterben, weil es das Blut ist, das Sühnung für die Seele tut (3. Mo 17,11). (2) Ein Stellvertreter mußte gefunden werden, auf den die Sünden des Schuldigen übertragen und dadurch in ein Land der Öde wegge­tragen werden konnten. Dies wird durch den Sündenbock vorgebildet (3. Mo 16,10). (3) Das Blut des Sündopfers mußte Gott dargebracht werden innerhalb des Vor­hangs, indem es auf und vor den Versöhnungsdeckel gesprengt wurde, eine Hand­lung, die ausschließlich der Hohepriester verrichten durfte, und wenn er mit Gott allein war (3. Mo 16,14‑16; Hebr 9,7). (4) Das Opfer mußte göttliches Ge­richt erleiden, vorgestellt in dem Verzehren des Brandopfers auf dem ehernen Al­tar (3. Mo 16,24.25) ...

In dem Sühnung‑Tun wer also die Stellvertretung ein wesentlicher Bestandteil, ebensosehr wie das Werk des Hohenpriesters im Heiligtum. Wäre eins von beide weggelassen, dann würde die Sühnung nicht zustande gebracht worden sein. Wären diese beiden Dienste nun dasselbe? Eindeutig nicht. Worin unterschieden sie sich? In dem Sündenbock und in dem Dienst am ehernen Altar (3. Mb 16,24) sehen wir Jemanden vorgestellt, der eine Stellvertretung für andere war. im Bringen des Blutes auf den Sühnungsdeckel wer nichts davon eingeschlossen; obwohl es das Blut des Stellvertreters war, das der Hohepriester Gott darbrachte ... Es geht nun um diesen letzten Dienst, wenn wir über das Geben der Genugtuung [making prppitiaticn] sprechen. Es war ein wesentlicher Bestandteil der Sühnung [abanament), machte aber nicht das Ganze davon aus und unterschied sich erheb­lich von Stellvertretung. In letzteren werden der Lohn und die Bedürfnisse des Sünders vorgestellt. In dem anderen wurde zuerst an die Natur Gottes gedacht und ihr entsprochen.

Um von jeher Sühnung [propitiatioa] zu tun, waren im Vorbild (denn nur in diesem einen Kapitel in 3. Mose haben wir ein echtes Vorbild davon) ein Hoherpriester, ein Heiligtum und Blut, alle drei, notwendig. Um sie wirklich zu tun, waren sie alle nötig. Nun denn, der Herr hat sie als Hoherpriester getan (Hebr 2,17), nachdem Er mit Seinem eigenen Blut ins Allerheiligste eingegangen war (Hebr 9,12), und Johannes (l. Joh 2,2) sagt uns, daß Er 'die Sühnung [prqpitiation] für unsere Sünden' ist und 'nicht allein für die unseren, sondern auch für die ganze Welt' ... 

Wann wurde der Herr Priester? Dies ... wird völlig beantwortet durch Hebräer 8,4 und Kapitel 7. Wenn er nun auf Erden wäre, so wäre er nicht einmal Priester'. Dies ist ein eindeutiger Ausspruch an dem man sicher unmöglich vorbeigehen kann. Zudem ist Seine Priesterschaft nach der Ordnung Melchisedeks (Hebr 5; 7), wovon ein wesentliches Kennzeichen ist 'ohne Ende des Lebens', 'nach der Kraft eines unauflöslichen Lebens' (Hebr 7,3.16). Nun denn, füge Sei­nen Tod ein zwischen den Anfang Seiner Priesterschaft (durch die Behauptung, daß die auf dem Kreuz ihren Anfang nahm) und Seine gegenwärtige Ausübung davon, und Er hört auf, Priester zu sein nach der Ordnung Melchisedeks ... Dieses Kennzei­chen 'ohne Ende des Lebens' ist wesentlich ..

(4) Welche Konsequenzen Stuart aus dieser letzten Argumentation zieht, ist aus seinem Brief vom September 1890 an Bruder F.W. Grant zu ersehen, wovon ich einen Teil zitiere: "Der Tod unterbricht die Dauerhaftigkeit von jemandes Priester­schaft. Das war der Fall mit den aaronitischen Priestern. Sie konnten nicht bleiben wegen des Todes. Aber dies ist nicht der Fall bei Ihm, der Priester ist nach der Ordnung Melchisedeks. 

Er ist Priester in Ewigkeit: Deshalb ist es deut­lich, daß Er, um Priester nach dieser Ordnung zu sein, Seine Priesterschaft nicht auf dieser Seite des Todes begonnen haben kann, ohne daß Sein Tod die Fortdauer davon unterbrechen würde und Er dadurch für ewig aufhören würde, Prie­ster zu sein. Weiterhin, bevor Er gestorben war, konnte Er nichts getan haben in Seinem Charakter als Hoherpriester, denn bis dahin war Er nicht vollkommen ge­worden ... (Hebr 7,28). Nun war es als Hoherpriester, daß Er Sühnung tat für die Sünden des Volkes (2,17). Das war deutlich nach dem Tod; und wo das getan wurde, nacht der Brief an die Hebräer völlig deutlich, da die besondere Aufmerksamkeit sich auf das Eingehen Aarons in das Allerheiligste auf der Erde mit dem Blut von Stieren und Böcken richtet als ein Vorbild des ein für allemal geschehenen Ein­gehens des Herrn Jesus Christus in das Allerheiligste in der Höhe, das himmlische Heiligtum, durch Sein eigenes Blut (9,7‑12) ...

Um zusammenzufassen, was gesagt worden ist: Ich schließe daraus, (1) daß der Herr Jesus kein Hoherpriester war, als Er auf der Erde war, vor dem Tod; (2) daß Er deshalb nichts getan haben konnte als Hoherpriester, bevor Er starb; (3) daß Er für unsere Sünden Sühnung tat als Hoherpriester im himmlischen Heiligtum, nachdem Er durch Sein eigenes Blut eingegangen war, und deshalb notwendigerwei­se, nachdem Er den Tod erlitten hatte; und (4) daß, wie Hebräer 9,12 uns sagt, Meine ewige Erlösung zustande gebracht hat, als Er so ein für allemal eingegangen war in das Allerheiligste in der Höhe. Und die Erlösung, von der die Rede ist, Erlösung durch Blut, umfa3t nun für uns Vergebung von Sünden (Eph 1,7; Kol 1,14) und Rechtfertigung (Röm 2,24) ..."

(5) Diese Lehren Stuarts sind ein gutes Beispiel dafür, wie man durch (schein­bar) logische Überlegungen doch zu Schlußfolgerungen kommen kann, die im Gegen­satz zu der Lehre der Schrift stehen. Wegen seiner objektiven, unparteiischen Stellung ist vor allem das Urteil eines vortrefflichen Lehrers wie Kelly höchst interessant; und dieser wandte sich scharf gegen die ungesunden Auffassungen Stuarts, sowohl in Artikeln und Fragenbeantwortungen in The Bible Treasury wie auch in seinem zuerst in dieser Zeitschrift und später als Buch veröffentlichten Werk über die Versöhnung. Darin legt er in erster Linie Nachdruck darauf, wie verkehrt es ist, ein Lehrsystem aufgrund. alttestamentlicher Schattenbilder auf­zubauen: nicht die Vorbilder bestimmen die Lehre, sondern die Lehre erklärt die Vorbilder. Übrigens, der Gedanke, daß aufeinanderfolgende Etappen in 3. Mose 16 aufeinanderfolgende Phasen des Sühnunggwerkes darstellen, ist töricht und un­haltbar: ja, in Vers 24 lesen wir, daß Aaron nach seinem Werk ins Heiligtum zu­rückkehrte, um das Brandopfer zu opfern, und man kann doch nicht denken, daß Christus nach Seinem Tod und Seinem zuvor stattgefundenen Eingehen ins himmlische Heiligtum zum Kreuz zurückgekehrt wäre, um Sich Selbst dort als das Brandopfer zu opfern.

Zweitens weist Kelly nach, daß es keinen schriftgemäßen Unterschied zwischen den Worten atonement, propitiation und expiation gibt; das kann auch nicht sein, denn sowohl im Hebräischen wie auch im Griechischen gibt es nur ein Wort dafür. Es ist also falsch, propitiation (Genugtuung) als einen untergeordneten Teil von abonement (Versöhnung) zu sehen. Doch zudem führt dieser Irrtum zu verwerflichen Schlußfolgerungen1 Kelly (Februar 1900): 

"Diese Theorie enthält notwendigerweise den furchtbaren Irrtum, der leugnet, daß das Opfer des geschlachteten Opfertie­res einen Teil der Genugtuung für unsere Sünden bildet. Welch eine Geringschät­zung der Leiden Christi! Denn diese häßliche Theorie besagt, daß Genüge getan wurde 'im Himmel und nach dem Tod', und hebt so für ewig das große Werk Gottes durch das Blut und den Tod Christi auf dem Kreuz auf und macht es völlig abhän­gig von einem anderen Werk 'nach dem Tod und in dem Himmel', statt der Grundvorstellung zu entsprechen, daß Christus in dem, was Er auf der Erde litt, vor dem Angesicht Gottes erschienen ist. 'Euch hat er aber nun versöhnt in dem Leibe seines Fleisches (nicht, als Er außerhalb Seines Leibes war) durch den Tod' (nicht nach dem Tod und in dem Himmel), Kolosser 1,21.22“

Über die Behauptung, daß Hebräer 4,14 und 9,11.12 sich auf das Eingehen Christi in den Himmel bei Seinem Tod beziehen, nicht bei Seiner Himmelfahrt, schreibt Kelly im April 1899: "Es ist eine bloße Unterstellung, um einen Scheinbeweis zu­sammenzubauen für die sonderbare und ungesunde Lehre der Genugtuung durch Chri­stus, zustande gebracht, nicht durch das Blut Seines Kreuzes, sondern durch Sei­ne darauffolgende Handlung als ein gesonderter Geist im Himmel, durch einen un­vernünftigen Mißbrauch der Vorbilder. Von daher die Erdichtung, daß Hebräer 4,14 und 9,11.12 Bezug haben auf Sein Eingehen nach dem Tod als Priester, während an­dere Stellen in dem Brief von Seinem Eingehen bei der Himmelfahrt als Mensch sprechen ... Diejenigen, die das abstreiten .... halten daran fest, daß Hebräer 1,3; 6,20; 8,1; 9,24; 10,12; 12,2 von derselben Art sind wie die beiden Stellen, um die es geht. Niemand leugnet die Anwesenheit der Herrn im Paradies unmittel­bar nach dem Tod; kein vernünftiger Christ hat dies jemals verwechselt mit Sei­ner Annahme der Priesterschaft nach der Himmelfahrt. In der Tat stellt eine der beiden Stellen sogar zweifellos das Eingehen Christi ein für allemal ins Heilig­tum fest, nachdem Er eine ewige Erlösung erfunden hatte. Dies ist das einzige Eingehen, das der Brief betrachtet oder Zuläßt."

(6) Zum Schluß noch einige Bemerkungen über das Priestertum Christi, wie man es überall in den Schriften von Kelly und Darby wiederfinden kann. Was Stuart nicht zu erkennen schien, ist, daß der Hebräerbrief wohl lehrt, daß Christus nun im Himmel Hoherpriester ist nach der Ordnung Melchisedeks und nicht nach der Aa­rons, aber daß Christus jetzt nicht den Priesterdienst Melchisedeks ausübt. Das tut Er nicht jetzt, sondern sofort nach Seinem Wiederkommen; und das nicht im Himmel, sondern auf der Erde, wenn Er als König des Friedens und der Gerechtig­keit regieren wird und als König-Priester auf dem Thron Davids sitzen wird (Hebr 7,1‑3; 1. Mo 14,18‑20; Sach 6,12.13). 

Das ist eine Priesterschaft von seiten Gottes gegenüber dem Menschen; aber der Dienst, den der Herr nun ausübt, ist der Dienst Aarons im Himmel, zugunsten des Volkes vor dem Angesicht Gottes. Obwohl Er also Priester ist nach der Ordnung (Weise, Vorschrift) Melchisedeks, führt Er augenblicklich noch den Dienst Aarons aus. Melchisedek kam mit Segen zu Abraham,­ wie Christus mit Segen zu Seinem Volk Israel kommen wird, aber Aaron vertrat das Volk vor Gott, indem er es auf seinen Schaltern und seiner Brust trug. Deshalb wird der Dienst, den der Herr augenblicklich als Priester hat, immer mit dem des Aaron verglichen (Hebr 2,17; 3,1.2; 7,25‑28; 9,11‑14.25).

Nun muß man gut unterscheiden, daß es zwei Aspekte in dem Priesterdienst Aarons gibt. Seine gewöhnliche, ununterbrochene Aufgabe war es, das Volk vor Gott zu tragen und zu vergegenwärtigen, es zu vertreten als vermittelnde und sachwalten­de Person. Daneben hatte der Hohepriester noch eine besondere Aufgabe, die er lediglich einmal, am großen Versöhnungstag, ausführte. Das war: nicht das Volk zu vertreten, sondern sich mit dem Volk einszumachen und durch das Opfer Sühnung für das Volk zu tun.

Daß dies durchaus nicht die normale Aufgabe des Hohenprie­sters war, geht klar aus der Tatsache hervor, daß er nicht seine hohenpriester­liche Kleidung (mit dem Brustschild und den Schultersteinen!) trug, sondern ein­fache, leinene Kleider. Diesen Unterschied nun sehen wir auch im Hebräerbrief. Wenn es um die gewöhnliche, ununterbrochene, vermittelnde Aufgabe unseres großen Hohenpriesters geht, dann sehen wir Ihn, nicht wie Aaron auf der Erde stehend, sondern sitzend im Himmel, verherrlicht zur Rechten Gottes (Hebr 4,14‑16; 6,19.20; 8,1.2; 9,24). Doch obwohl dieser himmlische Dienst auf die Versöhnung gegründet ist (Hebr. 9,11.12), wird dieser niemals als eins gesehen mit der ein­maligen Aufgabe, die der Hohepriester am großen Versöhnungstag ausübte!! Der einzige Vers, der auf diese Aufgabe hinweist, ist 2,17, aber da ist überhaupt keine Rede vom Himmelt

Hier liegt nun der ganze Irrtum Stuarts. Das Eingehen des Hohenpriesters ins Heiligtum am großen Versöhnungstag verwechselte er mit der Verherrlichung des Herrn im Himmel. Doch das sind zwei völlig verschiedene Dinge, denn das erste hat zu tun mit dem besonderen, einmaligen Dienst der Versöhnung und das zweite mit dem gewöhnlichen, ununterbrochenen Dienst der Mittlerschaft (des Fürspre­chens). Das erste (worauf Hebräer 2,17 hinweist) fand ausschließlich auf der Erde statt, und zwar auf dem Kreuz (Kol 1,20‑22); das zweite begann, nachdem der Herr verherrlicht war zur Rechten Gottes. Fragt man nun, welches Ereignis dem Eingehen des Hohenpriesters ins Heiligtum am Versöhnungstag entspricht, ist die Erklärung einfach die, daß in dem Augenblick, als der Herr auf dem Kreuz das Sühnungswerk verrichtete, der Wert und die Kraft Seines Sühnblutes vor dem Angesicht Gottes im Himmel erschien. 

Jeder Versuch, das Vorbild "wörtlicher" anzu­wenden, geht weiter, als die Schrift lehrt, und geht zudem an der Tatsache vor­bei, daß Aaron zwar das Blut auf d[en Sühnungsdeckel sprengen mußte, aber daß die Schrift sagt, daß Gott den Herrn Jesus Selbst zu einem "Sühnungsdeckel" (oder Gnadenthron; dasselbe Wort) gestellt hat! (Röm 3,25).

Die einzige Schwierigkeit könnte Hebräer 9,12 bereiten, wo wir lesen, daß Christus mit Seinem eigenen Blut ein für allemal ins Heiligtum eingegangen ist ‑ und da geht es eindeutig um den Himmel. Dies ist die wichtigste Stelle für Stuarts Behauptung, daß Christus nach Seinem Tod mit Seinem Blut in den Himmel eingegan­gen ist. Aber dies ist aus zwei Gründen völlig falsch. Erstens steht dort, daß Christus "ein für allemal" eingegangen ist, und das kann also nur Bezug haben auf Seine Himmelfahrt und Verherrlichung. Zweitens steht dort in der Tat über­haupt nicht, daß Er "mit seinem Blut" eingegangen ist; dort steht wörtlich, daß Er "durch sein Blut" eingegangen ist. Das ist nicht "hindurch» oder "mittels", sondern "in der Kraft von", "infolge, wegen". Er ging nicht ein und empfing nicht die Hohenpriesterschaft nur aufgrund Seiner persönlichen Herrlichkeit, sondern aufgrund Seines Sühnblutes; wie das Ende des Verses erläutert: "als er eine ewige Erlösung erfunden hatte."

(7) Ich möchte jedoch enden mit einem Wart der Kritik auch an Stuarts Gegnern. Als Beweis, daß der Herr das Sühnungswerk vollkommen am Kreuz vollbracht hat und nicht erst nach Seinem Tod, im Himmel, sind häufig die Worte des Herrn angeführt worden: "Es ist vollbracht." Doch dies scheint mir als Argument nun gerade weni­ger geeignet, und zwar aus zwei Gründen. Erstens finden wir diese Worte nicht in Matthäus oder Markus, die uns den Herrn als das Schuld‑ und Sündopfer vorstel­len, sondern in Johannes, wo wir das Brandopfer finden, wo aber mit keinem Wort die Sühnung der Sünden erwähnt wird. Die Worte "Es ist vollbracht" haben dort also auch nicht so sehr Bezug auf das Sühnungswerk, als vielmehr auf das, was wir in Johannes 17,4 finden: "Ich habe dich verherrlicht auf der Erde; das Werk habe ich vollbracht, welches du mir gegeben hast, daß ich es tun sollte." Dies ist auch in Übereinstimmung mit dem Charakter des Brandopfers. Das Werk auf dem Kreuz war der Höhepunkt und der Abschluß des Hauptziels Christi auf der Erde, nämlich den Vater zu verherrlichen (vgl. Joh 12,27.28; 13,31).

Doch dieser Vers aus Johannes 17 zeigt uns auch einen zweiten Punkt. In dem Au­genblick, als ihr Herr sagte: "Das Werk habe ich vollbracht", war es da, genau genommen, bereits vollbracht? Nein, denn das Kreuz mußte noch kommen; doch der Herr stellt Sich hier bereits völlig hinter das Werk. Aber hieraus ersieht man, wie Stuart zu Recht behauptete, daß die Worte "Es ist vollbracht" in Johannes 19,30 an sich also ebensowenig ein Beweis sind, daß das Werk in diesem Augen­blick auch tatsächlich vollbracht war. 

Und in gewissem Sinn war es das auch nicht, denn wenn der Herr nach dem Aussprechen dieser Worte nicht Sein Leben hingegeben hätte, wäre das Werk nicht vollbracht gewesen1 Denn gerade in der freiwilligen Hingabe Seines Lebens sollte der Vater in besonderer Weise verherr­licht werden (vgl. Joh. 10,17‑18). Aber daß dieser Gedanke keine einzige Stütze für die Theorie ist, daß der Herr erst nach Seinem Tod die Versöhnung zustande gebracht hat, ist völlig klar. In den Augenblick, als der Herr Seinen Geist übergab, war das Werk vollkommen vollbracht.

VII. DIE KELLY‑VERSAMMLUNGEN

(1) Wie gesagt, blieben die Versammlungen in England, mit denen Bruder Kelly in Gemeinschaft war, von großen Streitigkeiten und Trennungen verschont. 1881 wurden sie verworfen, 1884 folgten die Grant‑Versammlungen in Nordamerika und 1885 die Stuart-Versammlungen in Großbritannien und Neuseeland. Es liegt auf der Hand, daß die ausgestoßenen Parteien, die sich nun getrennt vom "New-Lumpismus“ versammelten, schon bald untereinander Kontakt suchten. Da die Grant‑ und die Stuart‑Brüder ungefähr zur gleichen Zeit durch genau dieselbe Partei ausgeschlossen waren, befanden sie sich deutlich in einer ähnlichen Lage, obwohl im besonderen Bruder F.W. Grant die späteren Lehren Stuarts über die Versöhnung scharf zurückwies. Die Grant‑Brüder betrachteten diese verkehrten Lehren jedoch nicht als ein Hindernis für gegenseitige Gemeinschaft, so daß sie die Stuart­-Brüder (und umgekehrt) frei zum Brotbrechen zuließen.

Die Kelly‑Brüder waren zwar nicht ausgeschlossen worden wegen verkehrter Lehren, hatten aber doch dies mit den Grant‑ und Stuart‑Brüdern gemein, daß sie sich weigerten, einen Versammlungsbeschluß, der eindeutig unschriftgemäß war und der auch nach geduldiger Ermahnung nicht widerrufen wunde, blindlings anzunehmen.

Sie waren auch eins in ihrer Ablehnung der Rolle eines "Pontifikats", die die Londoner Brüder allmählich zu spielen begannen. Die Bedeutung dieser Standpunkte wird später noch deutlicher werden.

(2) Im Jahre 1886 reiste Kelly in die Vereinigten Staaten, um die Möglichkeit einer Vereinigung der Versammlungen, mit denen er und Graut in Gemeinschaft wa­ren, zu untersuchen. Es entstanden jedoch zwei Probleme, die einer vollständigen Vereinigung im Weg standen. In New‑York wohnte ein sehr geschätzter Bruder, Ma­lachi Taylor, von dem zu Recht oder zu Unrecht behauptet wurde, daß er die Anbe­tung des Herrn Jesus ablehnte und lehrte, daß man allein dem Väter Anbetung dar­bringen müsse, über den Sohn, durch den Geist. H.A. Ironside schreibt, daß es nicht eindeutig ist, was Taylors Auffassungen nun genau waren; jedenfalls lehrte er, ihm zufolge, später eindeutig, daß der Herr "aller Anbetung, alles Lobes und aller Ehre würdig war, nun und bis in Ewigkeit", wie er es selbst ausdrückte.

Eine zweite Schwierigkeit entstand, als Stuart gegen Ende der achtziger Jahre mit seinen Lehren über die Versöhnung kam. Kelly sah hierin eine ernste Gering­schätzung des Werkes auf dem Kreuz und weigerte sich, Gemeinschaft mit Stuart-­Brüdern zu haben, während die Grant‑Brüder, wie gesagt, in diesen Lehren kein Hindernis für die Gemeinschaft sahen. Bemerkenswert hierbei ist die Stellung von Robert T. Graut. Auf der einen Seite bezog er kräftig Stellung für Kelly und sprach als seine feste Überzeugung aus, daß, wenn alle Brüder in Amerika mit Kelly zusammen eindeutig Stellung genommen hätten gegen die versammlungsmäßige Anmaßung im Jahre 1881, dies die Brüder vor enorm viel Unannehmlichkeiten später bewahrt hätte. 

Bis zum Tage seines Heimgangs glaubte er (Ironside zufolge, der ihn gut kannte), daß die Ramsgate‑Frage Gottes Rechtssache mit den "Brüdern" war. Andererseits warf er Kelly vor, daß dieser sich um die Frage herumwinde, die Stuart aufgeworfen hatte, nämlich ob Sühnung eine priesterliche Aufgabe war, und wenn ja, wie Christus, der auf der Erde kein Priester sein konnte (Hebr 8,4), die Versöhnung dann auf der Erde (nämlich auf dem Kreuz) zustande gebracht haben konnte. Übrigens war dieser Vorwurf nicht sehr relevant, denn Hebräer 8 sagt lediglich, daß Christus, als Mensch auf der Erde lebend, keinen Dienst im irdischen Heiligtum hätte tun können; aber das ist etwas völlig anderes als die ewige, himmlische Erlösung, die Er, erhöht von dieser Erde, auf dem Kreuz durch Seine Selbsthingabe in den Tod zustande gebracht hat.

(3) Ich lasse nun einige Zitate aus Kellys Briefen (Kelly-Sammlung) folgen, die ein deutliches Licht auf diese Verhandlungen mit den Grant‑Brüdern werfen.

27. Mai 1886: „Ich gedenke am 9. Juni Brüder von allen Seiten in Plainfield, N.J., zu treffen, um zu zeigen, weshalb der Park Street‑Beschluß von 1881 ver­worfen werden muß, da er nicht nur ungerecht, sondern auch durch den Gebrauch, der davon gemacht worden ist, sektiererisch ist. Die Konferenz wird für alle of­fenstehen; aber ich erwarte bisher nicht, daß viele wiederhergestellt werden, außer denen, die mit den Grants sind. Ich hatte am Dienstag, dem 4. Mai, fünf Stunden lang ein Zusammentreffen mit ihren Führern aus der Umgebung von New-­York, was, denke ich, auf alle einen tiefen Eindruck machte und am folgenden Tag F. Grant und P. Loizeaux veranlaßte, diese Konferenz vorzuschlagen."

15. Januar 1887: "Ich habe keinerlei Bedenken, Park Street‑ und Grant‑Brüder aufzunehmen, ohne Bekenntnis zu fordern, ausgenommen, wenn etwas persönlich Ver­kehrtes das notwendig macht ... Sollten die Grant‑Leute sie [die Stuart­Anhänger] oder diejenigen, die dem gleichgültig gegenüberstehen, aufnehmen? Ich hoffe nicht ... Ich warnte Bruder Grant und etwa 25 ihrer Führer in New York letzten Juni vor diesem Irrtum [nämlich von Stuart]; und anstelle eines Dankes bekam ich eine mehr oder weniger beleidigende Kritik. Herr J. und der allgemeine Brief sind nicht offenherzig oder ehrlich im Blick auf die Taylor‑Episode. Ich kann wohl sagen, daß F. Grants Betragen mir gegenüber in Plainfield während der Konferenz, die wegen des Park Street‑Tests einberufen worden war, äußerst pein­lich war. 

Er war heftig und bluffend und voller Gereiztheit, weil ich ruhig be­hauptete, daß wir in England J.N. Darbys Briefen über Taylor mehr Gewicht bei­messen würden als seinen eigenen. Ich protestierte gegen das Entstehen dieser heftigen Diskussion, die das Thema, zu dem wir zusammengekommen waren, unter­brach; sagte, daß Grant usw. es vor der Konferenz zur Sprache hätten bringen müssen, als sie mich sahen; ich drückte meine Bereitschaft und sogar mein Verlangen aus, Taylors Sache gründlich zu untersuchen. Dies tat ich und bekam die Brüder, mit denen ich Brot brach, so weit, daß sie sehr ernst an Taylor schrieben, der sich als Folge davon zurückzog. Ihre kleingeistige Eifersucht gegen meine Hilfe kann ich vergeben, wenn sie zurechtkommen. 

Doch sind sie noch immer in Gemeinschaft mit Reading? Oder sind sie frei davon? Weil sie nach einem Ver­gleich strebten, waren sie noch immer unfreundlich, sogar nachdem die Taylor­-Schwierigkeit beendet war.''

26. April 1888: "Noch ein persönliches Wort zu Deinem Nutzen in Amerika. Hüte dich vor den schönen Worten der Grant‑Partei. Park Street ist schlimm genug, wie Du weißt, in ihrer Anmaßung und Heftigkeit. Doch gibt es noch so etwas wie Grundsatzfestigkeit unter ihnen, obwohl irrend. Ich habe niemals eine vollstän­digere Grundsatzlosigkeit kennengelernt als bei F. Grant und seinen Anhängern, die Park Street, ebenso wie wir, verwerfen und doch festhalten an der Stuart­-Brüderschaft, die nicht nur den Park Street‑Beschluß verteidigen, sondern ihm eine böse Lehre, betreffend die Genugtuung Christi, zufügen, die Grant als ver­kehrt ablehnt, aber als unbedeutend vom Tisch fegt.''

(4) Die einzigen Schwierigkeiten von einiger Bedeutung, die die Kelly­-Versammlungen in ihren eigenen Reihen mitmachten, waren einige Versuche, sie dazu zu bewegen, die Ablehnung Bethesdas zu widerrufen und die Absonderung von den "Offenen Brüdern" aufzugeben. Es ist selbstverständlich, daß Kelly davon ab­solut nichts wissen wollte. Leider schied ihn dies bereits bald von einem seiner treuesten und bedeutendsten Freunde, nämlich Dr. Th. Neatby. Dieser fing an, den "geschlossenen Standpunkt" als eine ständig schwerere Last zu fühlen, und zog sich schließlich im Januar 1887 zurück, wonach er sich frei in allerlei evange­lischen Kreisen bewegte, und zwar am meisten unter Ahn "Offenen Brüdern", bei denen er auch beinahe jeden Sonntag Brot brach, obwohl er kräftig leugnete, daß er zu den "Brüdern" gehörte ...

Einschneidender war die Trennung, die durch einen noch jungen Bruder namens W.W. Fereday verursacht wurde, der von den "Offenen Brüdern" herstammte. Dieser Bru­der hatte eine gute Einsicht in viele Wahrheiten (bekannt sind seine Bibelbetrachtungen wie die über Elia, Elisa und Josia), aber er war niemals wirklich befreit von dem Klerikalismus, der unter den "Offenen Brüdern" Gemeingut war. Trotz Protesten organisierte er am 28. September 1897 in einem öffentlichen Lokal­

in Brixton einen (wie er es nannte) ganztägigen. Dienst". Hierzu wurden alle Gläubigen in Gemeinschaft in London eingeladen wie auch alle interessierten Au­ßenstehenden. In dieser Zusammenkunft (die also den ganzen Tag dauerte) herrsch­te nicht die Freiheit des Geistes, sondern waren drei Sprecher beauftragt, die Stück für Stück ernsthafter Kritik ausgesetzt waren. Neben Fereday war das wei­ter ein oberflächlicher Bruder, der "kaum" in Gemeinschaft war, sondern ständig in Freikirchen und unter den "Offenen Brüdern" predigte, während der dritte Sprecher bekannt war als ein bösartiger Verleumder, der zweimal mit Brotbrechen aufgehört hatte und zweimal durch eine Hintertüre wieder hereingekommen war. Und diese Brüder sprachen über das Thema: "Heiligkeit im Blick auf das Kommen Christi“!

Kein Wunder, daß ältere und verständigere Brüder sie ernstlich beschworen, mit diesen fleischlichen, unabhängigen Aktivitäten aufzuhören. Trotzdem hielten sie Ende November wieder solch eine Zusammenkunft und versuchten danach, auch an an­deren Orten, wo man nicht im Bilde rar über die Proteste vieler Brüder, Boden zu gewinnen. Weder freundliche noch strenge Ermahnungen konnten das Team hindern, weiterhin die Gewohnheiten der umgebenden Christenheit nachzuahmen, die in of­fenbarem Gegensatz zu der deutlichen Lehre der Schrift standen. 

Schließlich ver­sprach Fereday am 31. Mai 1898 während der Blackheath‑Konferenz vor fünf‑ bis sechshundert Gläubigen, daß er mit diesen Aktivitäten aufhören werde. Aber am 6. September, während der monatlichen Besprechung in Plumstead, suchte er sich aus seinem Versprechen herauszuwinden und brach dieses später öffentlich. Von da ab nahmen Kelly und viele andere Brüder die Haltung von Römer 16,17 ihm gegenüber ein: sie zogen sich von ihm zurück, weil er Zwietracht und Anstoß gegen die Leh­re erweckte.

Anfang 1899 ging Fereday noch einen Schritt weiter, indem er öffentlich Gemein­schaft mit den Stuart‑Brüdern übte und Artikel in ihrer Zeitschrift schrieb. Eine Kelly-Versammlung, die in Kenilworth, sprach sich sogar für Stuarts Lehre aus und kam damit automatisch außerhalb zu stehen ‑ aber Fereday brach dort ru­hig weiter Brot. Auch veröffentlichte er zwei Broschüren Present Agitation und Recent Correspondence, worin er ernste Vorwürfe gegen Kelly richtete. Die zweite Broschüre ging sogar so weit, daß die Brüder allerorts zu dem Urteil kamen, daß, wenn sie wahr sei, Kelly, und wenn sie unwahr sei, Fereday ausgeschlossen werden müßte. Damit wurde die Sache direkt auf das Gewissen der Versammlung in Blackhe­ath gelegt. 

Sie unternahm eine ziemlich oberflächliche Untersuchung (Januar 1900), worin sie sowohl Fereday als Kelly hörte und wovon sie einen Bericht an die Borough‑Samstags‑Zusammenkunft sandte. Diese zentrale, wöchentliche Brüder­versammlung war jedoch keine "Synode", a die dazu diente, Zustände zu besprechen, sondern nahm lediglich Vorschläge und Mitteilungen an. Sie sandte den Bericht deshalb ungelesen zurück und bat um einen Vorschlag. Darauf schlug Blackheath vor, Fereday auszuschließen. Wieder sandte die zentrale Brüderversammlung den Brief zurück, weil der Vorschlag zu wenig begründet war. Man kann die Sorgfalt der Brüder loben1

Schließlich wurde ein begründeter Vorschlag eingereicht, der in der Londoner Versammlung vorgelesen wurde, wonach der Beschluß bekräftigt wurde. Beinahe alle Londoner Versammlungen (mit Ausnahme von Feredays Versammlung in Clapham und ei­nige andere) nahmen den Ausschluß Feredays an (Februar 1900). 

Hier und dort, auch außerhalb Londons, fanden allerdings Trennungen statt. W.B. Neatby zufolge sollen fünf oder sechs Versammlungen abgesprungen sein, und roch Kellys Briefen zu urteilen, wird dies auch etwa stimmen. Die Versammlungen, die sich getrennt hatten, landeten auf dem Boden der "offenen Brüder". Fereday legte später seinen Versammlungsstandpunkt in seiner Broschüre Gemeinschaft in den letzten Tagen dar. Wir werden sehen, daß ein derartiges Abgleiten zu dem offenen und unabhän­gigen Standpunkt leider auch unter den Grant‑Brüdern (1894) und den Stuart­-Brüdern (1905) vorkam.