VII. Barnstaple (7)

01/20/2023
von Christ-und-Buch Günter Arhelger

VII. BARNSTAPLE

(1) Craik und Müller waren sehr befreundet mit Robert C. Chapman, der später der "Patriarch" von Barnstaple genannt wurde (er wurde 99 Jahre alt). Chapman, 1803 als Sohn eines wohlhabenden Kaufmanns geboren, wählte selbst das Rechtsstudium, das ihm in London eine erfolgreiche Karriere eröffnete. In seinem 16. Lebensjahr begann er intensiv die Bibel zu studieren. 

Als er zwanzig Jahre alt war, hörte er Pfarrer J. Harington Evans predigen, fand Frieden mit Gott und wurde getauft. Evans hatte durch seine Ehrfurcht vor der Autorität der Schrift, seine wöchent­lichen Abendmahlsfeiern und sein Verlangen nach freiem Dienst am Wort, prak­tischer Heiligung und christlicher Einheit einen bemerkenswerten Einfluß auf ihn. Chapman lernte diese Grundsätze wertzuschätzen und konsequenter als Evans anzuwenden. Nach seiner Bekehrung blieb er Rechtsanwalt, begann aber zugleich intensiv, sich um die Armen in London zu kümmern. 

Dort besuchte ihn 1830 sein Kollege und angeheirateter Vetter aus Barnstaple, Thcmas Pugsley, der sehr von Chapmans Arbeit beeindruckt wurde. Nach Barnstaple zurückgekehrt, begann Pugsley ein kräftiges evangelisches Werk und baute sogar eine Kapelle, wo auch Müller in jenem Jahr einmal predigte. 1831 stattete Chapman der Familie Pugsley einen Ge­genbesuch ab und predigte dort in der Kapelle und in den Armenhäusern ‑ eine sensationelle Tat für einen wohlhabenden Londoner Rechtsanwalti

Zurückgekehrt nach London, wurde er immer unzufriedener über seine juristische Arbeit. Schließlich gab er seinen Beruf auf, gab sein ganzes Vermögen weg und weihte sich völlig dem Dienst des Herrn. Zur gleichen Zeit ersuchte man ihn, Prediger in der baptistischen Ebenezer‑Kapelle in Barnstaple zu werden, wo er sich im April 1832 endgültig niederließ. 

Der Gemeinde, die ihm anvertraut wurde, stellte er die Bedingung, daß er die Freiheit hätte, alles zu lehren, was er in der Schrift geschrieben fände. Allmählich führte er so allerlei Grundsätze ein, die er verstehen gelernt hatte (und zu denen sich andernorts die "Brüder" be­kannten), aber stets wartete er, bis alle ihre Richtigkeit erkannten. So wandel­te sich die Gruppe mit der Zeit von einer offiziellen Baptistengemeinde zu einer Wersammlung der Brüder", wo jeder wahre Gläubige zugelassen, wöchentlich Brot gebrochen und teilweise ein freier Dienst am Wort ausgeübt wurde.

 Diejenigen, die nicht damit einiggingen, zogen sich zurück und forderten 1834 die Kapelle für sich. Chapman, der ehemalige Rechtsanwalt, wies darauf hin, daß die, die sich getrennt hatten, rechtlich keinen Anspruch auf die Kapelle hätten, zog sich aber in wahrer christlicher Gesinnung au s dem Gebäude zurück, "geradeso", schrieb er, "wie ich meinen Mantel jemandem geben würde, der mich cku= gebeten hätte".6 man fand für die Übergangszeit ein Lokal, bis etwa 1843 ein einfaches, eigenes Gebäude fertiggestellt wurde.

wahrscheinlich kam Chapman über Pugsley in Verbindung mit Müller, möglicherweise schon 1832. Er wurde einer von Müllers ältesten und vertrautesten Freunden. Er war es, der Müller 1836 davon überzeugte, daß die Gläubigentaufe keine strikte Voraussetzung für die Gemeinschaft am Tisch des Herrn sein sollte. Auch muß be­reits früh ein Kontakt zu der Versammlung Plymouth bestanden haben, denn er schrieb später, daß "Männer mit viel Gnade, die sich in dieser Zeit im Süden von Devon beeiferten, ein gemeinsames Zeugnis bezüglich der vollen Wahrheit Gottes zustande zu bringen",7 seine Geduld bedauerten (um 1833), auf Einirdütigkeit zu warten, bevor auch Nichtbaptisten zum Brotbrechen zugelassen wurden.

(2) Die Arbeit in Barnstaple wuchs zu einem großen Werk in den Dörfern von ganz Nord‑Devon, nicht zuletzt durch die eifrige Evangeliumsverkündigung von Robert Gribble seit 1815. Dieser einfache Arbeiter hatte überall kleine Baptistenge­meinden gebildet, die stets mehr (ebenso wie Gribble selbst) den Grundsätzen zu­neigten, die in Barnstaple und Bristol praktiziert wurden.

 Auch andere Arbeiter traten in den Weinberg ein, wie William Bowden und George Beer; ersterer wurde bekehrt durch den Dienst von Chapman, der zweite durch den von Gribble. 1836 be­gleiteten diese jungen Männer Groves auf einer Missionsreise nach Indien. 

Die Arbeit, die Gribble auf dem Land verrichtete, war so fruchtbar, daß Darby sich darüber verwunderte, daß er selbst und andere, die in der Schrift geschult wa­ren, so wenig Frucht bei ihrer Evangeliumsverkündigung sahen, während Gribble, ein nicht studierter Handwerksmann, einfache Bemerkungen machte, wodurch Seelen gerettet und Versammlungen gebildet wurden.

 Dies zeigt, daß die Arbeit der "Brü­der" nicht (wie oft behauptet worden ist) nur in den Händen von Angesehenen und Akademikern lag und sich auf die großen Städte und mittleren und höheren Klassen beschränkte. Männer wie Gribble fanden ein riesiges Arbeitsfeld, gerade unter den Armen auf dem Land.

Eine der auffallendsten Erscheinungen in der frühen Geschichte derer, die im allgemeinen als "die Brüder" bezeichnet werden (obwohl sie sich selbst niemals einen Namen zulegen wollten, um keinen sektiererischen Boden zu betreten), war wohl die Tatsache, daß das Werk an so vielen verschiedenen Orten unabhängig voneinander begann. 

Freilich zogen viele Brüder umher, um überall die Wahrheit darzulegen, doch sie selbst wunderten sich darüber, wie sehr der Boden, in den sie säten, zuvor vcm Herrn zubereitet worden war. Nicht nur in England war dies der Fall, sondern auch in vielen Ländern auf dem europäischen Kontinent. Wir werden nun sehen, wie die Bewegung sich schnell in den Osten und Norden Englands und auch in andere Länder ausbreitete.

I. HEREFORD

(1) Es versteht sich von selbst, daß besonders die Brüder der schnellwachsenden Versammlung in Plymouth und auch die in Barnstaple in ganz Devon ein mächtiges

Zeugnis ablegten. Es entstanden Versammlungen in Exeter und in Müllers früherer Kirche in Teignmouth; an diesem Ort wohnte John V. Parnell, nachdem er von seiner Missionsreise in den Nahen Osten zurückgekehrt war, von 1837 bis 1842. In

Torquay war 1834 eine Versammlung gebildet worden, in der John Vivian eine führende Rolle spielte. Auch in der benachbarten Grafschaft Scmerset entstanden

Versammlungen. Bereits zu Anfang der dreißiger Jahre entdeckte Bellett bei einem Freund in Scmerset Interesse an der Wahrheit über die Versammlung: das war Sir Edward Denny, ein steinreicher irischer Baron, der einer der bekanntesten Liederdichter unter den Brüdern wurde. Ein ebenfalls bekannter Dichter wurde James G. Deck aus Suffolk. Dieser kam als Heeresoffizier in Indien zur Bekehrung und

wollte nach seiner Rückkehr Pfarrer werden; gerade zu der zeit jedoch, als er eingesehen hatte, daß die Staatskirche im Widerspruch zu Gottes Wort stand, brachte der Herr ihn in Berührung mit den Brüdern (etwa 1838). Er wurde zum großen Segen in Westengland, zuerst in Devon, dann in Scmerset und später in Dorset. In dieser Grafschaft entstanden völlig unabhängig verschiedene Versammlungen, die später in Kontakt mit den "Brüdern" kamen.

(2) Die Bewegung griff schnell um sich und erreichte zum Norden hin sogar schon bald die Stadt Hereford in der gleichnamigen Grafschaft in Westengland. Dort war der Boden zubereitet durch Pfarrer Henry Gipps, dessen Tochter später die Frau von William Kelly wurde, einem der begabtesten BrÜder späterer Zeit. Gipps starb 1832; sein Nachfolger wurde John Venn, ein treuer evangelischer Pfarrer, der seiner Gemeinde jedoch zu wenig Nahrung bot. 

1837 besuchte eine Dame aus seiner Gemeinde, die Frau des Chirurgen Dr. Griffith, einige Freunde in Plymouth und hörte dort Capt. Percy F. Hall predigen. Sie war so davon beeindruckt, daß Hall nach Hereford eingeladen wurde. Dort predigte er im Haus des Buchhändlers Willi­am Yapp, später ein bekannter Bruder. Die Verkündigung Halls schlug so ein, daß man ihn ersuchte, sich in Hereford niederzulassen. 

Das Haus Yapps wurde schon bald zu klein, so daß in seinem Garten ein Gebäude errichtet wurde, das 300 bis 400 Personen aufnehmen konnte und wo jeden Sonntag Brot gebrochen wurde. 1844 waren dort bereits 345 Geschwister in Gemeinschaftl Es traten nicht nur viele Gläubige aus den Kirchen aus, sondern durch eine sehr umfangreiche Evangelisa­tionsarbeit bis in die weitere Umgegend von Hereford kamen auch viele Menschen zur Bekehrung. 

Die junge Versammlung brachte viel Geld zusaimen, um schnelle Kutschen und Pferde für die Prediger anzuschaffen. Sonntags kamen viele von nah und fern zu Fuß zur Morgenversanmlung in Hereford und bekamen dort von Yapp und Dr. Griffith ein Mittagessen gereicht, wenn sie den ganzen Tag bleiben wollten. 

Doch bald entstanden auch selbstständige Zeugnisse rings um die Stadt. Tausende Traktate und Broschüren wurden dort verbreitet, nicht zuletzt auf Kosten von Dr. Griffith. In seinem Sprechzinuer hatte er Abbildungen der Stiftshütte, anhand deren er das Evangelium auslegte.

Etwa zehn führende Brüder kamen gewöhnlich freitags mrgens zusammen, um die Be­lange der Versaimdung zu besprechen. Ab 1840 war auch der Kapitän und Edelmann Willim H.G. Wellesley (33 Jahre) einer dieser Brüder. Dieser Neffe des berühm­ten Herzogs von Wellington wurde ein Mann mit Autorität unter den "Brüdern" in England. 

Da die führenden Brüder in Hereford genaue Aufzeichnungen ihrer Bespre­chungen anfertigten, haben wir ein schönes Bild von dem Leben dieses jungen Zeugnisses. Diese Brüder sprachen wöchentlich ab, wer predigen und wer am fol­genden Sonntag das Brot brechen sollte. 

Darüber hinaus besprachen sie Zuchtfäl­le, die sie dann der Versammlung vorlegten. Zucht wurde ausgeübt bei Konzertbe­such, Schlagen eines Ehegatten, Backen am Sonntag, Trinken, Spielen, Fluchen, Zanken, Pfänden und vielen ernsteren Fehltritten. Häufig wurde das Abhalten spe­zieller Zusammenkünfte abgesprochen wie zum Fasten und zum Gebet. 

Viel Aufmerk­samkeit wurde auch dem Hirtendienst geschenkt und dem Verwalten der Kassen. Letzteres war keine Kleinigkeit, denn die Versammlung unterhielt u.a. ein Wai­senhaus, eine Schule für die eigenen Kinder und einen eigenen Friedhof. Auch wurde viel Geld eingesammelt für den Bau von Versamulungslokalen an anderen or­ten.

Verschiedene bekannte Brüder wie C. Hargrove und J.M. Code besuchten die Ver­saumlung in Hereford in diesen ersten Jahren. Im Jahre 1838 und im November 1843 machte Darby dort einen Besuch. Ein sehr bekannter Bruder, der vier Jahre lang in Hereford wohnte (1839‑1843), war der bereits genannte Capt. Willian G. Rhind. 

Nach einer sehr abenteuerlichen Jugend bei der Marine war dieser Rhind ungefähr 1819 im Alter von 25 Jahren zur Bekehrung gekcnuen. In den zwanziger Jahren war er ein eifriger Evangelist im Hafen von Plymuth und ab 1828 ein aktiver vor­kämpfer des Protestantismus. 1832 wurde er jedoch von John Synge nach Irland eingeladen, wo er, wie wir gesehen haben, auch der zweiten Powerscourt‑Konferenz beiwohnte und so in Kontakt mit den "Brüdern" kam. 

Seine Bekanntschaft mit P.F. Hall führte später dazu, daß er sich in Hereford niederließ, wo er sehr aktiv war im Predigen des Evangeliums wie auch im Dienst in der Versammlung. 1843 sie­delte er mit seiner Familie nach Ross über; dort mietete er einen kleinen Raum, wo zehn Personen das Brot brachen.

 Diese Zahl erhöhte sich in einigen Jahren auf 130, mit dadurch, daß Rhind nach der Abendversamlung auf den Stufen des Hauses, wo die Brüder sich versammelten, unter den Menschen, die aus der Kirche kamen, Straßenpredigten hielt. Dieser große Evangelist, der so häufig über das Kcmmen des Herrn sprach und durch eine innige Gemeinschaft mit Ihm immer strahlte, war einer der geachtetsten und prcminentesten Brüder der Anfangszeit.

II. London (8)

01/20/2023
von Christ-und-Buch Günter Arhelger

II. LONDON

(1) Wir haben gesehen, daß schon zu Beginn der dreißiger Jahre, vor allem durch den Dienst von Bruder G.V. Wigram, in London ein Zeugnis entstand. 1833 muß es eine Versammlung in einem Privathaus in der Nähe des Regent Square gegeben ha­ben. Einige Jahre danach kam diese Versammlung in einem Raum in der Rawstorne Street, in Camden Town, zusammen. 1838 gab es bereits eine beachtliche Anzahl Versammlungen in London; zudem ereignete sich in diesem Jahr einiges in dieser Stadt, das von wesentlicher Bedeutung für die Geschichte der Versammlungen war.

Einmal war das der Beitritt von Bruder William H. Dorman (36 Jahre). Er war der kongregationalistische Prediger der Union Chapel (Einheitskapelle) in Islington (London), der aber ungefähr ab 1835 durch ernstes Studium des Wortes Gottes Gedanken entwickelt hatte, die er bei den "Brüdern" wiederfand. 1838 ließ er bei ihnen eine Broschüre drucken mit dem Titel "Grundsätze der Wahrheit über den gegenwärtigen Zustand der Kirche, oder vielmehr: Gründe für den Austritt aus der Unabhängigen oder Kongregationalistischen Körperschaft und aus der Islington Kapelle". 

Darin schrieb er an seine Gemeinde unter anderem: "Das Priesteramt der Gläubigen, die unschriftgemäße Unterscheidung zwischen Geistlichen und Laien, Freiheit des Dienstes, der einfache Grundsatz der Gemeinschaft der Heiligen, das Unschriftgemäße der Kirchenbankmieten, die Vielfalt von Ältesten sind keine neuen Lehrsätze in der Islington Kapelle; und viele von euch können mit mir bezeugen, welche Versuche ich unterncnmn habe, um die Dinge unter euch nach dieser Ordnung zu verwirklichen. "

Bei allen diesen Versuchen war jedoch nichts herausgekommen, und mehrere Male war er mit dem Kirchenvorstand zusaiwengestoßen. Alles äußerliche Beiwerk in der Kirche ärgerte ihn immer mehr, und vor allem die grobe und erniedrigende Art, in der die Armen von den Reichen getrennt wurden, war ihm ein Greuel. Als er einmal in einer kongregationalistischen Kapelle in Bristol predigte, lehnte er es ab, den Talar zu tragen und die Kanzel zu betreten, und sprach feurig Über 1. Korinther 2,14. Die Folge war ein bestürzter Brief von Bristol nach Islington, so daß man Donran bei seiner Rückkehr die Kanzel verbot. Daraufhin legte er sein Predigtamt nieder und schloß sich den "Brüdern" an. 

Diese Tatsache war um so bemerkenswerter, als er der einzige nonkonformistische9 Prediger von einiger Bedeutung war, der diesen Schritt tat. Er war ein großer Gewinn für die jungen Versammlungen in London. Später arbeitete er in Reading, wo er das Mittel wurde, durch das der bekannte Bruder C.E. Stuart die Staatskirche verließ und sich den "Brüdern" anschloß. Viele Jahre war Dorman eng mit Darby verbunden, bis 1866 ein unglücklicher Streit dem ein Ende machte, wie wir sehen werden.

(2) In demselben Jahr (1838) fand ein zweites bedeutsames Ereignis statt, nämlich die Bildung eines Zeugnisses in Tottenham (Nord‑London) durch die Arbeit von John E. Howard (31 Jahre) und seinem Bruder Robert. Beide waren Teilhaber der chemischen Fabrik Howard & Söhne, zusammen mit ihrem Vater Luke, dem namhaften Meteorologen. 1835 hatte John, auferzogen unter den Quäkern, Frieden mit Gott gefunden; im folgenden Jahr wurden er und seine Frau getauft; er brach die Verbindung zu den Quäkern ab und begann, überall das Evangelium zu verkündigen. 1838 wurde in einem kleinen Raum mit dem Brotbrechen begonnen, und in darauffolgenden Jahr baute John ein Wkal in der Brook Street; auch sein Vater schloß sich ihnen dort an. 1842 waren bereits 88 in Gemeinschaft. In späterer Zeit gehörte auch i. Hudson Taylor, kurz bevor er nach China abreiste, zu dieser Versamlung.

John E. Howard wurde ein eifriger und allenthalben bekannter Evangelist. Vor allem zu Beginn schrieb er viel gegen die Quäker. Begabt, wie er war.. wurde er außerdem bekannt durch naturwissenschaftliche Leistungen, vor allem durch Arbeiten über das Chinin. Er wurde Mitglied der berühmten Royal Society wie auch der Linnaean Society; doch was noch wichtiger war: er arbeitete aktiv gegen allerlei naturwissenschaftliche Philosophien seiner Zeit und gab u.a. eine Serie von Vorträgen heraus über "Schrift und Wissenschaft", worin er zeigte, daß es keinen Konflikt zwischen der Natur und der Bibel gibt und geben kann.

(3) Ein drittes Ereignis im Jahre 1838 übertraf die vorigen noch an Bedeutung. In diesem Jahr schrieb Bruder Wigram einen Brief an Darby, in dem er die Frage stellte: "Wie sollten Zusanwenkünfte zur Gemeinschaft der Heiligen in dieser Gegend geregelt werden? Wäre es zur Ehre des Herr, und zur Förderung des Zeugnisses, eine zentrale Zusaramnkunft zu haben, in der die gemeinschaftliche Verantwortung aller, die in der betreffenden Gegend wohnen, zum Ausdruck kommt, und soviele Versammlungen den dort getroffenen Entscheidungen zu unterwerfen, wie es die Gnade erlaubt ‑ oder ist es als besser zu betrachten, die Versamlungen frei aufwachsen zu lassen ohne gegenseitige Bindung und lediglich abhängig von der Energie einzelner Personen?

Das war in der Tat eine wichtige Frage, die auch mehrere Male eine entscheidende Rolle in der Geschichte der "Brüder" spielen sollte. Sollten die Versanmlungen völlig unabhängig voneinander wachsen und handeln, und wenn nicht, wie weit durfte die gegenseitige Abhängigkeit gehen? Dabei war die Situation in London ein besonderer Fall, weil vieles dafür sprach, London als einen Ort anzusehen, so daß dann dort, entsprechend der Schrift, lediglich von einer Versanndung gesprochen werden konnte. 

Deshalb sollten die Versammlungen in London gegenseitig eine besondere Verbindung pflegen, die dann auch ab 1838 durch eine zentrale "Samßtagszusanmnkunft" ausgedrückt wurde. Darby schrieb über diese wöchentliche Zusammenkunft, daß sie "aus Brüdern von verschiedenen Versannlungen besteht, deren Mitteilungen zur gegenseitigen Auferbauung ‑ falls kein weiterer Dienst vorhanden ist ‑ dazu beitragen, die Einheit des Handelns in den Versamlungen (die zahlreich sind) in und um London herum aufrecht zu erhalten. Während dieser Zusammnkunft können Zuchtfälle genannt werden und ebenso Personen, die in Gemeinschaft aufgenommn werden möchten, damit sie bekannt sind; und die Brüder können sich in allen aufkommenden Fragen besprechen. "' 1

Unter den Versamlungen in London nahm die in Rawstorne Street eine führende Stellung ein. Ihr Einfluß wurde noch vergrößert, als John V. Parnell 1842 aus Teignmouth nach Islington übersiedelte, um die Nachfolge seines verstorbenen Vaters als Lord Congleton anzutreten. Als Darby im August 1843 London besuchte, freute er sich (wie er in einem Brief schreibt), über das Wachstum der Brüder und ihre geistliche Gesinnung (es fiel ihm auf, daß die Brüder viel über Gott und wenig über den Menschen sprachen). Diese Gesinnung zeigte sich u.a. in der Tatsache, daß sonntags viele junge Brüder aus allen Teilen Londons um 7 Uhr morgens zu einer Gebetsstunde zusammenkamen. Bruder Wigram sorgte für ein Frühstück, so daß sie zum Gottesdienst um halb elf bleiben konnten.

III. STAFFORD

In Stafford (Mittelengland) entstand bereits früh eine Versamlung, die ein bedeutendes Zentrum inmitten der "Brüder" werden sollte, über deren Beginn wir jedoch leider wenig wissen. Ungefähr von 1829 an war William H. Dolman unabhängiger Pfarrer in der Zion‑Kapelle in Stafford gewesen, bevor er 1835 nach Isling

11 J.N. Darby, Collected Writings Bd. 20 (Stow Hill Ausg.), S. 82.

ton übersiedelte. 1838, während er eben dabei war, sich von dem kirchlichen Sy­stem zu lösen, besuchte er seinen alten Wohnort, weil er gehört hatte, daß viele Gläubige dort ausgetreten waren. Tatsächlich hatte sich dort eine neue Gemein­schaft gebildet, und zwar um die Person von Alexander Stewart. Dieser war von 1834 an presbyterianischer Pfarrer in Stafford gewesen und hatte in dem (soge­nannten) Alten Staffordechen Versammlungslokal eine große Gemeinde gebildet. mit unter dem Einfluß Dormans gab Stewart sein Amt auf, und man begann, sich nach den Grundsätzen zu versammeln, zu denen die "Brüder" sich bekannten. Ende Januar 1839 machte Darby dort einen Besuch. 1840 bauten die Brüder mit Hilfe Herefords ein eigenes Lokal.

IV. NORD ‑ ENGLAND

(1) B.W. Newton aus Plymuth entstantnte einer Familie, die über allerlei Linien verwandt war mit einem weitverzweigten Netz von Quäker‑Familien. In den dreißi­ger Jahren hatte sich unter diesen Familien eine kräftige evangelische Strömung entwickelt, besonders durch eine Schrift von einem Verwandten Newtons, Isaac Cre,wdson in Kendal (Westmoreland). Daraus entstand ein Streit unter den Quäkern, zu dem auch Newton selbst durch ein Pamphlet beitrug, und auch die Howards von Tottenham spielten darin ein wesentliche Rolle. Die Folge war, daß sich in Nord­england viele Quäker den "BrüderC anschlossen. Im Lauf der dreißiger Jahre ent­stand in Kendal ein kräftiges Zeugnis um die Crewdsons und den Bankier Wake­field, und auch in Liverpool, Manchester und Hawkshead entstanden Versammlungen. Wakefield wurde später einer der Verwalter der Waisenhäuser Müllers, und Küller selbst machte viele Besuche in den Versammlungen des Nordens. Seine eigene Toch­ter wurde später die Frau von James Wright, dem Sohn eines anderen ehemaligen Quäkers und späteren Mitdirektors der Waisenhäuser.

Die Crewdsons hatten ihrerseits wieder Beziehungen zu den anglikanischen Penne­fathers von Dublin, zu denen Darbys Schwager gehörte und durch den er mit dem umfangreichen Werk im Norden in Berührung kam. In den späten dreißiger Jahren schrieb er über eine große Zunahme der Brüder im Norden, in Cumberland und sogar in Edinburgh. Ende 1843 besuchte er Kendal, wo er ein großes Arbeitsfeld vor­fand. Auch in Birmingham war ungefähr um diese Zeit eine Versammlung entstanden, und zwar durch eine andere Quäker‑Familie, die Lloyds, verwandt sowohl mit Newton als auch mit den Howards. In dieser Stadt arbeitete Peter G. Anderson, ein schottischer Bauernsohn, der sich als Lehrer in Birmingham niederließ und dort eine kraftvolle Verkündigung begann. Dieser große Freund von Bruder Chapman in Barnstaple wurde ein geachteter Führer unter den "Brüdern", vor allem durch seinen seelsorgerischen und auferbauenden Dienst.

(2) In Yorkshire fanden ähnliche, kraftvolle Entwicklungen statt. Zu Beginn der vierziger Jahre entstand in Hull ein Zeugnis mittels eines der merkwürdigsten unter den alten "Brüdern", nämlich Andrew Jukes. Dieser hatte seine Laufbahn als Soldat begonnen und war in einem Krankenhaus in Indien zur Bekehrung gekcmmen. 1840 gewann er in Cambridge einen Preis mit einem Aufsatz über 'Tie Grundsätze der prophetischen Deutung". Er wollte Pfarrer in der Staatskirche werden und wurde 1842 als "Deacon" in Hull eingesetzt. Er wurde jedoch niemals zum Priester ordiniert, u.a. wegen Streitfragen über die Kindertaufe. Nachdem er aus seinem Amt entlassen war, ließ er sich von einem Baptistenprediger taufen und fing an, überall unter freiem Himmel zu predigen. Mit seinen Jungbekehrten begann er, Zu­sammenkünfte zur Auferbauung und zum Brotbrechen abzuhalten, die jedoch anfäng­lich ziemlich von überheblichen Leuten behindert wurden, die gebotene Freiheit mißbrauchten. 

Einer der bemerkenswerten Züge Jukes' war seine Einsicht in die Typologie der Bibel. Seine Bücher über Das Gesetz der Opfer und Vorbilder in 1. Mose hatten in der Anfangszeit großen Einfluß unter den "Brüdern" und regten sie an, die Vorbilder der Schrift gründlich zu untersuchen. Jukes selbst war jedoch ein Individualist, der einen eigenen Weg ging und sich immer mehr in mystischen Betrachtungen verlor. 1866 baute er eine kreuzförmige Kapelle in Hull, die er die Kirche von St. Johannes dem Evangelisten nannte und wo er wieder allerlei Elemente des anglikanischen Gottesdienstes einführte. Kurz danach schrieb er ein Buch, in dem er sich als Anhänger der Allersöhnungslehre entpuppte, wodurch er sich von den ("offenen") Brüdern trennen mußte und in die Staatskirche zurück­kehrte (1869). Seine eigenen früheren typologischen Studien betrachtete er nun als unreife Erzeugnisse.

(3) Ein anderer Bruder der ersten Stunde in Yorkshire war William Trotter. Die­ser wurde 1818 geboren und fand schon mit 12 Jahren Frieden mit Gott durch den Dienst eines Methodistenpredigers. Als er 14 Jahre alt war, begann er bereits zu predigen, und mit 19 Jahren wurde er als Pastor der Neuen Methodistischen Ge­meinschaft bestätigt. Er arbeitete mit viel Segen, begann sich aber schon bald an allerlei falschen Zuständen in der Kirchengemeinde zu stoßen. Der Riß zwi­schen Geistlichen und Laien wurde immer tiefer, und man drängte zu stark darauf, sich Glaubensbekenntnissen zu unterwerfen. 

Trotter wirkte vor allem der Sucht nach Reichtum und Wohlfahrtseinrichtungen (auch denen fÜr Pastörel) entgegen und befürwortete ein persönliches Verantwortungsbewußtsein im Blick auf das, was der Herr uns anvertraut, um es für die Familie, für die Gläubigen und für alle Be­dürftigen zu verwenden. Als die MethodistenfÜhrer ihn zu einer unscheinbaren Ka­pelle in London versetzten wollten, legte der junge Pastor in Bradford sein Amt nieder. Schon bald darauf (Anfang der vierziger Jahre) sehen wie ihn aktiv an der Arbeit in der Versammlung im benachbarten Halifax. Er wurde einer der treue­sten Freunde Darbys bis zu seinem frühen Tod im Jahre 1865 und wurde von Freund und Feind als einer der liebenswürdigsten und ehrwürdigsten aller "Brüder" be­trachteti Er ist hauptsächlich bekanntgeworden durch seine prächtigen Bücher über die Prophetie und durch seine berühmte Broschüre über die Bethesda‑Frage (siehe Kapitel 4). Mit dem späteren Dr. Thcmas Neatby, ebenfalls aus Yorkshire, war er einer der wenigen Methodisten, die Führer unter den "Brüdern» wurden.

V. BRITISCH ‑ GUAYANA

(1) Bis hierher haben wir uns auf die britischen Inseln beschränkt; das soll je­doch nicht heißen, daß der Herr nicht gleichzeitig an zahllosen anderen Orten durch Seinen Geist in den Gläubigen wirkte. Gerade das ist wohl einer der auf­fallendsten Beweise, daß der Herr Selbst diese Bewegung in Gang gebracht hat, daß Er überall auf der Erde dieselben Wahrheiten zu ungefähr derselben Zeit vielen Herzen entfaltete. Eine dieser frühesten Entwicklungen fand in Britisch­Guayana statt, und zwar durch den Dienst von Bruder Leonard Strong. 

Dieser Pfar­rerssohn, 1797 in Herefordshire geboren, war mit zwölf Jahren zur Marine gegan­gen, wo er als Seekadett in den französischen und amerikanischen Kriegen diente. Als er einmal in Westindien war, schlug das Boot, mit dem er an Land ging, durch einen Windstoß um, so daß er beinahe ertrunken wäre. Dadurch wurde er an seine Sünden erinnert und rief zu Gott um Gnade. So kam er zur Bekehrung. Er verließ dann die Marine und ging 1823 nach Oxford, weil er Missionar werden wollte. Nach kurzer Zeit wurde er in der Staatskirche als Hilfspastor in Ross‑on‑Wye bestä­tigt. Weil er sich aber nach Westindien zurücksehnte, ging er 1826 nach Britisch­Guayana und wurde dort Pfarrer in St. Matthew's (Demerara) . 

Er predigte dort mit viel Segen, vor allem unter den armen Negersklaven. Dadurch zog er sich die Wut der Pf lanzer zu; sie drohten ihn zu erschießen. Enttäuscht mußte er weggehen und arbeitete anschließend in Peter's Hall und Georgetown. Inzwischen hatte er durch eifriges persönliches Untersuchen des Wortes Gottes ernsthaft zu zweifeln begon­nen, ob die englische Kirche wohl auf schriftgemäßem Boden stehe. Die Bibel lehrte ihn allerlei Wahrheiten über den Gottesdienst und den Dienst am Wort, die völlig in Widerspruch standen zu seiner Stellung als Pfarrer. 

Deshalb gab er 1827 sein Amt auf (wodurch er zugleich sein Jahreseinkcmmen von 800 Pfund preis­gabl) und begann mit den Jungbekehrten und Gläubigen einfältig zum Gottesdienst zusammenzukommen. Während der ersten Zusammenkunft, die in einem großen Schuppen gehalten wurde, der zum Kaffeetrocknen diente, waren ungefähr 2000 Personen an­wesendl In Georgetown wurde ebenfalls ein Zeugnis gebildet; und dann bedenke man, daß an diesen Orten in dieser Weise bereits öffentlich Brot gebrochen wur de, bevor das in Dublin oder Plymuth geschahl

(2) Als die Nachricht über diese Versammlung Europa erreichte, löste sie viel Interesse und Unterstützung für sie aus. Verschiedene zogen nach Britisch­Guayana, um zu helfen, das Zeugnis dort aufzubauen. Unter ihnen waren Johannes Meyer und seine Frau, ein Missionarsehepaar aus der Schweiz. Sie kamen 1840 dort an und arbeiteten drei Jahre an den Ufern des Demerara‑Flusses und längs der Ostküste des Landes. Ende 1843 verzog Meyer an die Essequibo‑Küste, um dort auf die Suche nach Indianerstämtneen zu gehen. Tief im Innern des Landes ließ er sich mit seiner Frau und seinen Kindern unter den Indianern in Kum3ka nieder, mitten im Urwald, wo er ihre Sprache auf zeichnete, Lieder dichtete und Teile der Bibel übersetzte, die er mit einer Handpresse druckte. Mit der größten Hingabe und Selbstaufopferung unternahm er lebensgefährliche Reisen in den Dschungel.

Vor allem George Müller in Bristol unterstützte das Werk von Strong und Meyer, indem er über seine Anstalt für Schriftkenntnis Gaben sandte. Das bedeutete eine besondere Anerkennung dieses Werkes, denn güller unterstützte nur Missionare, von denen er überzeugt war, daß die nach schriftgemäßen Grundsätzen arbeiteten. 1843 ging Strong nach Bristol auf Urlaub und kehrte im August von dort zurück, begleitet von den Eheleuten Barrington. 1844 folgte Bruder Mordal, der eine Säu­le der Versammlung in Bristol war, mit seiner großen Familie nach Britisch­ Guayana, wo er jedoch drei Monate nach seiner Ankunft am Fieber starb. Auch Mey­er fiel dem Fieber 1847 zum Opfer, aber sein Werk wurde von anderen fortgesetzt. Strong kehrte kurz danach endgültig nach England zurück und arbeitete in Torquay in Wort und Schrift.

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