Jordy Gerhard Die Brüderbewegung in Deutschland 1, 16.Jhdt bis 1899,

05/12/2023
von Christ-und-Buch Günter Arhelger

EINLEITUNG Wie die meisten evangelischen Erweckungs- oder Gemeinschaftsbewegungen ist auch die Brüderbewegung eingebettet in den großen Strom der reformatorischen Entwicklung, der im 16. Jahrhundert aufgebrochen und in seinen vielen Verästelungen bis heute nicht zum Abschluß gekommen ist. Schon in der Reformation Luthers, Zwinglis und Calvins zeigt sich der Grundsatz alles reformatorischen Denkens und Lebens, indem hier »das Verhältnis des einzelnen zur Kirche Christi abhängig« ist »von seinem Verhältnis zu Christo«, wie es der evangelische Theologe Schleiermacher um 1800 einmal formuliert hat. 

Die Rechtfertigung des Sünders vor Gott versteht sich hier allein aus dem Glauben an das einmalige Opfer Jesu Christi, des Sohnes Gottes, und dieser Glaube hat nichts anderes zur Grundlage als die Autorität der Bibel, und von diesem Glaubensverhältnis zum lebendigen Christus wird nun auch das Verhältnis zur sichtbaren Gemeinde Christi gesteuert. 

Zu diesem Punkt wird jede reformatorische Bewegung wieder zurückkehren oder hier neu ansetzen, wenn im protestantischen Raum institutionelle Erstarrungen - oft genug hervorgegangen aus der unheiligen Allianz von Thron und Altar - das Verhältnis des einzelnen Christen zur Kirche, meist einer Staatskirche, zum Selbstzweck werden lassen. Gegen die territorial oder traditionell gebundenen Kirchen mit ihren an staatlichen und gesellschaftlichen Interessen orientierten Tendenzen werden sich immer wieder Christen zu Freikirchen oder Gemeinschaftsbewegungen zusammenschließen, wobei allerdings nur die vorbehaltlose Beschränkung auf die Autorität der Bibel diese Bewegungen vor Sektenbildung bewahren kann.

 Die Aufsplitterung dieser protestantischen Bewegungen in viele Gruppen, oft bis zur Selbstauflösung getrieben, ist - menschlich gesprochen - eine natürliche Folge des individualistischen Prinzips, das der Reformation von Anfang an innewohnt, ist aber zugleich auch der Nährboden für immer neue Erweckungen. Auch die Brüderbewegung wird dabei keine Ausnahme machen.

I. Die Anfänge in England und Irland
1. Puritanismus - Methodismus - Erweckungs-bewegung
Puritanismus (17. Jhdt.)
Schon bei den Puritanern in England, dem Mutterland der Brüderbewegung, finden wir 200 Jahre vor deren Beginn auf der einen Seite,. den Aufstand gegen eine Institution, die als Anglikanische Kirche die Lösung von Rom zumeist nur aus staatlichen und dynastischen Interessen vollzogen und keine wirkliche innere Wende erfahren hatte, zum anderen aber auch die Zersplitterung in viele Gruppen. 

Hier finden wir schon den Vorwurf, daß die Anglikanische Kirche nicht den Maßstäben der Bibel entspreche, und auch den Anspruch, die Bibel zur Norm des gesamten Lebens werden zu lassen. Mag auch die Meinung der Puritaner zur Cromwell-Zeit, das Reich Gottes lasse sich im irdischen Dasein verwirklichen, ein Irrweg gewesen sein, dennoch wurde der Puritanismus (purus = rein) zum Herzstück der englischen Reformation: die Erweckung zur Bibel, zum Gebet, zum Handeln aus dem Glauben; der Wille, im täglichen Leben die Führungen Gottes zu-suchen; die Naherwartung des wiederkommenden Herrn waren Grundsätze, die über die puritanischen Kreise hinaus die englische und auch die amerikanische Lebensart durchdrungen haben.
In dem eindrucksvollsten Buch jener Epoche, in dem Werk des baptistischen Kesselflickers John Bunyan (1628-1688), »Des Pilgers Reise aus dieser Welt in die kommende«, finden wir schon die drei Hauptmotive, die immer wieder - wenn auch mit unterschiedlichen Schwerpunkten - die Hauptanliegen aller freikirchlichen Bewegungen sein sollten:
1. Gewissenserweckung in der Buße vor Gott,
2. Gnadenerfahrung durch das Heil in Christus,
3. Glaubenskampf in der Gemeinschaft der Heiligen bis zum. Ziel.
Auch das Prinzip der Selbständigkeit der Einzelgemeinde können wir schon im Puritanismus beobachten, die völlige Unabhängigkeit von weltlicher Obrigkeit, vom Bischofsamt oder von einer Synode. Die Ablehnung jedes geistlichen Amtes in der Gemeinde ist damit eng

verbunden. Independentismus, d. h. Unabhängigkeit (von jeder staatlichen und kirchlichen Obrigkeit), und Kongregationalismus (Congre gation = Versammlung) d h Priestertum aller Gläubigen in den Zu sanunenkünften, waren also Wesensformen puritanischer Gemeindeversammlungen.
Die aus dem Calvinismus hervorgehenden schottischen Presbyterianer mochten nicht ganz so weit gehen, die. grundsätzliche Gleichberechtigung aller Glieder der Gemeinde stand auch bei ihnen obenan und selbst die Wahl der Altesten (= Presbyter) kann nicht darüber hinwegtäuschen, daß der Älteste von der Aufgabe, von der Funktion her, nicht vom Amt her bestimmt war.
Wenn die Baptisten durch die uneingeschränkte Praktizierung der Glaubenstaufe hervorragten, so pflegten die Quäker, die sich selbst »Gesellschaft der Freunde« nannten, in ihren Versammlungen ganz besonders nach dem Grundsatz der Geistesleitung zu verfahren, indem sie so lange warteten, bis einer von ihnen vom Geist geführt wurde, das Wort an die Gemeinde zu richten, mochte ihnen auch das sichtbare Ergriflenwerden durch den Heiligen Geist den Spottnamen »Quäker (= Zitterer)« eintragen. Später wird gerade in der Brüderbewegung dieses Prinzip, die Versammlung der uneingeschränkten Leitung durch den Geist Gottes zu unterstellen eine nicht unwesentliche Rolle spielen.

Ob nun Kongregationalisten, Presbyterianer, Baptisten oder Quäker, dem anglikanischen Staatskirchentum gegenüber waren sie alle Nonkonformisten, d. h. Nichtangepaßte. Geprägt waren sie alle von einer starken Endzeiterwartung, und . wichtig war in jedem Fall die Verantwortung jedes einzelnen Gemeindegliedes, und beides löste immer wieder neue dynamische Bewegungen aus. Der puritanische Einfluß hat die USA zum klassischen Land der Kongregationalisten gemacht, und als im Zeitalter der Aufklärung der Schwung des englischen Puritanismus erlahmte sollte der Geist Gottes aus dem glimmenden Feuer eine neue helle Flamme entfachen.

Methodismus (18. Jhdt.)
So hat der Methodismus um die Mitte des 18. Jahrhunderts als eine gewaltige Erweckungsbewegung die Massen erfaßt. Ihr Gründer, John Wesley (1703-1791), weist bezeichnende Parallelen zum 100 Jahre jüngeren J. N. Darby auf.

Als Geistlicher der englischen Hochkirche, selbst aus einer alten anglikanischen Pfarrerfamihe stammend rang er lange um ein Leben in strengster Heiligung bis er 1738 durch die Begegnung mit Herrn hutern das Erlebnis der Heilsgewißheit erfuhr. Damit wurde er dann zu dem Volksmissionar, der gerade die einfachen Menschen in großer Zahl aus Sunde und Gottesferne herausfuhren konnte woraus ihnen die in Rationalismus und Verweltlichung erstarrte Staatskirche nicht herauszuhelfen vermochte Bußkampf und Gnadendurchbruch hin zur völligen Heilsgewißheit und das rechte Verhältnis zwischen Rechtfertigung und Heiligung waren die zentralen Themen seiner Verkündigung. Später werden Darby wie Carl Brockhaus gerade an diesen Fragen in ihrer Entwicklung einsetzen.

Wesley verstand sich zunächst nicht als der Gründer einer Bewegung außerhalb der Staatskirche, der Methodismus wurde aber schließlich durch die Eifersucht der Anglikaner hinausgedrängt, wie es andererseits auch schwer ist, Glaubensbewegungen von erweck-licher Dynamik innerhalb der Zäune einer Traditionskirche zu halten. Die Brüderbewegung des ‚19. Jahrhunderts sollte diese Erfahrung ebenfalls machen.
Der Methodismus aber drängte zum in puritanischer Gesetzlichkeit erstarrten Amerika hinüber, das mit ihm zum beispielhaften Land der periodisch wiederkehrenden Erweckungsbewegungen und Mas senevangelisationen wurde.

Erweckungsbewegung (19. jhdt.)
In den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts setzte in England und Irland eine neue Welle erwecklicher Bewegungen ein, in deren Zug sich viele Christen von der in liturgischem Pomp hohlem Dogma und Amterhierarchie erstarrten anglikanischen Hochkirche ab und der Gemeinschaft Gleichgesinnter unter dem Wort Gottes zuwandten Es waren vornehmlich Adlige und Gebildete des Bürgertums, .die mit der offiziellen Stäatskirche und deren katholisierenden Tendenzen, aber auch mit dem Separatismus der Freikirchen unzufrieden waren und nach geistgeprägter Gemeinschaft sowie nach der wahren Einheit der Kirche suchten. 

Darüber hinaus waren gemeinsames Gebet, intensives Bibelstudium und die Erörterung noch unerfüllter Prophetie Anliegen jener Zirkel, »sobieties« genannt, wie diese Gruppen überhaupt wieder von einer starken Endzeiterwartung bestimmt waren
Dabei suchte man durchaus nicht neue Gemeinden zu bilden, sondern blieb zunächst in den Kirchen, denen man ursprünglich angehörte, trachtete aber nach der geistlichen Einheit mit anderen ernsten Christen und nach einer Betätigung des Glaubens auch außerhalb der einengenden Kirchenzäune Die Amtshandlungen wie Taufe und Begräbnis überließ man getrost den offiziellen Kirchen Ganz gewiß nahmen diese Einstellung und das daraus folgende Verhalten Gedankengut und Ziele der dann 1846 in London gegründeten Evangelischen Allianz vorweg, und sicherlich haben sie zu deren Verwirklichung beigetragen.

Uns heute mag nach 130 Jahren praktizierter Allianz das Tun jener Menschen als nicht besonders beachtlich erscheinen, wir sollten uns aber darüber mi klaren sein, daß die Freiheit die wir heute m kirchlichen Angelegenheiten gewohnt sind zur damaligen Zeit in keiner, Weise gegeben war. Selbst in privaten Kreisen galt es als unstatthaft, über Lied, Gebet und Bibellese hinaus auch noch das Wort Gottes auszulegen - dies sollte eben nur ordinierten Geistlichen vorbehalten bleiben - von der Austeilung des Abendmahls ganz zu schweigen. 

Insofern beruhte das Vorlesen aus Andachtsbüchern, wie es z B der junge Georg Müller 1825 in Halle erlebte,' nicht etwa auf der rhetorischen Unfähigkeit der, Mitglieder eines solchen Kreises, sondern auf den Vorstellungen einer Zeit, in der - wie in Deutschland - die Laienpredigt vom Staat noch bestraft werden konnte. Gewiß waren die Verhältnisse in England etwas freiheitlicher als im polizeistaatlichen Preußen, aber die religiösen Ansichten der vom Staats-kirchentum maßgeblich beeinflußten Gesellschaft übten auch hier einen gewissen Druck aus.
Um so mehr muß man das mutige Verhalten jener Männer und Frauen bewundern, die sich nicht scheuten sich die Mißachtung der Gesellschaft und die Feindschaft der Staatskirche zuzuziehen, wenn sie sich in kleinen Hauskreisen zu Wortbetrachtungen und Gebet versammelten.
Dublin (.4. N. Groves)

Ein solcher Kreis von gläubigen Männern in Dublin, der Hauptstadt Irlands das damals noch unter britischer Herrschaft stand sollte zur Urzelle der Bruderbewegung werden obwohl sich wenig später auch Bristol Plymouth u a Orte Englands zu Zentren dieser Bewegung herausbildeten. Dublin hat aber unbedingt einen gewissen zeitlichen Vorsprung für siclt
Hier war es der Zahnarzt und Theologe Anthony Norris Groves
(1795-1853), der als erster die oft noch recht unklaren Zielsetzungen
jener Kreise konsequent zu Ende dachte und zu dem Ergebnis kam, »daß Gläubige, die sich als Junger Christi versammeln frei seien das Brot miteinander zu brechen, wie ihr Herr sie ermahnt habe; und daß, soweit die Handlungsweise der Apostel ein Wegweiser sein könnte, sie jeden Tag des Herrn dafür benutzen sollten, sich des Todes des Herrn zu erinnern und seinem letzten Befehl zu gehordien.«2
Dies war für einen Anglikaner und »strengen Kircheninann«,3 wie es Groves ursprünglich war, ein kühner Gedanke in einer Zeit, m der, wie schon oben bemerkt die Anmaßung kirchlicher Amtstätigkeiten fast einem Eingriff in staatliche Hoheitsakte gleichgeachtet wurde; er ist., aber zu verstehen aus dem Gehorsam, mit dem jene Leute damals bereit waren, der Bibel zu folgen. Immerhin war ein solches Vorgehen im England der Independenten und Kongregationalisten nicht ganz so ungewöhnlich wie im noch viel mehr staatskirchlich geprägten Deutschland. In der Konsequenz von Bibelstudium, Erkenntnis und Handeln ist- Groves aber so typisch für die Menschen jener Erwek-kungszeit daß auf ihn als den gewissermaßen geistigen Vater der Bruderbewegung naher eingegangen werden soll.

Schon jung mit einer erfolgreichen Zahnarztpraxis in Exeter (Südwestengland) ausgestattet und glücklich verheiratet war Groves andererseits von dem Gedanken beseelt, mit allen Kräften Gott als Missionar zu dienen ein Vorhaben dem sich allerdings zunächst seine Frau entgegenstellte. Nachdem Groves eine Zeitlang die Bibel unter Ausschluß jeder anderen Lektüre gelesen hatte, kam das Ehepaar überein, sein Leben in materieller Umsicht um Jesu willen zu andern Zuerst gab es ein Zehntel seiner Einkunfte zur Linderung
der Not im aufbrechenden industriellen Zeitalter, dann gab es ein Viertel den Armen und schließlich das gesamte Einkommen, soweit es nicht für die eigenen unmittelbaren Bedürfnisse benötigt wurde. In einer Schrift legte Groves 1825 die Summe seiner biblischen Erkenntnisse dar:
»Das christliche Motto sollte sein: Arbeite hart, verbrauche wenig, gib viel, und alles für Christus 1.4
Und er war ein Mann, der nicht nur darüber sprach, sondern auch danach handelte. Hier zeigt sich ein Wesenszug jener Menschen der Er-weckungsbewegung: sie setzten das, was sie durch eifriges Studium der heiligen Schrift erkannt hatten, unbedingt in die Tat um. Genauso handelte dann Groves im Blick auf die zweite Frage, die ihm am Herzen lag, die Frage nach der Einheit der Gläubigen in Christus.
Als das Ehepaar sich zu dem gemeinsamen Entschluß durchgerungen hatte, den Ruf in die Mission nach Bagdad anzunehmen (1825), begann Groves in Dublin mit dem Theologiestudium, um sich von der Kirchlichen Missionsgesellschaft (Church Missionary Society) für den Missionsdienst als Geistlicher ordinieren lassen zu können. Er blieb aber in Exeter wohnen, ließ die Praxis durch einen Verwandten weiterführen, nahm bei einem Privatlehrer, Henry Craik, einem jungen schottischen Theologen, Unterricht und fuhr nur zu den vierteljährlichen Prüfungen nach Dublin.
Hier aber kam er in einen Kreis um den Rechtsanwalt John G. Bellett, in dessen Haus man sich privat zu Gebet und Austausch über die Bibel traf. Hier lernte er auch einen jungen anglikanischen Hilfsgeistlichen kennen, John Nelson Darby. In diesem Kreis stellte Groves die ihn überraschende Ähnlichkeit zwischen der hier praktizierten und der im Neuen Testament bezeugten Gemeinschaft unter Christen fest. Und konsequent machte er im Frühjahr 1827 den oben genannten revolutionären Vorschlag, die erworbene Einsicht in die Tat umzusetzen und gemeinsam das Abendmahl zu feiern. Dem vermochten allerdings die Freunde angesichts ihrer anglikanischen Bindungen noch nicht zu folgen. Aber 18 Monate später, Ende 1828 - Groves hatte inzwischen die Freiheit gewonnen, ohne kirchliche Ordination aufs Missionsfeld zu gehen -, sollte er kurz vor seiner Abreise nach Bagdad seinen Vorschlag wiederholen und noch erweitern, nämlich:
-Dies ist ohne Zweifel Gottes Wille mit uns, daß wir als Juziger in aller Einfachheit zusammenkommen und weder auf eine Kanzel- noch auf
einen Pfarrer Wert legen sollten, sondern darauf vertrauen, daß der Herr uns auferbauen will, indem er uns aus unserer Mitte zu unserem Nutzen dient, wie er es für gut erachtet..
Und diesmal bezeugte Bellett:
»Als er diese Wort sprach, war ich gewiß: meine Seele hatte die rechte Einsicht erlangt, und dieser Augenblick - ich erinnere mich an Ihn, als sei es erst gestern gewesen, ja, ich könnte genau die Stelle zeigen - bedeutete die Geburt meines Geistes..5
So hoffte man, zur Ursprünglichkeit der urchristlichen Kirche zurückkehren zu können, indem man die Auslegung der Bibel und die Austeilung des Abendmahls nicht mehr von der Person eines ordinierten Theologen abhängig machte, sondern allein von der Freiheit des Geistes Gottes.
Aber es sollte dann noch ein Jahr dauern, ehe sich Bellett mit drei anderen Freunden, Darby, Dr. Cronin und Hutchinson. im Hause des letzteren zum gemeinsamen Brotbrechen traf. Es war im November 1829, und es kann als wahrscheinlich gelten, daß Darby, immer noch anglikanischer Geistlicher, der Motor der Entwicklung war, sicher aber auch der Arzt Dr. Cronin, der als früherer Katholik bei Freikirchen keine Befriedigung gefunden und schon vorher mit wenigen Gleichgesinnten das Abendmahl gefeiert hatte, während Bellett und i-lutchinson sich aus den schon genannten Gründen zunächst nur zögernd dem Vorgehen anschlossen.

Bald verband man sich mit einer anderen kleinen Gruppe von Christen ähnlicher Zielrichtung, die sich schon etwas länger in Dublin zum Brotbrechen getroffen hatte und worunter auch ein Freund Groves' war, J. V. Parnell, der spätere Lord Congleton. Der Grund ihres Tuns lag ganz einfach darin, daß diese um die Einheit der Gläubigen bemühten Christen keine Kirche gefunden hatten, wo sie alle gemeinsam das Abendmahl feiern konnten, ohne daß der eine oder andere von ihnen ausgeschlossen gewesen war.
Im Mai 1830 mietete man auf Vorschlag Parnells einen öffentlichen Saal, sicher auch mit dem Motiv, einfacheren Geschwistern die Scheu zu nehmen, die sie angesichts der damaligen Klassenunterschiede beim Betreten des Hauses eines reichen Mannes haben mußten. Auch hier zögerten wieder Bellctt und Hutchinon, ihrer Gemeinschaft einen derartig offiziellen Charakter zu geben, schlossen sich aber dann doch nicht aus, womit gewissermaßen die erste öffentliche Brtiderversanimlung ins Leben gerufen war. -

Darby war zu jener Zeit wahrscheinlich in England, wohin er den Einladungen ähnlicher Kreise gefolgt war. Denn auch in England hatten die neuen Gedanken inzwischen Wurzeln geschlagen, und an verschiedenen Orten, besonders im Süden der Insel, begannen sich Christen zu versammeln, wenn auch noch nicht mit der biblisch begründeten Konsequenz, wie es in Dublin erfolgt war.

Bristol (Georg Müller)
Unabhängig von Dublin, nicht aber von den Gedanken Groves' sollten sich die Geschehnisse in Bristol entwickeln.
Nachdem nämlich Groves aufs Missionsfeld abgereist war; sah sich sein Hauslehrer Henry Craik (1805-1866), vom Leben und von den Ideen seines um zehn Jahre älteren Schülers nicht unbeeindruckt, zunächst ohne Beschäftigung, konnte dann aber eine ähnliche Stelle in Teignmouth (wie Exeter im Südwesten Englands) antreten. Hier sollte er nun den Mann kennenlernen, der ohne Zweifel später zu den bemerkenswertesten Persönlichkeiten der Brüderbewegung und zu den herausragenden Glaubensmännern des 19. Jahrhunderts überhaupt gehören sollte, Georg Müller (1805-1898).
Der junge Deutsche - Craik wie Müller wurden im Sommer 1829, als sie sich trafen, gerade 24 Jahre alt - hatte damals schon einen ungewöhnlichen Weg hinter sich. Nach einer glaubenslosen und wüsten Jugend hatte er sich während seines Theologiestudiums in Halle a. d. Saale nach dem Besuch eines Hauskreises gläubiger Christen im Jahre 1825 bekehrt und war, um Missionar zu werden, Anfang 1829 nach England gegangen. In London hatte er in der Mission unter Juden gearbeitet und war zur Ausheilung einer schweren Krankheit an die Südküste nach Teignmouth gekommen. Hier lernte er Henry Craik kennen, der inzwischen in einer dortigen Baptisten-kapelle zu predigen pflegte.

Von Groves aber hatte Müller schon vorher in London gehört und war von seinem Beispiel sehr berührt worden. Gewiß wurde er jedoch durch die Verbindung mit Craik noch mehr darin bestärkt, seine Lebensumstände völlig vom Willen Gottes abhängig zu machen. Deshalb trug er, zurückgekehrt nach London, seiner Missionsgesellschaft den Wunsch vor, ohne Gehalt zu arbeiten, und zwar »wann und wo der Herr es ihm zeige«.6 Die Gesellschaft lehnte ab, und so löste er sich
Ende 1829 von ihr. Auch als Georg Müller gebeten wurde, das Pre-digeramt in einer kleinen Baptistenkapelle in Teignmouth zu übernehmen (Anfang 1830) - Craik war inzwischen Prediger im benachbarten Shaldon -‚ lehnte er bald ein festes Gehalt ab und behielt sich dafür die Freiheit vor, jederzeit dem Ruf Gottes, wohin auch immer, zu folgen. Ähnlich wie bei Groves finden wir bei ihm die bemerkenswerte Haltung, der einmal erkannten Wahrheit ganz praktisch konsequent zu folgen. Müller ist von diesem Entschluß zeitlebens nicht mehr abgegangen und war sich auch mit seiner in demselben Jahr geheirateten Frau, einer Schwester von Groves, völlig darin einig, im buchstäblichen Gehorsam dem Wort Gottes gegenüber freiwillig Armut auf sich zu nehmen und nur das Notwendige von Gott zu erwarten, alle anvertrauten Güter aber im Dienst des Herrn zu verwenden. Mit dieser bedingungslosen Abhängigkeit von der Gnade Gottes baute er dann später ein Werk auf, das weltweit bekannt werden sollte.
Einig war er sich in dieser Haltung auch völlig mit seinem Freunde Henry Craik, mit dem ihn eine Freundschaft und Arbeitsgemeinschaft verband, die bis zum Tode Craiks 1866 ungetrübt anhielt. Als Craik im März 1832 zur Verkündigung des Evangeliums nach Bristol gerufen wurde, bat er Müller, ihm dabei zu helfen. Von zwei dortigen freikirchlichen Gemeinden aufgefordert, in Bristol die Arbeit fortzusetzen, lösten sich die beiden Freunde nach eingehender Prüfung vor Gott von Teignmouth und begannen in der großen Stadt mit dem Dienst, Craik in der Gideonskapelle, Müller in der Bethesda-Kapelle, allerdings wieder unter der Bedingung der oben genannten Grundsätze, wodurch sie sich bis in die materielle Existenzsicherung nur von der Gnade Gottes abhängig machen wollten.
Auch im Blick auf die Einheit der Kinder Gottes verfolgten die bei-
den Freunde bald eindeutig die Linie ihrer Erkenntnisse aus der Heili-
gen Schrift. Am 13. August 1832 versammelten sie sich mit noch einem
Bruder und vier Schwestern zum erstenmal in der Bethesda-Kapelle, »ohne irgendwelche Satzungen, nur mit dem Wunsch, so zu handeln, wie es dem Herrn gefallen sollte, uns durch sein Wort Licht zu geben.«
Müllers Biograph Pierson bemerkt dazu:
»Von da an war die Bethesda-Kapelle eine Versammlung von Gläubigen, die das Neue Testament als einzige Grundlage des kirchlichen
Lebens festzuhalten suchten.«3 -

DIE ANFÄNGE IN ENGLAND UND IRLAND  - 17. Jhdt. Puritanismus  - 18. Jhdt. Methodismus  - 19. Jhdt. Erweckungsbewegung  - Dublin (Groves)  - Bristol(Georg Müller  - Plymoth (Newton)  - J.N. Darby  - Leben und Werk  - Lehre  DIE ANFÄNGE IN DEUTSCHLAND  - 16. Jhdt. Täufertum  - 17./18. Jhdt. Pietismus  - 19. Jhdt. Erweckungs- Gemeinschaftsbewegung  - Freikirchen, dt. Staatskirchen  - erste Brüderversammlungen in Deutschland  CARL BROCKHAUS, LEBEN UND WERK

@1979 R.Brockhaus Verlag

Jordy Gerhard Die Brüderbewegung in Deutschland 2, 1900-1937,

05/12/2023
von Christ-und-Buch Günter Arhelger

DIE FREIKIRCHE OHNE NAMEN (1900 - 1937) 

- Rudolf Brockhaus - Reisebrüder - Konferenzen - Evangelisation - Schrifttum - soziale Werke - die Brüder in der Außenmission - ab 1937 - Reisebrüder um 1928 - Reiserouten der Elberfelder Reisebrüder - Otto Blädel in Ägypten - Heinrich Ruck in Hungergebieten in China - Hans Neuffer in Missionshospital in China - russische Gläubige an deutsche Brüder - Kriegsbrief aus Rußland Sept. 1915 - Bittbriefe von russischen Gläubigen - Dankesbriefe für Geld- und Sachspenden


Die Darstellung der Zeitgeschichte,
also eines Zeitraumes, der die in der Gegenwart lebenden Generationen umfaßt, ist von jeher umstritten gewesen. Zu sehr scheinen die eigene Erfahrung und die subjektive Meinung mit den Geschehnissen der Zeit verflochten, als daß man ein abgewogenes, objektives, allen Seiten gerecht werdendes Bild erwarten dürfte. Die Geschichte der deutschen Brüderbewegung im 20. Jh. bildet da keine Ausnahme. Im Gegenteil: die sie so besonders erschütternden Ereignisse von i937 haben nicht nur diese Ereignisse selbst, sondern auch die Jahrzehnte davor und danach einem Meinungsstreit unterworfen, der bis heute nicht abgeschlossen ist.
So ist es verständlich, daß bis in unsere Tage immer wieder dringend gewarnt wird, die Geschichte der »Brüder« könne, ja dürfe noch nicht geschrieben werden; der Abstand zu den Vorgängen von 1937 sei noch zu gering. Noch fühlten sich zu viele Personen durch die damaligen Ereignisse und ihre Folgen persönlich betroffen, als daß sie ein Urteil darüber anzuhören bereit seien.
Nun geht es hier ganz gewiß nicht um die Beurteilung und schon gar nicht um die Verurteilung von bestimmten Verhaltensweisen. Gerade bei der Betrachtung kirchengeschichtlicher Ereignisse gilt das Wort der Bibel: »Der Mensch sieht auf das Äußere, aber der HERR sieht auf das Herz« (i. Sam. 16,7). Was geschichtlich dargestellt werden kann, ist »das Äußere«, sind die sichtbaren, die aus schriftlichen Quellen hervorgehenden Ereignisse. Wer wird sich darüber hinaus anmaßen wollen, geistliche Tatbestände zu beurteilen? Dies dürfen und müssen wir Gott überlassen, der allein ein »Richter der Gedanken und Gesinnungen des Herzens« ist (Hebr. 4,12). Uns Heutigen bleibt es aufgegeben, Entscheidungen und Beweggründe - auf welcher Seite auch immer - auch dort zu verstehen zu suchen und zu achten, wo wir aus unserem Gewissen heraus eine andere Handlungsweise für angemessener halten.
Andererseits können wir uns der Frage nach der geistlich berechtigten Eigenständigkeit der Brüderbewegung im 20. Jahrhundert nicht entziehen. Mit der Berufung auf die geschichtliche Herkunft im vorigen Jahrhundert, für die der erste Band dieses historischen Überblicks Verständnis zu erwecken gesucht hat, kann es nicht getan sein. Mehr denn je stellt sich heute die Frage nach dem spezifischen Beitrag der Brüderbewegung zum Zeugnis der Kirche Christi im evangelikalen Bereich. Sie ist seit 1937 nicht mehr zur Ruhe gekommen und bis zum Zweifel an der Existenzberechtigung der Brüderbewegung überhaupt auf die Spitze getrieben worden.
Die geschichtliche Rückbesinnung auf die Entwicklung der vergangenen acht Jahrzehnte unseres Jahrhunderts, auf das »Ringen um Einheit und Selbstverständnis« einer Bewegung, die einmal mit elitärem Selbstbewußtsein und dem Panier der Einheit der Kirche Christi angetreten war, möchte dazu beitragen, daß ein Standort gefunden werden kann, der den historischen Anspruch einer sichtlich unter Gottes Gnade stehenden Vergangenheit mit den Forderungen des heiligen Geistes in der Gegenwart harmonisch verbindet.
Manchem mag die Darstellung des Zeitabschnitts bis i937 zu ausführlich geraten sein. Wir sollten aber bedenken, daß jene Jahre unsere heute noch lebende ältere Generation z.T. entscheidend geprägt haben. Viele Spannungen von heute ergeben sich aus den damals gewonnenen Vorstellungen und Überzeugungen, und im Vergleich zu jener Zeit mag den Älteren - berechtigt oder unberechtigt - die Entwicklung nach 1945 nicht immer als ein geistlicher Fortschritt erscheinen. Kenntnis einer Zeit, die die Älteren und teilweise auch unsere Gemeinden bis heute geformt hat, sollte deshalb - neben der unersetzlichen brüderlichen Liebe - zum gegenseitigen Verstehen beitragen. Zu leichtfertig wird heute oft im Blick auf die historische Entwicklung der deutschen Brüderbewegung von den Irrtümern der Väter gesprochen, zu überheblich wird ihre schließlich aus biblischen Überzeugungen hervorgegangene Lehre abgetan. Wenn schon ein großer Historiker der profanen Geschichte den Eigenwert jeder vergangenen Epoche als gleichberechtigt mit der Gegenwart anerkannte, weil jede Epoche »unmittelbar zu Gott« sei (Leopold von Ranke), sollten wir auch als Christen uns die Achtung und das Verständnis für das Denken und Tun unserer Väter bewahren und damit zur Lösung von Spannungen beitragen, die bis heute aus dem Widereinander von überkommenen und von neu erworbenen Überzeugungen die Einheit der deutschen Brüderbewegung in Frage stellen.
Allen, die, älter als ich, mir mit ihren Erinnerungen, Erfahrungen und ihrem Rat bei der Abfassung dieses Bandes geholfen haben, möchte ich an dieser Stelle herzlich danken. Zu besonderem Dank bin ich Herrn Ulrich Bister, Herborn-Hörbach, verpflichtet, der durch Material seines reichhaltigen Archivs wertvolle Hilfe leisten konnte.
Der Verfasser

INHALT:
Vorwort
Einleitung
I. Die Freikirche ohne Namen (1900 -1937)
Rudolf Brockhaus, die Führerpersönlichkeit
2. Reisebrüder
3 .Konferenzen
4 .Evangelisation - Georg von Viebahn
5. Schrifttum
Rudolf Brockhaus und sein Verlag
Dr.. Emil Dönges und sein Verlag
Eigenart des»Brüder«schrifttums
6. Soziale Werke
Christliche Pflegeanstalt Schmalkalden-Aue
Altenheime »Friedenshort« und »Elim«
Kinderheime Schwestern-Mutterhaus »Persis«
Spendensammelstellen
7 . Das » Werk des Herrn in der Ferne«
Die » Brüder« und die Außenmission, Ägypten , China
8. Das Verhältnis zu den »anderen«
Absonderung
... und die großen Kirchen
... und die Freikirchen
Gemeinsames
Trennendes
9 . Bewahrung von Lehre und Einheit
Der Standpunkt
Die Verteidigung der Lehre - der »Schriftenstreit«
Die Verteidigung der Einheit
Zwischen Absonderung und Allianz
Wider die Irrlehren

10. Das Leben in den Versammlungen
11. Ausgang der Ära Rudolf Brockhaus'
12. Erneuerungsbestrebungen
»Die Tenne«
Die Stündchenbewegung
IL Die Offenen Brüder in Deutschland bis 1937
I. Die Entwicklung in Großbritannien seit 1848
Unabhängigkeit, Ausbreitung
Soziale Verantwortung
Außenmission
Die britischen Offenen Brüder heute
2. Die Entwicklung in Deutschland
Die Anfänge: Georg Müller und Dr. Friedrich Wilhelm Baedeker
Toni von Blücher und die Gemeinde in der Berliner Hohenstaufenstraße
Ausbreitung und Schrifttum, Gemeinsames in der Unabhängigkeit Bedeutende Persönlichkeiten
3. Die »Bibelschule für Innere und Äußere Mission«
Die Erweckung in Rußland, Dr. Baedeker und die Allianz-Bibelschule
Berlin (1905-1919)
Wiedenest (ab 1919)
4. Das Verhältnis zwischen »Offenen« und »Elberfelder« Brüdern
Anziehung und Abstoßung Unabhängigkeit oder Einheit?
Abendmahl oder Tisch des Herrn?
Der gemeinsame Beitrag zum Zeugnis der Kirche
4. Missionsbericht Otto Blädels aus Ägypten (29. Juni 1905) 172
5 Bericht Otto Blädels über den Einsatz des Missions
Segelbootes »Nil-Taube« in Ägypten (21. Mai 1912) .... 175
6. Brief Otto Blädels zum Besuch von Ernst Brockhaus
u. a. in Ägypten (10. Mai 1913)
7 Briefe Heinrich Rucks über die Arbeit in Hungergebieten Chinas (1912)
8. Bericht Dr. Hans Neuffers über das Missionshospital »Haus der Barmherzigkeit« in China (Oktober 1923)
9. Briefe von russischen Gläubigen an die deutschen »Brüder« (1913)
so. Kriegsbrief aus Rußland (2. September iga5)
xi. Veröffentlichungen in den » Mitteilungen aus dem Werk des Herrn in der Ferne« über die Lebensmittel
- und Kleidersendungen nach Rußland (1933-1937)
12. Bittbriefe von russischen Gläubigen (1934-1936)
13. Dankesbriefe von russischen Gläubigen für Geld- und Sachspenden der deutschen »Brüder« (1933-a936)
14. Bericht Wilhelm Walters über den Reisedienst unter den Gemeinden der Offenen Brüder in Baden und Württemberg(1925)
15. Bericht über die Raumnöte der Offenen Brüder in Schlesien(1925)
16. Auszüge aus den Ansprachen bei der Beerdigung von Rudolf Brockhaus (23. September 1932)
Literaturverzeichnis, Quellennachweis. Namenregister 220
Übersicht über die in den Bänden 1 und 2 angeführten Mitglieder der Familie Brockhaus 

ISBN-13: 9783417240726
Format:13 x 20,5 cm
Seiten:220
Gewicht:342 g
Verlag:R. Brockhaus ©1981 R. Brockhaus Verlag Wuppertal Umschlaggestaltung: Ralf Rudolph, Ratingen Gesamtherstellung: Breklumer Druckerei Manfred Siegel