Hession Roy, Vom Schatten zur Wirklichkeit - Hebräerbrief

06/03/2023
von Christ-und-Buch Günter Arhelger

Vorwort: Das Erste, was man als Leser stets lesen sollte, und zwar gründlicher als alles andere, ist das Vorwort, besonders dann, wenn es vom Autor selbst geschrieben wurde. Dort teilt der Autor dem Leser mit, was er ihm sagen möchte; so kann der Leser entscheiden, ob er Interesse hat, weiterzulesen. Von einem jungen Mann, der predigen wollte, wird berichtet, wie er zu einem erfahrenen Methodistenprediger, einem „Laien“, ging und ihn um Rat fragte. „Nun“, sagte der alte Mann, „zuerst sage ich Ihnen, was ich Ihnen sagen werde; dann sage ich es; dann sage ich Ihnen, was ich Ihnen gesagt habe.“Genau dies ist der Zweck dieses Vorworts – den Leser wissen zu lassen, was er von diesem Buch zu erwarten hat, und ihn entsprechend darauf vorzubereiten. Wenn man von einem Buch etwas erwartet, was es nicht enthält, wird man auch von dem, was es tatsächlich enthält, keinen Gewinn haben.

Dieses Buch enthält einige einfache, praktische Betrachtungen über einen der großartigsten Briefe des Neuen Testaments – den Brief des Apostels Paulus an die Hebräer. Ich erkläre später, weshalb ich an der traditionellen Auffassung von der Autorschaft des Paulus festhalte. Diese Betrachtungen sind in Wirklichkeit eine Wiederentdeckung der verborgenen Botschaft dieses Briefes. Ich kann wohl sagen, dass ich in den vergangenen Jahren begonnen habe, das Evangelium der Gnade Gottes neu zu entdecken, von dem ich geglaubt hatte, es gut zu kennen, es aber nicht in dem Maße verstanden und angenommen hatte. Diese Betrachtungen wollen keine vollständige Auslegung des Hebräerbriefes bieten. Ganze Teile bleiben unerwähnt. Ich versuche lediglich, die persönliche, praktische Botschaft freizulegen, die in diesem Brief für jeden Christen vergraben ist. Diese Botschaft, die sich für uns schwache, oft versagende Kinder Gottes als eine sehr
ermutigende, uns in unserem Glauben stärkende Botschaft erweist.Die Botschaft dieses Briefes hat einen überaus starken Bezug zu unserem Alltag. 

Auf den ersten Blick scheint der Brief gar nicht so sehr praktisch oder alltagsbezogen zu sein; er erscheint uns in erster Linie eher als ein Lehrbrief. Gewiss enthält er sehr viel Lehre. Mehr als in jedem anderen Brief des Neuen Testaments finden sich wunderbare Lehren über den Herrn Jesus Christus und wie er die Erfüllung der alttestamentlichen Verheißungen ist. Wenn wir ihn aber ausschließlich als Lehrbrief betrachten, begehen wir einen großen Fehler. Er dient nicht nur der wissenschaftlichen Analyse. Paulus sah ihn nicht als Lehrbrief an, sondern als einen Brief zur Ermahnung. Im letzten Kapitel schreibt er: „Ich bitte euch aber, Brüder, ertragt das Wort der Ermahnung! Denn ich habe euch ja kurz geschrieben“ (Hebr 13,22). Auch wenn der Brief viel von Jesus Christus und von seinem Werk für uns spricht, wurde er uns doch in erster Linie als Grundlage gegeben, auf die Paulus sein äußerst praktisches Wort der Ermahnung für die Hebräer
und auch für uns stützt.

Ermahnen heißt, den anderen anspornen, ermutigen und warnen.Der Hebräerbrief enthält alle diese drei Aspekte der Ermahnung. Oft finden wir die Worte lasst uns ... lasst uns ... lasst uns. Die zentrale Ermahnung, sozusagen der Angelpunkt des Briefes, steht in 6,1: „Deshalb wollen wir das Wort vom Anfang des Christus lassen und zur vollen Reife fortfahren.“ Der Apostel fordert die Hebräerchristen auf, fortzufahren, denn er weiß, dass dies bei ihnen nicht der Fall ist. Er erkennt, dass sie geistlich keine Erwachsenen sind, sondern immer noch Säuglinge – ein Zustand, den er in den vorangehenden Versen ausführlich beschrieben hat. Ihre Situation entspricht der Lage vieler
Christen heute, die zweifelsohne ein Leben mit Jesus begonnen, aber keine weiteren Schritte getan haben. Eine solche Person muss, wie die Hebräerchristen früher, ermahnt werden, um sich dann der vollen Reife zuzuwenden.

Paulus fordert nun nicht dies, sondern er ermutigt selbst die Schwächsten auf unterschiedliche Art und Weise. Wie ich bereits ausführte, handelt es sich bei der Botschaft dieses Briefes gerade um die Ermutigung, die bedürftige Christen unbedingt brauchen. Sie kommen sich vielleicht als schwächliche Versager vor – dieser Brief sagt ihnen, dass der Gott der Gnade für Menschen wie sie alle nötigen Vorkehrungen getroffen hat, um zum vollen Reichtum seiner Erlösung zu gelangen. Diese Vorkehrungen betreffen den Einzelnen in seinem tatsächlichen, nicht in seinem idealen Zustand.

Auf der anderen Seite sind diese mächtigen Ermutigungen mit Warnungen verbunden, falls wir diese unsere Bestimmung versäumen. An einer ganzen Anzahl wichtiger Stellen taucht der Ausdruck damit nicht auf, mit dem immer ein warnendes Wort eingeleitet wird. Wenn wir nicht in der Gnade leben, können wir wieder in Sünde zurückfallen, und das mit verhängnisvollen Folgen, deren Ausmaß wir nicht für möglich gehalten hatten. Mit diesem Aspekt befassen wir uns an entsprechender Stelle gründlich. 

Dieser Brief spricht sehr ernst und eindringlich zu denen, die in der Gefahr stehen, in alte Verhaltensweisen zu verfallen. Für die, die sich als arm und bedürftig erkannt haben, ist es jedoch ein überaus ermutigender Brief, denn hier sehen wir Jesus als Freund des Sünders und als Hoherpriester. Möge der Leser mit hungrigem Herzen erwarten, Jesus als Antwort auf seine Nöte und Bedürfnisse zu finden, und möge er gewillt sein, sich das, was er gefunden hat, anzueignen. 

In diesem Zusammenhang möchte ich sagen, dass wir, so wie ich es verstehe, nicht durch die Heilige Schrift zu Jesus kommen, sondern durch Jesus zum Verständnis der Heiligen Schrift gelangen. Natürlich haben wir die Grundoffenbarung von Jesus Christus in der Heiligen Schrift, aber der Heilige Geist muss ihn uns persönlich offenbaren. Dies kann durch die Schrift geschehen, aber nicht ausschließlich
durch die Schrift. Oft gebraucht er das persönliche Zeugnis einer Person und fast immer die tiefe Erfahrung unserer eigenen Not, der nur Gott abhelfen kann, um unsere Herzen zu berühren. Wenn wir dann Jesus als Antwort auf unsere Nöte persönlich erfahren haben, führt uns der Heilige Geist zur Schrift zurück, und wir sehen auf jeder Seite den Jesus, den wir kennengelernt haben, und die Erfahrung, die wir gemacht haben. Und so wird uns die Schrift lebendig wie nie zuvor. 

Man kann diese Erfahrung mit einem Reiseführer vergleichen. Ein Reiseführer gibt uns über einen bestimmten Ort allerhand Informationen, und wir bekommen von diesem Ort eine gewisse, wenn auch verschwommene Vorstellung. Aber wenn wir die Reise tatsächlich machen und an diesen Ort kommen, wird das, was vorher verschwommen und vage war, real. Wir gehen durch die Straßen, bestaunen die Sehenswürdigkeiten und riechen den Duft der Blumen.

Wenn wir uns dann den Reiseführer erneut vornehmen, verstehen wir ihn so gut wie noch nie. Wenn wir zurückkommen und unseren Freunden beschreiben möchten, was wir gesehen haben, ziehen wir gewiss den Reiseführer zurate. Wir schlagen ihn auf, damit wir das, was wir ihnen sagen wollen, besser zum Ausdruck bringen können. Aber hauptsächlich erzählen wir von dem, was wir mit unseren eigenen Augen gesehen haben, und nutzen den Reiseführer für den Fall, dass wir etwas vergessen oder nicht mehr so genau wissen. So wichtig unsere eigene Erfahrung auch sein mag – der Reiseführer hat die letzte Autorität, aber ohne die Erfahrung wird er weder für uns noch für unsere Zuhörer lebendig. Ist diese Illustration hilfreich? 

Wenn nicht oder wenn sie mehr Fragen aufwirft als beantwortet, lassen Sie sie ruhig beiseite. Auf den folgenden Seiten bemühe ich mich nicht darum, dass der Leser den Brief an die Hebräer als solchen versteht. Vielmehr möchte ich mit dem Leser eine das Leben umwandelnde Sicht von Jesus Christus teilen, die ich in diesem Brief, ja in der ganzen Bibel, so herrlich dargelegt finde. 

Wie Sie schon bemerkt haben, sprach ich frisch und fröhlich von Paulus als dem Schreiber dieses Briefes, obwohl seine Autorschaft heutzutage angezweifelt wird. Die Autorschaft des Paulus entspricht der traditionellen Auffassung, die heute bezweifelt wird. Vermutlich hat die Tatsache, dass sein Name im Text selbst nicht erwähnt wird, wie es in seinen Briefen sonst der Fall ist, für diese Zweifel und Spekulationen Anlass gegeben. Ich halte an der traditionellen Auffassung
fest, da ich über die Jahre, die ich diesen Brief lese, die Stimme des Apostels Paulus immer besser heraushören kann.

Umstände und Absicht des Briefes gehen aus einer interessanten Nachschrift hervor, die am Ende des Briefes in einer alten Handschrift zu finden ist: „Geschrieben von Timotheus aus Italien.“ Wahrscheinlich diktierte Paulus den Brief seinem Mitarbeiter Timotheus, der ihn dann nach Judäa brachte. Dieser Zusatz gehört zwar nicht zum inspirierten Text, unterstützt jedoch die Autorschaft des Paulus.
Paulus hatte viel unter den Hebräern zu leiden. Sie hassten sein Evangelium von der freien Gnade, das den Heiden dieselben Rechte zustand, die sie als ihre eigenen betrachteten. Paulus hatte es ihrem Widerstand zu „verdanken“, dass er gefangen genommen wurde. Dennoch liebte er diese Hebräer, seine Volksgenossen. Paulus wünschte, „verflucht zu sein von Jesus weg“ (Röm 9,3), damit sie gerettet würden.

So war es ganz natürlich, dass er diesen Brief an seine geliebten Hebräer, seine „Verwandten nach dem Fleisch“ (Röm 9,3) schrieb, um ihnen noch einmal zu zeigen, dass Jesus wirklich der Messias und die Erfüllung der alttestamentlichen Prophezeiungen ist.
Man kann sich gut vorstellen, weshalb Paulus seinen Namen nicht angab. Es gab viele Hebräer, die an Jesus glaubten, die das Gesetz des Mose aber noch immer fanatisch verteidigten (siehe Apg 21,20). Und so schrieb er ihnen von Rom aus, ohne seinen Namen anzugeben, weil er wusste, dass sie Vorurteile gegen ihn hegten und deshalb seine Botschaft vielleicht nicht so ohne Weiteres annehmen konnten. Genug davon!

Das Wichtigste und Größte ist, dass der Heilige Geist in diesem Brief Jesus Christus als Hoffnung für die, die zerbrochenen und zerschlagenen Herzens sind und als Freude aller Sanftmütigen offenbart. Um die folgenden Kapitel richtig verstehen zu können, gilt es die Bedeutung des Begriffes Gnade, der in dem Brief häufig auftaucht, zu klären: „Wenn wir nicht in der Gnade weiterfahren, können wir wieder in Sünde zurückfallen.“ Was meint dieser Ausdruck? 

Er bezeichnet mehr als ein Gefühl geistlichen Wohlbefindens, wie wir es vielleicht beim Abendmahl empfinden. Gnade meint nicht in erster Linie die Hilfe, die Gott verleiht, um Prüfungen und Anfechtungen zu bestehen, obwohl es dies auch bedeuten kann. Gnade ist zuerst und vor allem eine wunderbare Charaktereigenschaft Gottes, genau wie die Liebe. Aber bei der Gnade ist der Gegenstand der göttlichen Sorge immer das Reizlose, das Untaugliche und vor allem das Unwerte.

 Nur wenn man sich als solches erkannt hat, kann man sich als für die Gnade Gottes geeignet erweisen. Der Nachdruck liegt darauf, dass die Gnade Gottes unverdient ist. Wenn es anders wäre, wäre Gnade nicht Gnade. „Wenn aber durch Gnade, so nicht mehr aus Werken; sonst ist die Gnade nicht mehr Gnade“ (Röm 11,6). 

Bei Gott ist das Gegenteil von Sünde nicht menschliche Tugend und Rechtschaffenheit, sondern seine Gnade. Die Aufforderung, Gutes zu tun, wo wir falsch gehandelt haben, führt zur Selbstanstrengung, zu eigenem Bemühen, folglich nirgendwohin. Die Botschaft von  der Gnade bringt uns dagegen an den Fuß des Kreuzes, an welchem  Gott seinen Reichtum, den er für uns bereithält, auf uns herabschüttet. Möge der Leser diese Bedeutung stets vor Augen haben, wenn wir gemeinsam die mannigfache Gnade Gottes und ihre so zahlreichen Folgen untersuchen, die sich für uns ergeben.
Roy Hession 

Vom Schatten zur Wirklichkeit
... die dem Abbild und Schatten der himmlischen Dinge dienen ...
... die Abbilder der himmlischen Dinge ..., die himmlischen Dinge selbst
...Denn da das Gesetz einen Schatten der zukünftigen Güter, nicht der Dinge Ebenbild selbst hat ...
... die ein Schatten der künftigen Dinge sind, der Körper aber ist des Christus.
Hebräer 8,5; 9,23; 10,1; Kolosser 2,17

Zwischen dem Schatten eines Gegenstandes und dem Gegenstand selbst besteht ein großer Unterschied. Schatten können wunderschön sein, man denke nur an einen Sommertag, der sich dem späten Nachmittag zuneigt – die Bäume werfen lange Schatten und unterstreichen damit die Schönheit der Landschaft. In den tropischen Gebieten wird dem Touristen geraten, nicht am Mittag zu fotografieren, wo die Sonne hoch am Horizont steht, sondern bis zum Nachmittag zu warten, wenn es schon Schatten gibt. Aber die Schatten bleiben dennoch Schatten, sie besitzen keine Wirklichkeit. Die stattliche Palme ist viel wichtiger und schöner als ihr Schattenbild, und niemand würde den Schatten der Palme vorziehen. Aber genau so verhielten sich die Hebräerchristen, an die der Brief geschrieben ist, in ihrem geistlichen Leben – sie begnügten sich mit dem Schatten, anstatt sich um die Wirklichkeit zu bemühen.

Die Hebräerchristen, an die Paulus seinen Brief richtete, befanden sich in einer seltsamen Lage. Wahrscheinlich entsprachen sie den Gläubigen, die Paulus bei seinem letzten Besuch in Jerusalem vorfand. Damals hatten die Ältesten Paulus geraten, sich ihnen gegenüber vorsichtig zu verhalten. Er erklärte ihm: „Du siehst, Bruder, wie viele Tausende der Juden es gibt, die gläubig geworden sind, und alle sind Eiferer für das Gesetz. Es ist ihnen aber über dich berichtet worden, dass du alle Juden, die unter den Nationen sind, Abfall von Mose lehrest und sagest, sie sollen weder die Kinder beschneiden noch nach den Gebräuchen wandeln“ (Apg 21,20f.). 

Welch eine verworrene Situation war das! Einerseits glaubten sie an Jesus als ihren Herrn und Messias, und trotzdem eiferten sie noch für das Gesetz Moses, vollzogen die alttestamentlichen Rituale und brachten die alttestamentlichen Opfer dar. Ihr Eifer für das Gesetz war so groß, dass sie wütend auf Paulus waren, wenn er zu verstehen gab, dass die Gnade Gottes das Gesetz beseitigt hat. Sie hatten offensichtlich nicht begriffen, dass diese Rituale nur ein Schatten der zukünftigen Güter (oder: ein Schatten dessen, der kommen sollte) sind, und dass jetzt, da diese zukünftigen Güter gekommen waren, die Schatten nicht mehr benötigt werden.

In der Apostelgeschichte finden wir noch andere Gruppen, die sich in dieser Zwischenposition befunden haben müssen. In Apostelgeschichte 15,5 heißt es: „Einige aber von denen aus der Sekte der Pharisäer, die gläubig geworden waren, traten auf.“ Obwohl sie Jesus aufrichtig als ihren Messias anerkannt hatten – und dies war tatsächlich ein großer Schritt vorwärts –, waren sie immer noch Pharisäer. Dies zeigt sich deutlich, da sie sehr darauf bestanden, auch Heidenchristen müssten sich beschneiden lassen – sie waren noch immer mit den Schatten beschäftigt.

In Apostelgeschichte 6,7 lesen wir: „Und eine große Menge der Priester wurde dem Glauben gehorsam.“ Blieben diese Priester nach ihrer Bekehrung Priester? Haben sie weiterhin Schlachtopfer, die niemals Sünde hinwegnehmen können, dargebracht? Oder sind sie sofort von den Schatten zur Wirklichkeit fortgeschritten? Das hätte sie sehr viel gekostet und großes Aufsehen erregt. Ich habe das Gefühl, dass nicht alle diesen Schritt gewagt haben, und dass sie deshalb auch zu denen gehörten, für die dieser Brief bestimmt war. Paulus schrieb nun diesen Menschen, dass jene Dinge, auch wenn sie von Gott verordnet waren, dennoch nur Schatten des Wirklichen waren und nicht das Wirkliche selbst. An einer Stelle seines Briefes sagte Paulus, dass die Priester des Alten Testaments dem Abbild und Schatten der himmlischen Dinge dienten (Hebr 8,5). An einer anderen
Stelle spricht er davon, dass das Gesetz einen Schatten der zukünftigen Güter, nicht der Dinge Ebenbild selbst hat (Hebr 10,1).

 Die zukünftigen Güter haben ihre Schatten vorausgeworfen, aber wenn diese zukünftigen Güter eingetroffen sind, wer will sich dann noch mit ihrem Schatten beschäftigen? Man kann dies mit dem Schatten vergleichen, den der Hauptdarsteller in einem Schauspiel kurz vor seinem
ersten Auftritt auf die Bühne wirft. Er wartet hinter den Seitenkulissen, und das helle Licht, das ihn anstrahlt, wirft seinen Schatten quer über die Bühne. So steigert sich die dramatische Wirkung seines Auftritts. Für einen kurzen Augenblick können die Zuschauer nur den Schatten erkennen. Sie sehen die Umrisse des Schauspielers und erkennen das Schwert, das er trägt. Wenn er dann die Bühne betritt,  erblicken sie die Wirklichkeit dessen, wovon sie zuvor nur den Schatten gesehen hatten, und ihr Interesse an dem Schatten verschwindet. Jahrhundertelang hatte Jesus Christus hinter den Seitenkulissen der Geschichte gestanden. 

Er war von Gott verheißen worden, und mit ihm sollten die zukünftigen Güter kommen – die Güter der Erlösung des Menschen. So hatte er seinen Schatten auf die Seiten des Alten Testaments geworfen. Das Gesetz des Mose mit seinem Priestertum, mit den Opfern und den anderen Ritualen war dieser Schatten. Diese Dinge waren eine Verschattung dessen, der kommen sollte. Sie bereiteten das Volk auf ihren Messias vor. Wie hätten die Menschen Johannes den Täufer sonst verstehen können, als er ausrief: „Siehe, das Lamm Gottes, das die Sünde der Welt wegnimmt!“? (Joh 1,29). Die Menschen hatten all die Jahre hindurch Lämmer als Sühne für ihre Sünde geopfert. Der Gedanke, dass es ohne Blutvergießen keine Vergebung gibt, war ihnen vertraut.

 Aber das war alles nur ein Schatten dessen, was kommen sollte. Jetzt sah Johannes, dass die Wirklichkeit, Jesus selbst, gekommen war, um auf dem Kreuz auf Golgatha die Sünde der Welt hinwegzutragen. Paulus meinte gerade dies, wenn er an die Kolosser schrieb: „... die ein Schatten der künftigen Dinge sind, der Körper, der den Schatten wirft, aber ist des Christus“ (Kol 2,17). Ich bin sicher, dass Johannes der Täufer nie mehr im Tempel ein Lamm opfern wollte, nachdem er Jesus gesehen hatte. Er hatte das Wahre gefunden. Er war vom Schatten zur Wirklichkeit gelangt.

Nicht so die Hebräerchristen. Auch wenn sie an den Herrn Jesus glaubten, von ihren Landsleuten viel Leidenskampf erduldet hatten und es auch sonst verschiedene Anzeichen gab, dass sie wirklich einen Anfang mit Jesus gemacht hatten (vgl. Hebr 6,4f.; 6,9; 10,32- 34), waren sie doch nicht von den Schatten zur Wirklichkeit vorgedrungen. Noch immer waren sie zu einem großen Teil mit dem Gesetz Moses und den dazugehörigen Ritualen beschäftigt. Aus diesem Grund war ihre Erfahrung der Gnade schwach und verschwommen; war es doch mehr eine Erfahrung mit dem Gesetz.

Sie waren keine erwachsenen Christen, sondern geistliche Säuglinge, und Paulus musste ihnen dies aufzeigen: „Während ihr der Zeit nach  Lehrer sein solltet, habt ihr wieder nötig, dass man euch lehre, was die Anfangsgründe der Aussprüche Gottes sind; und ihr seid solche geworden, die Milch nötig haben und nicht feste Speise“ (Hebr 5,12).

Außerdem standen sie mit ihrer Haltung in Gefahr, wenn sie nicht zur Wirklichkeit fortschritten, unter dem Druck der Verfolgung aufzugeben. So bekamen die Erstleser in diesem Brief immer wieder die Möglichkeit vorgelegt, entweder vom Schatten zur Wirklichkeit fortzuschreiten,
oder vom lebendigen Gott abzufallen und zum Verderben zurückzukehren (Hebr 3,12; 10,39).
Das Leben des Christen als Schatten Wir können diesen Gedanken vom Schatten und der Wirklichkeit auch auf uns übertragen und mit zwei verschiedenen Arten des christlichen Lebens vergleichen. 

Es gibt ein Leben des Christen, wenn man es überhaupt so nennen kann, das einem Schatten gleicht – alles Geistliche ist für den, der es zu leben versucht, in keiner Weise real. Es ist im Grunde nur eine hohle, nichtige Anstrengung. In der Politik spricht man vom Schattenkabinett. Die Partei, die gerade nicht an der Macht ist, sondern sich in der Opposition befindet, kopiert die Minister der Regierung und stellt ein Gegenkabinett auf. Dies sind zweifellos glänzende Menschen mit großartigen Plänen, da sie aber nicht an der Regierung sind, können sie ihre Pläne nicht durchführen. 

Mit dem schattengleichen Leben verhält es sich ebenso – gute Vorsätze und Versprechungen, aber keine Kraft, keine Realität! Trotzdem kann man dabei für Gott sehr aktiv sein. Wir können uns
in der Gemeinde tatkräftig einsetzen – wir können beim Kindergottesdienst mithelfen, im Chor singen, Sitzungen beiwohnen, Tee kochen, Kaffee eingießen, ja sogar Predigten halten – wir können alle diese Dienste tun, ohne dass in unserem Herzen die Verheißungen, die wir in der Bibel haben, Realität sind. Wenn man sich dies vor Augen hält, muss man sich ernstlich fragen, ob hier Jesus überhaupt noch eine Rolle spielt. 

Er ist selbst die Realität, aber oft scheinen wir nur seinen Schatten zu sehen. Ein Schatten ist immer an den entsprechenden Gegenstand gebunden. Er hat genau dieselbe Gestalt und kann ohne ihn nicht existieren. Aber er ist trotzdem nur ein Schatten und besitzt keinerlei Wirklichkeit. So ist es auch im Blick auf das schattengleiche Christenleben und seine Aktivitäten. Solche stehen in einem gewissen Zusammenhang zu Jesus Christus, lassen etwas von seiner Gestalt erkennen und könnten ohne ihn, dessen Schatten sie sind, wohl kaum existieren. 

Aber sie sind nur Schatten der Realität. Wer gibt sich mit den Schatten zufrieden, wenn er die Wirklichkeit ergreifen und von ihr ergriffen sein kann? Wenn wir uns in der Tat mit den Schatten begnügen, entspricht unsere Situation dem Zustand der Hebräerchristen in diesem Brief, die nicht tief gegründete Männer und Frauen Gottes waren, sondern Säuglinge. Und wir stehen in genau derselben Gefahr wie sie, durch Druck von außen unseren Glauben zu verleugnen. Wie sieht nun nach dem Hebräerbrief der Weg aus, der vom Schatten zur Wirklichkeit führt? Die Antwort auf diese Frage ist der Glaube, der in Hebräer 11,1 als Verwirklichung dessen, was man hofft, beschrieben wird. 

Auf was oder auf wen ist dieser Glaube bezogen? Offensichtlich auf Jesus – auf Jesus als den Erlöser und Hohenpriester der Sünder. Das bedeutet, dass ich mich als Sünder erkennen muss, wenn ich an der Erlösung teilhaben möchte. Da wir es mit einem heiligen Gott zu tun haben, reicht es nicht aus, wenn wir uns in allgemeinen Redensarten ergehen. Denn Gott kann uns diese und jene Sünde festlegen. Wenn wir uns demütigen, ehrlich sind und die Sünde bekennen, sind wir Anwärter auf diese Gnade Gottes, die uns in Jesus zur Verfügung steht. Hier beginnt die Realität. Wenn unser Leben einem Schatten gleicht, sind wir mit Gott nicht im Reinen.

Da sich unser Verständnis von Gott am Gesetz orientiert, meinen wir, uns selbst über unseren Zustand im Unklaren lassen zu können. Die Folge davon ist, dass wir dann auch in Bezug auf Gott im Unklaren bleiben. Am Berg Sinai, an dem das Gesetz Gottes verkündigt wurde und Gnade von dem Gehorsam gegenüber dem Gesetz abhängig war, können wir es uns nicht leisten, falsch zu liegen. Wenn dies der Fall ist, sollten wir mit Prügel rechnen! Aber auf Golgatha war die Barmherzigkeit groß und die Gnade umsonst – Vergebung wurde uns zuteil, und unsere von Schulden belastete Seele fand Freiheit. Dort kann es sich der Sünder leisten, seiner eigenen Realität ins Auge zu blicken. Dann wird auch Jesus dem Sünder zur Freude und zum Trost, denn er ist Realität.

An dieser Stelle soll auch ein warnendes Wort seinen Platz finden. Man darf sich keine falsche Vorstellung von dieser Realität, von dieser Wirklichkeit machen. Simeon, ein alter Levit im Tempel, wartete auf den Trost Israels (Lk 2,25). Er rechnete mit dem Erscheinen des Messias zu seinen Lebzeiten und sehnte sich nach den Folgen, die dies für Israel haben würde. Der Heilige Geist hatte ihm verheißen, dass er den Tod nicht sehen solle, ehe er den Christus des Herrn gesehen
habe (Lk 2,26). Als er den Christus dann sah, hatte er einen kleinen Säugling vor sich, der von einer armen Frau in den Tempel gebracht wurde. 

Wie leicht hätte Simeon doch eine falsche Vorstellung vom Messias haben können! Dieses Ereignis hätte dann keinerlei Bedeutung für ihn gehabt – er würde sich einfach abgewandt haben. Stattdessen nahm er das Kindlein in seine Arme, lobte Gott und sprach: „Meine Augen haben dein Heil gesehen“ (Lk 2,30). Simeon hielt an diesem Tag die Wirklichkeit, die ewige Realität in seinen Armen. Seine Arme umschlossen, wenn man es so ausdrücken will, Erweckung, das siegreiche
Leben, die Antwort auf die Probleme des Menschen. Manchmal haben wir eine falsche Vorstellung davon, was Erweckung bedeutet, wie das Leben als Christ aussieht oder wie unseren Nöten und Bedürfnissen abgeholfen werden kann. 

Wir erwarten etwas Spektakuläres, etwas Mächtiges. Wenn wir eine falsche Vorstellung hegen, finden wir das, was wir suchen, nicht. Es gilt zu erkennen, dass Jesus Erweckung bedeutet. Auch wenn diese Erweckung uns klein und sein Wirken auf ein einziges Herz – unser Herz – unwichtig oder beschränkt erscheint. Irgendwo muss die Erweckung anfangen, und Anfänge sind meist klein. Aber wenn Sie Jesus nicht als Realität kennen, verpassen Sie diesen Anfang vielleicht. In Ihrem Verlangen, unbedingt eine Lösung zu finden, umschließen Ihre Arme vielleicht etwas anderes und vielleicht befriedigt Sie dieser „Einsatz“ auch eine Zeit lang. Aber letzten Endes bemerken Sie dann doch, dass auch das keine Wirklichkeit, sondern nur ein Schatten war.

Außerhalb des Lagers
Für die Hebräerchristen war es nicht leicht, vom Schatten zur Wirklichkeit durchzustoßen, denn dies bedeutete, dass sie zu ihm hinausgehen müssten, außerhalb ihres Lagers (vgl. Hebr 13,12). Das übrige Volk konnte dies, milde ausgedrückt, überhaupt nicht verstehen, denn es hielt große Stücke auf seine Religion. Die Hebräerchristen hatten bereits dadurch, dass sie den Gekreuzigten als Messias anerkannten, eine schwere Verfolgung heraufbeschworen. Wenn
sie nun auch noch das religiöse System des Judentums als solches anprangern würden, müssten sie sich auf noch viel schlimmere Dinge
gefasst machen. „Darum hat auch Jesus, um das Volk durch sein eigenes Blut zu heiligen, außerhalb des Tores gelitten. Deshalb lasst uns zu ihm hinausgehen, außerhalb des Lagers, und seine Schmach tragen“ (Hebr 13,12f.). Jesus hatte durch das Judentum außerhalb
des Tores – auf Golgatha – gelitten. 
Es kann auch uns teuer zu stehen kommen, wenn wir aus dem Schatten heraustreten und uns von der Wirklichkeit ergreifen lassen – auch wir werden aus dem Lager hinausgehen müssen, aus dem Lager „religiöser Menschen“. Das heißt nicht unbedingt, dass wir unsere Kirche verlassen oder unsere Konfession aufgeben müssen. Aber es kann sehr wohl bedeuten, dass wir aufhören, die begeisterten Anhänger unserer Kirche zu sein, die wir einmal waren. 

Es kann zur Folge haben, dass wir die Sakramente nicht mehr wie früher bewerten, oder dass wir es aufgeben, stets in die neueste evangelikale Methode verliebt zu sein, wie es einige von uns erwarten. Denn wenn wir erkennen, dass all diese Dinge lediglich Schatten der Realität sind, nicht die Realität selbst, findet Veränderung statt. Manchmal führt uns Gott so, dass wir das, was wir als bloße Schatten erkannt haben, nicht einfach aufgeben, sondern es nun, da wir es durchschaut
haben, nutzen, um anderen zu helfen, die Wirklichkeit zu finden. 

Paulus wurde so geführt: „Denn obwohl ich allen gegenüber frei bin, habe ich mich allen zum Sklaven gemacht, damit ich so viele wie möglich gewinne. Und ich bin den Juden wie ein Jude geworden, damit ich die Juden gewinne; denen, die unter Gesetz sind, wie einer unter Gesetz – obwohl ich selbst nicht unter Gesetz bin –, damit ich die, welche unter Gesetz sind, gewinne“ (1 Kor 9,19f.). Selbst in einem solchen Fall dürfen die Schatten niemals eine große Bedeutung gewinnen. Lassen Sie uns deshalb fortfahren von dem Schatten zur Wirklichkeit; selbst wenn uns dies Unannehmlichkeiten beschert.

Inhaltsverzeichnis

Vorwort ..................................................................... 5
Vom Schatten zur Wirklichkeit ......................................... 11
Vom Leben in der Wüste zum Leben in Kanaan ...................... 21
Von Jesus unserem Aaron zu Jesus unserem Melchisedek .... 45
Vom Leben im Alten Bund zum Leben im Neuen Bund.............. 63
Vom Leben im Heiligen zum Leben im Allerheiligsten .............. 81
Der Eintritt in das Heiligtum ........................................... 101
Die Kraft des Blutes Christi ............................................ 113
Die Alternativen – fortfahren oder zurückweichen ................. 123
Ausharren bis ans Ende ................................................. 133
Gibt es eine Rettung für den, der vom Glauben abfällt? ........... 145
Der vor uns liegende Wettlauf .......................................... 159

ISBN:9783882240238
Format:20,5x13,5cm
Seiten:189
Gewicht:270 g
@1978 Francke-Buchhandlung