Johannes 9 Der Blindgeborene Bettler 1866 BdH

07/26/2023
von Christ-und-Buch Günter Arhelger

Botschafter des Heils in Christo 1866

„Ein blindgeborener Bettler!“ Welch ein Ausdruck von Hilflosigkeit und Not! Welch ein treffendes Gemälde von dem wirklichen Zustand der jüdischen Nation und von jeder unbekehrten Seele! Es ist ein höchst anziehendes Stück lebendiger Geschichte – eine Szene aus dem wirklichen Leben. Richten wir etliche Augenblicke unsere Aufmerksamkeit darauf.

Bei Betrachtung des 9. Kapitel Johannes werden zwei sehr wichtige Fragen in uns angeregt, nämlich erstens: „Was tat Jesus für mich?“ – und zweitens: „Was ist Jesus für mich?“ Diese Fragen sind sehr verschieden und dennoch enge mit einander verbunden. Wir werden sie beide in der vor uns liegenden Erzählung erläutert finden.

Am Schluss des 8. Kapitels sehen wir, wie sich der Herr Jesus der rohen Gewalttätigkeit der Juden entzieht, deren Wut durch sein bestimmtes und kräftiges Zeugnis den höchsten Gipfel erreicht hatte. „Jesus sprach zu ihnen: Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: ehe Abraham ward, bin ich. Da hoben sie Steine auf, dass sie auf Ihn würfen. Jesus aber verbarg sich und ging aus dem Tempel, durch ihre Mitte hindurchgehend, und ging also vorbei.“ – das war die Vergeltung, die dem hoch gepriesenen Herrn für all seine Gnade und Wahrheit zu Teil wurde. Aber der höchste Grad von Rohheit und Gewalttätigkeit vermochte den Lauf seines unermüdlichen Dienstes nicht zu unterbrechen. Der Strom der Güte wälzte sich vorwärts und ließ sich durch all die Gottlosigkeit des Menschen nicht eindämmen. Und konnte dieser Strom an dem einen Orte keinen Kanal finden, so fand er ihn an dem anderen. Fehlte ihm hier der Ausgang, so suchte er dort einen solchen. Unbedingt musste die kostbare Gnade in dem Herzen Jesu irgendwo einen Gegenstand finden. Ewiglich sei sein Name gesegnet!

„Und vorbeigehend sähe Er einen Menschen, blind von Geburt. Und seine Jünger fragten Ihn und sagten: Rabbi, wer hat gesündigt, dieser oder seine Eltern, dass er blind geboren ist? Jesus antwortete: Weder dieser hat gesündigt, noch seine Eltern, sondern dass die Werke Gottes an ihm offenbar würden. Ich muss die Werke dessen wirken, der mich gesandt hat, solange es Tag ist; es kommt die Nacht, da niemand wirken kann.“ So stand es bei diesem gesegneten Arbeiter. Ungehindert verfolgte Er durch alle Feindseligkeit und Widersetzlichkeit des menschlichen Herzens seinen Dienstpfad. „Solange ich in der Welt bin, bin ich ein Licht der Welt.“ Ja, und dieses Licht sollte leuchten trotz aller Anstrengungen der Menschen, um es auszulöschen. Die Steine der Juden konnten den göttlichen Arbeiter nicht an dem Wirken der Werks Gottes hindern; und diese Werke sollten an irgendeinem blindgeborenen Bettler, der seinen Pfad in dieser dunklen und sündigen Welt durchkreuzte, offenbar werden. Wie gesegnet zu wissen, dass dieses so herrliche Werk Gottes in der Rettung verlorener, schuldiger und verdammungswürdiger Sünder sich gänzlich entfaltet hat!

„Als Er dieses gesagt hatte, spuckte er auf die Erde und machte Kot aus dem Speichel, und strich den Kot wie Salbe auf die Augen des Minden, und sprach zu ihm: Gehe hin und wasche dich in dem Teich Siloah, (was verdolmetscht wird: gesandt). Er ging nun hin und wusch sich und kam sehend.“

Richte auf diesen Vorgang deine ganze Aufmerksamkeit, mein teurer Leser. Diese geheimnisvolle Handlung Christi birgt mehr in sich, als wir auf den ersten Blick uns vorstellen mögen. Kot ans die Augen eines Sehenden zu streichen, würde die geeignetste Weise sein, um ihn zu blenden; aber hier öffnet der Herr Jesus durch dasselbe Mittel die erblindeten Augen eines Bettlers. Was sehen wir darin? Gerade das tiefe und kostbare Geheimnis der Person und des Werkes Christi selbst, wie Er am Schluss dieses inhaltsschweren Kapitels sagt: „Ich bin zum Gericht in diese Welt gekommen, auf dass die Nichtsehenden sehen, und die Sehenden blind werden“ (V 39).

Welch ein ernstes Wort! „Ich bin zum Gericht in diese Welt gekommen.“ Wie ist das zu verstehen? Kam Er nicht zu suchen und zu erretten, was verloren war? Gewiss, Er selbst versichert uns dieses zum wiederholten Mal. Warum aber sagt Er hier: „zum Gericht?“ Der Sinn ist einfach folgender. Der Zweck seiner Sendung war die Erlösung; die moralische Wirkung seines Lebens war das Gericht. Er richtet Keinen, und dennoch richtet Er einen jeglichen. Das Leben Christi hienieden war die kräftigste Probe, die je auf den Menschen angewandt worden war, oder je angewandt werden konnte. Deshalb konnte Er sagen: „Wenn ich nicht gekommen wäre und nicht zu ihnen geredet hätte, so hätten sie keine Sünde; jetzt aber haben sie keinen Vorwand für ihre Sünde. Wenn ich nicht die Werke getan hätte unter ihnen, die kein anderer getan hat, so hätten sie nicht Sünde. Jetzt aber haben sie gesehen und gehasst beide, mich und meinen Vater“ (Joh 15,22–24).

Es ist sehr nützlich, die Wirkung des Charakters und Lebens Christi hienieden zu beobachten. Er war das Licht der Welt; und dieses Licht wirkte in einer zweifachen Weise. Es überführte und bekehrte, es richtete und errettete. Außerdem verblendete es durch seinen himmlischen Glanz alle diejenigen, welche sehend zu sein glaubten, während es zu gleicher Zeit alle die erleuchtete, welche wirklich ihre moralische und geistliche Blindheit fühlten. Er kam nicht um zu richten, sondern um zu erretten; und dennoch richtete Er, als Er kam, einen jeglichen, und stellte jeden Menschen auf die Probe. Er war verschieden von allem, was Ihn umgab, wie das Licht inmitten der Finsternis; und dennoch rettete Er alle, welche das Gericht annahmen und ihren wahren Platz einnahmen.

Dasselbe gewähren wir beim Anschauen des Kreuzes unseres Herrn Jesus Christus. „Das Wort vom Kreuz ist denen, die verloren gehen, Torheit; uns aber, die wir selig werden, ist es Gotteskraft ... Wir aber predigen Christus, den Gekreuzigten, den Juden ein Anstoß, und den Nationen eine Torheit; den Berufenen selbst aber, sowohl Juden als Griechen, Christus, Gottes Kraft und Gottes Weisheit“ (1. Kor 1,18 23–24). Von menschlichem Gesichtspunkt aus betrachtet, stellte das Kreuz ein Schauspiel von Schwachheit und Torheit dar; aber von göttlichem Gesichtspunkt aus angeschaut, war es die Darstellung der Macht und der Weisheit.

 Die Juden, welche dasselbe durch den Nebel menschlicher Satzungen beschauten, ärgerten sich daran; und die Griechen, welche es von der eingebildeten Höhe der Philosophie anblickten, stießen es als ein verächtliches Ding von sich. Aber der Glaube eines armen Sünders, welcher das Kreuz aus der Tiefe der bewussten Schuld und des Verderbens betrachtete, fand darin eine göttliche Antwort auf jede Frage, eine göttliche Hilfe für jede Not. Der Tod Christi, wie sein Leben richtete jeden Menschen; und dennoch fanden ihre Rettung darin alle, welche das Gericht annahmen und ihren wahren Platz einnahmen.

Es ist von keinem geringen Interesse, den Keim von diesem allen in dem Verhalten des Herrn gegen den Blindgeborenen zu finden. Er strich Kot auf seine Augen und sandte ihn nach dem Teich Siloah. Das war „Christus, Gottes Kraft und Gottes Weisheit.“ Es war die Anwendung der Lehre von Christus in der Kraft des Heiligen Geistes durch das Wort. Also muss es stets sein. Wenn jemand, welcher sehend zu sein glaubt, diese Lehre betrachtet, so wird sie seine Augen verblenden; und wenn jemand, welcher blind ist, in der Kraft des Heiligen Geistes durch das Wort diese Lehre seinem Herzen zueignet, so wird sie seine Augen öffnen und ihn mit göttlichem Licht erfüllen.

Verfolgen wir indessen die Geschichte des Blindgeborenen. Kaum waren seine Augen geöffnet, so wurde er ein Gegenstand des Interesses für die Umgebung. „Die Nachbarn nun, und die ihn früher gesehen hatten, dass er Bettler war, sagten: Ist dieser nicht, der da saß und bettelte? Einige sagten: Er ist es. Andere aber: Er ist ihm ähnlich. Er sagte: Ich bin es.“ – Die Veränderung war allen offenbar. Er hätte unbeachtet und unbemerkt in Dürftigkeit und Blindheit gelebt haben und gestorben sein können; aber er war in eine persönliche Berührung mit dem Sohn Gottes gekommen; und diese Berührung hatte eine Veränderung zuwege gebracht, die nicht ermangeln konnte, die Aufmerksamkeit der Umgebung auf sich zu lenken. Also muss es stets sein. 

Es ist unmöglich, dass jemand mit Christus in Berührung gekommen sein kann, ohne etwas zu erfahren, was er nicht verbergen kann vor denen, welche ihn beobachten. Ein persönliches Zusammentreffen mit Christus ist eine göttliche Wirklichkeit. In dem wirklichen Berühren Jesu liegt Leben und Macht. Ein einziger Glaubensblick auf den Heiland der Sünder – den Lebensspender der Toten erzeugt die staunenswertesten Resultate.

Hast du, mein teurer Leser, die heilige und geheimnisvolle Macht dieses Zusammentreffens mit Jesu erfahren? Hast du die wunderbare Kraft seines Anrührens oder seines Anblicks gekostet? Sei versichert, dass nichts Geringeres dir etwas nützen kann. Du kannst liebenswürdig, moralisch und sogar religiös, und dennoch durchaus ohne eine göttliche, lebendige, persönliche Verbindung mit Christus sein. Das ist sehr ernst. Wie gern möchten wir dich leiten, diesen Ernst zu fühlen! Und wenn du wirklich davon überzeugt bist, dass du, was dich betrifft, keine Lebensgemeinschaft mit Christus hast, dann lass dich inständig von uns bitten, auf seine Stimme zu lauschen und dich in kindlichem Vertrauen zu ihm zu wenden. Wirf dich nur im Glauben auf Ihn, und deine geistlichen Augen werden sogleich die Kraft jenes geheimnisvollen Kotes verspüren, womit Jesus die Augen des Blinden salbte; und alle in deiner Umgebung werden es erfahren, dass du bei Jesus gewesen bist. Sei nicht gleichgültig in dieser Sache. 

Sage nicht: „Ich habe noch Zeit genug.“ Jetzt ist die Zeit Gottes. Für dich gibt es kein Morgen. Jesus geht jetzt an dir vorüber. Er wartet, um dich mit offenen Armen zu empfangen, um dich dem Zustand der Blindheit und der Dürftigkeit zu entreißen, und um dich mit den Reichtümern Christi auszusteuern. Dann wirst du inmitten deiner Nachbarn und Freunde ein Zeuge Jesu sein. Sie werden erkennen, dass es mit dir nicht mehr ist, wie es zu sein pflegte – dass eine wirkliche Veränderung stattgefunden hat – dass die Leidenschaften und Begierden, die Gewohnheiten und Einflüsse, welche weiland dich mit despotischer Gewalt beherrschten. Dich nicht mehr unter ihrer Herrschaft haben – dass das Böse, wenn es auch gelegentlich zum Vorschein kommt, seine frühere Macht an dir verloren hat. Gewiss es kann und wird ihnen nicht verborgen bleiben.

Wir fühlen es mit jedem Tag tiefer, dass es der große Zweck alles Predigens und alles Schreibens sein sollte, die Seele mit Christus zusammen zu bringen. Bevor dieses geschehen ist, kann bestimmt nichts geschehen. Man mag lange Predigten halten und dicke Bände schreiben, so ist dennoch, wenn die Seele des Sünders nicht in eine wirkliche, lebendige, Leben spendende Berührung mit dem Sohn Gottes gekommen ist, kein wirkliches, spürbares, bleibendes Resultat erreicht. Der Blindgeborene hätte, obgleich von allen Anwendungen des jüdischen Systems umringt, während all seiner Tage in seinem hilflosen und notleidenden Zustand bleiben müssen. Nichts, außer dein Namen Jesu, hatte irgendwelchen Wert für ihn. So ist es in allen Fällen. Niemand als Jesus kann dem Hilflosen Sünder Hilfe bringen. Aber selbstredend muss ich dann auch in eine lebendige Verbindung mit diesem göttlichen und allmächtigen Namen gebracht worden sein, um dieser Hilfe teilhaftig zu werden. 

Ich kann vorangehen und stets sagen: „Keiner, außer Jesu, kann mir helfen“, – ohne dadurch meine Lage zu verbessern. Auch die Teufe! wissen, dass keiner außer Jesu, den Hilflosen Sündern Gutes tun kann; aber es nützt ihnen nichts. Und die Menschen können die nämliche Sache wissen oder zu wissen vorgeben, und sie können das Bekenntnis als die Wirklichkeit betrachten und also sich selbst täuschen und ewiglich zu Grund gehen. Es muss ein lebendiges, die Seele mit Christus verknüpfendes Band vorhanden sein, um den Menschen dem Zustand geistlicher Blindheit und Dürftigkeit zu entreißen; und nicht nur dieses, sondern es muss auch die Macht dieser lebendigen Vereinigung gepflegt und verwirklicht werden, um in der Seele die Frische und die Fülle des göttlichen Lebens aufrecht zu erhalten. „Wie ihr nun den Christus Jesus, den Herrn, empfangen habt, so wandelt in ihm, eingewurzelt und auferbaut in ihm, und befestigt in dem Glauben, wie ihr gelehrt worden, reich seiend in demselben mit Danksagung“ (Kol 2,6 7).

Hier haben wir die beiden großen, wesentlichen Punkte, nämlich das Annehmen Christi und dann das Wandeln in Ihm. Das Erstere begegnet jedem Bedürfnis des Sünders; das Zweite entspricht vollkommen allen Forderungen des Heiligen. Es gibt viele, welche Jesus empfangen zu haben scheinen, aber nicht in Ihm wandeln. Das ist das Geheimnis der vielfachen Armseligkeit und Dürftigkeit, denen man unter den bekennenden Christen begegnet. Da zeigt sich nicht das eingewurzelte Wandeln in Christus. 

Auch andere Dinge drängen sich dazwischen. Wir beschäftigen uns oft mit der bloßen Maschinerie der Religiosität, mit Versammlungen, mit dem Dienst, mit Menschen und Dingen; und nicht selten sogar mag es geschehen, dass unsere Arbeit, unser Dienst, sich zwischen unsere Seelen und Christus stellt. Alle diese Dinge, welche sicher an ihrem Platz gut und notwendig sind, können durch den Betrug Satans und durch unseren Mangel an Wachsamkeit wirklich Christus aus unseren Seelen verbannen und sie mit Dürre und lebloser Förmlichkeit erfüllen.

O mein geliebter christlicher Leser! Lass uns zu wandeln trachten in einer dauernden Gemeinschaft mit Jesu. Mögen wir Ihn in all seiner Fülle und Kostbarkeit stets unseren Seelen vorhalten! Dann wird unser Zeugnis bestimmt, klar und verständlich, und unser Pfad in diesen Tagen oberflächlicher Bekenntnisse ein scheinendes Licht sein.

Doch kehren wir zur Geschichte unseres blinden Bettlers zurück. In den verschiedenen Klassen von Personen, welche hier unseren Blicken begegnen, gewähren wir eine höchst auffallende Charakterenthüllung. Der arme Blindgeborene selbst zeigt einen außergewöhnlichen Ernst, eine bewundernswürdige Einfalt und Aufrichtigkeit. Er erläutert durch sein Betragen sehr eindringlich den Mut und die Wichtigkeit eines treuen Nachfolgers, wenn das Licht auf unserem Pfad leuchtet. „Jedem, der hat, wird gegeben werden“, das ist das Motto, welches unsere Erzählung deutlich sichtbar an ihrer Stirn trägt, und welches antreibt, die betretene Bahn mit Eifer und Ergebenheit zu verfolgen. Es würde offenbar für das weltliche Interesse des armen Mannes förderlich gewesen sein, wenn er die Wahrheit dessen, was an ihm geschehen, verschwiegen hätte. 

Er konnte sich der Wohltat des Werkes Christi erfreuen und dennoch angesichts der Feindseligkeit der Welt, den rauen Pfad des Zeugnisses für seinen Namen vermeiden. Er konnte sich im Besitz seines Augenlichts glücklich fühlen und sich zu gleicher Zeit innerhalb der Schranken eines respektablen! Religionsbekenntnisses bewegen. Er konnte die Frucht des Werkes Christi ernten, und dennoch der Schmach des Bekenntnisses seines Namens entfliehen.

Und wie oft begegnen wir solchen Erscheinungen! Ach, wie oft! Taufende sind darüber sehr erfreut, wenn sie hören, was Jesus getan hat: aber sie wünschen nicht. Seinem verachteten und verworfenen Namen gleichförmig zu sein. Sie wünschen – um uns in einer gebräuchlichen Redensart auszudrücken – das Beste von dieser und der zukünftigen Welt sich zuzueignen, – ein Gefühl, vor welchem jeder aufrichtige Jünger Christi mit Abscheu zurückschaudern sollte, und eine Vorstellung, die der wahre Glaube durchaus nicht kennt. Es ist klar, dass der Held unserer Erzählung von dergleichen Grundsätzen nichts wusste. Seine Augen waren geöffnet worden, und Er konnte es nicht unterlassen, davon zu reden und mitzuteilen, wer es getan und wie Er es getan hatte. 

Nichts vermochte ihn davon zurück zu halten. Welch ein Glück! Es ist ein schreckliches Ding, gemischte Gefühle im Herzen zu nähren und den Herrn nicht allem den Raum in unserer Seele ausfüllen zu lassen. Solche Dinge versetzen dem wahren, praktischen Christentum und der treuen Jüngerschaft den Todesstoß. Wenn wir einem verworfenen Christus nachzufolgen begehren, so muss das Herz durchaus frei sein. Der wahre Jünger muss dasselbe von jedem persönlichen Interesse losgerissen haben. Denn alle Ziele, die man neben Jesu zu verfolgen trachtet, sind in der Hand Satans nur Mittel, um das Licht der Wahrheit in den Seelen der Menschen auszulöschen. Es mag jemand in vielen Dingen unwissend sein, aber wenn er nur aufrichtig dem Licht folgt, welches Gott so gnadenreich auf seinen Pfad strömen lässt, so wird er sicher mehr empfangen, während andererseits, wenn, um irgendeines Zweckes willen, das Licht gedämpft, die Wahrheit verdeckt und das Zeugnis unterdrückt wird, eine zunehmende Verdunkelung in der Seele Platz greifen muss.

Teurer Leser! Richte deine ernsteste Aufmerksamkeit auf diesen Punkt. Siehe zu, dass du dem empfangenen Licht gemäß handelst. Es ist ein herrliches Ding, wenn jeder frische Lichtstrahl einen Schritt in der rechten Richtung bewirkt. Und es wird stets also sein, wenn sich das Gewissen in einem guten Zustand befindet. „Der Gerechten Pfad ist wie des Lichtes Glanz, das da fortgeht und leuchtet bis auf den vollen Tag“ (Spr 4,18). „Wenn dein Auge einfältig ist, so wird dein ganzer Leib licht sein; wenn aber dein Auge böse ist, so wird dein ganzer Leib finster sein.“ Wie ernst ist diese Warnung für jeden Nachfolger! „Siehe nun zu, dass das Licht, das in dir ist, nicht Finsternis sei“ (Lk 11,34). Wie kann dieses geschehen? Wie kann das Licht sich in Finsternis verwandeln? Antwort: Wo nicht dem Licht gemäß gehandelt wird, da entsteht Finsternis. Schrecklicher Gedanke! „Gib Gott die Ehre, bevor Er die Finsternis hervorruft und dein Fuß strauchelt an dunklen Bergen.“ 

Wir kennen keine schrecklichere Gefahr, als, ohne ein tätiges Gewissen, vertraut mit der Wahrheit zu sein. Ein solcher Zustand schleudert die Seele in die Hände Satans, während ein waches Gewissen – ein aufrichtiges Gemüt – ein einfältiges Auge – uns beständig auf dem heiligen, friedlichen und lichten Weg Gottes wandeln lässt. Darum sagt der Herr: „Wenn nun dein ganzer Leib licht ist und keinen finsteren Teil hat, so wird er ganz licht sein, wie wenn die Lampe mit dem Schein dich erleuchtete“ (Lk 11,36). Es wird also, mit anderen Worten, jemand, dessen Auge einfältig ist, nicht nur Licht für sich selbst besitzen, sondern er wird auch ein Fackelträger für andere sein, während hingegen jemand, dessen Auge nicht einfältig, und dessen Herz mit gemischten Gefühlen erfüllt ist, nicht nur für sich selbst in moralische Finsternis gehüllt ist, sondern sich auch als eine Unehre für den Namen Christi, als ein Werkzeug in der Hand Satans und als ein Stein des Anstoßes für seine Mitmenschen kundgibt.

Diese Wahrheit ist in den Tagen oberflächlicher Glaubensbekenntnisse und einer weltlichen Religiosität van der äußersten Wichtigkeit. Die evangelische Lehre hat eine weite Ausbreitung gefunden; und während wir alle Ursache haben, für die Lehre und ihre Ausbreitung wahrhaft dankbar zu sein, so sind wir andererseits benötigt, gegen den Gebrauch, den der Teufel davon zu machen sich bemüht, wachsam zu sein. Wir sind von der Überzeugung tief durchdrungen, dass das selbst genügsame, oberflächliche Glaubensbekenntnis der gegenwärtigen Stunde nichts weiter ist, als ein Anbahnen des Weges für den finsteren und erschreckenden Unglauben der Zukunft. Wir bedürfen einer größeren Tätigkeit des Gewissens. Wir sind von dem Geist des Evangeliums nicht genügend durchdrungen. Der Feind ist zwar nicht fähig gewesen, das reine Licht des Evangeliums auszulöschen. 

Die finstere Wolke der Unwissenheit und des Aberglaubens, welche jahrhundertlang das Christentum in seine Schatten hüllte, ist hinweg gewälzt worden, und der glänzende Strahl der Lampe himmlischer Offenbarung hat sich über das menschliche Gemüt ergossen und hat das Dunkel zerstreut. Gott sei dafür gepriesen! Aber wir sind nicht unempfindlich gegen den Betrug und die List Satans, noch können wir unser Auge vor der beunruhigenden Tatsache verschließen, dass in der Gegenwart das evangelische Glaubensbekenntnis ohne ein waches Gewissen eines der mächtigsten Wirkungen des Feindes ist. Die Lehre von der Gnade wird weithin verkündigt und bekannt; aber anstatt zur Unterjochung der Natur verwandt zu werden; dient sie vielmehr dazu, der Selbstbefriedigung einen Rechtsgrund zu verschaffen. Die evangelische Religion unserer Tage ist ein sehr leichtes und schwaches Gewebe, welches für Sturm und Unwetter nicht paffend ist. Wir fürchten, dass, würde die Kirche nochmals von dem heftigen Windstoß einer Verfolgung heimgesucht, sich ihre Reihen zum Entsetzen lichten würden; aber wir sind auch der Meinung, dass dann auch noch eine Wolke von Zeugen ans Licht treten würde; denn wir sind davon überzeugt, dass sich unter dem Oberflächlichen noch vieles birgt, welches wirklich acht und wahr ist. –

Mit einem Wort, wir möchten dem christlichen Leser gern die Wichtigkeit ans Herz legen, dem ihm mitgeteilten Licht mit aufrichtigem Ernst zu folgen; und zu diesem Zweck wenden wir uns wieder zu dem Blindgeborenen. Nichts vermochte ihn zu entmutigen; nichts vermochte ihm den Mund zu verschließen; nichts war im Stande, sein Licht auszulöschen. Als „die Nachbarn“ fragten.– „Ist dieser nicht, der da saß und bettelte?“ so gab er bereitwillig die Antwort: „Ich bin es.“ Als sie ihn weiter fragten: „Wie sind deine Augen geöffnet worden?“ antwortete er ohne Zögern: „Ein Mensch, genannt Jesus, machte Kot und strich ihn wie Salbe auf meine Augen und sprach zu mir: Gehe hin nach dem Teich Siloah und wasche dich. Ich aber ging hin und wusch mich, und ich ward sehend.“ Als sie ihre Forschungen durch die Frage: „Wo ist Er?“ fortsetzten, sagte er frei heraus: „Ich weiß es nicht.“ 

Weder zögerte er mit seiner Antwort, noch zeigte er eine vorlaute Schwatzhaftigkeit; sondern er handelte aufrichtig seinem Licht gemäß. Und gerade das ist nötig. Er war in persönliche Berührung gebracht worden; und dieses persönliche zusammentreffen bildete die solide Grundlage seines Zeugnisses. Wir sollten nicht um ein Haarbreit über das Maß der wirklich persönlichen Erkenntnis Christi hinausgehen; aber wir sollten auch nach diesem Maß treu handeln. Es ist für jeden Einzelnen unter uns das glückselige Vorrecht, mit Christus zusammentreffen zu dürfen; und unser Bekenntnis sollte stets das Resultat dieses persönlichen Umgangs sein. Wir sind in Gefahr, uns in den äußeren Umständen eine Stütze zu suchen, anstatt uns durch innere Triebe leiten zu lassen. Alle äußeren Einflüsse aber, von denen der arme Blindgeborene umgeben war, waren feindlicher Natur und boten ihm keine Stütze; aber kühn bekannte er die Wahrheit, und zwar gerade nach dem Verhältnis seiner eigenen persönlichen Erfahrung, und nicht darüber hinaus. Er handelte dem empfangenen Licht gemäß; und in der Folge, wie wir sehen werden, schritt er weiter.

Betrachten wir ihn in der Umgebung der Pharisäer. Diese durch blinde Vorurteile beherrschten Männer hatten mit Bedacht ihre Augen gegen das Licht der Wahrheit geschlossen. Anstatt sich ruhig nieder zu setzen und die reinen und himmlischen Lehren des gesegneten Herrn, dessen Stimme in ihrer Mitte erklungen war, zu untersuchen, „waren sie schon übereingekommen, dass, wenn jemand Ihn als Christus erkennen würde, er aus der Synagoge gestoßen werden sollte.“ Es war daher offenbar unmöglich, dass sie zur Wahrheit gelangen konnten, solange ihr Auge durch die Binde der Vorurteile verhüllt war. Sie bekannten, sehend zu sein; und deshalb blieben ihre Sünden. Welch ein ernster Gedanke! „Jesus sprach zu ihnen: Wenn ihr blind wärt, so würdet ihr nicht Sünde haben; nun aber sagt ihr: Wir sehen, so bleibt denn eure Sünde.“ 

Die Fortdauer der Sünde ist gerichtlich geknüpft an das Bekenntnis, sehen zu können. Wenn jemand weiß, dass er blind ist, so kann er geöffnete Augen bekommen; aber was kann für einen Menschen getan werden, der sehend zu sein glaubt, während zu derselben Zeit seine Augen durch die Binde blinder Vorurteile verhüllt sind? Ach, leider nichts! Das Licht in ihm ist Finsternis; und wie groß ist diese Finsternis! Diese Pharisäer konnten sich rühmen, den Sabbat zu halten und Gott die Ehre zu geben; und dennoch konnten sie von Christus sagen: „Wir wissen, dass dieser Mensch ein Sünder ist.“ Soweit trieb sie ihre Religiosität. Ein Sabbat ohne Christus aber ist eine Täuschung. Gott ehren zu wollen, außer durch Christus ist ein schrecklicher Betrug. 

Und dennoch zeigte sich dieses alles bei den armseligen Pharisäern. Sie wurden beunruhigt durch das Zeugnis des armen Mannes. Wie gern würden sie es unterdrückt haben! Mit welcher Hast waren sie bemüht, durch ihre amtliche Autorität das blendende, beunruhigende, verabscheuende Licht auszulöschen! Doch sie konnten es nicht. Sie griffen zu einem hartherzigen Mittel, indem sie die „Eltern“ des Blindgeborenen in ihren Dienst zu ziehen trachteten; allein es war vergeblich. Die Eltern fürchteten die Juden. Sie wünschten nicht, das Ansehen zu verlieren. Sie wussten nichts von Christus, nichts von seinem Werk, noch von seiner Person; sie warm nicht bereit, sich seinetwegen einen Tadel zuzuziehen. Sie wussten nichts von der wunderbaren Heilung, welche bewirkt worden war. „Er ist mündig“, sagen sie, „fragt ihn, er wird selbst von sich sprechen. Dies sagten seine Eltern, weil sie die Juden fürchteten“ (V 21–22).

Welch einen schrecklichen Fallstrick bildet die religiöse Stellung! Sie zeigt sich stets als ein Hindernis auf dem Weg einer freimütigen Entscheidung für Christus. Wenn ich meinen Schritt hemmen muss, um zu überlegen, inwiefern meine religiöse Stellung, mein Einfluss, meine Ehre durch einen solchen Schritt berührt wird, dann ist mein Auge nicht einfältig und mein ganzer Leib ist Finsternis; dann ist das nämliche Licht, welches ich zu besitzen bekenne, Finsternis geworden; und ich werde in der Hand Satans ein Werkzeug, und in den Wegen der Menschen ein Stein des Anstoßes sein.

Wie wohltuend ist es, sich von dem dunklen Hintergrund der Vorurteile und der Herzlosigkeit abwenden und die furchtlose Aufrichtigkeit des blindgeborenen Bettlers betrachten zu können! Wir müssen bekennen, dass wir dieses offene, kühne Geständnis bewundern und es nachzuahmen wünschen. Er erkannte freilich nicht viel; aber das, was er erkannte, verwertete er aufs Beste. Er sagte es frei und offen heraus, was Jesus für ihn getan hatte. „Eins weiß ich“, ließ sich dieser treue Zeuge vernehmen, „dass ich blind war, und jetzt sehe.“ Diese Tatsache stand trotz allem Widerspruch fest. Alle Einwendungen der Pharisäer vermochten sein Vertrauen zu dem glücklichen Ereignis, dass seine Augen geöffnet worden waren, nicht wankend zu machen. Das war es, welches die Kraft seines Zeugnisses ausmachte. Das Zeugnis war an eine einfache und offenbare Tatsache geknüpft. 

Jener Mensch, welcher weiland saß und bettelte, stand jetzt da mit geöffneten Augen; und „ein Mensch, genannt Jesus“ hatte dem Blinden das Licht der Augen gegeben. Welch ein Ereignis! Und dennoch war der Geheilte so unwissend; aber er war aufrichtig. Er verkündete die ganze Wahrheit und lieferte in seiner Person den Beweis davon. Wie gering war seine Erkenntnis in Betreff Jesu! Er wusste nicht, wer Er war, und auch nicht, wo Er war; aber er wusste und sagte völlig genug, um die Pharisäer zum Erstaunen in die größte Unruhe zu bringen. Und sein Zeugnis steigerte sich von Minute zu Minute. Die große Unvernunft seiner Feinde drängte ihn zu einem immer helleren Licht, bis er endlich in die denkwürdigen und unwiderstehlichen Worte ausbrach: „Wenn dieser nicht von Gott wäre, so könnte Er nichts tun.“

Es ist in der Tat ein großer Genuss, diese Erzählung zu lesen. Es tut dem Herzen wohl, einen aufrichtigen Menschen gegenüber dem religiösen Vorurteil und der Unduldsamkeit in mutigem Kampf zu sehen. Gott möge es geben, dass sich heutzutage noch mancher nach dem Muster dieses blindgeborenen Bettlers bilde! Wir kennen keinen mächtigeren Damm, um die wachsenden Fluten des Unglaubens aufzuhalten, als das kühne und kräftige Zeugnis derer, welche irgendetwas erfahren haben an der Hand Christi. 

Welche Kraft würde es sein, wenn sie nur einfach mitteilten, was der Herr an ihnen getan, und ihr Zeugnis gründeten auf das, was ebenso klar und deutlich, als unwiderlegbar ist! Welche Spitze! Welche Schärfe! In dem uns vorliegenden Fall sehen wir, dass ein armer, unwissender Mensch, der einst als blinder Bettler am Weg gesessen hatte, durch sein Zeugnis die Pharisäer in Bewegung brachte und all ihren Vernunftschlüssen einen Stoß versetzte. Er erwies sich ihnen als erdrückender Stein, als eine Bürde, die sie nicht zu ertragen vermochten. „Du bist ganz in Sünden geboren“, schrien sie, „und du lehrst uns? Und sie werfen ihn hinaus.“ –

Glücklicher Mann! Er war einfach und aufrichtig dem empfangenen Licht gefolgt. Er hatte ein offenes Zeugnis für die Wahrheit abgelegt. Sein Auge war geöffnet worden, um zu sehen, und sein Mund, um zu zeugen. Es handelte sich hier einfach um die Wahrheit; und um der Wahrheit willen ward er hinausgeworfen. Er hatte die Pharisäer nie beunruhigt während der Tage seiner Blindheit und Dürftigkeit. Vielleicht mochten etliche von ihnen ihm im Vorübergehen stolz und prahlerisch ein unbedeutendes Almosen zugeworfen haben, um sich bei den Mitmenschen den Ruf als Wohltäter zu sicheren; aber jetzt war jener blinde Bettler ein mächtiger Zeuge geworden. Worte der Wahrheit strömten über seine Lippen; – Worte, die für sie zu scharf und eindringend waren, als dass sie Stand zu halten vermocht hätten; – und darum stießen sie ihn hinaus.

Glücklicher, höchst glücklicher Mann! Dieses war der glänzendste Moment in seiner Laufbahn. Diese Menschen hatten, ohne sich dessen bewusst zu sein, ihm einen wirklichen Dienst erwiesen. Sie hatten ihn in die ehrenvollste Stellung hineingedrängt, die je ein sterblicher Mensch einzunehmen im Stande ist – eine Stellung der Gleichförmigkeit mit Christa. Und seht einmal, wie das zärtliche Herz des guten Hirten beim Anblick seines ausgestoßenen Schafes bewegt wird!

„Jesus hörte, dass sie ihn hinausgeworfen hatten; und da er ihn fand, sprach er zu ihm: Glaubst du an den Sohn Gottes?“ Wie ungemein rührend ist diese Ansprache! Kaum war das arme Schaf hart und lieblos ans der Hürde hinausgestoßen worden, so eilte auch schon der gute Hirte an seine Seite, um ihn auf jenem Pfad, den er bisher mit einem so kühnen und entschiedenen Schritt betreten hatte, weiter und weiter zu führen. „Glaubst du an den Sohn Gottes? Er antwortete und sprach: Und wer ist es Herr, auf dass ich an Ihn glaube? Jesus aber sprach zu ihm: Du hast Ihn gesehen, und der mit dir redet, der ist es. Er aber sprach: Ich glaube, Herr. Und er huldigte Ihm.“

Das ist genug. Dieses treue Zeugnis hier verdient eine reiche Belohnung. Er hatte mit klarer Entscheidung und zwar dem empfangenen Licht gemäß, den Pfad des einfachen, ernsten Zeugnisses verfolgt; und als die Folge davon war er durch die Religion dieser Welt ausgestoßen. Er war gezwungen worden, seinen Platz außerhalb des Lagers einnehmen zu müssen; aber dort fand Jesus ihn und offenbarte sich seiner Seele, und über diesem höchst begünstigten Mann, der als Anbeter zu den Füßen der Fleisch gewordenen Gottheit lag, war der Vorhang für immer zerrissen. 

Welch ein Platz! Welch ein Gegensatz zu dem Platz, auf den wir ihn im Eingang unserer Erzählung fanden! Welch eine Laufbahn! Zuerst ein blinder Bettler – dann ein ernster Zeuge – und endlich ein erleuchteter Anbeter zu den Füßen des Sohnes Gottes. Wie glücklich und geehrt ist dieser Mann! Möge der Herr in diesen Tagen kalter Gleichgültigkeit und oberflächlicher Glaubensbekenntnisse noch viele auf einen solch erhabenen Platz führen! O wie gesegnet ist ein aufrichtiges, ein treu für Christus lebendes Herz – ein Herz, welches nimmer die Resultate berechnet, sondern sich unbeachtet der Folgen enge an Jesus klammert!