Pohl Adolf Wuppertaler Studienbibel Markus

05/13/2023
von Christ-und-Buch Günter Arhelger

Das Evangelium des Markus (A.Pohl)

A. Einleitungsfragen
1. Die Buchüberschrift
Die älteste Handschrift, die uns Teile des Markusevangeliums erhalten hat, der Chester Beatty Papyrus I aus dem 3. Jh., wirft für die Frage nach der Überschrift nichts ab, weil er leider erst bei 4,36 beginnt. Die nächstältesten Handschriften sind schon die berühmten Hauptzeugen der Bibel überhaupt, der Kodex Vaticanus und der Kodex Sinaiticus aus dem 4. Jh. Dort aber trägt das Buch die karge Überschrift: "Nach Markus". Wohlgemerkt schweigt sie sich über den Buchinhalt aus und beantwortet lediglich die Frage: Wer ist der Zeuge? Das haben die Abschreiber bald empfunden und vom nächsten Jh. an ergänzt: "Evangelium nach Markus". Die Kirchenväter haben sich in ihren Schriften vorher schon so geholfen.


   Geht nun die alte Kurzbezeichnung "Nach Markus" auf Markus selbst zurück? Stand sie schon in seinem Original?
   Entsprechende Verfasserangaben sind auch sonst im Altertum belegt (WB 807), aber immer verknüpft mit "Buch, Erinnerungen, Biographie, Brief" o.ä. Eine alleinstehende Verfasserangabe als Buchüberschrift wirkte damals genauso merkwürdig wie heute. Nun ist einzubeziehen, daß aber alle Evangelien derartig überschrieben sind. Wenn wirklich Markus sein Werk so auffallend bezeichnet haben sollte, würden das aber gleich vier Schriftsteller in der gleichen Weise tun? Die Wahrscheinlichkeit spricht nicht dafür.
   Es kommt hinzu, daß im frühen Altertum Buchtitel nicht vom Verfasser selbst geprägt wurden (L. Koep 674.685; Fouquet-Plümacher 275.282). Sie ergaben sich erst aus der Verwendung eines Werkes. Ein Vortragskünstler mußte ein Stück irgendwie ankündigen, vor allem benötigte der Bibliothekar Titelangaben zwecks Katalogisierung. Man bildete sie gern mit Hilfe wichtiger Begriffe aus der Bucheröffnung. Auch mit biblischen Schriften wurde so verfahren. Die "Offenbarung des Johannes" verdankt z.B. ihren Titel Offb 1,1, die Paulus-Briefe den Empfängerangaben zu Beginn, z.B. "An die Römer" aus Röm 1,7.
   Schließlich spricht noch ein Umstand für unsere These, daß die Verfasserangaben nicht von den Evangelisten selbst stammen. Während es nämlich zu einem Brief gehörte, daß der Verfasser sich sogleich beim Namen nannte, ist bei den Evangelien offensichtlich das Gegenteil der Fall. Bei Matthäus und Markus findet sich nicht der geringste Hinweis, bei Lukas nur das anonyme Verfasser-Ich in 1,3 und bei Johannes erst zum Schluß das Verfasser-Er ohne Namensnennung in 19,35; vgl. 20,30f; 21,25. Offenbar herrscht hier Konsequenz. Erst die apokryphen Evangelien des 2. Jhs. hatten es nötig, sich den Nimbus zu verschaffen, von Autoritäten der Urchristenheit verfaßt zu sein. So spricht z.B. das Petrus-Evangelium aus dem 2. Jh. vollmundig: "Ich aber, Simon Petrus". Dagegen besaßen unsere kanonischen Evangelien ihr Ansehen von Anfang an. Ihre Gewährsleute mußten sich nicht erst herausstreichen, weil sie in der noch jungen und überschaubaren Christusbewegung bekannt waren, und sie durften es nicht, weil der eigentlich Redende in diesen Büchern im besonderen Sinn der Herr war (vgl. Hebr 2,3).
   Aber als die Zeit der Anfänge versank und vor allem, als im 2. Jh. vier derartige Bücher nebeneinander existierten, setzte sich die praktische Notwendigkeit durch, zwischen diesen vier Zeugen zu unterscheiden. Jetzt erschienen also die Verfasserangaben: "Nach Matthäus", "Nach Markus" usw. Diese Notiz brachte man auf einem Zettel am Stab der Schriftrolle an, praktisch für jeden, der in einer Bücherkiste oder in einem Tonkrug nach einer bestimmten Rolle suchte. Später, als die Bibel in Kodexform überliefert wurde, konnte solch ein Kurztitel auch auf dem oberen Rand eines jeden Blattes gesetzt werden, so daß man blätternd schnell das Gesuchte fand. Auf der Titelseite wurden Buchtitel dagegen gern angereichert. Aus Mk 1,1 gewann man den Begriff "Evangelium". Vom Matthäusevangelium z.B. existiert die klangvolle Bezeichnung "Das heilige Evangelium des Apostel Matthäus".
   Der Kurztitel enthob in seiner Art zugleich der Aufgabe, dieser Literaturgattung als solcher einen Namen geben zu müssen, was offensichtlich Mühe bereitete, war sie doch ohne Vorbild. Erst ab Mitte des 2. Jhs. sagte man in unserer Weise: Das sind die vier Evangelien! "Evangelium" war nun neben der Bezeichnung für das eine Evangelium, von der keine Mehrzahl gebildet werden durfte (Gal 1,6f), Name für vier Bücher geworden.
   So verdanken wir die Kurzbezeichnung "Nach Markus" und deren Erweiterung "Evangelium nach Markus" christlicher Fürsorge aus der späteren Gemeinde.

Zur Person des Johannes Markus

05/13/2023
von Christ-und-Buch Günter Arhelger

In Apg 12,12 haben wir den seltenen Fall, daß jemand statt nach seinen Eltern nach seinem Kind bezeichnet wird: "Maria, die Mutter des Johannes, der mit Zunamen Markus hieß." Sicher war der Sohn den Lesern bekannter als die Mutter und war überhaupt eine wohlbekannte Persönlichkeit in der Urchristenheit.

   Zugleich erfahren wir an dieser Stelle den eigentlichen, den jüdischen Namen dieses Mannes: Johannes (vom althebräischen Jochanan). Weil er später sein Wirkungsfeld in der Heidenmission erhielt, wurde und ist er bis heute unter seinem lateinischen Beinamen Markus bekannt (so Apg 15,39; Kol 4,1; Phim 24; 2Tim 4,11; 1Petr 5,13; nur Johannes heißt er in Apg 13,5.13; der Doppelname findet sich in Apg 12,12.25; 15,37).


   Nach Grundmann (S. 20) geht aus dem Doppelnamen hervor, daß Markus oder ein Vorfahre von ihm ein libertinus, also ein "Freigelassener" war. Apg 6,9 belegt die zahlenmäßige Stärke dieser Gruppe der libertini in Jerusalem. Solche Freigelassene wurden der Sitte gemäß bei ihrer Entlassung aus dem Sklavenstand durch eine römische Familie adoptiert und trugen fortan deren Beinamen. Saul Paulus ist ein bekanntes Beispiel. Diese Vorgeschichte mochte Markus auch gerade für die Missionsarbeit in Rom geeignet erscheinen lassen.
   Seine Familie könnte aus Cypern gestammt haben, denn nach Kol 4,10 war der Cypriote Barnabas sein Vetter. Nach Apg 4,36 war Barnabas ein Levit, nach der Überlieferung ebenfalls Markus, so daß sie über die väterliche Linie verwandt gewesen sein mögen. Jedenfalls besaß die verwitwete Mutter des Markus - sein Vater wird in der Apostelgeschichte nicht genannt - ein stattliches Anwesen in Jerusalem. Apg 12,12-14 setzt einen umbauten Hof und einen Raum für "viele" voraus. Dort sind die Gläubigen gewohnheitsmäßig versammelt, nach V.3 auch in der Passanacht. Von hier aus legen sich drei Vermutungen nahe: 1. Derselbe Raum diente schon Jesus in der Passanacht als Festsaal; es handelt sich um den "Großen Saal" von Mk 14,15. 2. Er ist auch identisch mit dem Obergemach von Apg 1,13, wo die 120 mit den Frauen sich versammelten. Das aufgestockte Haus zeigt wieder den Wohlstand der Besitzer. 3. Er ist schließlich auch identisch mit der Stätte von Joh 20,19.26, zeichnet sich doch eine ähnliche Örtlichkeit ab (Hoftüren!). Wenn das alles zutrifft, stand den Jüngern vor und nach Ostern ein ganz bestimmtes Anwesen gastlich offen, nämlich als Jerusalemer Absteigequartier für den irdischen Herrn, als Offenbarungsstätte zu Ostern, als Gebetssaal vor Pfingsten und als Wiege der Jerusalemer Stadtmission nach Pfingsten. Dann wäre auch die Bekanntheit des Markus als Sohn dieses Hauses erklärlich, ebenso wie der Umstand, daß er besonders gut informiert war.
   Nach 1Petr 5,13 und auch nach Papias wurde Markus nicht durch Jesus selbst gewonnen, sondern erst nach Ostern durch Petrus ("mein Sohn"). Dann siedelte er nach Antiochien über (Apg 12,25), veranlaßt durch Barnabas und Paulus. Sie müssen sich von ihm etwas versprochen haben für die Mission. Nach Apg 13,5 nehmen sie ihn dann auch mit auf die erste Missionsreise, und zwar als "Gehilfen" (hypäretäs, s.u.). Unterwegs läßt dieser sie aber im Stich und kehrt gleich ganz nach Jerusalem zurück (13,13). In 15,37-39 nominiert Barnabas ihn noch einmal für eine Reise. Markus muß schon fachliche Qualitäten gehabt haben. Hier von "Vetternwirtschaft" zu reden, dürfte ein Fehlgriff im Niveau sein. Aber Paulus lehnt trotzdem entschieden ab. Barnabas dagegen besteht auf Markus. Sie trennen sich im Streit, und Barnabas zieht mit Markus allein.
   Für die nächsten zehn Jahre schweigt das NT über Markus. Die Überlieferung erzählt, daß er in dieser Zeit die Kirche Ägyptens gegründet habe und ihr erster Bischof gewesen sei. Aber das ist weder widerspruchsfrei überliefert noch überprüfbar. Jedenfalls taucht Markus nach rund zehn Jahren wieder in der Paulusumgebung auf: Kol 4,10f; Phim 24 (in Ephesus oder sonst in Rom). Der Apostel zählt ihn zu den wenigen Getreuen und nennt ihn seinen "Mitarbeiter für das Reich Gottes". Eindeutig nach Rom führt dann 2Tim 4,11: Paulus erbittet das Kommen des Markus in die Hauptstadt, er sei ihm "nützlich zum Dienst".
   Nach 1Petr 5,13 ist Markus dann mit Petrus in Rom (= "Babel"). Um das Jahr 64 erlitten Petrus und Paulus in Rom den Märtyrertod (s. 5e). Nach der Überlieferung hat Markus bald danach, auf viele Bitten hin, die Jesusüberlieferung, die er wie wenige kannte, niedergeschrieben. Als frühestes Datum kommt also das Jahr 64 in Frage. Er selber soll später in Ägypten das Martyrium erlitten haben, aber die ganze Ägypten-Überlieferung ist fraglich.
f) Der besondere Dienst des Markus
In Apg 13,5 lesen wir: "Sie hatten aber auch Johannes als hypäretäs." Luther übersetzt diese Vokabel sechsmal mit "Knecht" und vierzehnmal mit "Diener". Mit "Knecht" ist aber besser das viel häufigere doulos (124mal im NT) und mit "Diener" das griechische diakonos (30mal) wiederzugeben. Um die Begriffe nicht zu verwaschen, sollte man das viel seltenere hypäretäs in seiner durchaus eigenen Prägung erfassen und etwa wie die Revidierte Lutherübersetzung mit "Gehilfe" übersetzen (vgl. zum folgenden Rengstorf, ThWNT VIII, S. 530ff; Boman, S. 44ff; Lane, S. 20f). Wir untersuchen kurz die sechs Stellen bei Lukas.
   In Lk 4,20 finden wir das Wort als Bezeichnung für den Mann, der im Gottesdienst als rechte Hand des Synagogenvorstehers fungierte. Als solcher verfügte er über ein nicht unbeträchtliches Maß an Autorität und Macht, dies aber nur in Abhängigkeit vom Vorsteher, nur als ausführendes Organ. Eine vergleichbare Rolle spielten die hypäretai in Apg 5,22.26, die dem Hohenpriester zur Seite standen. Immer sind zwei Momente beisammen: eine Heraushebung durch Unmittelbarkeit zu einem Höheren und die Unselbständigkeit einer nur assistierenden Funktion. So auch bei der geistlichen Verwendung. In Apg 26,16 ist Paulus seinerseits der hypäretäs des Herrn. Das ist ein ehrenvoller Ruf in die Nähe des Herrn, aber auch ein Ruf in die totale Abhängigkeit, weswegen Paulus V.19 beteuert: "Ich bin nicht ungehorsam gewesen." Dabei ist der Begriff auf den Wortdienst bezogen. Jesus nennt Paulus seinen Zeugen.
   Damit kehren wir zu Apg 13,5 zurück, wo Markus hypäretäs des Paulus und des Barnabas genannt wird. Hier und auch 15,38 ("achtete ihn nicht für würdig") geht es um eine ehrenvolle Wahl, die auf Markus fiel, aber es zeigt sich auch, daß er den beiden eigentlichen Missionaren nicht gleichgestellt war. Sein Dienst war dem ihren zu- und untergeordnet. Worin bestand er konkret? Hatte Markus nur materielle Aufgaben, nur Fürsorge für Kleidung, Essen und Quartier? War er Kammerdiener? Aber in 13,5 zeichnet sich deutlich der Zusammenhang mit dem Verkündigungsdienst ab. Das bestätigt schließlich die fünfte Stelle, Apg 15,38: Er stand mit im Missionswerk. Nur, in welcher Form?
   Dazu gibt die letzte Stelle Aufschluß. Lukas spricht zu Beginn seines Evangeliums von den "hypäretai des Wortes", und zwar bezogen auf die Jesusüberlieferung. Meist wird auch hier zu blaß "Diener des Wortes" übersetzt, und wir denken an den allgemeinen Verkündigungsdienst der Apostel wie etwa Apg 6,4. Aber ein hypäretäs ist nicht ohne weiteres auch Apostel. Es wird sich vielmehr so verhalten haben: Paulus und Barnabas verkündigten die zentrale Botschaft von Kreuz und Auferstehung nach 1Kor 15,3-5 und riefen zum Glauben an den gegenwärtigen Herrn auf, während Markus anschließend den Erweckten und Fragenden die Jesusüberlieferung darbrachte. Er entfaltete und vertiefte die Evangelisation. Er prägte auch nach Mt 28,20 den Getauften alles ein, was Jesus seinen Jüngern geboten hatte.
   Später scheinen die hypäretai einen inhaltlich ausgerichteten Namen bekommen zu haben. Eph 4,11 nennt sinnvoll an dritter Stelle, nach den eigentlichen Verkündigern, die "Evangelisten". Auch in 2Tim 4,5 ist diese Bezeichnung nicht im Sinne missionarischer Unternehmungen verwendet, wie wir heute den Evangelisten verstehen, sondern im Sinne der Befestigung der Gemeinde. In Apg 21,8 dient "Evangelist" gerade zur Unterscheidung vom Apostel Philippus. Der Evangelist trug den Evangelienstoff weiter, er war eine Art wandelndes Evangelium.
   Offenbar gab es einen regelrechten Stand von solchen "Evangelisten", die Paulus immer wieder rühmt als seine "Mitarbeiter" oder "Mitknechte", unter Nennung von Namen wie Markus, Timotheus, Epaphras, Lukas, Titus, Kreszens, Aristarchus und Demas (1Thes 3,2; Kol 1,7; 2Tim 4,10; Phim 24).
   Doch zurück zum hypäretäs Markus in 13,5. Er hatte einen Nebendienst zu leisten, aber einen unentbehrlichen, wenn solide Gemeinde entstehen sollte. Für diesen Dienst brachte er zwei Voraussetzungen mit: eine Herkunft aus dem Zentrum des Urchristentums und ein zuverlässiges Gedächtnis. Er trug objektiv einen Schatz mit sich, er war ein Schatz für die Mission. Um so schlimmer wog sein subjektives Versagen, seine Fahnenflucht in Pamphylien. Darum war Paulus auch so erbost - um der Sache willen, die so empfindlich getroffen war. Er hatte sich damals behelfen und sehr sorgen müssen um die Beständigkeit der jungen Gemeinden (Apg 15,36). Mit einem neuen hypäretäs, nämlich mit Silas, bereiste er später die Strecke noch einmal und gewann dabei auch Timotheus zu diesem Dienst. Nach 2Tim 3,14-17 umfaßte dessen Aufgabe auch die Unterweisung im AT.
   Weil Markus ein so vorzüglicher Assistent war, wurde sein Name immer wieder genannt und erhielt er immer wieder Rufe, zunächst von Barnabas und Paulus, dann von Barnabas, dann von Petrus und wieder von Paulus. Darum schien er auch nach dem Tode der Apostel vorherbestimmt, die Jesusüberlieferung niederzuschreiben und für die nächste Generation zu dokumentieren.
3. Die Quellen des Markus
Der Vergleich der ersten drei Evangelien beweist, daß man damals Jesusgeschichten nicht mit eigenen Worten niederschrieb, sondern sich an ältere Vorlagen hielt. Die Papias-Notiz gibt für Markus nur eine einzige Quelle an: Petrus! Aber das ist sicher eine Vereinfachung. Als Sohn des Hauses, in dem die erste Gemeinde ein- und ausging, verdankte er seine Kenntnisse nicht einem einzigen Zeugen. Nach allem, was wir über den ersten Jüngerkreis wissen, hat Petrus zwar vor und nach Ostern eine führende Rolle gespielt, aber er war nicht der einzige Zeuge. Lukas bestätigt in seinem Evangelium 1,1-2: Gleich am Anfang stand eine Mehrzahl von Augenzeugen, eine Mehrzahl von ersten Niederschriften und - wie wir im Rückblick ergänzen können - auch eine Mehrzahl von Evangelien. So mag ein beträchtlicher Teil auf Petrus zurückgehen oder doch irgendwie mit ihm zusammenhängen, doch keinesfalls alles.
   Tatsächlich liefert auch das Markusevangelium selbst Anhaltspunkte dafür, daß ihm mündliche und auch größere schriftliche Vorlagen zur Verfügung standen. Dazu einige Hinweise, die jeder Bibelleser nachprüfen kann:
   Markus nennt 81mal den Namen "Jesus", so daß im Durchschnitt auf acht Verse einmal "Jesus" kommt. Aber mittendrin, zwischen 6,30 und 8,27 gibt es zusammenhängend 90 Verse ohne eine einzige Nennung dieses Namens; immer finden wir dort nur das persönliche Fürwort für den Herrn. Hier scheint sich eine andere Vorlage anzudeuten.
   Der Bibelleser kennt auch das für Markus so typische "alsbald, sogleich". Allein im ersten Kapitel erscheint es elfmal, insgesamt 43mal (bei Matthäus dagegen nur acht Stellen, bei Lukas und Johannes nur je drei). Aber bei genauem Zusehen verteilen sich die Stellen ganz unterschiedlich auf die Kapitel. Allein in der ersten Hälfte des Buches bis 8,26 haben wir schon 35 Stellen. Danach verschwindet das Wörtchen fast völlig, um plötzlich in zwei Geschichten wieder vermehrt aufzutreten (9,15.20.24 und 14,43.45). "Alsbald" ist also nicht typisch für Markus überhaupt, sondern für eine oder einige seiner Quellen.
   In Kap. 1 heißt der erste Jünger regelmäßig "Simon" (fünfmal), danach aber wird er immer und gleich zwanzigmal mit seinem Beinamen "Petrus" genannt. Sonderfälle sind 3,16 (Doppelname) und 14,37 (Anrede durch Jesus).
   Uneinheitlich ist auch die Anrede Jesu. In der ersten Hälfte nennt man ihn nur "Lehrer" (achtmal), danach nur noch zweimal, aber nun viermal mit der aramäischen Entsprechung "Rabbi".
   Zweimal wird Dan 7,13 zitiert, aber in verschiedener Form. Heißt es 13,26 "in den Wolken", so 14,62 "mit den Wolken".
   Diese Beispiele für uneinheitlichen Sprachgebrauch lassen sich leicht vermehren (s. Pesch I, S. 15ff; II, S. 3ff). Wie soll man diese Erscheinungen besser erklären als Lukas es tut: Die Evangelien und auch das Markusevangelium fußen auf einer Mehrzahl von Zeugen!
   Zugleich beleuchten diese Beispiele den Umgang des Markus mit seinen Quellen. Er hätte sie durchgreifend überarbeiten und auf diese Weise seinem Buch ein einheitliches Sprachgewand verleihen können. So hat es später Lukas annähernd getan. Man kann es an den Abschnitten überprüfen, die er von Markus übernommen hat. Kaum eine Zeile ließ er ohne stilistische Korrektur. Markus dagegen fühlte seine Hände gebunden. Nur ganz zurückhaltend griff er hier und dort ein. Dadurch wirkt sein Buch in sprachlicher Hinsicht nicht selten unbeholfen (vgl. Einleitungsfragen 4).
   Sein eigener Beitrag bestand in der Auswahl und Anordnung des Stoffes, im Übersetzen aramäischer Wörter, im Erklären jüdischer Sitten (7,3-4), in kleinen Verstehenshilfen und Hinweisen (2,28; 7,11b.19b; 13,14; 14,48), in aktualisierenden Erweiterungen (10,12) und vor allem in Zusammenfassungen (z.B. 3,7-12). Man vergleiche im einzelnen die Auslegung dieser Stellen, auch Vorbemerkung 1 zu 2,18-22.
   Wenn Markus also verschiedene Quellen miteinander verflochten hat, läßt sich sein Werk dann wieder entflechten? Läßt sich feststellen, wo die eine Quelle endet und die nächste beginnt? Lassen sich seine Quellen rekonstruieren und seine eigenen Beiträge davon absondern? Gerade bei Markus ist das mit großen Unsicherheitsfaktoren verbunden. Hier liegt ein Unterschied zu den späteren Evangelien. Bei ihnen können wir, wo ihnen das Markusevangelium zur Verfügung stand, Vorlage und Wiedergabe vergleichen, Zeile für Zeile die Veränderungen prüfen und Bearbeitungsmethoden ableiten. Diese Möglichkeit entfällt eben bei Markus. Seine Redaktion läßt sich nicht zweifelsfrei von der Tradition abheben. Trotzdem bieten einige Forscher "perfekte" Lösungen an, ordnen Halbsatz für Halbsatz, ja jedes "und" und "aber" dieser oder jener Seite zu. Sie glauben, Listen aufstellen zu können, welche Vokabeln jeweils "markinisch" sind, die sie nun flott handhaben. Aber diese Forscher wissen verdächtig viel, und ihre Ergebnisse haben möglicherweise sehr wenig mit dem historischen Markus zu tun. Die Rekonstruktionsversuche seiner Quellen gehen oft so auseinander, daß man sich wie auf einer literarkritischen Spielwiese fühlt. Besonnene Ausleger haben gespürt, daß in dieser Art Markus-Forschung weithin der feste Boden verlassen worden ist.
4. Das Verhältnis zu den anderen Synoptikern
Es wurde schon vorausgesetzt, daß Markus unser ältestes Evangelium ist und dem Matthäus und Lukas als eine ihrer Vorlagen diente. Diese Behauptung des zeitlichen Vorsprungs des Markus soll jetzt in Kürze gerechtfertigt werden. Die Aufarbeitung aller Argumente für und wider wäre eine Lebensarbeit.
   Erstens spricht die Reihenfolge der Einzelberichte in den synoptischen Parallelen dafür. In der Vorgeschichte Jesu gibt es zwischen Matthäus und Lukas keine Parallelen, aber sobald sie mit Johannes dem Täufer beginnen, beginnen auch ihre Gemeinsamkeiten, immer parallel zu Markus. Zwar verläßt mal der eine, mal der andere die Ordnung des Markus, um aus eigenen, zusätzlichen Quellen zu schöpfen. Sobald sie sich aber wieder begegnen und parallel berichten, tun sie es wieder nach der Abfolge des Markus und in Anlehnung an seinen Text. Sobald Markus ihnen aber "ausgedient" hat, nämlich bei seinem letzten Vers Mk 16,8 (V.9-20 sind Anhang), hören auch ihre Gemeinsamkeiten auf. Daraus, daß sie untereinander übereinstimmen, wenn sie mit Markus übereinstimmen, und voneinander abweichen, sobald sie von Markus abweichen, folgt, daß Markus beiden als Leitfaden diente.
   Das andere starke Argument für die zeitliche Priorität des Markus liefert der sprachliche Vergleich der parallelen Stücke. An zahlreichen Stellen haben Matthäus und Lukas den feineren Ausdruck und auch den glatteren Gedankengang. Nur drei Beispiele zum Sprachgebrauch:
   Da ist zunächst das volkstümliche "und" (das parataktische "und"), das Sätze oder Satzteile einleitet und dadurch einförmig nebeneinander stellt, wo gehobene Sprache "und zwar, während, aber" u.ä. setzen würde. Man überprüfe diese Art Sätze z.B. in 7,31-37. Dieser kunstlos anfügende "und"-Stil, bei Markus Normalfall, wird von den anderen Evangelisten an Hunderten von Stellen auf eine sprachlich höhere Ebene gehoben. Das satzeinleitende "und" ist eben Merkmal der urwüchsigen, aramäischen Sprache, in der die Jesusüberlieferung begann, und so erzählt auch heute noch das Kind.
   Ähnlich steht es mit dem volkstümlichen Präsens in Vergangenheitsbedeutung (Präsens historicum). Bei Markus findet es sich rund 150mal, bei Matthäus nur noch an die Hälfte der Stellen, während Lukas es bis auf eine Ausnahme ausgemerzt hat.
   Schließlich sind da bei Markus die Ausdrücke der Umgangssprache, die Matthäus und Lukas gern durch literarische Vokabeln ersetzt haben. Die "Matte" (krabbaton) in Mk 2,4.11.12 wird bei Lukas eine "Liege" (klinä, klinidion; 5,18.19.25). Bei den späteren Evangelisten fehlen z.B. auch die Verniedlichungsformen des Markus (Diminuative) wie "Fischlein" in Mk 8,7, "Sandälchen" in 6,8 oder "Öhrlein" in 14,47. - Was die Glättung des Gedankenganges anbetrifft, beachte man die Satzumstellungen, Ergänzungen und Fortlassungen bei Matthäus und Lukas.
   Ist es nun denkbar, daß jemand, dem schon der gehobene und gefällige Text vorliegt, diesen so bearbeitet, daß daraus eine holprige und umständliche Darstellung wird? Doch wohl kaum. Weil das nicht wahrscheinlich gemacht werden kann, halten die meisten Forscher das Markusevangelium für das älteste der Evangelien.
   Doch ohne einen Dämpfer geht es für diesen Standpunkt nicht ab. Die These ist nämlich nicht in allen Fällen glatt durchzuhalten. Darum will die synoptische Frage trotz eines beispiellosen Gelehrtenfleißes nicht zur Ruhe kommen. Besonders englische und katholische, aber neuerdings auch wieder protestantische Ausleger sehen Gründe, dennoch Matthäus für den ältesten zu halten, übrigens in Übereinstimmung mit dem einhelligen Zeugnis der Kirchenväter und unterstützt durch sprachliche Beobachtungen. Wahrscheinlich ist das gegenseitige Verhältnis der Synoptiker nie mehr völlig durchsichtig zu machen. Vieles bleibt im Dunkel unseres Nichtwissens verschlossen. Darum läßt sich jede Lösung nur unter Vorbehalt anbieten.
   Übrigens ist die Verwertung des Markus durch Matthäus und Lukas so vollständig, daß das Markusevangelium bis auf etwa 30 Verse in den beiden späteren Evangelien wiederkehrt. Trotzdem verschwand es nicht wie die anderen Quellenschriften. Das spricht für sein hohes Ansehen, eben für das Ansehen des dahinter stehenden Petrus. Markus hat rasch, über Rom und Italien hinaus, Maßstäbe gesetzt, auch für die Gemeinden des Ostens, wo Matthäus und Lukas gearbeitet haben. Im 2. Jh. geriet es allerdings hinter den beiden vollständigeren und irgendwie auch großartigeren Evangelien in den Schatten. Bis in die Neuzeit hinein existierten nur wenige Markuskommentare. Weit häufiger abgeschrieben und ausgelegt wurden Matthäus und Lukas.
5. Der Ort der Abfassung und der ersten Leser
a) Die Überlieferung
Das Buch selbst nennt keinen Abfassungsort, aber wir hörten schon, daß die Überlieferung für Verfasser und Empfänger einhellig nach Rom weist. Nur eine späte, vereinzelte Stimme nennt Alexandrien in Ägypten. Man glaubte ja von einer ägyptischen Wirksamkeit des Markus zu wissen (s. 2e). Daraus scheint Chrysostomos um 390 unbesehen gefolgert zu haben, Markus habe dort auch sein Evangelium verfaßt. Wir bleiben also bei Rom, haben wir doch erkennen können, daß das Selbstzeugnis des Buches dem nicht widerspricht (s. 2d).
b) Neuere Vermutungen
Soweit die heutige Forschung sich nicht der Überlieferung anschließt, läßt sie die Frage in der Schwebe (Bornkamm) oder neigt dazu, irgendeine Stadt im Osten des Reiches als Entstehungsort zu vermuten. Kümmel (S. 55) findet, die Entstehung in einer Gemeinde "des Ostens ist sehr wahrscheinlich". Schmithals (S. 61): ". . . am ehesten im Osten". Schreiber legt sich auf Syrien fest. Positive Anhaltspunkte für diese Auskünfte fehlen. Marxsen, ein namhafter Markus-Forscher, hat sich 1959 in dieser Frage sehr weit vorgewagt und eine Abfassung in Galiläa vorgeschlagen, doch kaum Gefolgschaft gefunden. Welchen Sinn hätten dann Erläuterungen wie 7,3f? Einer Abfassung im aramäischen Raum stehen schon die Übersetzungen einzelner Begriffe ins Griechische oder gar Lateinische entgegen. Überhaupt ist es fernliegend, daß die Niederschrift der Jesusüberlieferung sich zuerst in Palästina als notwendig erwiesen haben soll. Dort waren die persönlichen Erinnerungen an Jesus sicher am intensivsten und die mündliche Überlieferungsweise viel tiefer eingewurzelt als im fernen, heidnischen Rom.
   So spricht doch alles für die alte Überlieferung. "Es läßt sich kein haltbarer Grund gegen die Tradition anführen, daß das Evangelium in Rom geschrieben sei", bemerkte schon Harnack zu Beginn unseres Jahrhunderts. Und Pesch findet zwei Forschergenerationen später: "Gegen eine römische Herkunft des Markusevangeliums spricht nichts."
c) Die allgemeine Situation im Rom des 1. Jahrhunderts
Als Kaiser Augustus zu Beginn des Jahrhunderts starb (14 n.Chr.), hinterließ er ein großartiges Rom. Er "verschönerte die Hauptstadt so sehr, daß er sich zu Recht rühmen durfte, er habe eine Stadt aus Lehm vorgefunden und hinterlasse eine Stadt aus Marmor", berichtet ein römischer Geschichtsschreiber.
   Die Millionenstadt barg ein buntes Gemisch von Völkern, Sprachen, Kulturen und Religionen. Das Gedränge in den Straßen war so groß, daß Wagenverkehr nur nachts erlaubt werden konnte. Der zu Rom gehörige Hafen Ostia wurde zum Mittelpunkt des Welthandels. Das Stadtbild war übersät mit erlesenen öffentlichen Bauten. Aber die Privathäuser standen nicht nach. In den Badestuben der Bürger floß das Wasser aus silbernen Röhren in Marmorwannen, Metallspiegel standen an den Wänden, Heißluftanlagen ließen Wärme hereinströmen. Die Wände der Wohnräume waren mit kostbaren Teppichen, die Fußböden mit Mosaiken bedeckt, die Decken getäfelt. Die Verschwendung bei den Gastmählern kannte kaum Grenzen. Es hat keinen Sinn, mit der Aufzählung der Leckerbissen auch nur zu beginnen. Auch für Tafelmusik war gesorgt und für Überraschungen. Mal regnete es Blumen von der Decke, mal traten Tänzerinnen auf.
   Natürlich hatte das Ganze seine Kehrseite: die Slums der Armen, ohne die jene Kultur nicht existieren konnte, die Sklavenschiffe voll Verzweiflung und Haß, die täglich Nachschub in den Hafen brachten. Über den sittlichen Tiefstand im ersten Jahrhundert verdanken wir dem römischen Schriftsteller Tacitus ein Gemälde voller glühender Farbe: Wirtschaftskrise, Korruption, Auflösung jeder Ordnung, Übergang der Gesellschaft in Fäulnis und allgemeine Untergangsstimmung. Wir kennen den entsetzten Ausruf: "Zustände wie im alten Rom!"
   Die Arbeitsmoral war allgemein gesunken. Viele Tausende lebten von staatlichen Unterstützungen. Tagsüber lungerten sie herum. Höhepunkt ihrer traurigen Existenz war das Nachtleben. Man ging zu diesen Gelagen, um sich bewußt zu betrinken. Das Ganze endete oft mit tollen Umzügen durch die nächtlichen Straßen, in Bordellen, mit Eifersuchtsszenen, Schlägereien und einem bösen Erwachen. So schlief Rom in den Gerichtstag Gottes hinein. Auf diesem Hintergrund will z.B. der Römerbrief gelesen sein: "Ihr wißt doch, was die Stunde geschlagen hat. Es ist Zeit für euch, aus dem Schlaf aufzuwachen. Die Nacht ist bald vorbei, es ist bald Tag. Deshalb wollen wir nicht länger tun, was in die Dunkelheit gehört, sondern mit den Waffen des Lichts die Dunkelheit besiegen. Wir wollen anständig leben, weil es zum hellen Tag paßt. Keine Sauf- und Freßgelage, keine sexuelle Zügellosigkeit, kein Streit und keine Eifersucht. Unser Herr Jesus Christus soll euer ganzes Handeln bestimmen" (Röm 13,11-14). Mit unwahrscheinlicher Strahlkraft, wie eine Sonne voller Gnade, Wahrheit und Gerechtigkeit, war Christus am Horizont dieser Menschen in der Gemeinde aufgegangen. Vornehmlich für diese Gemeinde schreibt nun auch Markus.
d) Die Judenschaft in Rom
Die römische Judenschaft behandeln wir, weil sie, wie überall im Reich, zur Vorgeschichte der christlichen Gemeinde gehörte.
   Von Juden in Rom lesen wir schon Apg 2,10. Aber die erste Nachricht von jüdischem Leben in der Hauptstadt geht auf das Jahr 139 v.Chr. zurück. Zu Beginn des 1. Jhs. soll die Kopfzahl der Judenschaft dort 40000 betragen haben, später lebten in Rom mehr Juden als Jerusalem Einwohner zählte. Mindestens 13 Synagogen sind im alten Rom bezeugt. Diese pflegten enge Beziehungen zur Heimat. Stattliche Summen flossen zur Unterstützung des geliebten Tempels nach Jerusalem.
   Wie konnte eine so große Judenschaft in Rom entstehen? Zunächst waren viele Juden als kriegsgefangene Sklaven hierher verschleppt worden. Oft entließ man sie bald, weil sie so starrköpfig an der Sabbatfeier festhielten. Oder sie wurden von ihren Glaubensgenossen freigekauft. Viele blieben in Rom. Andere führte ihre Geschäftstüchtigkeit an diesen Handelsplatz erster Güte, wiederum andere ihr Missionseifer. Mt 23,15 bescheinigt Jesus ihnen: "Ihr durchzieht Land und Meer, daß ihr einen Proselyten gewinnt." Schließlich fiel die Kinderfreudigkeit der Juden ins Gewicht, gefördert durch das mosaische Gesetz. Kindesaussetzung, das berüchtigte Laster des Altertums, war bei ihnen verpönt.
   Als Herodes der Große sich als zuverlässige Stütze römischer Interessen im Osten des Reiches erwies, wuchs der Einfluß der Judenschaft bei Hofe. Dabei sprangen schöne Privilegien heraus: Die Juden durften ihren Sabbat feiern, waren vom Kriegsdienst befreit und genossen besondere Versammlungsfreiheiten. Ihre Beziehungen zu Rom waren zeitweilig so gut, daß sie Joh 19,12 einem Pilatus drohen konnten: "Läßt du diesen frei, so bist du des Kaisers Freund nicht mehr."
   Die aufkeimende Christenbewegung profitierte von dieser Freizügigkeit für Juden, sahen Außenstehende sie doch zunächst als eine innerjüdische Angelegenheit. So konnte sich die christliche Gemeinde gerade auch in Rom einrichten, während die Behörden sonst streng gegen religiöse Neugründungen vorgingen.
e) Die christliche Gemeinde in Rom
Daß das Markusevangelium an die römischen Christen gerichtet war, ist nicht zu eng zu fassen. Sicher war auch das Hinterland Italien im Blick, vielleicht das Heidenchristentum des ganzen Westens. Dennoch lag der Schwerpunkt in der Hauptstadt.
   Hengel (Geschichtsschreibung, S. 91) findet Anlaß, den Beginn des Evangeliums in Rom zwischen den Jahren 37-41 zu vermuten. Bekehrte Juden aus Jerusalem kamen in die Hauptstadt und missionierten unter ihren Landsleuten. Eine schon etwas sicherere Nachricht besitzen wir durch den römischen Schriftsteller Sueton. Er berichtet von häufigen Tumulten unter den Juden zur Zeit des Kaisers Claudius (41-54), die durch einen "Chrestos" angeschürt wurden: Das könnte eine Verzerrung von "Christus" sein. Römische Ohren haben vermutlich das ungewohnte "Christus" für den ihnen geläufigen Personennamen "Chrestos" genommen. Es muß also bei den innerjüdischen Auseinandersetzungen mit den Christen so lebhaft und zentral von "Christus" gesprochen worden sein, daß Außenstehende an die Anwesenheit eines Mannes dieses Namens glaubten. Diese Vorgänge führten zur Ausweisung der unruhigen Juden, besonders offenbar der Judenchristen (Apg 18,2) im Jahre 49. Aber wie Apg 28,15 voraussetzt, durften sie bald wieder zurückkehren, werden sich jetzt aber als Synagogengemeinde und Christengemeinde getrennt entwickelt haben. Noch wurden die Christen am Hof nicht beargwöhnt, denn Paulus konnte sich im Jahre 55 optimistisch auf den Kaiser berufen und von ihm einen fairen Prozeß erhoffen (Apg 25,11; 28,30). Im Jahre 60 scheint es auch zum Freispruch gekommen zu sein.
   Nach dem Martyrium des Herrenbruders Jakobus um 62 in Jerusalem beginnt die Urgemeinde, Schub um Schub die Stadt zu verlassen. Im Zuge dieser Entwicklung kommt Petrus um das Jahr 63 nach Rom, nach "Babel", wo Markus sein Gehilfe ist (1Petr 5,13). Die folgende Zeit hat ihn auch noch einmal eng mit Paulus zusammengeführt. Der 1. Clemensbrief (geschrieben in den 90er Jahren) erwähnt das gemeinsame Martyrium der beiden Apostel in Rom. Mit ziemlicher Sicherheit hängt ihr Sterben mit den Ereignissen zusammen, die sich an den Brand der Hauptstadt im Jahre 64 anschlossen. Eine andere Verfolgung ist nämlich in jener Zeit nicht bekannt. Kaiser Nero wurde beschuldigt, die Katastrophe auf dem Gewissen zu haben, und wälzte die Schuld auf die Christen ab. Es gelingt, den Volkszorn auf diese neue und noch fremdartige Religion zu lenken. Tacitus und der 1. Clemensbrief schildern, wie christliche Frauen den Stieren vorgeworfen wurden, wie man die Opfer durch Hunde totbeißen und zur Volksbelustigung in den vatikanischen Parks als Fackeln brennen ließ.
   Da die Juden unbehelligt blieben, muß die Trennung der beiden Gruppen um diese Zeit schon offenkundig gewesen sein. Dazu mögen mehrere Faktoren beigetragen haben. Zunächst gab es sicher ein Interesse und Bemühen der Juden, daß diese Christen nicht mehr für die Ihrigen gehalten würden. Außerdem scheinen sich unter den Christen radikale Tendenzen bemerkbar gemacht zu haben, sonst hätte Paulus sie in seinem Brief um 57 kaum so dringlich zur Loyalität gegenüber den Behörden und zur Steuerzahlung aufgefordert (Röm 13,1-7). Sollte der Philipperbrief aus der römischen Gefangenschaft stammen, war das Evangelium auch längst in kaiserliche Kreise eingedrungen (Phil 4,22), so daß dort Kenntnisse über die Christen als eigene Bewegung zur Verfügung standen.
   Unter der Voraussetzung, daß sich manche Fakten aus späteren Nachrichten schon in früheren Jahren anbahnten, läßt sich die Christengemeinde in Rom zur Zeit des Markus in sechs Punkten kennzeichnen:
   1. Sie stellte damals eine der ältesten und traditionsreichsten Gemeinden des Reiches dar, in der das Evangelium eher eine gewohnheitsmäßige als eine unbekannte Sache war.
   2. Tacitus bestätigt die zahlenmäßige Stärke der Gemeinde. Abgesehen vom Zuzug, den eine Hauptstadt immer genießt, missionierte man eifrig, durchsetzte auch schon einflußreiche Häuser mit Anhängern, so daß später Ignatius fürchtete, die Brüder in Rom könnten sogar das von ihm ersehnte Martyrium verhindern.
   3. Den römischen Christen war im Kreis der Gemeinden des Reiches eine geistliche Vorrangstellung zugewachsen. Hier klopfte ein Paulus ehrerbietig an (Röm 1,8; 16,16), hier hatte Petrus gewirkt (1Petr 5,13), hier trafen gewichtige Briefe ein: der Brief des Paulus, der Hebräerbrief und später der des Ignatius. Um 96 suchte Bischof Clemens von Rom in brüderlicher Verantwortung durch ein Schreiben die Zwietracht in Korinth zu schlichten.
   4. Das Gepräge der Gemeinde war jedenfalls heidenchristlich. Schon Paulus mußte vor Überheblichkeit gegenüber der jüdischen Minderheit warnen (Röm 11,17-24; Kap. 14 und 15).
   5. In Rom lebte eine in Leiden erprobte Märtyrergemeinde. Die Ausweisung unter Kaiser Claudius und vor allem die frischen Blutopfer unter Nero hafteten im Gedächtnis. Inzwischen tobte der Jüdische Krieg. Die Erbitterung der Römer gegen die Juden im ganzen Reich konnte nicht ohne Auswirkung bleiben auch auf die christliche Sache. Neue Wolken zogen heran.
   6. Unter Verlust der alten Autoritäten und der ersten Zeugen vollzog sich ein Generationenumbruch. Angesichts dessen griff Markus ein und sicherte der Gemeinde die Jesusüberlieferung. Wir schließen ihn ein in den Kreis der "gottgesandten Menschen", die "geredet haben", "getrieben vom Heiligen Geist" (2Petr 1,21).
6. Die Zeit der Abfassung
a) Das Selbstzeugnis des Buches
Es hat in der Neuzeit nicht an Forschern gefehlt, die das Markusevangelium bis ins 2. Jh. datierten, doch die weitaus meisten Angaben umkreisen das Jahr 70, also das Ereignis der Zerstörung Jerusalems und seines Tempels im jüdisch-römischen Krieg. Dieser Krieg begann im Jahre 66 und endete eigentlich erst im Jahre 73 mit dem Fall der Festung Massada. Bei den Datierungsversuchen geht es vor allem um die Frage, was Kap. 13 für die Abfassungszeit hergibt. Dort sagt Jesus nämlich jenen Untergang des Tempels als bevorstehendes Gottesgericht an.   Wer die Frage echter Prophetie für gegenstandslos erklärt, muß das Buch ohnehin nach 70 ansetzen. Die Vorhersage Jesu ist dann ein vaticinium ex eventu, d.h. eine nur angebliche Weissagung Jesu, die man ihm erst nach Eintritt der Katastrophe in den Mund gelegt hat. Aber auch unter Voraussetzung echter Prophetie könnte man auf eine Abfassung nach 70 kommen, wenn nämlich die Prophetie in einer Form wiedergegeben ist, bei der die Erinnerung an die bereits geschehene Erfüllung mitschwingt. Was hat z.B. der Zwischenruf in 13,14 ("der Leser merke auf!") auf sich? Jenes Signal zur Flucht, nämlich der "Greuel der Verwüstung", könnte schon Jahre zurückliegen, aber es würde noch einmal vielsagend an all die schrecklichen Umstände erinnert. Der Leser soll ergriffen die Prophetie mit ihrer präzisen Erfüllung zusammenhalten.
   Aber auch der andere Fall ist denkbar: Nach neuesten Nachrichten - für einen Brief von Jerusalem nach Rom waren damals im Durchschnitt zwei Monate anzusetzen (Blinzler, S. 272f) - zeichnete sich der von Jesus prophezeite "Greuel" gerade ab. Damit war für die Brüder in Jerusalem das Signal zur Flucht gegeben. Sie war jetzt in vollem Gang, und das Ende des Tempeljudentums stand an. Der Leser, der in dieser krisenschweren Zeit lebte, sollte ermessen, daß Jesus das alles vor 40 Jahren verkündet hatte.
   Für die Datierung beschäftigt auch die Frage, ob das Wort vom Tempeluntergang in 13,2 so allgemein und kommentarlos wiedergegeben werden könne, wenn inzwischen die Erfüllung geschah und vom Untergang lebendige Anschauung vorhanden war. Das müßte sich im Text verraten, meint man. Doch wiederum: Ist das zwingend? Haben wir vielleicht eine falsche Vorstellung vom Überlieferungsethos eines Markus, der sich diszipliniert an seine Vorlage hält? (s. 8a)
   Wir spüren, daß dieses Hineinlauschen in das Selbstzeugnis des Buches weitergehen und wohl nie zu zweifelsfreien Gewißheiten gelangen wird. Ein Rundblick auf die neueren Antworten ergibt, daß Wikenhauser, Schmid, G. Haufe, Schweizer, Gräßer, Lohse und Riesner das Buch vor 70 datieren, Kümmel die Frage in der Schwebe hält und sich Grundmann, Pesch, Gnilka und Schmithals für eine Zeit nach 70 entscheiden.
b) Die Stimme der Überlieferung
Nach der Papias-Notiz (s. 2c) kann das Buch nicht vor dem Jahre 64 geschrieben sein, weil - soviel zu erkennen ist - der Tod des Petrus vorausgesetzt wird. Wiederum wird Markus seine Arbeit recht bald aufgenommen haben, denn eben der Tod des Apostels gab einen Anstoß. Dabei muß man Anstoß, Entschluß, Vorarbeiten und Ausführung nicht auf wenige Monate begrenzen. Bei meiner Auffassung von 13,14 (s. Auslegung) datiere ich die Schlußphase auf die Zeit um 67/68.
7. Der Aufbau des Buches
a) Die geographische Dreiteilung