Der Brief an die Galater, Rudolf Brockhaus BdH 1931

08/01/2023
von Christ-und-Buch Günter Arhelger

 Einleitung

Der Brief an die Galater ist nicht an eine örtliche Ver­sammlung (Gemeinde), sondern an die Gesamtheit der in der galatischen Landschaft (vergl. Apstgsch. 16, 6; 18, 23) zerstreut wohnenden Gläubigen gerichtet. Es bleibt dabei fraglich, ob man bei dem Namen Galatien an die eigentliche, im Mittelpunkt von Kleinasien liegende Landschaft oder an die größere römische Provinz "Gala­tia«« zu denken hat. Ist die letzte Annahme richtig, so würden die Versammlungen von Ikonium, Lystra und Derbe miteinzurechnen sein.

über die Zeit der Abfassung des Briefes sind von je­her die Meinungen auseinander gegangen. Am meisten hat wohl die Annahme für sich, daß er um das Jahr 56 oder 57 n. Chr., also etwa zwei Jahre vor dem Brief an die Römer geschrieben ist. Dies ist insofern von Bedeu­tung, als man dem Gefühl nach den Galaterbief dem Römerbrief zeitlich nachstellen möchte.

Der Brief selbst entwickelt nicht so sehr eine bestimm­te Wahrheit, wie z. B. die Briefe an die Römer, Epheser, Kolosser es tun, sondern trägt eher den Charakter einer Verteidigungsschrift. Seinem Inhalt nach ähnelt er am mei­sten dem Römerbrief. Aber während dieser das kostbare Evangelium Gottes über Seinen Sohn, die darin geoffen­barte Gerechtigkeit Gottes, sowie die Rechtfertigung des Sünders durch Glauben ohne Gesetzeswerke lehrt, also die Grundlagen des christlichen Glaubens legt, tritt der Galaterbrief Lehrern und Lehren entgegen, welche das Christentum mit dem Judentum zu verbinden suchten, indem sie die Gläubigen aus den Heiden unter jüdische Verordnungen stellten. Man verwarf zwar nicht den Glau­ben an Christum und Sein Opfer, aber indem man ihm die Erfüllung gesetzlicher Vorschriften, vor allem der Beschneidung, als notwendig hinzufügte, verfälschte man die gesunde Lehre, verließ den Boden der Gnade und trennte die Gläubigen von Christo.

Mit der Verfälschung der Wahrheit seitens der jüdisch gesinnten Lehrer verbanden sich deren eifersüchtige An­griffe auf die Person und das Amt des Apostels. Ein Mann, der so ganz ohne menschliches Zutun, allein durch den verherrlichten Herrn in den Dienst gestellt worden war, dessen Apostelamt sich ausschließlich auf die Auto­rität Christi und die Macht des Heiligen Geistes gründete, erregte naturgemäß den Ärger und die Feindschaft dieser Leute, die eine Religion liebten, deren Mittelpunkt der Mensch ist, oder die doch wenigstens seinem Meinen und Wirken Spielraum läßt. Die Versammlungen in Galatien hatten diesen Verführern ihr Ohr geliehen. So war es dem Feinde nicht nur gelungen, ihre persönliche Stellung zu dem Apostel in unheilvoller Weise zu beeinflussen, das Sdifinunste war, daß sie, ohne es zu ahnen, völlig den Boden unter den Füßen verloren hatten, "aus der Gnade gefallen waren".

Indem der Apostel den Anstrengungen des Feindes entgegentrat, mußte er notwendig die ersten Grundsätze der Wahrheit des Christentums, die Rechtfertigung aus Gnaden, ans Licht stellen. So ist er in diesem Briefe da­hin geleitet worden, zum Nutzen der Gläubigen aller Zeiten, das Evangelium zu seinen einfachsten Elementen und die Gnade zu ihrem einfachsten Ausdruck zurückzu­führen. Dabei konnte es nicht ausbleiben, daß der un­überbrückbare Gegensatz zwischen Gesetz und Gnade, der unüberwindliche Unterschied zwischen Judentum und Christentum, der Religion des Fleisches und der des Gei­stes, mit besonderer Schärfe hervorgehoben wurde, fer­ner daß der Apostel mit mehr Nachdruck als vielleicht irgendwo sonst den außermenschlichen Ursprung seines Apostelamtes und seiner Berufung betont. Geradeso wie das Evangelium, die frohe Botschaft von Jesu Christo, un­mittelbar von Gott gekommen war, war auch dessen Trä­ger, der Apostel der Nationen, unmittelbar von Gott in sein Amt berufen worden. Wehe denen" die diese Be­rufung in Frage stellten, die Galater "aufwiegelten", sie zu "verwirren und das Evangelium des Christus zu ver­kehren" gedachten! Sie würden ernten, was sie gesät hatten.

Die Eingangsworte des Briefes tragen ein ganz beson­deres Gepräge. Während in fast allen anderen Briefen der Apostel seinen Gefühlen der Liebe den Empfängern gegenüber in warmen Worten Ausdruck gibt, begegnen wir hier einer ernsten Zurückhaltung. Wir können es verstehen. Das Herz des treuen Dieners war niederge­drückt, mit Sorge erfüllt. Seine Sprache ist gemessen, kühl, und bleibt kühl in dem ganzen Briefe. Kein einziger persönlicher Gruß beschließt ihn. Vergebens suchen wir auch nach einer Anerkennung des in der Mitte der Gala­ter etwa noch vorhandenen Guten. Der Apostel kommt sofort auf das zu sprechen, was sein Herz so beschwerte: sie hatten sich zu einem anderen Evangelium umgewandt!

Wir wissen, wie in anderen Briefen die Liebe des Apostels sich gerade darin kundgibt, daß er zunächst das jeweils durch die Gnade gewirkte Gute anerkennt. Die notwendigen Zurechtweisungen oder Tadel stehen erst in zweiter oder dritter Reihe. Selbst in den Briefen an die Korinther ist der Ton viel wärmer als hier; und doch gab es so manches in Korinth, das Tadel verdiente. Die Ko­rinther waren stolz auf ihre reichen geistlichen Gaben und benutzten sie in fleischlicher Weise zu ihrer eigenen Ver­herrlichung. Es gab Spaltungen und Parteiungen, Neid und Streit in ihrer Mitte, ja, sie führten Rechtshändel miteinander, und das sogar vor Ungläubigen! Sittlich Bö­ses der schlimmsten Art hatte sich gezeigt, und sie hatten nicht Leid darüber getragen. Selbst im Blick auf die Feier des Abendmahls mußten sie die schwersten Vorwürfe über sich ergehen lassen. Fürwahr, die Zustände waren derart, daß man wohl zu der Frage kommen kann: Waren denn diese Leute wirklich alle bekehrt? Der Apostel selbst scheint daran gezweifelt zu haben (Vergl. 1. Kor. 10, 1‑12).

Trotz alledem aber nennt Paulus sie "die Versamm­lung Gottes, die in Korinth ist, Geheiligte in Christo Jesu, berufene Heilige", und dankt für die Gnade Gottes, die sie in Chtisto Jesu reich gemacht hatte in allem Wort und aller Erkenntnis, sodaß sie in keiner Gnadengabe Mangel hatten. Auch war er überzeugt, daß sie, durch die Treue Gottes bis ans Ende bewahrt, am Tage unseres Herrn Jesus Christus untadelig dastehen würden. Immer wieder gibt er in beiden Briefen seiner zärtlichen Liebe zu den Empfängern derselben Ausdruck. Doch wie ist es hier? Weder im Eingang des Briefes noch in seinem wei­teren Verlauf begegnen wir solchen Kundgebungen der Liebe. Nicht daß der Apostel die Galater weniger geliebt hätte als die Korinther. Nein, gerade weil seine Liebe so echt und treu war, konnte er nicht zärtlich sein, mußte er so ernst zu ihnen reden. Im Verein mit allen Brüdern, die bei ihm waren (auch das ist wohl charakteristisch), wünscht er „den Versammlungen von Galatien" Gnade und Friede. Er nennt sie weder Versammlungen Gottes, noch in Gott oder in Christo Jesu, redet auch kein Wort von ihrer persönlichen Stellung als Heilige oder Geliebte, Berufene oder Treue, wie in anderen Briefen. Ebenso­wenig bringt er sie mit Gläubigen an anderen Orten in Verbindung. Es sind die Versammlungen von Galatien, die im Gegensatz zu anderen in Gefahr standen, den Pfad der Wahrheit aufzugeben, den Glauben der Heiligen zu verlassen. Mit den Brüdern, die bei ihm waren, hatte der Apostel ernste Besorgnisse um sie. ja, in gewissem Sinne standen die Galater schon allein; es bedurfte nur noch eines Schrittes, um sie gänzlich von den anderen ab­zusondern.

Wie merkwürdig ist das alles! Es zeigt uns, wie Gott einen anderen Maßstab anlegt, so ganz anders urteilt, als der Mensch es tut und auch wir als Gläubige geneigt sind zu tun. Der natürliche ehrbare Mensch ist streng, oft un­erbittlich streng in seiner Beurteilung von sittlich Bösem, von Trunkenheit, Lüge, Betrug, Unsittlichkeit und dergl., während er gar keine Gefühle hat im Blick auf die Ver­letzung des Willens Gottes, wie Er diesen hinsichtlich an­derer Dinge in Seinem Worte kundgegeben hat, oder be­sonders auch im Blick auf die Nichtachtung der Rechte Seines Sohnes. Es können auf religiösem Gebiet die ver­kehrtesten Dinge getan, bezüglich der Person und des Werkes des Herrn Jesus die bösesten Dinge gelehrt wer­den, ohne daß auch nur eine Stimme dagegen laut würde. Die göttliche Wahrheit mag verdreht und verstümmelt werden, aber das Gewissen des Menschen bleibt unbe­rührt, wacht selbst dann kaum auf, wenn das Böse auf­gedeckt und der Irrtum im Lichte des Wortes Gottes kräftig widerlegt wird. Da es nicht die Gewohnheit des Feindes ist, verkehrte Lehren unverhüllt vorzutragen, sie vor den Richterstuhl des von Gott erleuchteten Gewis­sens zu stellen, sondern sie mit allerlei Beiwerk auszu­schmücken, das auf Gemüt und Gefühl zu wirken ge­eignet ist, kommen selbst manche Gläubige in Gefahr, der Verführung ihr Ohr zu leihen und es in demselben Maße vor der Wahrheit zu verschließen.

Der Brief an die Galater zeigt uns, wie Gott über böse Lehren und die, welche sie bringen, denkt. Seine Ge­danken haben sidi seitdem nicht verändert, können sich nicht verändern. Er ist und bleibt Licht. Böse Lehren sind in Seinen Augen genau so gut "Sauerteig" wie sittlich Böses; sie wirken in derselben, ja, unter Umständen in noch weit schlimmerer Weise als dieses.

Laßt uns denn auf die ernsten Unterweisungen dieses Briefes achthaben, damit unsere Füße auf dem schmalen Pfade der Wahrheit erhalten bleiben, und wir nicht etwa "im Fleische vollenden, nachdem wir im Geiste angefan­gen haben" (Kap. 3, 3).

Eine kurze Inhalts‑Übersicht des Briefes mag dem Le­ser vor Beginn der eigentlichen Betrachtung willkommen sein.

In Kapitel 1 betont der Schreiber die völlige Unab­hängigkeit seines Amtes und Dienstes von Menschen. Beide waren weder von Menschen noch durch einen Menschen. Auch von den übrigen Aposteln hatte Paulus nichts empfangen. Seine apostolische Autorität samt den Offenbarungen, die ihm geworden waren, stammten un­mittelbar von dem Herrn selbst.

Bis zum 10. Verse des 2. Kapitels verweilt der Apo­stel bei demselben Gegenstand und zeigt dann die Un­vereinbarkeit des Evangeliums und des Gesetzes. Wäh­rend das Gesetz eine vollkommene, aber kraftlose Richt­schnur für den Menschen im Fleische bildet, offenbart das Evangelium himmlische Dinge, Christum in Herrlich­keit, und verwandelt uns in Sein Bild. Wenn Petrus zu dem ersten zurückkehren will, widersteht Paulus ihm ins Angesicht.

Das 3. Kapitel stellt zunächst den Gegensatz zwischen Gesetz und Glauben fest (V. 1‑14), behandelt dann die Beziehungen zwischen Verheißungen und Gesetz (V. 15‑20), und erläutert in den Schlußversen den Zweck des Gesetzes als Zuchtmeister auf Christum hin.

In der ersten Hälfte des 4. Kapitels redet der Apostel von dem Zustand der Gläubigen unter dem Alten Bunde, und wie sie durch Christum von dem Gesetz losgekauft wurden, um die Sohnschaft zu empfangen. Dann, nach einer rührenden Berufung auf sein persönliches Verhält­nis zu den Galatern, zeigt er in Hagar und Sarah als Vor­bildern, wie das Gesetz zur Knechtschaft gebiert und vom Erbe auschfießt, während die Gnade Freiheit bewirkt und zum Segen fährt.

Das 5. Kapitel behandelt diese Freiheit, für die Chri­stus uns freigemacht hat, noch näher, und zwar unter zwei Gesichtspunkten; zunächst im Blick auf die Rechtferti­gung. Wenn die Galater im Gesetz gerechtfertigt werden wollten, so waren sie von Christo abgetrennt, aus der Gnade gefallen. Fleisch und Geist sind in ihrer Natur einander völlig entgegengesetzi. Wenn das Fleisch Ge­rechtigkeit erlangen könnte, dann wäre Christus umsonst gestorben. Der Gläubige erwartet durch den Geist aus Glauben die Hoffnung der Gerechtigkeit, d. i. die Herr­lichkeit. Auf dem Wege dahin wandelt er ‑ und damit kommen wir zu dem zweiten Gesichtspunkt ‑ praktisch "im Geiste", in dessen Kraft er frei ist, das was des Gei­stes ist zu tun, mit einem Wort "durch den Geist zu wandeln".

Das 6. Kapitel enthält Ermahnungen zunächst an die "Geistlichen", dann an die Allgemeinheit. Zum Schluß kommt der Schreiber noch einmal auf die Verführer zu­rück, welche die Galater zur Beschneidung und damit zu dem alten Israel zuffickzuführen trachteten, wünscht dem wahren Israel, dem Israel Gottes, Frieden und Barm­herzigkeit und endet mit einem kurzen, aber umso ein­drucksvolleren Hinweis auf die Malzeichen Jesu, die er infolge seines treuen Einstehens für die Wahrheit an sei­nem Leibe trug.

Kapitel 1

"Paulus, Apostel, nicht von Menschen, noch durch einen Menschen, sondern durch Jesum Christum und Gott, den Vater, der Ihn auferweckt hat aus den Toten!' Wie schon in der Einleitung bemerkt, sind die Eingangs­worte des Briefes eigenartig. In manchen anderen Briefen betont Paulus seine Berufung als Knecht und Apostel Je­su Christi "durch Gottes Willen", aber nirgendwo hebt er das Fehlen jeder menschlichen Bestätigung so stark hervor wie hier; auch der Zusatz: "der Ihn (Christum) auferweckt hat aus den Toten", ist ungewöhnlich und charakteristisch für den Brief. Aber nicht nur entbehrte die Berufung des Apostels jedes menschlichen Ausgangs­punktes, auch als Vermittler oder als Werkzeug war der Mensch in keiner Weise dabei beteiligt gewesen. Sie war unmittelbar durch Jesum Christum erfolgt, und zwar nicht in Jerusalem, der Wohn‑ und Wirkungsstätte des jungen Saulus, sondern fern von dem großen Mittelpunkt der damaligen religiösen Welt, auf dem Wege nach Da­maskus. Dort war ihm Gott, der Vater, begegnet in Sei­nem Geliebten, den Saulus so glühend haßte, den Gott aber auferweckt hatte aus den Toten. Paulus war nicht, wie die übrigen Apostel, durch den auf der Erde leben­den Messias in sein Amt eingeführt worden, sondern, ganz unabhängig von jenen, durch den aus den Toten auf­erstandenen und zur Rechten Gottes verherrlichten Herrn. So wurde gerade das, was die Verführer als Anlaß be­nutzt hatten, um Paulus in den Augen der Galater herab­zusetzen, zu einem Beweise der besonderen Bedeutsam­keit und Kraft seiner Berufung. Mit einem Schlage wird dadurch die ganze Haltlosigkeit der Behauptungen jener bösen Arbeiter bloßgelegt.

"Nicht von Menschen, noch durch einen Menschen." Auf einem Wege, auf den der Haß gegen Christum ihn gebracht hatte und wo Empfehlungsbriefe und Vollmach­ten von Menschen ihn begleiteten, war Saulus plötzlich auf wunderbare Weise stillgestellt worden: ein Licht aus dem Himmel hatte ihn umstrahlt und eine Stimme von oben zu ihm geredet. Und als dem Erblindeten drei Tage später ein Bote zugesandt worden war, damit er wieder sehend und mit Heiligem Geiste erfüllt würde, hatte Gott nicht einen hervorragenden Mann, einen Apostel oder dod‑. eine Säule der Versammlung, dazu benutzt, sondern einen "gewissen Jünger", einen "frommen Mann nach dem Gesetz." Der hatte ihm die Hände aufgelegt und ihn darin veranlaßt, sich taufen zu lassen. (Apstgsch. 9 u. 22). Somit hatte Gott die äußeren Umstände der Bekehrung und Berufung des Apostels so gestaltet, daß für den Menschen und sein Tun auch nicht der geringste Spielraum geblieben war. Alles war nicht nur von seiten des Herrn, sondern "durch Jesum Christum und Gott, den Vater", geschehen. Und als dann später die Zeit kam, daß Paulus als Apostel der Nationen seinen Dienst beginnen sollte, "sprach der Heilige Geist: Sondert mir nun Barna­bas und Saulus zu dem Werke aus, zu welchem ich sie berufen habe" (Apstgsch. 13, 2). So hat Gott Sorge dafür getragen, daß gerade der Mann, der einen so beson­deren Platz in Seinem Werke ausfüllen, der der große Herold Seines Evangeliums und der hochbegnadigte Ver­walter Seiner Geheimnisse werden sollte, ohne Mitwir­kung oder Anerkennung seitens irgend eines hervorragen­den Menschen berufen wurde.

Grundsätzlich ist das ja immer so: der Herr gibt Evan­gelisten, Hirten und Lehrer; Gott wirkt alles und in allen; der Heilige Geist teilt aus, wie Er will (Eph. 4; 1. Kor. 12). Treue, gottesfürchtige Männer, oder die ältesten Brüder in einer Versammlung, mögen durch ge­meinsames Beten, vielleicht durch Handauflegen, ihrer Übereinstimmung mit dem Dienst eines Bruders Aus­druck geben, mögen ihn für eine größere Reise oder ein außergewöhnlich mühevolles Werk der besonderen Gna­de Gottes befehlen (wie z. B. in Apstgsch. 13, 3), aber das hat mit der Berufung in den Dienst nichts zu tun. Selbstverständlich dürfen und wollen wir dabei nicht ver­gessen, daß der Dienst und das Amt eines Apostels eine ganz besondere Sache war. Sollten doch die Apostel und Propheten des Neuen Testamentes die Grundlage des heiligen Tempels bilden, dessen Eckstein Christus ist.

In anderen Briefen verbindet der Apostel gern seinen Namen mit dem des einen oder anderen Bruders, Timo­theus, Silvanus usw.; hier sagt er: "alle Brüder, die bei mir sind." Geschieht es, um dadurch den Ernst und das Gewicht seiner Ausführungen zu erhöhen? Oder um den Galatern zu‑zeigen: Seht, alle Brüder, die bei mir sind, stimmen mit mir überein; also erwäget wohl, wo ihr hin­gekommen seid? Vielleicht beides. Jedenfalls war die Berufung auf alle Brüder, die bei Paulus und mit ihm eines Sinnes waren, ernst für die Galater. Nicht minder beachtentswert war es auch für sie, daß der Apostel dem gewöhnlichen Gruß: "Gnade euch und Friede von Gott, dem Vater, und unserem Herrn Jesus Christus", die Worte hinzufügt: "der sich selbst für unsere Sünden hin­gegeben hat, damit Er uns herausnehme aus der gegen­wärtigen bösen Welt, nach dem Willen unseres Gottes und Vaters."

Gerade das war es, was sie vergessen hatten. Ihr Herr Jesus Christus hatte für ihre Sünden gelitten, war für sie gestorben, als sie noch Sünder und Feinde waren, und nun wollten sie sich unter Gesetz stellen, das niemals Sün­den hinwegnehmen kann?! Ihr Heiland hatte ein Fluch für sie werden müssen, um sie aus der gegenwärtigen bösen Welt herauszunehmen, und sie wollten in diese Welt zurückkehren?! Das Gesetz war für Menschen Jm Fleische" gegeben, für solche, die diesem Zeitlauf ange­hören. Ihnen sollte es als Richtschnur dienen, sie zugleich von ihrer Sündhaftigkeit und völligen Kraftlosigkeit über­führen. Der Gläubige aber ist nicht mehr "im Fleische"; er ist "fin Geiste", ist ein Mensch "in Christo", für den es keine Verdammnis mehr gibt, ein Mensch, der nicht mehr nach dem Fleische, sondern nach dem Geiste wan­delt (Röm. 8). Mag auch das Fleisch noch in ihm sein ‑ in dem Tode Christi ist es gerichtet, und der Gläu­bige "hat es gekreuzigt samt seinen Leidenschaften und Lüsten."

Aber mehr noch. Obwohl noch in der Welt, sind wir nicht mehr von der Welt. Wir gehören einer neuen Welt an. "Wenn jemand in Christo ist, da ist eine neue Schöp­fung, das Alte ist vergangen, siehe, alles ist neu gewor­den' (2. Kor. 5, 17). Das Gesetz richtet sich an die Menschen des gegenwärtigen Zeitlaufs. Es ist gut, "wenn jemand es gesetzmäßig gebraucht", d. h. wenn er es auf die anwendet, für welche es bestimmt ist (l. Tim. 1, 8‑10). An solche aber, die nicht von der Welt sind, gleichwie Christus nicht von der Welt ist, hat das Gesetz keinerlei Anspruch mehr. Sie sind "eines Anderen ge­worden, des aus den Toten Auferweckten", um Gott Frucht zu bringen (Röm. 7, 4), und, seitens des Herrn nach Seiner Auferstehung in die Welt gesandt, gleichwie Er von dem Vater gesandt war, sollen sie als Botschafter des Friedens der Welt durch Wort und Wandel bezeugen, daß sie als ein befreites Volk nicht ihr, sondern dem Himmel angehören. Aus der Welt herausgenommen und infolge der Offenbarung des Vaters in dem Sohne in eine ganz neue Ordnung der Dinge hineinversetzt, wer­den sie garnicht mehr als "in der Welt lebend«' betrachtet (Vergl. Kol. 2, 20). Gestorben und auferweckt mit Chri­sto, sind sie berufen, das zu suchen, was droben ist, und Ihn zu verherrlichen der Stellung gemäß, die Er jetzt zur Rechten Seines Gottes und Vaters einnimmt. Ihm sei, so schließt der Apostel seine einleitenden Worte, "die Herr­lichkeit von Ewigkeit zu Ewigkeit! " Wir fügen die­ser Danksagung des Apostels von Herzensgrund unser "Amen" hinzu.

Im nächsten Verse kommt Paulus dann ganz unver­mittelt zu dem großen Gegenstand, der sein Herz erfüll­te. Man wird an die Worte Elihus erinnert, der einst aus tiefem Herzensdrang heraus zu Hiob und seinen Freunden sprach: "Voll bin ich von Worten; der Geist meines Innem drängt mich" (Hiob 32, 18).

"Ich wundere mich, daß ihr so schnell von dem, der euch in der (od. durch die) Gnade Christi berufen hat, zu einem anderen*) Evangelium umwendet, welches kein anderes ist" (V. 6. 7). Auch wir mögen uns darüber wundern, wie es schon nach so wenigen Jahren dem Fein­de gelingen konnte, die Herzen dieser einst so glücklichen Leute zu verwirren und von der treuen Belehrung des Apostels abzulenken. Aber wir dürfen nicht vergessen, daß sie das Wort Gottes nicht besaßen, wie wir es heute in Händen halten. Sie konnten die Lehren, die ihnen ge­bracht wurden, nicht an diesem untrüglichen Prüfstein messen. Immerhin war es erstaunlich, daß sie sich so bald von Dem hatten ablenken lassen, der sie in der Gnade Christi berufen hatte.

Und wem hatten diese Galater ihr Ohr geliehen? Den Predigern eines anderen Evangeliums, das sich wesentlich von dem durch Paulus verkündigten unterschied und doch in Wirklichkeit kein anderes war. Denn wie hätte es ein anderes Evangelium, eine andere gute Botschaft geben können neben dem, was Gott über Seinen Sohn bezeugt hatte? Alles andere war und ist nicht die Wahrheit, kann nicht die Wahrheit sein. Sobald man dem Evangelium Gottes etwas nimmt oder ihm irgend etwas Menschliches beimischt, ist es nicht mehr das Evangelium Gottes, und indem man diese andere Botschaft annimmt, wendet man

*) oder "verschiedenen"; es ist bekanntlich nicht dasselbe Wort wie im nächsten Verse.

sich in Wirklichkeit von Gott selbst ab, von Dem, der uns in der Gnade Christi berufen hat.

Dieses kurze Wort "in der Gnade Christi" lenkt un­sere Gedanken sofort auf das hin, was der Feind in dem vorliegenden Falle als Verführungsmittel benutzt hatte. Es war, wie schon wiederholt bemerkt, das Gesetz, dar, dem Menschen sagt: "Tue dies, und du wirst leben", also genau das Gegenteil von dem, was der Apostel ihnen ver­kündigt hatte. Er hatte diesen armen Gläubigen aus den Heiden die Botschaft von der freien, unverdienten Gnade Gottes gebracht, und sie hatten sie angenommen und wa­ren auf diesem Wege umsonst gerechtfertigt worden "durch Seine Gnade, durch die Erlösung, die in Christo Jesu ist." Alles war Gottes Werk, Gottes Tun, nichts war aus ihnen oder von ihnen. Gnade hatte sie, die einst ohne Gott und ohne Hoffnung in der Welt waren, Gott so innig nahe gebracht und ihre Herzen so unaussprechlich glücklich gemacht. Und nun wollten sie sich von den ihnen in Christo aus Gnaden geschenkten Reichtümern umwen­den zu dem Menschen und seinem armseligen Tun? Woll­ten den Boden der Gnade verlassen und sich unter ein Gesetz stellen, das dem Menschen nur Fluch, Tod und Verdammnis bringen kann?

Sie dachten freilich nicht daran, Christum aufzugeben und ohne Ihn fertig zu werden, aber sie wollten ihr ei­genes Wirken neben Ihn und Sein Werk stellen, die Be­schneidung hinzufügen, die Gnade mit dem Gesetz ver­mengen. Sie hatten auf Lehrer gelauscht, die das Evan­gefium auf diese Weise zu verkehren gedachten. Es war ja kein anderes Evangelium, das diese Leute brachten; ihr Ziel war nur, die Galater zu verwirren und das Evangelium des Christus zu verkehren (V. 7). Fürwahr, sol­chen Männern ihr Ohr zu leihen, war mehr als verhäng­nisvoll, war ein großes übel.

Wie verhängnisvoll, ja, verderbenbringend dieses übel, das sich damals in seinen Anfängen zeigte, seitdem gewirkt hat, das zeigt uns der allgemeine Zustand der Christenheit unserer Tage. Mag auch der Unterschied zwi­schen dem katholischen und dem protestantischen Teil derselben in mehr als einer Beziehung groß, sehr groß sein, in dieser Hinsicht stehen beide auf demselben Bo­den. Man predigt selbstverständlich nicht die Beschnei­dung, redet nicht von einer Rückkehr zu dem zeremoniel­len Gesetz (obwohl es auch heute nicht an Stimmen fehlt, die das Halten des Sabbaths und das Zahlen des Zehnten fordern), aber man stellt das eigene Tun in den verschie­densten Formen, feiner oder gröber, neben das Werk Christi oder gar an dessen Stelle. Selbst Taufe und Abend­mahl werden dazu benutzt. Wohl ist der Geist Gottes in unseren Tagen mächtig wirksam, um die wahren Gläu­bigen aus ihren Verbindungen mit einer Religion zu lö­sen, die dem Fleische (es gibt auch ein religiöses Fleisch) und dem Willen des Menschen Raum läßt, die zum gro­ßen Teil aus der Beobachtung sittlicher Gebote, ja, bloß äußerer, christlicher Formen und Satzungen besteht. Er ist mehr als je bemüht, sie zu Christo allein, zu Seinem Wort und Seinem Namen zurückzuführen. Aber überall zeigt sich, wenn auch nicht immer in gleicher Stärke, die Neigung, gesetzliches Wirken, eigenes Tun mit der Gna­de zu vermengen. Das ganze christliche Zeugnis unserer Tage trägt mehr oder weniger den Charakter der unheil­vollen, grundsätzlichen Vermengung von Gesetz und Gnade, von Fleisch und Geist, die dahin zielt, die Seelen zu verwirren und das Evangelium Christi zu verkehren.

überaus ernst ist die Art und Weise, in welcher der Apostel weiterhin von der Verkündigung eines Evange­liums redet, das nicht mit dem von ihm verkündigten übereinstimmte: "Aber wenn auch wir oder ein Engel aus dem Himmel euch etwas als Evangelium verkündigte außer dem, was wir euch als Evangelium verkündigt ha­ben: er sei verflucht!" (V. 8). Könnten wir uns eine fei­erlichere Erklärung denken als diese? Und vergessen wir nicht, daß der Heilige Geist es ist, der durch den Apostel redet. Wenn also irgend jemand, sei es Paulus selbst oder ein Engel aus dem Himmel, etwas als Evangelium ver­kündigen würde, außer dem, was er ihnen verkündigt, oder, wie er im nächsten Verse, seine Worte wiederho­lend, nachdrücklich hinzufügt, "außer dem, was sie emp­fangen hatted', so sollte der Fluch einen solchen treffen. Nichts durfte mit dem, was er verkündigt hatte, ver­mengt, nichts daran gedeutelt, nichts dem, was sie emp­fangen hatten, hinzugefügt werden. Würde jemand das tun ‑ er sei verflucht!

Was war es, das den Apostel trieb, so schneidend scharf zu reden? War es der Gedanke an seine Ehre als Apostel? Oder gar Eifersucht im Blick auf jene anderen Lehrer? Nichts, nichts von solchen Dingen! Die Galater kannten ihren Apostel besser. Überdies stellte er sich ja selbst mit unter die furchtbaren Folgen eines solchen Tuns. Nein, es war Liebe, reine, göttliche Liebe zu den Galatern, tiefe Sorge um ihr geistliches Wohl. Das was er ihnen verkündigt und was sie empfangen hatten, war das Evangelium Gottes. Ein Verkehren desselben konnte deshalb nur von dem Feinde der Seelen sein und mußte notwendig zu ihrem Verderben gereichen.

Sollten nicht ähnliche Gefühle unsere Herzen erfüllen, wenn wir sehen und hören, was alles heute den Seelen der Menschen und vor allem der Gläubigen in Wort und Schrift geboten wird? Wir können an der Schwäche die­ser Gefühle ermessen, wie gering unsere Liebe zu unse­ren Geschwistern und unsere Sorge für sie ist. 0 möchte es dem Heiligen Geist mehr als bisher gelingen, die Her­zen der Kinder Gottes in dieser Beziehung zu erleuchten und ihre Gewissen aufzuwecken! Laßt uns zugleich, im Blick auf uns selbst, nicht vergessen, daß wir verantwort­lich sind, darauf zu achten, was wir hören oder lesen, wem wir unser Ohr leihen. Mancher meint, die Freiheit zu ha­ben, alles lesen, überallhin gehen zu dürfen. Wieviel Schaden aber diese vermeintliche Freiheit schon angerich­tet hat, davon könnten manche, wenn sie wollten, Be­trübendes berichten.

Auf diesem Gebiet spielt auch Menschengefälligkeit gar oft eine große Rolle. Man geht hierhin, geht dorthin, um Nachbarn oder Freunde nicht vor den Kopf zu stoßen, oder als Menschen zu gelten, die weitherzig genug sind, um über das eine und andere Verkehrte in Lehre oder Praxis hinwegsehen zu können. Aber so gut und emp­fehlenswert Weitherzigkeit und Duldsamkeit am rechten Platze sind, so bedenklich, ja, verhängnisvoll werden sie, wenn die Wahrheit Gottes auf dem Spiele steht, wenn z. B., um nur eines zu nennen, die Person oder das Werk Christi angegriffen wird. Mit heiliger Eifersucht wachte Paulus über die Reinheit der Lehre, mochte es Menschen gefallen oder nicht. "Denn suche ich jetzt Menschen zufrieden zu stellen, oder Gott? oder suche ich Menschen zu gefallen? Wenn ich noch Menschen gefiele, so wäre ich Christi Knecht nicht" (V. 10).

Ein treuer Knecht Christi sein und nach Anerkennung seitens der Menschen trachten sind zwei Dinge, die un­möglich zusammengehen können, und doch mühen sich so viele ab, sie miteinander zu vereinigen. Paulus wußte sehr wohl, daß sein unbeugsames Festhalten an der Rein­heit des Evangeliums von Cluisto den Menschen anstößig war und selbst von Gläubigen mißverstanden werden konnte. Es ist ja heute noch so: wer treu für die Wahr­heit einsteht, muß sich auch heute auf Anklagen wie"fieb­los, hochmütig, unduldsam~' und dergl. gefaßt machen. Aber was macht's aus? Paulus redete und schrieb nicht, um Menschen zu gefallen. Er trachtete allein nach der An­erkennung Gottes und wünschte in allem als ein Knecht Christi erfunden zu werden. ‑ Wollen wir ihm nicht nachahmen?

So war denn auch das Evangelium, das er verkündigt hatte, nicht "nach dem Menschen" (V. 11). So wenig wie dessen wunderbarer Inhalt den Gedanken der Men­schen entsprach, so wenig stand die ganze Einführung des Apostels in seinen Dienst in Übereinstimmung mit menschlichen Erwartungen. Die Galater wußten, daß er auf ganz außergewöhnlichem Wege mit Jesu zusammen­getroffen war. Aber sie sollten, und wir mit ihnen, noch Näheres hören. Paulus hatte von niemand das Evange­lium predigen gehört, oder wenn es einmal geschehen war, wie z. B. bei der Steinigung des Stephanus, hatte es nur dazu gedient, seinen Haß gegen Christum zu vertie­fen und sein Herz mit rasender Wut gegen die jünger Jesu zu erfüllen. Auch hatte er bei seiner Bekehrung auf dem Wege nach Damaskus Christum nicht etwa als den König der Juden kennen gelernt, sondern als den verherr­lichten Menschensohn, das Haupt Seines Leibes, der Ver­sammlung. "Saul, Saul, was verfolgst du mich?" hatte ihm die Stimme vom Himmel her zugerufen. Jesus im Himmel droben und die Heiligen auf der Erde unten waren eins; sie bildeten ein Ganzes, einen Körper, den Christus. So hatte er das Evangelium "weder von einem Menschen empfangen noch erlernt, sondern durch Offen­barung Jesu Christi" (V. 12).

An der Aufrichtigkeit und Gründlichkeit seiner Be­kehrung konnte niemand zweifeln. Denn er war, wie die Galater gleichfalls wußten, früher ein übermäßiger Ei­ferer für die Religion seiner Väter gewesen, hatte alle seine Altersgenossen in der Strenge der Beobachtung der jüdischen Satzungen übertroffen und war auf diesem W~e­ge "über die Maßen" zu einem Verfolger und Zerstörer der Versammlung Gottes geworden (V. 13. 14). Wie lag darin zugleich eine Verurteilung der Galater in ihrer Neigung, zu dem zurückzukehren, was diesen Mann auf einen solchen Weg gebracht hatte! Was anders hätte ihn in seinem Lauf aufhalten und zur Umkehr bewegen kön­nen, als nur das mächtige und gnadenvolle Erbarmen des Gottes, der "ihn von seiner Mutter Leibe an abgesondert und durch Seine Gnade berufen" hatte, und dem es nun wohlgefiel, Seinen Sohn in ihm zu offenbaren? Wunder­barer, anbetungswürdiger Gott! Wie hat Er, der aus dem Bösen Gutes hervorgehen lassen kann und es so oft tut, auch hier die Torheit der Galater dazu benutzt, um uns

von so manchem Kenntnis zu geben, das uns sonst wohl verborgen geblieben wäre! Eine Tatsache nach der an­ deren muß ans Licht treten, um die Person und die Ge­

schichte dieses "auserwählten Gefäßes" (Apstgsch. 9, 15) näher zu beleuchten, zur Beschämung der Galater, zu un­serer Freude und Stärkung im Glauben. Der Apostel Petrus hatte einst auch eine besondere Offenbarung von seiten Gottes empfangen, und insofern besteht zwischen ihm und Paulus eine besondere Ähnlich­ keit. Wenn er Jesum als den "Sohn des lebendigen Gottes" bekennt, spricht der Herr die bekannten Worte zu ihm: "Glückselig bist du, Simon, Bar Jona; denn Fleisch und Blut haben es dir nicht geoffenbart, sondern mein Vater, der in den Himmeln ist" (Matth. 16, 17). Aber doch besteht zwischen der Art und dem Inhalt der beiden Offenbarungen ein bemerkenswerter Unterschied. Die erste geschah an Petrus: Gott offenbarte ihm Seinen Sohn. Bei Paulus aber gefiel es Gott wohl, "Seinen Sohn in ihm zu offenbareW'. So gering der Unterschied auf den ersten Blick erscheinen mag, so bedeutungsvoll wird er bei näherer Betrachtung. ‑ Wieder eines der zahlreichen Beispiele dafür, daß wir das siebenmal geläuterte Wort Gottes nie zu genau lesen können, wohl aber oft nicht genau genug lesen.

Wir haben weiter oben bereits darauf hingewiesen, daß Paulus schon bei seiner Bekehrung in die wunderbare Wahrheit von der Einheit des Gläubigen mit Christo eingeführt wurde, deren Kenntnis durch die Wirksamkeit des Heiligen Geistes sich in ihm vollenden, und die er dann Juden und Heiden verkündigen sollte. Diese Wahr­heit ist Petrus und den übrigen Aposteln nicht anvertraut worden. Sie war ein Geheimnis, dessen Verwaltung Pau­lus übertragen war. Darum redet er auch wiederholt von ..Seinem Evangelium"; nicht als ob er ein anderes, auf neuer Grundlage aufgebautes Evangelium verkündigt hät­te ‑ das war ja unmöglich ‑ wohl aber ein Evangelium, dem eine neue, bis dahin nicht geoffenbarte Wahrheit hinzugefügt war, eben jene Wahrheit von der Einheit Christi und der Versammlung, Seines Leibes. Diese Wahr­heit wird in der vorliegenden Stelle freilich nur ange­deutet; aber ohne Zweifel stand sie vor dem Geiste des Schreibers, als er davonredete, daß es Gott gefallen habe, Seinen Sohn in ihm zu offenbaren.

Bei dieser Gelegenheit sei daran erinnert, daß Paulus die ihm anvertraute Botschaft auch das "Evangelium der Herrlichkeit des Christus" nennt (2. Kor. 4, 4). Es ist das Evangelium von einem Heiland, der nicht nur gestor­ben und auferweckt, sondern auch zur Rechten Gottes droben verherrlicht und nun als Haupt über alles Seinem Leibe, der Versammlung (Gemeinde), geschenkt ist (Eph. 1, 20‑23). Von dieser Verherrlichung des Sohnes des Menschen und den damit verbundenen Ratschlüssen Gottes reden die anderen Apostel nicht. Deshalb konnte Paulus auch den Kolossern schreiben, daß er durch die Mitteilung der ihm geoffenbarten Dinge als Diener der Versammlung "das Wort Gottes vollendet", d. h. das noch Fehlende ihm hinzugefügt habe. l~Iit der Offenba­rung des Geheimnisses von Christo und der Versamm­lung, das von den Zeitaltern und den Geschlechtern her verborgen war, ist der Kreis der Mitteilungen Gottes ge­schlossen worden. Darüber hinaus gibt es nichts mehr.

Wenn wir alles das bedenken, verstehen wir noch besser, daß das Evangelium des Paulus weder "nach dem Men­schen«' war, noch "von einem Menschen empfangen" wer­den konnte, sondern nur durch eine unmittelbare Offen­barung seitens des Herrn. Nun, als es Gott wohlgefiel, so Seinen Sohn in unserem Apostel zu offenbaren, damit er Ihn unter den Nationen verkündige, war er "nicht mit Fleisch und Blut zu Rate gegangen, auch nicht nach Jeru­salem zu denen hinaufgezogen, die vor ihm Apostel wa­ren" (V. 16. 17). Er besprach sich nicht mit Menschen, weder mit sich noch mit arideren, ging aber auch nicht nach Jerusalein, um den dort weilenden Aposteln seine Berufung mitzuteilen und von ihnen eine Bestätigung der­selben zu empfangen. Gott hatte ihn berufen, und Ihm überließ er nun auch die Ordnung seines ganzen weiteren Weges. Gottes Gedanken sind nicht unsere Gedanken, unsere Wege nicht Seine Wege. Er führte Seinen Knecht, nachdem dieser einige Tage in der Synagoge von Damas­kus gepredigt hatte, daß Jesus der Sohn Gottes ist (Apstgsch. 9, 19. 20), in die Stille nach Arabien. Hier verweilte er drei Jahre. Nichts anderes ist uns über diese lange Zeit mitgeteilt. Wir werden aber nicht fehlgehen, wenn wir sie als eine ernste Vorbereitungszeit, als Gottes Schule für Seinen Knecht und dessen ferneren Dienst be­trachten. Wir begegnen diesem Tun Gottes ja bei man­chem Seiner Knechte (Joseph, Moses, Elia usw.), die Er in hervorragender Weise benutzen wollte. Ehe Er sie in die Öffentlichkeit stellte, führte Er sie beiseite in die Einsamkeit, um sie dort nicht nur in eine nähere Erkennt­nis Seiner Gedanken, sondern auch ihres eigenen Nichts einzuführen.

Wer ist ein Lehrer wie Er?

"Darauf, nach drei Jahren (einschließlich. eines zwei­ten kurzen Aufenthaltes in Damaskus) ging ich nach je­rusalem hinauf, um Kephas kennen zu lernen, und blieb fünfzehn Tage bei ihm. Ich sah aber keinen anderen der Apostel, außer Jakobus, den Bruder des Herrn" (V. 18. 19). Der Apostel betont wohl ausdrücklich die Kürze sei­nes Aufenthaltes in Jerusalem, nur fünfzehn Tage, um von vornherein jeden Gedanken auszuschließen, als habe er dort eine Art Lehrkursus durchgemacht. Daß er Petrus, den bekannten Apostel der Beschneidung, gern kennen lernen wollte, ist mehr als begreiflich. Aber außer ihm hatte er nur noch Jakobus, den Bruder des Herrn, gese­hen. Nachdem er dann noch feierlich bezeugt hat, daß er "vor Gott schreibe und nicht lüge", fährt er fort:

i)Darauf kam ich in die Gegenden von Syrien und Ci­licien. Ich war aber den Versammlungen von Judäa, die in Christo sind, von Angesicht unbekannt; sie hatten aber nur gehört: Der, welcher uns einst verfolgte, verkündigt jetzt den Glauben, den er einst zerstörte. Und sie ver­herrlichten Gott an mir" (V. 21‑24). Der einfache In­halt dieser Verse bedarf keiner näheren Erklärung. Auch die Galater werden die beschämende Unterweisung, die in ihnen lag, wohl ohne Mühe verstanden haben. Die Versammlungen in Judäa, denen der Apostel von Ange­sicht unbekannt war, ‑ sie hatten nur gehört, daß der einstige Verfolger der jünger Jesu jetzt den Glauben verkündige, den er einst zerstörte ‑ hatten Gott an ihm verherrlicht. Dankbar hatten sie die Gnade anerkannt, die Gott diesem Manne geschenkt hatte, und mit inniger

Freude hatten sie sich von ihm weiter einführen lassen in das Verständnis der Gedanken und Ratschlüsse Gottes.

Und die Versammlungen in Galatien, die durch Paulus in anhaltender, mühevoller Arbeit gegründet worden wa­ren, denen er unter vielen Leiden und Gefahren das kost­bare Evangelium von der Gnade gebracht hatte, die den unermüdlichen Fleiß, die selbstverleugnende Liebe und Treue dieses Knechtes Jesu Christi persönlich kennen ge­lernt hatten? Ach! sie waren irre an ihm geworden, fan­den allerlei an ihm auszusetzen, verwundeten sein Herz, indem sie sich von den jüdischen Verführern "bezaubern" ließen und wieder umwandten, um den armseligen und schwachen Elementen der Welt von neuem zu dienen. Wie glückselig waren sie einst gewesen, als Paulus ihnen Jesum Christum so lebendig vor Augen und Herzen ge­malt hatte, als wäre Er in ihrer Mitte gekreuzigt worden! Und jetzt? 0 wie mußte die feierliche Beteuerung des Apo­stels im 20. Verse, mit der nachfolgenden Erinnerung an die Versammlungen in Judäa, ihr Herz erreichen und ihr Gewissen treffen! Werden sie nicht zur Besinnung ge­kommen sein, sich geschämt und wieder angefangen ha­ben, Gott an Seinem Knechte zu verherrlichen?

Kapitel 2

Das zweite Kapitel, das uns zunächst von den weiteren Führungen Gottes mit Seinem Knechte Bericht gibt, be­ginnt mit den Worten. "Darauf, nach Verlauf von vier­zehn Jahren ‑ hier, wie im 18. Verse des 1. Kapitels von seiner Bekehrung an gerechnet ‑ zog ich wieder nach Jerusalem hinauf mit Barnabas und nahm auch Titus mit. Ich zog aber hinauf zufolge einer Offenbarung" (V. 1. 2). Elf Jahre waren also seit seinem ersten Besuch in Jerusalem vergangen. Paulus hatte sie teilweise in Tar­sus, seiner Vaterstadt, und, durch Barnabas von dort ge­holt, in Antiochien zugebracht, von wo dann die beiden Männer später gemeinsam ihre erste Missionsreise ange­treten hatten. Die Kapitel 11‑14 der Apostelgeschichte teilen uns Näheres über diese Zeit mit. Am Ende des 11. Kapitels hören wir, daß Barnabas mit Saulus nach Judäa reiste, um den Ertrag einer Sammlung ihren dort wohnenden darbenden Brüdern zu überbringen. Bei die­ser Gelegenheit ist Saulus wohl nur ganz vorübergehend in Jerusalem gewesen. Der Besuch wird am Ende des 12. Kapitels ohne jede nähere Mitteilung kurz erwähnt.

Über den in unserem Kapitel besprochenen Besuch be­richtet dann die Apostelgeschichte ausführlich im 15. Ka­pitel. Aber während uns dort die äußeren Gründe mit­geteilt werden, die den Apostel zu seiner Reise veranlaßten, hören wir hier, daß er zufolge einer Offenbarung, d. h. also einer bestimmten Weisung von oben, hinaufzog. Gott hatte Seine Hand unmittelbar in der Sache. Er woll­te nicht, daß die ernste Frage der Beschneidung in Anti­ochien entschieden würde, auch nicht, daß Paulus für sich allein den Weg ginge, den Er ihm verordnet hatte. Um die Einheit in Zeugnis und Dienst aufrecht zu halten, mußte die Sache in Jerusalem zur Behandlung kommen; zugleich sollte Paulus mit den übrigen Aposteln in nähere Gemeinschaft gebracht werden.

Lukas berichtet in dem genannten 15. Kapitel: "Und etliche kamen von Judäa herab und lehrten die Brüder: Wenn ihr nicht beschnitten worden seid nach der Weise Moses', so könnt ihr nicht errettet werden. Als nun ein Zwiespalt entstand und ein nicht geringer Wortwechsel zwischen ihnen und dem Paulus und Barnabas, ordneten sie an, daß Paulus und Barnabas und etliche andere von ihnen zu den Aposteln und Ältesten nach Jerusalem hin­aufgehen sollten wegen dieser Streitfrage" (V. 1. 2). In Jerusalem angekommen, fanden sie auch dort densel­ben Zwiespalt der Meinungen: "Etliche aber derer von der Sekte der Pharisäer, welche glaubten, traten auf und sagten: Man muß sie beschneiden und ihnen gebieten, das Gesetz Moses' zu halted' (V. 5). Die Frage, die zu einem großen Riß zu führen drohte, mußte notwendig entschie­den werden und wurde entschieden. Der Heilige Geist leitete es so, daß die Apostel samt den Ältesten und der ganzen Versammlung zusammenkamen, "um die Ange­legenheit zu besehen". Das Ergebnis der teilweise ziem­lich erregten Verhandlungen kennen wir: Die Forderun­gen der dem Gesetz zuneigenden Gläubigen wurden ab­gewiesen, und die Wahrheit des Evangeliums blieb den Christen aus den Heiden erhalten.

Bei dieser wichtigen Gelegenheit befand sich unter den Reisebegleitern des Apostels auch Titus, ein Grieche. Paulus "nahm ihn nüt«', wie er schreibt. Wir dürfen viel­leicht annehmen, daß auch dieser kühne Schritt in Ver­bindung stand mit der von oben empfangenen Offenba­rung. Denn es war ein Unternehmen, das wesentlich da­zu beitragen mußte, die Entscheidung der Frage, ob Be­schneidung oder nicht, herbeizuführen. Aber Titus wurde, wie Paulus scheinbar nur beiläufig erwähnt, "obwohl er ein Grieche war, nicht gezwungen, sich beschneiden zu lassen". Timotheus, "der Sohn eines jüdischen gläubigen Weibes, aber eines griechischen Vaters", wurde später von dem Apostel um der am Orte wohnenden Juden wil­len beschnitten (vergl. Apstgsch. 16, 1‑3); Titus nicht, weil es hier galt, die Wahrheit des Evangeliums und die Freiheit, die wir in Christo besitzen, hochzuhalten. Gott rechtfertigte das Tun Seines Dieners. Man erkannte Titus als Bruder an, ohne seine Beschneidung zu fordern. Damit war die wichtige Frage grundsätzlich schon entschieden.

Interessant ist die Art und Weise, in welcher Pau­lus den Galatern mitteilt, wie der Herr jene ernste Zu­sammenkunft zu ihrem bleibenden Segen hatte ausschla­gen lassen. Zufolge jener Offenbarung hinaufgezogen, hatte er die Gelegenheit benutzt, um den Versammelten das Evangelium vorzulegen, das er unter den Nationen predigte. Im besonderen war dies den "Angesehenen" gegenüber geschehen, damit er "nicht etwa vergeblich laufe oder gelaufen wäre‑ (V. 2). Der Apostel, der sein Evangelium unmittelbar vom Herrn selbst empfangen hatte, war dafür verantwortlich, es genau so weiter zu geben, wie es ihm anvertraut worden war. Aber wie er sich allezeit bemühte, den Gläubigen in Wort und Schrift da zu begegnen, wo er sie fand, und ihnen in Liebe weiter zu helfen, benutzte er auch diese Gelegenheit, um den Führern der Versammlung in Jerusalem, die in der Er­kenntnis der Wahrheit wohl weit hinter ihm standen, das ihm vom Herrn Anvertraute eingehend vorzutragen. Sowohl im Blick auf seine eigene Arbeit als auch auf den einheitlichen Fortgang des ganzen Werkes war eine fried­liche Verständigung mit den "Angesehenen" von Wich­tigkeit. Was wäre geworden, wenn infolge eines unbe­sonnenen Vorgehens seinerseits ein Zwiespalt zwischen ihm und den übrigen Aposteln oder Arbeitern entstanden wäre? Wie würde Satan triumphiert haben!

Es ist so schön, in diesem nachahmungswürdigen Man­ne immer wieder der Gesinnung Christi zu begegnen. Nie sich selbst suchend, nur bedacht auf die Verherrli­chung des Herrn, die Förderung Seines Werkes und das Wohl Seiner geliebten Herde, wurde sein Ausspruch praktisch bei ihm wahr: "Nicht mehr lebe ich, sondern Christus lebt in mir".

Aber so wichtig im allgemeinen und im besonderen bedeutungsvoll für die Galater diese Verständigung mit den übrigen Aposteln auch sein mochte, war doch der ei­gentliche Grund der Reise des Apostels nach Jerusalem und seines entschiedenen Auftretens für die Wahrheit ein anderer. Wir finden ihn in den Versen 4 und 5: "Es war aber der nebeneingeführten falschen Brüder wegen, die nebeneingekommen waren, um unsere Freiheit aus­zukundschaften, welche wir in Christo Jesu haben, auf daß sie uns in Knechtschaft brächten; denen wir auch nicht eine Stunde durch Unterwürfigkeit nachgegeben haben, auf daß die Wahrheit des Evangeliums bei euch verbfiebe". Paulus dachte nicht daran, mit diesen ver­kehrten Leuten über die Wahrheit zu streiten. Sie woll­ten ja die Wahrheit nicht. Ihre Absicht war, die Freiheit, die wir in Christo haben, hinterlistig "auszukundschaf­ten". Darum nennt Paulus sie auch wohl "falsche Brü­der". Es ist eine auffallende und doch wieder verständ­liche Erscheinung, daß mit dem Annehmen böser Lehren fast immer Unaufrichtigkeit Hand in Hand geht, oder sich doch daraus entwickelt. Wenn das aber so ist, was kann es dann nützen, mit solchen Leuten zu streiten? Es bleibt nichts anderes übrig, als das zu tun, wozu der Apostel in seinen Briefen immer wieder auffordert und was er hier selbst tat, d. h. mit aller Entschiedenheit ihnen entgegen­zutreten, sie abzuweisen, sich von ihnen abzuwenden. Er hatte ihnen nicht eine Stunde durch Unterwürfigkeit nachgegeben. Handelte es sich doch um einen Preis, der solch unbeugsamer Entschiedenheit wert war: "auf daß die Wahrheit des Evangeliums bei euch verbfiebe". Was jene Leute anstrebten, ist uns bekannt; sie wollten die Gläubigen wieder unter die Knechtschaft des Gesetzes führen, das doch nur Fluch und Verdammnis über den Menschen bringen kann.

Der Apostel kommt jetzt auf die Männer zurück, die in Jerusalem in Ansehen standen. Was sie waren und welchen Platz sie einnahmen, hatte für ihn keine große Bedeutung ‑ Gott nimmt ja keines Menschen Person an; zudem hatten diese angesehenen Männer ihm "nichts hinzugefügt". Im Gegenteil, sie hatten anerkennen müs­sen, daß "die Gnade, die ihm gegeben war'«, über das ihnen selbst Anvertraute weit hinausging. War Petrus das auf Israel beschränkte Apostelamt der Beschneidung gegeben worden, so hatte Gott dem Paulus das alle Völ­ker der Erde umfassende Apostelamt der Nichtbeschnei­dung anvertraut. Die ihm gegebene Gnade ging darum schon in dem ihr zugewiesenen Gebiet weit über das Teil der Zwölfe hinaus, ganz abgesehen von dem tiefgehenden Unterschied, der im Blick auf die geoffenbarten Wahr­heiten zwischen beiden bestand. Derselbe Gott hatte in Paulus wie in Petrus gewirkt, und zwar so, daß den Zwöl­fen nichts anderes übrigblieb, als dankbar das anzuerken­nen, was Gott, ohne sie, durch Paulus getan hatte. Jahre erfolgreichen, gesegneten Dienstes lagen schon hinter ihm, die klaren Beweise seiner Sendung und außergewöhnfi­chen Begabung waren erbracht. Die Folge war, daß "Ja­kobus und Kephas und Johannes, die als Säulen ange­sehen wurden, ihm und Barnabas die Rechte (d. i. die rechte Hand) der Gemeinschaft gaben", auf daß Paulus und seine Mitarbeiter "unter die Nationen, sie aber un­ter die Beschneidung gingen". Sie verbanden damit die Vereinbarung, daß Paulus mit den Gläubigen aus den Nationen der Armen unter Israel gedenken möge, was er bekanntlich mit aller Treue stets getan hat (V. 10). Damit war nicht nur die Bemühung des Feindes, die Gläu­bigen unter das Joch des Gesetzes zu bringen, zunichte geworden, sondern auch das Band der Gemeinschaft be­züglich des Dienstes zwischen den beiderseitigen Führern befestigt worden. Wieder einmal hatte Gott aus dem be­absichtigten Bösen Gutes hervorkommen lassen.

Doch mehr noch als das. In den nächsten Versen er­zählt Paulus, unter der offensichtlichen Leitung des Hei­ligen Geistes, der keinerlei Rücksicht auf Personen nimmt, wenn es sich um die Aufrechthaltung der Wahrheit han­delt, ein Ereignis, das uns zeigt, wie wenig Paulus die Männer, die vor ihm Apostel waren, als Vorgesetzte be­trachtete, nach deren Anerkennung man streben muß. Zu­gleich versetzte es den Gesetzlichen einen umso schwere­ren Stoß, weil es ganz unbeabsichtigt war und für den hochangesehenen Apostel der Beschneidung nichts weni­ger als ein Lob bedeutete. Wie gut, daß das Wort Gottes in jeder Beziehung lauter, zuverlässig und treu ist! Mit gerechter Waage wägend, schont es niemand. Wie schön ist es anderseits, daß Petrus es seinem treuen Bruder und Mitknecht nie nachgetragen hat, daß er ihn für alle Zeiten anscheinend so schonungslos an den Pranger gestellt hat! Er nennt ihn in seinem letzten Briefe, nicht lang vor sei­nem Tode, "unseren geliebten Bruder Paulus" und emp­fiehlt "alle seine Briefe" der besonderen Beachtung der Gläubigen (2. Petr. 3, 15. 16). Kostbare Beispiele zur Nachahmung für uns in unwichtigeren Dingen!

Doch folgen wir dem Bericht selbst. "Als aber Kephas nach Antiochien kam, widerstand ich ihm ins Angesicht, weil er dem Urteil verfallen war" (V. 11). In Jerusalem war unserem Apostel von Petrus die Hand der Gemein­schaft gereicht worden, hier in Antiochien widerstand Paulus ihm ins Angesicht, d. h. ohne jede Rücksichtnah­me auf seine Person. Warum das? Hören wir. Einem ge­setzestreuen Juden war es nicht erlaubt, bei Heiden ein­zukehren und mit ihnen zu essen (Vergl. Apstgsch. 11, 3). Petrus aber, von Gott belehrt, war nicht nur seinerzeit bei dem römischen Hauptmann Kornelius eingekehrt, sondern hatte auch in Antiochien mit Gläubigen aus den Heiden gegessen, hatte sich dann aber, als etliche von Jakobus herabkamen, dem allgemein geachteten Vertre­ter eines mit Synagoge und Gesetz noch verbundenen Christentums, aus Furcht vor denen aus der Beschneidung wieder abgewendet und die übrigen Juden, ja, selbst Bar­nabas, den Mann voll Heiligen Geistes (Apstgsch, 11, 24), durch seine Heuchelei mitfortgerissen (V. 12. 13). Wie groß und verderblich ist doch der Einfluß einer all­gemein herrschenden Meinung, vor allem wenn es sich um Satzungen des Fleisches, um religiöse Sitten und Ge­bräuche handelt! Wie schwer ist es, von gesetzlichen Vor­urteilen loszukommen, und wie schlimm sind die Folgen, wenn wir uns von ihnen beherrschen lassen und "nicht den geraden Weg nach der Wahrheit des Evangeliums wandeln" (V. 14)! Umso schlimmer, je größer in reli­giöser Beziehung unser Ansehen ist. Und in dem vorlie­genden Falle war es der erste und angesehenste unter den zwölf Aposteln, der also handelte!

"So kleinlich die Sache auch scheinen mochte", sagt ein anderer Schreiber*) zu dieser Stelle, "so wichtig war sie in den Augen Gottes und Seines Knechtes. Paulus er­kannte, daß durch diese scheinbar geringfügige Handlung die Wahrheit des Evangeliums aufgegeben wurde. Wir vergessen so leicht, daß in einer einfachen, anscheinend ganz unwichtigen Angelegenheit des täglichen Lebens ein tatsächliches Aufgeben Christi und der Wahrheit des Evangeliums liegen kann. Gott will aber, daß wir die

*) W. Kelly. ‑ The Bible Trcasury, 1862.

Dinge so betrachten, wie sie Seine Wahrheit und Gnade berühren. Wir sind geneigt, das was Gott angeht leicht­hin zu behandeln, aus Dingen aber, die uns persönlich betreffen, viel zu machen. Gott möchte jedoch ein tieferes Gefühl in uns sehen für alles das, was Christum und das Evangelium angeht. Warum tadelte Paulus den Apostel der Beschneidung so streng? Weil es sich um die Grund­lagen der Gnade handelte. Hier war nicht menschiche Klugheit oder Furchtsamkeit am Platze, hier gab es kein Vermitteln, kein Rücksicht nehmen auf Personen. Es galt für Paulus, auf dem Felde festzustehen, auf welchem er in besonderer Weise verantwortlich war, die Wahrheit aufrechtzuhalten. Wenn Petrus versagte und sich nicht als Petrus (Stein), sondern als Simon, Sohn des Jonas, offenbarte, mußte Paulus umso entschiedener auftreten. Was seinem Tadel einen so ganz besonderen Nachdruck verleiht, ist der Umstand, daß der Vorgang in Antiochien sich nicht lang nach der feierlichen Zusammenkunft in Jerusalem abspielte, bei welcher Petrus so freimütig für die Freiheit, die Gott den Gläubigen aus den Heiden ge­geben, eingetreten war. Gerade ihn hatte Gott, wie er selbst erzählt, auserwählt, "daß die Nationen durch sei­nen Mund das Wort des Evangeliums hören und glauben sollten". Er hatte seine Ansprache mit den Worten ge­schlossen: "Gott ... machte keinen Unterschied zwischen uns und ihnen . . ., sondern wir glauben durch die Gnade des Herrn Jesus in derselben Weise errettet zu werden wie jene". Stärker hätte er sich kaum ausdrücken, emp­findlicher hätte der jüdische Stolz nicht getroffen werden können, als durch die Erklärung, daß die Errettung derer aus den Nationen vorbildlich war für die Errettung der Juden, nicht aber, wie man es erwarten sollte, umgekehrt. Und nach alledem jetzt eine solche Entgleisung!? Und mit Petrus heuchelte auch Barnabas, der treue Gefährte des Paulus auf seiner ersten Missionsreise, der auch mit diesem erwählt worden war, um "zu den Aposteln und Ältesten nach Jerusalem hinaufzugehen wegen dieser Streitfrage! "

Was sollen wir dazu sagen? Unwillkürlich werden wir an das ernste Wort erinnert: "Lasset ab von dem Men­schen, in dessen Nase nur ein Odem ist! denn wofür ist er zu achten?«« (Jes. 2, 22). "Ein Rohr, vom Winde hin und her bewegt" ‑ so sind die Besten, ein Johannes der Täufer, ein Simon Petrus und andere, wenn das Au­ge nicht einfältig bleibt. Da war nur ein im Wege Voll­kommener, dessen Fuß niemals wankte. Und doch waren jene Männer und sind wir von Gott so wertgeschätzte, so hochbegnadigte Wesen. Was muß es in den Augen dieses Gottes sein, wenn die Seinigen von Seiner wunderbaren Gnade umwenden zu ihrem armseligen Tun, zu ihrer eigenen Nichtigkeit!

Wir verstehen, daß Paulus, dessen klarer Blick in dem Verhalten seines Mitknechtes jene böse Neigung entdeck­te, ihm in heiliger Entrüstung die Worte zurief: "Wenn du, der du ein Jude bist, wie die Nationen lebst und nicht wie die Juden, wie zwingst du denn die Nationen, jüdisch zu leben?" (V. 14). Durch seinen Verkehr mit den Gläu­bigen aus den Nationen hatte Petrus bewiesen, daß er mit seinen jüdischen Glaubensgenossen von dem uner­träglichen Joch des Gesetzes befreit war, und nun wollte er die Nationen unter dieses Joch bringen und sie zwin­gen, jüdisch zu leben? In Jerusalem, dem Mittelpunkt des Judentums, war er kühn für die allen gehörende Freiheit in Christo eingetreten, und hier in Antiochien, der heidnischen Stadt, wollte er zu den jüdischen Satzun­gen zurückkehren und sie zur Erlangung der vollen christ­lichen Gemeinschaft auch anderen auferlegen?

Der Apostel fährt fort: "Wir, von Natur Juden und nicht Sünder aus den Nationen, aber wissend, daß der Mensch nicht aus Gesetzeswerken gerechtfertigt wird, sondern nur durch den Glauben an Jesum Chtistum, auch wir haben an Christum Jesum geglaubt, auf daß wir aus Glauben an Christum gerechtfertigt würden, und nicht aus Gesetzeswerken, weil aus Gesetzeswerken kein Fleisch gerechtfertigt werden wird" (V. 15. 16). Beachten wir, daß Paulus hier nicht unmittelbar von dem Gesetz, dem Gesetz vom Sinai, redet, sondern ganz allgemein von "Gesetzeswerken". Welches Gesetz man auch aufstellen mag, jeder gesetzliche Grundsatz zerstört die Gnade und macht alle Rechtfertigung unmöglich.

"Wenn wir aber, indem wir in Christo gerechtfertigt zu werden suchen, auch selbst als Sünder erfunden wor­den sind ‑ ist denn Christus ein Diener der Sünde? Das sei ferne!" (V. 17).

Selbst als Sünder erfunden werden und Christum zu einem Sündendiener machen ‑ das hatte Petrus selbst­verständlich nicht gewollt! Daran hatte er nicht gedacht. Aber hatte Paulus nicht recht? Durchaus! Wenn Petrus und andere mit ihm das Gesetz als ein Mittel der Recht­fertigung aufgegeben und zu Christo ihre Zuflucht ge­nommen hatten, nun aber anfingen, das abgebrochene Ge­bäude des Gesetzes von neuem aufzurichten, so sagten sie damit, daß sie ihr erstes Tun als böse verurteilen müßten. Sie stellten sich also als Sünder und übertreter dar (V. 18). Und Christus, der sie angeleitet hatte, dem Gesetz den Rücken zu kehren und in Ihm allein Recht­fertigung zu suchen, war damit zu einem Diener der Sün­de geworden, denn auf Grund Seiner Unterweisungen hatten sie den Boden des Gesetzes verlassen. Welch ein Ergebnis! Wie mag Petrus erschrocken sein!

0 möchten alle, die auch heute in Gefahr stehen, auf äußeren, religiösen Satzungen zu ruhen, erkennen, daß sie auf diesem Wege nichts anderes tun, als das Fleisch, den Menschen, an die Stelle Christi setzen! Im Christen­tum gibt es ja nur zwei religiöse Satzungen, Verordnun­gen des Herrn: die Taufe und das Abendmahl. Aber wie hat man gerade aus ihnen ein Ruhekissen für das Gewis­sen zu machen gesucht und durch ihren äußeren Gebrauch das Auge von der Person und dem Werke Christi abge­lenkt! Getauft sein und gelegentlich zum Abendmahl ge­hen, siehe da die beiden großen Stützen für zahllose christliche Bekenner. Mehr als das besitzen sie nicht. Aber wie schon bemerkt, auf Satzungen ruhen heißt auf dem Fleische ruhen. Wie besonders ernst ist das in diesem Falle! Taufe und Abendmahl zeugen gerade von dem hoffnungslosen Zustand des Menschen im Fleische, von dem Tode, in welchem er liegt, und von dem Werke, das nötig war, um ihn aus diesem Zustand zu befreien. Arme Christenheit! Sie hält fest an den äußeren Verordnungen, leugnet dabei aber die Wahrheit, welche sie darstellen.

Der Apostel fährt fort: "Denn ich bin durchs Gesetz dem Gesetz gestorben, auf daß ich Gott lebe" (V. 19). Das Gesetz war heilig, gerecht und gut (Röm. 7, 12), aber, durch das Fleisch kraftlos, konnte es nur Tod und Verdammnis über den Menschen in seinem gefallenen, ohnmächtigen Zustand bringen. Paulus, der einst unter Gesetz war, hatte diese seine Wirkung voll und ganz er­fahren, in seinem Innem verwirklicht. Er war durchs Ge­setz gestorben, es hatte das Todesurteil über ihn ausge­sprochen, und dieses Urteil war in Christo über ihn er­gangen. Mit Christo gestorben und auferstanden, lebte er jetzt nicht mehr nach seinem alten Zustand als ein Mensch im Fleische. Darum hatte das Gesetz auch keiner­lei Ansprüche mehr an ihn; er war dem Gesetz gestorben und damit seiner Botmäßigkeit und Gewalt für immer entrückt. Die gerechten Ansprüche des Gesetzes waren durch einen vollkommenen Stellvertreter auf immerdar erfüllt worden, und nun, durch den Tod von dem Gesetz freigemacht, war er eines Anderen geworden, des aus den Toten Auferstandenen, um fortan "Gott zu leben".

Glücklicher Mann! Aber mit welchen Mühen, Wider­sprüchen und Anfeindungen hatte er zu kämpfen, indem er diese kostbare Wahrheit für sich selbst auszuleben und anderen mitzuteilen suchte! Ach! das Fleisch will nicht in den Tod. Sich als völlig verderbt und kraftlos zur Un­tätigkeit, ja, zum Tode verurteilt zu sehen, nichts als Sün­de zu sein, ist der alten Natur unerträglich. Auch in dem Gläubigen will sie immer wieder aufleben und in Tätig­keit treten. Aber wenn es geschieht, so kann nur Sünde und tiefe Beschämung für den Gläubigen die Folge sein. Gott sei gepriesen, daß wir, als gestorben und aufer­standen mit Christo, das Recht haben und, als lebend in Ihm, auch die Kraft besitzen, uns für tot zu halten! Wir sind berufen und befähigt, dem großen Apostel auf sei­nem Pfade zu folgen. Der Herr wolle uns alle zu eifrigeren und erfolgreicheren "Nachahmen" dieses glücklichen Mannes machen!

Beachten wir, daß Paulus in dieser ganzen Stelle nur von sich persönlich spricht. Nicht als ob die ausgespro­chenen Wahrheiten nicht alle Gläubigen angingen und Geltung für sie hätten, aber er stellt sie dar als seinen persönlichen Besitz, so wie er sie für sich im Glauben er­faßt hatte und verwirklichte. Ähnlich wie er in Röm. 8, 2 sagt: "Das Gesetz des Geistes des Lebens in Christo Jesu hat mich freigemacht von dem Gesetz der Sünde und des Todes", hören wir ihn hier immer wieder sagen: "Ich bin gestorben . . . ich bin gekreuzigt . . . ich lebe usw." Das ist nicht von ungefähr so. Die Redeweise des Apostels weckt unwillkürlich in jedem aufrichtigen Leser die Frage: "Ist das auch wahr von mir? Darf auch ich so reden?" Und das ist gut und nützlich. Daß die Gläubigen alle mit Christo gestorben und auferweckt und durch Ihn von dem Gesetz der Sünde und des Todes freigemacht sind, ist eine Tatsache, Gott sei Dank dafür! aber eine andere Frage ist, inwieweit ein jeder von uns persönlich diese Tatsache im Glauben erfaßt hat und im praktischen Leben verwirklicht. Nur auf diesem Wege können wir solch glückliche Menschen werden, wie Paulus einer war.

"Ich bin mit Christo gekreuzigt, und nicht mehr lebe ich, sondern Christus lebt in mir" (V. 20). Daß Christus am Kreuze auch alle Sünden des Apostels getragen hatte, ist selbstverständlich ‑ aber davon redet er hier nicht. Hier handelt es sich um die Frage, auf welche Weise er dem Gesetz gestorben war. Wie war das geschehen? Wir hörten es schon. Gott hatte ihn mit Christo in Seinem­Tode am Kreuze eins gemacht, er war "mit Christo ge­kreuzigt", und diese Tatsache verwirklichte er durch den Glauben. Der, über welchen das Urteil des Gesetzes am Kreuze ergangen war, lebte jetzt, nach vollendetem Wer­ke, zur Rechten Gottes droben, und Paulus lebte in Ihm. Als der alte Paulus, der als ein rechtlich verurteilter Sün­der vor Gott gestanden hatte, war Paulus nicht mehr da; der Tod hatte in seinem Stellvertreter mit dem Leben, in welchem er einst lebte, ein Ende gemacht. Darum konnte er, obwohl er sich noch in diesem Leibe auf der Erde befand, sagen: "Nicht mehr lebe ich, sondern Chri­stus lebt in mir". Sein altes Ich, alles was er einst in sitt­licher Beziehung gewesen war, sein ganzes früheres Sein in Verbindung mit und unter dem Gesetz, hatte in dem Tode Christi sein Ende gefunden, bestand vor Gott nicht mehr. Er besaß jetzt ein neues Leben, und dieses Leben war Christus. Mit anderen Worten: Christus lebte jetzt in ihm in dem Leben, in welchem Er als Sieger über Sün­de, Tod und Teufel, und nachdem Er den Fluch des Ge­setzes getragen hatte, aus den Toten auferstanden war.

Was Paulus hier von sich sagt, ist, wie weiter oben schon ausgeführt, grundsätzlich wahr von allen Gläubi­gen. Sie sind alle mit Christo gekreuzigt, gestorben und auferweckt, Christus ist für sie alle des Gesetzes Ende und der Anfang eines ganz neuen Daseins und Lebens gewor­den. Da ist kein Unterschied, der eine besitzt nicht mehr und nicht weniger als der andere. Allen ist dasselbe ge­schenkt. Der Unterschied, und zwar ein großer Unter­schied, besteht nur in dem gläubigen Ergreifen und prak­tischen Verwirklichen dieser Wahrheit. Paulus sagt nicht: "Nicht mehr leben wir", oder :"Christus lebt in uns", sondern spricht, wie schon gesagt, rein persönlich, nur von sich. Seitdem er Jesum auf dem Wege nach Damas­kus gesehen hatte, gab es für ihn nur noch das eine Ziel, den einen Gegenstand: Christo zu leben, Ihn darzustellen und in Sein Bild verwandelt zu werden. Er konnte wahr­heitsgemäß sagen: "Zu leben ist für mich Christus". An­fang, Mittel und Ende, Inhalt und Zweck seines Lebens war nur noch Christus; darum war auch das Sterben für ihn Gewinn, denn es brachte ihn zu Christo hin, und ge­löst von diesem Leibe bei Christo zu sein ist ungleich besser, als noch im Leibe hier auf Ihn zu warten.

Christus war also die Quelle des Lebens für den Apo­stel, das was ihn von der Vergangenheit getrennt und ihn auf einen ganz neuen Boden gestellt hatte. Dieses Leben kann aber in einem Geschöpf nicht selbständig und unab­hängig sein. Es bedarf eines Gegenstandes, der es anzieht und unterhält, für den es lebt, und nach dem es sich bil­det. Dieser Gegenstand ist wiederum Christus. Darum fügt Paulus dem: "Christus lebt in mir", sofort die Wor­te hinzu: "Was ich aber jetzt lebe im Fleische, lebe ich durch Glauben, durch den an den Sohn Gottes, der mich geliebt und sich selbst für mich hingegeben hat" (V. 20).

Wieder dieselbe persönliche Ausdrucksweise wie vor­her. An mehreren Stellen des Wortes hören wir, daß Christus uns geliebt und sich selbst für uns hingegeben hat (vergl. Eph. 5, 2. 25), aber hier steht die Liebe und Hingebung des Herrn als ein persönliches Teil so warm vor der Seele des Schreibers, daß das eigene Herz bei dem Lesen seiner Worte unwillkürlich miterwärmt wird. "Der mich geliebt und sich selbst für mich hingegeben hat", so kann nur jemand sprechen, der gewohnheitsgemäß in der Nähe des Herrn lebt und, wie einst Johannes, in innigem, verborgenem Umgang mit Ihm steht. Paulus war ein Apostel, ein auserwähltes Gefäß, aber einfach als Gläubiger betrachtet, gehörte er zu den Leuten, wel­che die Gebote des Herrn haben und sie halten, und so konnte der Herr "ihn lieben und sich selbst ihm offenbar machen«' (Joh. 14, 21). Wir alle können ihm auf diesem Wege folgen, und glücklich ein jeder, der es tut! So offenbart sich das Leben Christi in uns. Er selbst wird immer mehr der einzige, alles in uns beherrschende Ge­genstand. 0 welche Seligkeit, ähnliche Erfahrungen zu machen wie der Apostel und solche Worte ihm nachspre­chen zu dürfen! ‑ Kennen wir etwas davon?

Die Erinnerung an Ihn, der in Seiner Liebe für uns, für mich starb, der mich auf diese Weise aus dem elen­den Zustand, in welchem ich mich befand, herausnahm und mir Sein Leben schenkte, sodaß ich jetzt Ihm leben und dienen darf, befreit von Satan und der Herrschaft der Sünde, und weiter daß der Sohn Gottes es war, der dies tat, ergreift das Herz mit immer lebendigerer Kraft und verbindet es immer inniger mit Ihm, als dem ein­zigen Gegenstand des Glaubens. Mit anbetender Bewun­derung weidet sich das Auge an Ihm, der ein solches We­sen, wie ich war und bin, lieben konnte und liebt. Und so leben dann auch wir, solang es Gott gefällt, uns noch auf Erden zu lassen, ja, "was wir im Fleische leben", durch Glauben, durch den an den Sohn Gottes, der uns geliebt und sich selbst für uns hingegeben hat. Christus als Quelle dieses Lebens und Christus als Gegenstand der innigen Zuneigungen der erneuerten Seele ‑ wahr­lich, das ist ein begehrenswertes, köstliches Leben, wert, gelebt zu werden! Wer so lebt, "macht die Gnade Gottes nicht ungültig" (V. 21)‑ Im Gegenteil, Gott wird darin verherrlicht. Ist es doch Seine Gnade allein, die eine sol­che Umwandlung hervorbringen und auf solchem Wege eine neue Schöpfung schaffen konnte, in welcher das Alte vergangen ist (2. Kor. 5, 17).

"Denn wenn Gerechtigkeit durch Gesetz kommt, dann ist Christus umsonst gestorben" (V. 21). Mit diesen Worten schließt der Apostel seine Belehrung. 0 jene ar­men Lehrer des Gesetzes! Wohin führten ihre Bemühun­gen? Gerade sie waren es, welche die Gnade Gottes un­gültig machten, Gott Seinen Ruhm nahmen, indem sie das Tun des Menschen neben Gottes wunderbares Wir­ken stellten und damit dem Tode Christi jede Bedeutung, jeden Wert raubten. Denn wenn ein Mensch durch Ge­setzeswerke, durch eigenes Tun, gerechtfertigt werden kann, warum ist Christus dann gestorben? Sein bitteres Leiden und Sterben ist umsonst geschehen. Es gab dann ja einen anderen Weg, auf welchem der Mensch zum Zie­le kommen und Gerechtigkeit erlangen konnte. Wie die­ser Weg beschaffen ist und wohin er führt, zeigt uns die letzte Hälfte von Röm. 7. Sein Ergebnis ist der verzweif­lungsvolle Schrei: "Ich elender Mensch! wer wird mich retten von diesem Leibe des Todes?" Selbst wenn ein Christ, der sich seiner Errettung und Gotteskindschaft bewußt ist, diesen Weg betritt, muß er die gleichen nie­derschmetternden Erfahrungen machen. Da ist ein Gesetz in seinen Gliedern, das dem Gesetz seines erneuerten Sinnes widerstreitet und ihn in Gefangenschaft bringt unter das Gesetz der Sünde!

Wie ganz anders waren die Erfahrungen des Apostels! Wahrlich, für ihn war Christus nicht umsonst gestorben.

Und wir werden dieselben Erfahrungen machen, wenn wir die Bedeutung des Todes Christi verstanden haben und im Glauben auf uns anwenden. Freigemacht von dem Gesetz der Sünde und des Todes, dürfen wir in der Frei­heit, für die Christus uns freigemacht hat, feststehen und, Gott lebend, die Frucht des Geistes bringen zu Sei­ner Verherrlichung (Kap. 5). Gott dankend durch Je­sum Christum, unseren Herrn, in welchem wir der Sünde gestorben sind, dienen wir mit unserem Sinne Gottes Gesetz. Das Fleisch dient der Sünde Gesetz, es kann ja nicht anders.

Gedenken wir denn allezeit des kostbaren Wortes: "Nicht mehr lebe ich, sondern Christus lebt in mir". Unser Teil, unser Leben, unsere Kraft, alles ist Er. Der Gott aller Gnade schenke dem Schreiber und Leser dieser Zeilen aber auch die persönliche Gnade, mit dem Apostel weiter sagen zu können: "Was ich aber jetzt lebe im Fleische, lebe ich durch Glauben, durch den an den Sohn Gottes, der mich geliebt und sich selbst für mich hinge­geben hat"!

Kapitel 3 Vers 1‑14

In der ersten Hälfte dieses Kapitels setzt der Apostel die Behandlung der Frage des Gesetzes noch weiter fort, um dann vom 15. Verse an von der Verheißung zu reden, die Gott einst dem Abraham gab, und in Verbindung da­mit von den Beziehungen dieser Verheißung zum Gesetz.

Wohl noch erfüllt von der wunderbaren Beschreibung der Veränderung, die durch die Gnade Gottes mit ihm selbst vorgegangen war, von der Befreiung, die er erfah­ren hatte, nicht nur hinsichtlich der gesetzlichen Ver­pflichtungen, unter denen er sich einst nutzlos abmühte, sondern auch seiner selbst ‑ ein neuer Mensch, ein Mensch in Christo geworden, der allein durch Glauben an den Sohn Gottes lebte, wendet Er sich mit ergreifen­den Worten an das Herz und Gewissen der Galater, um sie zu einem Gefühl ihrer gefährlichen Lage zu bringen. Man meint zu fühlen, wie in dem Innern dieses treuen Mannes ein Kampf stattfand, und zwar bewegte ihn einer­seits die liebende Sorge für die Gläubigen, andererseits eine heilige Entrüstung über die bösen Lehrer, die sie be­unruhigt hatten.

"0 unverständige Galater!" so ruft er ihnen zu, "wer hat euch bezaubert, denen Jesus Christus, als unter euch gekreuzigt, vor Augen gemalt wurde?" (V. 1). ja, wenn wirklich Gerechtigkeit durch Gesetz kam, dann war Chri­stus umsonst gestorben. Dann waren auch alle die Be­mühungen der Liebe umsonst, mit denen Paulus ihnen den gekreuzigten Heiland vor die Augen gemalt hatte ‑so wahr und lebendig, als wenn Er in ihrer eigenen Mitte gekreuzigt worden wäre. Die Ausdrucksweise des Apo­stels ist auffallend, und es ist gewiß nicht von ungefähr, daß er die Galater nicht einfach an das Werk oder das Opfer Christi erinnert, sondern daß er von dem Kreuze redet. Nichts stellt die ganze Hoffnungslosigkeit des Zu­standes des Menschen, seine Ohnmacht, sein Nichts, sein Verderben so ans Licht wie das Kreuz. Nichts läßt uns die Heiligkeit Gottes und Sein schonungsloses Gericht über die Sünde so erkennen wie das Kreuz. Nichts ver­mag uns auch mehr von der Welt abzusondern, in sitt­lichem und religiösem Sinne, wie das Kreuz. Darum woll­te Paulus sich auch keiner Sache rühmen, "als nur des Kreuzes unseres Herrn Jesus Christus", durch welchen ihm die Welt und er der Welt gekreuzigt war (Kap. 6, 14).

Aber wohin waren die Galater gekommen? Wer hatte sie bezaubert, ihren Sinn verändert? Wohin zielte ihr Weg? Ach! sie standen in Gefahr, das was sie im "Gei­ste" begonnen hatten, im J1eische" zu vollenden. Arme Leute! Aber dürfen wir uns sehr über sie verwundern? War es nicht von jeher die Neigung des menschlichen Herzens, dem Fleische Raum zu geben? Solang man die gänzliche Hoffnungslosigkeit des Zustandes des Menschen nicht wirklich erkannt hat, ist man stets versucht, dem, was Gott in Christo getan und uns umsonst ge­schenkt hat, etwas hinzuzufügen, irgend etwas von dem Menschen, es sei was es sei. Bei den Galatern bestand dieses etwas, wie wir ja wissen, in schwachen, armseli­gen Satzungen des Fleisches.

Betrübt fährt der Apostel fort: "Dies allein will ich von euch lernen: Habt ihr den meist aus Gesetzeswerken empfangen, oder aus der Kunde des Glaubens? Seid ihr so unverständig? Nachdem ihr im Geiste angefangen habt, wollt ihr jetzt im Fleische vollenden?" (V. 2. 3). Im vorigen Kapitel haben wir von Rechtfertigung und Leben gehört, hier hören wir von dem Geist. Alles das ist unser durch den Glauben. Gesetzeswerke können nur Gericht und Tod bringen. Das hatten die Galater auch gut verstanden. Sie wußten: mochte es sich um den Emp­fang des Lebens oder um die Versiegelung mit dem Heiligen Geiste handeln, in beiden Fällen war das Fleisch völlig ausgeschlossen. Beide kostbare Gaben konnten nur durch Glauben empfangen werden, und die Tatsache, daß sie beide empfangen hatten, zieht der Apostel keineswegs in Zweifel. Sie waren gerechtfertigt, hatten Leben aus Gott, besaßen den Heiligen Geist. Aber nun wollten sie den Boden des Glaubens verlassen und das, was sie im Geiste angefangen hatten, im Fleische vollenden! 0 un­verständige Galater! wer hatte sie bezaubert?

Es mag nützlich sein, bei dieser Gelegenheit noch ein­mal darauf hinzuweisen, daß der Empfang des Lebens und die Versiegelung mit dem Heiligen Geiste, obwohl sie heute bei vielen, vielleicht bei den meisten Bekehrun­gen zeitlich zusammenfallen, doch zwei ganz verschiedene Dinge sind. Ein Mensch empfängt Leben, wenn er durch die Wirksamkeit des Heiligen Geistes mittelst des Wortes wiedergeboren, oder, wie der Herr zu Nikodemus sagt, "aus Wasser und Geist geboren" wird. Eine solche neue Geburt kann selbstverständlich nicht ohne Glauben erfolgen, aber dieser Glaube kann so schwach, das geist­liche Verständnis des Glaubenden so gering sein, daß die Seele weder ihrer Errettung gewiß ist, noch auch die Frei­mütigkeit besitzt, Gott ihren Vater zu nennen. Sie hat vielleicht ein sehr tiefes Gefühl von ihrer Sündhaftigkeit, aber gerade das verhindert sie, freimütig zu Gott empor­zuschauen. "Der Geist der Sohnschaft, in welchem wir rufen: Abba, Vater!" hat noch nicht Wohnung in ihr ge­macht, hat sie noch nicht versiegelt (Röm. 8, 15; Eph. 1, 13). Glaube ist vorhanden, aber noch nicht der von allem anderen absehende, Christum allein ergreifende Glaube. Ganz gewiß wird Gott Sein Werk in einer sol­chen Seele nicht unvollendet lassen. Er wird sie früher oder später zum gläubigen Erfassen des Wertes des Op­fers Jesu Christi führen, sodaß sie dann von Herzen dan­ken und in Freimütigkeit dem Vater nahen kann.

Hierzu sei noch bemerkt, daß es viele wahrhaft er­rettete Seelen gibt, die aus Mangel an Belehrung oder aus übergroßer Ängstlichkeit nicht zu sagen wagen, daß sie den Heiligen Geist haben; wenn man sie aber im Kämmerlein, wo sie ihr Herz einfältig vor Gott ausschüt­ten, belauschen könnte, würde man hören, daß sie Gott vertrauensvoll ihren Vater nennen ‑ der klare Beweis, daß sie den Geist der Sohnschaft empfangen haben. Sehr oft genügt in solchen Fällen der Hinweis auf eine einzige passende Schriftstelle, um alle Zweifel und Fragen zu zer­streuen und das Herz mit der vollen Gewißheit und Freude des Heils zu erfüllen.

Es ist eine große Sache, wenn das Auge von dem ei­genen Ich und dem Stande des göttlichen Werkes in der Seele ab‑ und auf Christum allein hingelenkt wird. Ge­rade hier lag das Geheimnis des Abirrens der Galater. In diesem Punkte hatten sie sich bezaubern lassen. Der Heilige Geist hatte ihren Blick ausschließlich auf den ge­kreuzigten Herrn gelenkt, und nun wollten sie "im Flei­sche" vollenden! Durch diesen Geist, den sie aus der Kun­de des Glaubens empfangen hatten, waren sogar Wunder­werke unter ihnen gewirkt worden, sei es durch Paulus oder auch durch sie selbst (V. 5), und nun wollten sie mit Gesetzeswerken fortfahren! Führwahr, unverständi­ger hätten sie nicht handeln können. So urteilen wir mit Recht; und doch, wie viele Gläubige sind ihnen im Laufe der Jahrhunderte auf diesem Wege gefolgt, wie viele tun es heute noch trotz des warnenden Beispiels!

"Habt ihr so vieles vergeblich gelitten? wenn anders auch vergeblich?" (V. 4). Der Unverstand der Galater war umso unerklärlicher, als sie um des Evangeliums willen schon mancherlei Leiden ausgesetzt gewesen wa­ren. Sollte das alles umsonst geschehen sein? Der Zusatz: "wenn es ja auch vergeblich ist", hat den Erklärern schon viel Kopfzerbrechen verursacht und sehr verschiedenar­tige Auslegungen erfahren. Könnte der Apostel nicht ein­fach sagen wollen: Die Leiden sind ja an und für sich vergeblich, sie haben euch nicht mehr gegeben als ihr vor­her besaßet, sind auch nichts Außergewöhnliches (Leiden um Christi willen waren ja mehr oder weniger das Teil aller) ‑ aber ihr habt doch durch euer geduldiges Aus­harren bewiesen, daß ihr, trotz aller Widerstände und Feindseligkeiten von außen, mit aufrichtigem Ernst bei dem Herrn verharren wolltet? Und nun sollte das alles umsonst gewesen sein? Ihr solltet alles vergeblich ge­litten haben?

Der Apostel hofft, daß es dem Feinde nicht gelingen werde, einen solchen Sieg über sie zu erringen. Indem er sie daran erinnert, daß nicht durch irgend ein Tun ihrerseits, sondern allein auf Grund des Glaubens der Heilige Geist ihnen gegeben worden sei, lenkt er ihren Blick bis auf Abraham, den Stammvater Israels, zurück. Auch er hatte Gott geglaubt, und es war ihm zur Gerech­tigkeit gerechnet worden (V. 6). Dieser Hinweis war umso ernster und überführender, weil gerade Abraham die Beschneidung, zu welcher die Galater zurückkehren wollten, von Gott empfangen hatte. Sie hätten sich aus diesem Grunde vielleicht auf ihn, den Vater aller Gläu­bigen, berufen können; die bösen Lehrer hatten es ge­wiß schon getan. Aber wann hatte Abraham die Beschnei­dung empfangen? Ehe er glaubte? Nein, erst nachher. Im 15. Kapitel des ersten Buches Mose wird uns berich­tet, wie Abraham der Verheißung Gottes glaubte und in­folgedessen gerechtfertigt wurde, während erst Jahre spä­ter, im 17. Kapitel, die Beschneidung eingeführt wird.

"Erkennet denn: die aus Glauben sind, diese sind Abra­hams Söhne" (V. 7). Nicht durch die Beschneidung, son­dern durch den Glauben wurde Abraham gerechtfertigt; nur auf dem Boden des Glaubens wurde er gesegnet. "Die Schrift aber, voraussehend, daß Gott die Nationen aus Glauben rechtfertigen würde, verkündigte dem Abra­ham die gute Botschaft zuvor: "In dir werden gesegnet werden alle Nationen". Also werden die, welche aus Glau­ben sind, mit dem gläubigen Abraham gesegnet" (V. 8. 9). Wenn der Vater durch Glauben die Segnung erlangte, dann kann seine Nachkommenschaft sie nicht auf einem anderen Boden finden. Der Schluß ist einfach und über­zeugend. Darum redet die Schrift auch schon vorausse­hend ganz klar von diesen Dingen. Schon als Gott den Abraham aus seinem Lande und aus seines Vaters Hause berief, gab Er ihm die Verheißung, daß in ihm alle Ge­schlechter der Erde gesegnet werden sollten ‑ und zwar nicht etwa dadurch, daß sie Juden wurden, sondern so wie sie vor Gott dastanden, als Geschlechter der Erde oder als Heiden. Als solche sollten sie mit dem gläubigen Abraham gesegnet werden (Vergl. 1. Mose 12, 3).

Dementsprechend lesen wir denn auch: "Durch Glau­ben war Abraham, als er gerufen wurde, gehorsam, aus­zuziehen an den Ort, den er zum Erbteil empfangen soll­te; und er zog aus, ohne zu wissen, wohin er komme" (Hebr. 11, 8). So empfing er von Gott die Verheißung, für sich und andere. So hatten auch die Galater sie emp­fangen, und mit der Verheißung den Segen. "Also wer­den die, welche aus Glauben sind, mit dem gläubigen Abraham gesegnet" (V. 9). In jedem Falle hing also der Segen vom Glauben ab, nicht von der Beobachtung irgend einer gesetzlichen Verordnung. Im Gegenteil, wer sich unter Gesetz stellt, kommt unter den Fluch. "Denn", fügt der Apostel mit ergreifendem Ernst hinzu, "so viele aus Gesetzeswerken sind, sind unter dem Fluche; denn es steht geschrieben: "Verflucht ist jeder, der nicht bleibt in allem, was im Buche des Gesetzes geschrieben ist, um es zu tun!" (V. 10). Das will sagen: Wer nur irgend den Versuch macht, sich vor Gott auf gesetzlichen Boden zu stellen, bringt unausbleiblich Fluch über sich. Denn ver­flucht ist jeder, der nicht bleibt in allem, was im Gesetz geschrieben steht. 0 möchten das doch alle jene beden­ken, die noch Heil oder irgendwelche Erfolge von der Tätigkeit des Fleisches erwarten! Sie verlassen den Boden der Gnade und damit grundsätzlich den Boden des Chri­stentums. Sie legen ein Joch auf den Hals der jünger, das weder die Väter (Israel) tragen konnten, noch wir zu tragen vermögen.

Doch nicht nur die Erfahrung hat die Wahrheit des Wortes bewiesen, daß niemand durch Gesetzeswerke vor Gott gerechtfertigt werden kann, Gott selbst hat es auch immer wieder deutlich bezeugt. So sagt Er durch den Mund des Propheten Habakuk: "Der Gerechte wird aus Glauben leben" (V. 11). Und daß das Gesetz nicht aus Glauben ist, geht aus jener anderen Stelle klar hervor: "Wer diese Dinge getan hat, wird durch sie leben" (V. 12).

Tun, wirken ist die Sprache des Gesetzes, glauben, nicht wirken die Sprache der Gnade. Wohl verheißt das Gesetz Leben und Segen auf Grund des Haltens seiner Gebote, aber weil es durch das Fleisch kraftlos ist, kann es in Wirklichkeit nur Fluch über alle bringen, die unter ihm stehen. So wurde es schon Israel gezeigt, ehe es ins Land kam. Wenn das Volk über den Jordan gezogen sein würde, sollten nach dem Worte Moses sechs Stämme auf dem Berge Gerisim stehen, um das Volk zu segnen, und sechs Stämme auf dem Berge Ebal zum Fluchen. Wird uns dann aber weiter mitgeteilt, was die Leviten als Ver­treter des Volkes sagen sollten, so hören wir nur von Flüchen. Ein vernichtendes "Verflucht sei!" folgt dem anderen, und die ganze furchtbare Reihe der Flüche schließt mit den Worten: "Und das ganze Volk sage: Amen!" (5. Mose 27). Warum das? Eben weil alle, die aus Gesetzeswerken sind, unter dem Fluche sind. Da gibt es kein Ausweichen, kein Entrinnen.

Das Ergebnis ist erschreckend. Aber nun folgt das kostbare, erlösende Wort: "Christus hat uns losgekauft von dem Fluche des Gesetzes, indem Er ein Fluch für uns geworden ist; (denn es steht geschrieben: "Verflucht ist jeder, der am Holze hängt)!'« (V. 13). In Ewigkeit sei Gott gepriesen für ein solch herrliches, unzweideu­tiges Zeugnis! Wie in eheme Tafeln eingegraben steht es da vor uns ‑ jedes einzelne Wort von tiefer Bedeu­tung und lebendiger Kraft. Christus ‑ der Christus Got­tes, kein Geringerer als Er ‑ h a t uns losgekauft, ein für allemal, von dem Fluche des Gesetzes, sodaß dieser Fluch uns nie und nimmer treffen kann. Und fragen wir nun weiter: Wie ist das geschehen? so lautet die Antwort: Indem Er ein Fluch für uns geworden ist. Beachten wir das Wort: "ein Fluch"! Wie zeigt es uns Seine völlige Einsmachung mit dem ganzen Zustand derer, die unter dem Fluche des Gesetzes lagen! Er ist an ihre Stelle ­getreten, hat im vollen Sinne des Wortes ihren Platz vor Gott eingenommen. So nur konnte der Fluch auf gerech­ter Grundlage entfernt und uns Gnade zugewandt wer­den. "Verflucht ist jeder, der am Holze hängt!" und dort hat unser hochgelobter Herr und Heiland gehangen!

Wohl mögen wir singen: 0 Liebe ohnegleichen! Sie geht über alle Erkenntnis hinaus, übersteigt jedes Fas­sungsvermögen. Von denen, die ursprünglich unter Ge­setz standen, von Israel zu uns überströmend, hat die Gnade, alle Schranken durchbrechend, sich solchen zu­ gewandt, die ohne Hoffnung und ohne Gott in der Welt standen: "Auf daß der Segen Abrahams in Christo Jesu zu den Nationen käme, auf daß wir die Verheißung des Geistes empfingen durch den Glauben" (V. 14). Das große Werk der Versöhnung mochte seine nächste An­wendung auf das irdische Volk Gottes finden, aber es konnte unmöglich auf einen so engen Kreis beschränkt bleiben. Der Segen Abrahams sollte nach Gottes Rat­schluß weit über die unmittelbare Nachkommenschaft des Patriarchen hinausgehen. Er sollte "in Christo Jesu", dem Samen Abrahams, auch zu uns kommen, auf daß wir die Verheißung des Geistes empfingen durch den Glauben. Denn wenn wir auch nicht unter dem Gesetz standen, mußte es doch auch über uns den Fluch bringen, weil es die gerechte und heilige Richtschnur Gottes für den Men­schen im Fleische bildet, sei er Jude oder Heide.

Überschauen wir hier noch einmal kurz die beiden großen Grundsätze, Gesetz und Gnade, und ihre Ergeb­nisse. Das Gesetz fordert und verurteilt, die Gnade gibt und rechtfertigt. Das Gesetz bringt dem, der es übertritt ‑ und wo ist der Mensch, der nicht sündigte? ‑ Tod und Verdammnis. Die Gnade gibt dem, der nicht wirkt, aber an den Herrn Jesus Christus glaubt, Leben und Rechtfertigung. Das Gesetz stellt den, der nicht in allem bleibt, was in seinem Buche geschrieben steht, unter den Fluch. Die Gnade kauft von diesem Fluche los, führt, wiederum auf Grund des Glaubens, bedingungslosen Se­gen ein und gibt den Heiligen Geist, durch welchen die neue Segensstellung, die sie umsonst schenkt, in ihrer ganzen Fülle genossen werden kann. Immer wieder müs­sen wir ausrufen: Welch eine unfaßbare Torheit des Menschen, den herrlichen Boden der göttlichen Gnade erkannt und eingenommen zu haben und dann wieder umzuwenden zu dem armseligen Boden eigenen, mensch­lichen Tuns! Den Fluch zu wählen, nachdem man durch Gottes Gnade lauter Segen empfangen hat!

Kapitel 3, 15‑29

Wie wir schon im Anfang unseres Kapitels andeute­ten, kommt der Apostel jetzt zu einer Besprechung der Beziehungen, die zwischen den dem Abraham gegebenen bedingungslosen Verheißungen und dem Gesetz bestan­den. "Brüder, ich rede nach Menschenweise; selbst eines Menschen Bund, der bestätigt ist, hebt niemand auf oder verordnet etwas hinzu" (V. 15). "Ich rede nach Menschen weise." Es bedarf wirklich keiner besonderen geist­lichen Einsicht, um zu erkennen, daß ein einmal geschlos­sener und danach noch bestätigter Bund nicht wieder auf­gehoben oder durch Zusätze beliebig verändert werden kann. Das weiß jeder verständige Mensch. "Dem Abra­ham aber waren die Verheißungen zugesagt und seinem Samed' (V. 16). Als der Bund mit Abraham geschlossen wurde, war von Gesetz, von irgend einer einschränken­den Bestimmung keine Rede. Die Verheißungen wurden ihm und seinem Samen bedingungslos gegeben. Das konn­ten die Galater nicht bestreiten. Aber, konnten sie fra­gen, warum ist das Gesetz denn gegeben worden? Kommt es nicht geradesogut von Gott wie die Verheißung? Soll­ten wir deshalb nicht auch das Gesetz im Glauben an­nehmen und uns ihm unterwerfen? Warum gab Gott beides?

Die Beantwortung dieser Frage folgt in dem letzten Teil unseres Kapitels. Zunächst fügt der Apostel bedeu­tungsvoll hinzu: "Er sagt nicht: und den Samen', als von vielen, sondern als von einem: und deinem Samen', welcher Christus ist" (V. 16). Um dieses Wort zu ver­stehen, müssen wir uns daran erinnern, daß Abraham zweimal die Verheißung empfing, daß in ihm, bzw. in seinem Samen, alle Nationen der Erde gesegnet werden sollten. Dem ersten Mal begegneten wir schon in 1. Mose 12. Das zweite Mal finden wir im 22. Kapitel, gelegent­lich der Opferung Isaaks, des bekannten Vorbildes un­seres Herrn und Heilandes in Seinem Tode und Seiner Auferstehung; und zwar wird die Verheißung hier aus­drücklich nicht mit Abraham, sondern mit seinem "Sa­men«« verbunden.

Nachdem Gott bei sich selbst geschworen hatte, Abra­ham und seinen Samen (hier handelt es sich um Israel, die natürliche Nachkommenschaft des Patriarchen) reich­lich zu segnen und ihn sehr zu mehren, wie die Sterne des Himmels und der Sand am Ufer des Meeres, und sei­nem Samen das Tor seiner Feinde zu geben, fügte Er hin­zu: "Und in deinem Samen werden sich segnen (od. ge­segnet werden) alle Nationen der Erde" (V. 16‑18). Im letzten Falle ist also von irdischen Segnungen und zeitlicher Herrlichkeit keine Rede mehr; es handelt sich um den geistlichen Segen, der in Christo, dem wahren Samen Abrahams, auf alle Nationen kommen sollte. Die dem Abraham gemachte Verheißung wird hier seinem Samen bestätigt: "Er sagt nicht: und den Same“, als von vielen, sondern als von einem: und deinem Samen'." Dieser Same ist Christus.

In dem auf dieser Erde lebenden Christus konnte freilich der Segen nicht zu allen Bewohnern der Erde ausströmen. Der Messias war "nicht gesandt, als nur zu den verlorenen Schafen des Hauses Israel", und wem die Griechen kamen und Jesum zu sehen wünschten, wies Er Seine jünger darauf hin, daß die Stunde der Ver­herrlichung des Sohnes des Menschen (der für alle Men­schen da ist) gekommen sei, daß aber der Weg zu dieser Verherrlichung durch den Tod führe (Vergl. Joh. 12, 20‑24). Nur in Christo Jesu als gestorben und aufer­weckt konnte der Segen Abrahams zu den Nationen kom­men. Nur so konnte der Herr Seine jünger hinaussenden, um alle Nationen zu Jüngern zu machen (Matth. 28, 19). Das Neue, das Christentum, konnte erst mit dem Tode und der Auferstehung Jesu Christi beginnen. Das Gesetz gab weder Leben noch Gerechtigkeit, weder den Heiligen Geist noch, wie wir gleich hören werden, ein Anrecht auf die Erbschaft.

"Dieses aber sage ich: Einen vorher von Gott bestä­tigten Bund macht das vierhundertunddreißig Jahre da­nach entstandene Gesetz nicht ungültig, um die Verhei­ßung aufzugeben" (V. 17). Als das Gesetz entstand, wa­ren mehr als vierhundert Jahre seit jenem denkwürdigen Ereignis auf dem Berge Morija verflossen. Schon dieser Umstand beweist, daß das Gesetz mit der Verheißung nichts zu tun hat. Es ist auffallend, wie der durch den Heiligen Geist geleitete Apostel Beweise auf Beweise häuft, um den Galatern zu zeigen, auf welch einen Irr­weg sie geraten waren. Wäre das Gesetz kurz nach der Verheißung gegeben worden, so hätte man vielleicht an eine zwischen beiden bestehende Verbindung denken können, obwohl es immer unmöglich blieb, daß der ewig treue Gott eine unbedingt gegebene Verheißung durch irgend etwas früher oder später Gegebenes oder Mitge­teiltes wieder umstoßen könnte. Aber nun lagen beide vierhundertdreißig Jahre auseinander! Selbstverständlich macht auch umgekehrt die Verheißung das Gesetz nicht ungültig, nimmt ihm nichts von seiner Bedeutung und seinem heiligen Ernst. Jeder im Worte recht unterwiesene Gläubige erkennt das Gesetz an seinem Platze ungeschmä­lert an, weiß, daß es Aeilig und gerecht und gut«' ist. Aber hätte das Gesetz dem Abraham die Erbschaft geben können? Nein, das Gesetz vergilt nur nach Verdienst. "Denn wenn die Erbschaft aus Gesetz ist, so nicht mehr aus Verheißung; dem Abraham aber hat Gott sie durch Verheißung geschenkt" (V. 18). Geschenkt als freie, un­verdiente Gabe, nicht etwa als Schuldigkeit gegeben. Auf einem anderen Wege wäre es auch unmöglich gewesen und ist es heute unmöglich. Aber wenn das so ist, wenn das Gesetz nichts geben, sondern nur Tod und Fluch über den Menschen bringen kann, warum hat Gott es dann überhaupt angeordnet? Diese Frage beantwortet der Apo­stel im nächsten Verse.

"Warum nun das Gesetz? Es wurde der Übertretun­gen ‑wegen hinzugefügt (bis der Same käme, dem die Verheißung gemacht war), angeordnet durch Engel in der Hand eines Mittlers" (V. 19). Bei der Betrachtung des Römerbriefes haben wir uns schon eingehend mit die­sem Gegenstand beschäftigt. Dort hörten wir sogar, daß Aas Gesetz daneben eingekommen sei, auf daß die Über­tretung überströmend würde«', und an einer anderen Stel­le: auf daß die Sünde "als Sünde erschiene", ja, "überaus sündig würde durch das Gebot" (Röm. 5, 20; 7, 13). Bis zu dem Gesetz war die Sünde in der Welt, aber sie konnte nicht als Übertretung zugerechnet werden, weil Gott Seine heiligen Gebote noch nicht gegeben hatte. Erst durch das Gesetz erschien die Sünde in ihrer ganzen Häßlichkeit als unmittelbare Auflehnung gegen Gottes deutlich geoffenbarten Willen. Der Mensch war fortan nicht nur ein Sünder, sondern ein Übertreter, der, in be­wußtem Eigenwillen die im Gesetz von Gott gestellten Grenzen überschreitend, den Leidenschaften der in ihm wohnenden Sünde umso freieren Lauf ließ, je ernster Gott sie verurteilte. Die Übertretung wurde überströ­mend.

Die große Flut hatte bewiesen, daß die Erde verderbt und voll Gewalttat war, daß alles Fleisch seinen Weg verderbt hatte auf Erden (l. Mose 6, 11. 12). Die Sünde hatte überhand genommen und lag in ihren hässlichsten Formen vor Gottes Auge da. Aber so böse und unent­schuldbar der Zustand war, und so ernst er das Gericht Gottes herausfordern mochte, dennoch wurde, wie schon gesagt, dem Menschen vor dem Gesetz die Sünde nicht als Übertretung zugerechnet (Vergl. Röm. 5, 13). Das geschah erst, nachdem das Gesetz "daneben eingekom­men" war oder, wie es hier heißt, "hinzugefügt" wurde, und zwar "bis der Same käme, dem die Verheißung ge­macht ist"; mit anderen Worten: bis in Christo eine ganz neue, auf bedingungslose Gnade gegründete Ordnung der Dinge eintreten würde.

Das Gesetz wurde angeordnet "durch Engel, in der Hand eines Mittlers". Es trat nicht unmittelbar an den Menschen heran wie einst die Verheißung, sondern wurde ihm von dem in Wolken und Feuer verborgenen Gott durch Seine Boten, in Verbindung mit einem Mittler, überbracht. Bei der Verheißung war alles unmittelbar von Gott; da war kein Mittler nötig. Es gab nicht zwei Parteien, die einen Bund, einen beide Teile verpflichten­den Vertrag miteinander eingingen. Gott verhieß, und der Mensch empfing, ohne jede Einschränkung oder Be­dingung. Als aber das Gesetz gegeben wurde, bedurfte es eines Mittlers zwischen Gott und Menschen. Dieser Mitt­ler war Moses. Er stand zwischen den beiden Parteien und überbrachte Israel die Forderungen Gottes und Gott die Antwort des Volkes. "Ein Mittler aber ist nicht von einem; Gott aber ist einer" (V. 20).

Die Ergebnisse dieser Vereinbarung kennen wir. So vollkommen auf seiten der einen Partei (Gottes) alles in Ordnung war und blieb, so vollständig war auf seiten der anderen (des Menschen) der Zusammenbruch. Man hat das Gesetz nicht unpassend mit einer Brücke vergli­chen, die, so stark sie in sich selbst sein mag, auf durch und durch morscher Grundlage ruht. Das Gesetz war hei­lig und gut, aber der Mensch, nicht nur völlig kraftlos, das zu tun, wozu er sich feierlich verpflichtet hatte, erwies sich als ein ganz und gar verderbtes, widerspenstiges Ge­schöpf, das gerade das zu tun wählte, was Gott verbot.

"Gott aber ist einer" ‑ Er war eine der genannten beiden Parteien und stand von dem Volke abgesondert. Aber ist damit der Sinn des Ausdrucks erschöpft? Will der Apostel nicht wohl mehr noch darauf hinweisen, daß Gott sich als der einige Gott Seinem Volke Israel geoffen­bart hat, und daß, wenn Er eine Verheißung gab, Er es als Der tat, von welchem allein alles abhing, der aber auch treu zu Seinem Worte steht und niemals lügen kann? Gerade das ist ja der Charakter einer Verheißung, daß sie von dem empfangenden Teile nichts forderf; ihre Erfüllung hängt einzig und allein von der Wahrhaftig­keit und dem Vermögen Dessen ab, der sie gibt. Nun, Gott ist einer, Gott ist treu, und Gott vermag. Für den Glaubenden, der die Verheißung empfängt, bleibt deshalb nur das selige Teil übrig, sie dankbar entgegenzunehmen und in ihrem Genuß des Gottes würdig zu wandeln, der sie gegeben hat.

Nun aber konnte immer noch die Frage erhoben wer­den: Ist denn das Gesetz nicht wider die Verheißungen Gottes? "Das sei ferne!'« antwortet der Apostel; "denn wenn ein Gesetz gegeben worden wäre, das lebendig zu machen vermöchte, dann wäre wirklich die Gerechtigkeit aus Gesetz. Die Schrift aber hat alles unter die Sünde eingeschlossen, auf daß die Verheißung aus Glauben an Jesum Christum denen gegeben würde, die da glaubed' (V. 21. 22). Wenn das Gesetz wirklich imstande gewe­sen wäre, Leben zu geben, so hätte die Gerechtigkeit auf Grund gesetzlicher Werke erlangt werden können; der Mensch wäre infolge einer von ihm selbst vollbrachten Gerechtigkeit gerecht gewesen. Das Gesetz hätte also der Verheißung, die nur aus Glauben denen zuteil werden kann, die da glauben, widersprochen. Aber was war statt dessen geschehen? Da hatte sich nicht einer gefunden, der Gutes tat, da war kein Gerechter, auch nicht einer. Die Schrift hatte alles unter die Sünde eingeschlossen. Die Heiden hatten sich als Sklaven ihrer natürlichen Be­gierden und Leidenschaften erwiesen; die Juden hatten ihrerseits die Kraft dieser Leidenschaften erst recht durch die Übertretung der heiligen Gebote Gottes geoffenbart. Es hatte sich also klar gezeigt, daß nur auf dem Wege des Glaubens an Jesum Christum die Verheißung denen erfüllt werden konnte, die da glaubten, mochten sie Ju­den oder Heiden sein.

..Bevor aber der Glaube kam, wurden wir unter dem Gesetz verwahrt, eingeschlossen auf den Glauben hin, der geoffenbart werden sollte. Also ist das Gesetz unser Zuchtmeister gewesen auf Christum hin, auf daß wir aus Glauben gerechtfertigt würden" (V. 23. 24). Bevor der Glaube kam ‑ das will sagen: bevor der christliche Glau­be erschien, der in der Person und dem Werke Christi einen ganz neuen Boden, ganz neue Beziehungen für den Menschen Gott gegenüber schuf, waren die Juden unter dem Gesetz eingeschlossen gewesen, waren gleichsam unter einem Zuchtmeister oder Vormund verwahrt wor­den bis in Christo jenes neue Verhältnis gekommen wäre. Der Apostel redet in diesen Versen nur von Israel. Die Galater hatten ja nie unter Gesetz gestanden, sie waren unmittelbar aus dem Heidentum heraus zu Christo bekehrt worden. Bei den Juden aber hatte Gott das Ge­setz als ein Zuchtmittel benutzt, um ihnen ihren hoff­nungslos verderbten Zustand zu zeigen und sie auf das Kommen Dessen vorzubereiten, der ihnen Erlösung aus ihrer Sklaverei bringen sollte. Es war ihr Zuchtmeister gewesen auf Christum hin, damit sie Ihn im Glauben aufnehmen und in Seinem Tode und Seiner Auferstehung der Rechtfertigung des Lebens teilhaftig werden möchten. Nachdem nun der Glaube gekommen war, befanden sie sich nicht mehr unter dem Zuchtmeister (V. 25). Sie waren "eines Anderen geworden, des aus den Toten Auferstandenen", und standen nun auf einem Boden, auf welchem das Gesetz keinerlei Ansprüche mehr an sie hatte.

"Denn ihr alle seid Söhne Gottes durch den Glauben an Christum Jesum" (V. 26). Kostbares Wort! Welch ein plötzlicher und völliger Wechsel! Söhne Gottes, freie Söhne, treten an die Stelle von Menschen, die bisher un­ter die Botmäßigkeit eines unbeugsamen Gesetzes gebun­den waren. Beachten wir auch den Wechsel in der Per­son. Hat der Apostel in den letzten Versen immer nur von "wir" gesprochen, so redet er jetzt mit einemmal von "ihr" ‑ ihr Galater! Meint er denn nur sie? Keines­wegs. Aber die tiefe Freude über das, was Gott an ihm und seinen Volksgenossen getan hat, läßt sein Herz zu den Galatern überströmen. Die Ergebnisse dieses wun­derbaren Tuns Gottes waren jetzt ja nicht nur für die Gläubigen aus Israel da, sondern auch für die Galater, und im Bewußtsein dessen dringt frohlockend der Ausruf aus seinem Herzen: "Denn ihr alle seid Söhne Gottes durch den Glauben an Christum Jesum". Sie waren es unmittelbar geworden, ohne das Dazwischentreten des Gesetzes, aber genau so gut wie jene. Beide, Juden und Griechen, waren derselben Gnade teilhaftig geworden und mit Gott, dem Vater der Herrlichkeit, in die gleiche Beziehung gebracht. Der Glaube hatte sie alle als Söhne in die unmittelbare Gegenwart Gottes versetzt.

"Denn so viele euer auf Christum getauft worden sind, ihr habt Christum angezogen" (V. 27). Sie alle waren in dem Bilde der Taufe mit dem gestorbenen und aufer­standenen Herrn einsgemacht worden. Der Tod Christi hatte die "Nahen" von allen Ansprüchen des Gesetzes befreit, die einst "Fernen" nahegebracht, und hatte nun beide in glückseliger Freiheit auf den Boden der Aufer­stehung geführt. Sie alle hatten jetzt "Christum ange­zogen", waren "Menschen in Christo" geworden. Auf diesem Boden ist weder Jude noch Grieche, weder Sklave noch Freier, weder Mann noch Weib; "denn ihr alle seid einer in Christo Jesu«' (V. 28). Beiderseits aus im früheren, natürlichen Beziehungen herausgeführt, stan­den jetzt alle vor Gott gemäß ihrer neuen Stellung in Christo. Da gab es keinerlei Unterschied; in Christo, dem Muster und Maßstab ihrer neuen Beziehung zum Vater, waren alle einer geworden, eines und dasselbe: Söhne Gottes durch den Glauben an Jesum Christum.

Das war in der Tat ein Ergebnis, würdig des auf Gol­gatha vollbrachten Werkes. Auch hier könnte mit Recht gesagt werden: "Das Alte ist vergangen, siehe, alles ist neu geworden", und zwar alles in Christo, dem Samen und Erben Abrahams. Wenn die Galater aber Christi waren, so waren sie auch "Abrahams Same und nach Ver­heißung Erben" (V. 29). Das, was Israel auf Grund des Gesetzes nie erlangt hatte, was niemand trotz der aufrichtigsten Anstrengungen jemals erlangen kann, das war den Galatern in Christo umsonst zuteil geworden. Mit Ihm, dem wahren Samen Abrahams, waren alle die Verheißungen ihr Teil. Sie waren Erben nach der Verhei­ßung, die einst auf dem Berge Morija gegeben worden war.

Wie einfach und folgerichtig war das alles, Was woll­ten die Galater dem gegenüber sagen? Es blieb ihnen nichts anderes übrig, als beschämt die Augen niederzu­schlagen und ihre Torheit zu bekennen, daß sie nach solch treuer Belehrung seitens des Apostels noch in eigenem, gesetzlichen Tun Befriedigung und Ehre hatten suchen können, anstatt in Christo alles zu finden und Ihm die Herrlichkeit zu geben, die Ihm allein gebührt. ‑ Und was wollen wir tun? Wir wollen Gott immer wieder dafür danken, daß Er nicht nur den Versammlungen von Galatien in der damaligen Zeit durch diesen Brief zu Hilfe gekommen ist, sondern daß Er in vorausschauender Liebe ihn auch uns gegeben hat zur eindringlichen War­nung vor der Gefahr, die in Form von gesetzlichem We­sen heute mehr als je denen droht, die sich Christen nennen. Immer wieder wollen wir aber auch darüber staunen, wie Gott in Seiner Unumschränktheit und Güte das Böse in Gutes verkehrt und die Torheiten und Feh­ler Seiner Kinder zu ihrem Nutzen und bleibenden Segen ausschlagen

Kapitel 4

Indem der Apostel im 4. Kapitel das bisher Gesagte noch einmal zusammenfaßt, kommt er im Anschluß an den zuletzt behandelten Gedanken von der Erbschaft in Abraham zu einer Erörterung der Stellung der Gläubigen im Alten Bunde. Wenn Gesetz und Verheißung, obwohl keineswegs einander widersprechend, ihrer Natur nach so verschieden waren, wie stand es dann mit den Erben der Verheißung, solang sie sich unter Gesetz befanden?

Daß die Gläubigen in Israel als Abrahams Same ein Anrecht an die Erbschaft hatten, konnte keinem Zweifel unterliegen; die von Gott verheißenen Segnungen sollten ihr Teil sein. Aber haben sie sie wirklich genossen? Diese Frage beantwortet der Apostel mit den Worten: "Ich sage aber: solang der Erbe unmündig ist, unterscheidet er sich in nichts von einem Knechte, wiewohl er Herr ist von allem; sondern er ist unter Vormündern und Verwal­tern bis zu der vom Vater festgesetzten Frist" (V. 1. 2). Dieses Bild von einem unmündigen Kinde zeigt uns deut­lich die Lage der Dinge. Ein gläubiger Jude war, wie jeder alttestamentliche Gläubige, ein Kind und darum ein Erbe, aber er glich einem Kinde, das sich noch im Stande der Unmündigkeit befindet, also wohl Anspruch an das elter­liche Erbe hat, aber noch nicht in den tatsächlichen Besitz und Genuß desselben eingetreten ist.

Ein solch unmündiges Kind unterscheidet sich, solang die vom Vater bestimmte oder in anderer Weise festge­setzte Frist währt, obwohl es Erbe und deshalb Herr ist von allem, in nichts von einem Knechte oder Sklaven. Es kann weder selbständig auftreten und handeln, noch über das zu erwartende Vermögen Bestimmungen treffen. Das ist Sache der Vormünder und Verwalter, unter denen das Kind bis zur Erreichung der Mündigkeit steht. Sobald diese eintritt, ändert sich alles. Das Kind untersteht nicht länger den Anordnungen des Vormundes, sondern erhält Sohnesrechte und freie Verfügung über das väterliche Erbe.

"Unmündig" ‑ wie genau beschreibt also dieses Wort die Stellung der alttestamentlichen Gläubigen, vor allem der Gläubigen aus den Juden bis zum Kommen des Herrn! Obwohl als Kinder und Erben dazu bestimmt, die ganze Herrlichkeit des kommenden Reiches mit Chri­sto zu teilen, mit Abraham, Isaak und Jakob zu Tische zu liegen im Reiche Gottes, waren sie doch Knechten gleich, die wohl von dem Herrn des Hauses Mitteilungen und Anweisungen empfangen, aber nicht in dessen Ge­danken und Ratschlüsse eingeführt werden. Der Apostel fährt deshalb fort: "Also auch wir, als wir Unmündige waren, waren wir geknechtet unter die Elemente der Welt" (V. 3).

"Geknechtet" ‑ beachten wir das Wort! ‑ und zwar geknechtet "unter die Elemente der Welt!" Wir begeg­nen demselben Ausdruck in Kol. 2, 8, dort aber mehr in Verbindung mit der Philosophie und den Überlieferungen der Menschen und vor allem mit heidnischem Aberglau­ben. Hier wird das gesetzliche System "Elemente der Welt" genannt, weil es, obwohl von Gott verordnet, der gegenwärtigen Welt, dem Menschen in seinem gefallenen und verderbten Zustand, angepaßt war. Dementsprechend wird selbst die Stiftshütte in Hebr. 9, 1 ein weltliches Heiligtum genannt. Nun, unter diese Elemente der Welt waren die gläubigen Juden "geknechtet". Mochten auch einzelne von ihnen zuweilen besondere Gnadenerweisun­gen erfahren, indem ihnen persönlich mehr Licht gegeben wurde, um ihre Herzen zu erquicken und auf die ewigen, himmlischen Dinge hinzulenken, so blieb doch das System als solches immer dasselbe. Das Bündnis vom Berge Sinai konnte nicht anders als zur Knechtschaft gebären (V. 24). Das Gesetz will und muß als "ein fleischliches Gebot" gefühlt werden, das nur Tod und Verdammnis über alle bringen kann, die unter ihm stehen. Die selige Freiheit eines Kindes Gottes ist auf gesetzlichem Boden ein für allemal unbekannt.

Als aber die Fülle der Zeit gekommen war, sandte Gott Seinen Sohn, geboren von einem Weibe, geboren unter Gesetz, auf daß Er die, welche unter Gesetz waren, loskaufte, auf daß wir die Sohnschaft empfingen" (V. 4. 5). Wunderbare Worte: Gott sandte Seinen Sohn! Wie einfach sind sie und doch zugleich von welch überwälti­gender Kraft und Bedeutung! Gott sandte. Er handelte. Er wollte die Wahrheit, die ganze Wahrheit ans Licht bringen, wollte sich dem verlorenen Menschen offenba­ren in der überschwenglichen Größe Seiner Herrlichkeit als Gott‑Heiland, Nicht Engel treten jetzt in Tätigkeit, wie einst am Berge Sinai; nein, nachdem der hoffnungs­los verderbte Zustand des Menschen ohne Gesetz und un­ter Gesetz sich völlig erwiesen hatte, "in der Fülle der Zeit", erschien der Sohn Gottes, vom Vater gesandt, in dieser Welt, ein wahrhaftiger Mensch, geboren von ei­nem Weibe, geboren unter Gesetz. Durch das Weib war die Sünde in die Welt gekommen, von einem Weibe wur­de Der geboren, welcher allein imstande war, die Sünde wieder abzuschaffen. Nur ein Mensch, nur der Sohn Got­tes, der "an Blut und Fleisch teilgenommen hat«, konnte den Bedürfnissen der Kinder Adams, des ganzen gefalle­nen Menschengeschlechts, begegnen. Und weiter: Nur wenn dieser von Gott gezeugte Mensch unter Gesetz ge­stellt wurde, konnten durch Ihn dessen gerechte Forde­rungen erfüllt und sein Fluch hinweggetan werden.

Gott sandte. Einst hatte Er dem Menschen, der sich vermaß, alles zu tun, was Gott reden würde, Seine Ge­bote, Seine heiligen Forderungen an ihn mitgeteilt. Das Ergebnis davon war Fluch und Tod gewesen. Der Mensch hatte sich genau als das Gegenteil von dem erwiesen, was er hätte sein sollen. Nunmehr sandte Gott, gab Gott, und Er tat es unaufgefordert von den Menschen, in der unbegreiflichen Liebe Seines Herzens. »o hat Gott die Welt geliebt, daß Er Seinen eingeborenen Sohn gab." Aber es genügte nicht, daß der Heilige und Gerechte, der allezeit das vor Gott Wohlgefäffige tat, auf dem Schau­platz der Sünde erschien, daß Er umherging, "wohltuend und heilend alle, die von dem Teufel überwältigt waren". Es genügte nicht, daß Menschen das anschauen und hören durften, was viele Propheten und Gerechte vergeblich zu sehen und zu hören begehrt hatten. Im Gegenteil, die leibliche Gegenwart des Herrn bewies erst recht die ganze Hoffnungslosigkeit des Zustandes des Menschen, die un­überbrückbare Kluft, die den unreinen Sünder von dem heiligen Gott trennte. Sollte die Sendung des Sohnes zu dem von Gott gewollten Ziele führen, so mußte Er ster­ben, mußte das Erlösungswerk vollbringen, indem Er an die Stelle des Menschen trat und die ganze damit verbun­dene Verantwortlichkeit auf sich nahm. Die, welche un­ter Gesetz waren, mußten losgekauft werden. Nur so konnten wir die Sohnschaft empfangen.

Vor dem Tode und der Auferstehung unseres Herrn Jesus Christus vermochte kein Mensch Gott "Abba, Va­ter!" zu nennen; erst nachdem die Herrlichkeit des Va­ters Ihn aus den Toten auferweckt hatte, konnte der Herr Maria von Magdala mit der uns allen so wohlbekannten Botschaft an Seine "Brüder" senden (Joh. 20, 17). Groß, überaus groß war das Vorrecht der Jünger, den Messias sehen, Ihn auf Seinen Gängen durch das Land begleiten und Seinen Belehrungen lauschen zu dürfen; aber sie standen bis zu jenem bedeutungsvollen ersten Wochen­tage noch auf dem Boden der Gläubigen des Alten Testa­ments. Sie waren noch Unmündige; die vom Vater fest­gesetzte Frist war noch nicht vorüber. So sehnlich das liebende Herz des Herrn danach verlangen mochte, sie in den Besitz und Genuß des neuen, auf Seinen Tod und Seine Auferstehung gegründeten Verhältnisses einzufüh­ren, es war unmöglich. Bis die Taufe, womit Er getauft werden mußte, vollzogen war, war Er "beengt" (Luk. 12, 50). Er hätte den Seinigen so vieles zu sagen gehabt, aber sie konnten es noch "nicht tragen", nicht verstehen (Joh. 16, 12).

Mit der Auferstehung war wie mit einem Schlage alles verändert. jetzt konnte Er Seinen Jüngern und Jüngerinnen den teuren Vaternamen in einem Sinne offenbaren wie nie zuvor. Sie hatten jetzt die "Sohnschaft" empfan­gen, waren, von der Knechtschaft des Gesetzes befreit, "Söhne" geworden. "Weil ihr aber Söhne seid, so hat Gott den Geist Seines Sohnes in unsere Herzen gesandt, der da ruft: Abba, Vater!" (V. 6). Hier ist wieder der Wechsel in den Personen beachtenswert. Der vorherge­hende Satz schließt mit einem "wir": "auf daß wir emp­fingen"; der vorliegende hebt mit einem "ihr" an: "Weil ihr aber Söhne seid". Die Gnade Gottes hatte nicht an den Grenzen Israels Halt gemacht, sie war zu den Hei­den übergeströmt. "Ihr seid Söhne", ihr Galater, die ihr früher Gott nicht kanntet, sondern in den Greueln des Heidentums dahinlebtet. Mit tiefer Freude denkt der Apostel daran. In dem Nachsatz kommt er dann auf das "wir" des vorigen Verses zurück, indem er sagt: "Gott hat den Geist Seines Sohnes in unsere Herzen gesandt, der da ruft: Abba, Vater!"

Es wird uns hier, bei einem Vergleich mit der sonst so ähnlichen Stelle Röm. 8, 14‑17, ein kleiner Unter­schied auffallen. Während dort die Gläubigen als die Ru­fenden bezeichnet werden, ruft hier der Geist des Sohnes: "Abba, Vater!" Weiter, wenn dort unser Geleitetwerden durch den Geist als der Beweis der Sohnschaft hingestellt wird und der in uns wohnende Geist mit unserem Geiste zeugt, daß wir Kinder Gottes sind, sendet Gott hier Sei­nen Geist in unsere Herzen, weil wir Söhne sind. Er be­siegelt Sein Werk in uns, ob Gläubige aus Israel oder aus den Heiden, durch diese Sendung. Beide, Juden und Heiden, waren jetzt Söhne, Söhne Gottes durch den Glau­ben an Christum, die einen einst Fremdlinge, ohne Gott und ohne Hoffnung in der Welt, die anderen äußerlich Gott nahe, aber geknechtet unter das Gesetz. Beide stan­den jetzt unmittelbar in Beziehung zum Vater, in einem Verhältnis, von welchem der Heilige Geist Zeugnis und Kraft zugleich war.

Man könnte vielleicht meinen, für den Juden sei die Errettung leichter gewesen, als für den Heiden, wie man heute auch denken möchte, ein ehrbarer, religiöser Mensch stehe dem Heile näher als einer, der in offenbarer Sünde und Schande dahinlebt. Aber es ist nicht so. Der Heide hatte freilich nichts als Sünde, aber gerade deshalb wurde er, wenn er ins Licht Gottes kam, leichter von seinem hoffnungslosen Zustand überführt, als ein frommer, gesetzestreuer Jude. Er hatte nur zu lernen, nichts zu ver­lernen, nur anzunehmen, nichts aufzugeben, geradeso wie heute ein Mensch, der nichts anderes aufzuweisen hat, als Sünde. Der Jude mußte nicht nur von dem Fluche des Gesetzes, sondern auch von seiner vermeintlichen gesetz­lichen Gerechtigkeit, ja, von dem Gesetz selbst befreit werden; so heute der Namenchrist von so manchem from­men Schein und religiösen Formwesen. Doch für beide ist, sobald der Glaube ihr Teil wird, das Ergebnis das gleiche. Die Wirkung des Erlösungswerkes ist in jedem Falle dieselbe.

Darum kann der Apostel, noch persönlicher werdend, hinzufügen: "Also bist du nicht mehr Knecht, sondern Sohn; wenn aber Sohn, so auch Erbe durch Gott" (V. 7). Mag der Glaubende gewesen sein, was er will, ob ein Götzendiener oder ein Übertreter des Gesetzes, er ist jetzt Sohn, nicht mehr Knecht, und wenn Sohn, dann auch Erbe, und das alles durch Gott*). Gott selbst hat uns aus unserem früheren Sklavenstande herausgebracht und uns in die wunderbare Stellung und Segensfülle einge­führt, die Er in Seinem Sohne für uns bestimmt und be­reitet hat. Ähnlich lesen wir in 2. Kor. 5, 5: "Der uns aber eben hie= bereitet hat, ist Gott". 0 welche Wun­der der Gnade! Einst unreine Götzendiener, von Gott entfremdete Sklaven der Sünde, durften die Galater, nach­dem ein jeder von ihnen persönlich zu Gott gebracht war, jetzt "Abba, Vater!‑ rufen und sich in Hoffnung der Herrlichkeit Gottes, ja, Seiner selbst rühmen. Alles, was der Vater Seinem Sohne gegeben hat und was Er in Ihm besitzen will, sollte dereinst in ewigem Vollgenuß ihr Teil sein.

Wie war es möglich, so fragen wir unwillkürlich, daß diese Gläubigen, nachdem sie eine solche Gnade erkannt und an sich erfahren hatten, wieder umwandten zu den elenden Dingen, mit denen sie einst in Verbindung ge­standen hatten? Leider aber war es so. Darum fährt der Apostel ernst warnend fort: "Aber damals freilich, als ihr Gott nicht kanntet, dientet ihr denen, die von Natur nicht Götter sind; jetzt aber, da ihr Gott erkannt habt, vielmehr aber von Gott erkannt worden seid, wie wendet ihr wieder um zu den schwachen und armseligen Elemen­ten, denen ihr wieder von neuem dienen wollt?" (V. 8.9).

"Damals freilich, als sie Gott nicht kannten, hatten sie den Nichtgöttern gedient, hatten sich vor Bildern nie­dergeworfen, die Augen haben und sehen nicht, Ohren

*) Die Lesart "Erbe Gottes durch Christum", die sich in manchen jüngeren Handschriften findet, ist als nicht ursprünglich zu verwerfen.

und hören nicht, Füße und gehen nicht, Hände und tasten nicht. Mußte die bloße Erinnerung daran ihnen nicht die Schamröte ins Gesicht treiben? Ach! nachdem sie den wahren Gott erkannt hatten, ja, von Ihm selbst erkannt und in die innigste Verbindung mit Ihm gebracht wor­den waren, wollten sie wieder umwenden und von neuem den schwachen und armseligen Elementen dienen, die sie als solche erkannt und aufgegeben hatten.

Beachten wir wohl die Ausdrücke: "wieder umwen­den" und "von neuem dienen". Dachten die Galater denn wirklich daran, ihren alten Götzendienst wieder aufzunehmen? Keineswegs. Sie wollten, wie wir wissen, die Beschneidung einführen und mit ihr die Beobachtung von "Tagen und Monaten und Zeiten und Jahren" (V. 10). Was aber taten sie damit? Sie kehrten grundsätzlich auf denselben Boden zurück, auf dem sie einst gestanden hatten, auf den Boden der menschlichen Religion, des ei­genen gesetzlichen Wirkens. Das ist der Punkt, den der Apostel ihnen so ernst vorstellt, und der für alle Zeiten so wichtig ist. Denn jede menschliche Religion, ob sie sich nun heidnisch, jüdisch oder christlich nennt, ruht letzten Endes auf der gleichen Grundlage, auf dem Tun des Men­schen und auf seinem Bestreben, die Gunst der Gottheit, wie verschieden man sich diese auch vorstellen mag, auf irgend eine Weise zu erringen. So hatten die Galater in ihrem unbekehrten Zustand den Götzen gedient; Gottes Gnade hatte sie davon befreit, aber nun wollten sie wie­der umwenden und von neuem Götzendienst treiben!

Aber, wird man einwenden, das kann der Apostel doch nicht sagen wollen! Wie konnte er die von Gott selbst gegebenen lieblichen Vorbilder des Alten Testaments, die "Schatten der zukünftigen Dinge" (Kol. 2, 17), Götzen­dienst nennen? Das tut er auch nicht. Er sagt vielmehr: Wenn ihr, nachdem die Erfüllung all dieser Vorbilder, der Körper dieser Schatten, in dem gestorbenen und aus den Toten auferstandenen Christus gekommen ist, und ihr an diesen Christus geglaubt habt, wenn ihr jetzt wie­der zu diesen Schatten euch zurückwendet, so ist das in Gottes Augen nichts anderes als eine Umkehr zum Göt­zendienst, wenngleich in anderer Form als früher. An den Platz, der allein dem verherrlichten Herrn gebührte, stell­ten sie jene gesetzlichen Verordnungen. Sie hatten Gott erkannt in Christo und wollten doch von neuem den schwachen und armseligen Elementen dienen, denen sie den Rücken gewandt hatten!

Wie ernst und ergreifend ist der Vorwurf des Apo­stels! Aber er erscheint noch viel ernster, wenn wir ihn auf die bekennende Christenheit unserer Tage anwenden. Ach, wohin ist es mit ihr gekommen! Man beobachtet nicht nur Tage und Monate und Zeiten und Jahre, hat nicht nur jüdische Zeremonien und Gebräuche in die so­genannten Gottesdienste eingeführt, nein, man verehrt auch Stätten, Christusbilder, Heiligenbilder, Reliquien usw. usw. In der Meinung, Gott zu dienen, treibt man in Wirklichkeit nach Seinem Urteil "geistliche Hurerei", Götzendienst. Anstatt die Seelen durch einen einfältigen Glauben mit Christo in Verbindung zu bringen, bemüht man sich, eine gewisse heilige Scheu in den Herzen zu wecken, fromme Gefühle in ihnen wachzurufen und durch einen Schein von Gottseligkeit die innere Armut und Kraftlosigkeit zu verdecken. Was wird das Ende von dem

allen sein? Was wird werden, wenn Gott einmal Rechen­schaft von Führern und Verführten fordern wird?

Hierbei wollen wir jedoch nicht die ernste Tatsache übersehen, daß die Neigung, zu äußeren, religiösen For­men, zur Beobachtung von Tagen, Monaten und dergl. zurückzukehren, auch wahren Gläubigen nicht fremd ist. ja, mehr noch: man erregt bei solchen nicht selten Ver­wunderung, fast Anstoß, wenn man es ablehnt, Tage wie Karfreitag, Ostern, Pfingsten, Weihnachten usw. fei­erlich zu begehen. Paulus, der große Apostel und treue Arbeiter des Herrn, beurteilte diese Dinge anders. "Ich fürchte um euch", schreibt er den Galatern, "ob ich nicht etwa vergeblich an euch gearbeitet habe" (V. 11; vergl. V. 19. 20).

In den Briefen an die Korinther, deren sittlicher Zu­stand doch so beklagenswert war, suchen wir umsonst nach solch starken Ausdrücken der Besorgnis. Bei allem Ernst seiner Rede hat Paulus doch Vertrauen zu ihnen und rechnet auf die Treue Gottes, durch welche sie in die Gemeinschaft Seines Sohnes berufen worden waren. Nicht, daß er die sittlichen Schäden in ihrer Mitte nicht scharf verurteilt hätte, er hat das getan, aber sein Auge erblickte in der gesetzlichen Neigung der Galater eine noch dringendere Gefahr und ein verhängnisvolleres übel als in jenen nach menschlichem Urteil viel häßlicheren Din­gen. Gesetzlichkeit ist ein gar trügliches Ding und eben deshalb so gefährlich, weil sie in den Augen der Men­schen einen so schönen Schein hat. In Wirklichkeit ent­fernt sie das Herz von Christo und gibt dem armen ei­genen Ich Nahrung. Denken wir auch nicht, daß wahre Heiligkeit jemals auf dem Boden gesetzlichen Tuns wach‑

se. Nur da, wo die Gnade nach Gottes Gedanken verstan­den und verwirklicht wird, gibt es ein fröhliches Wachs­tum des inneren Menschen, ein Verwandelt werden in das Bild Dessen, den wir mit aufgedecktem Angesicht zur Rechten Gottes anschauen dürfen.

Daß die Gnade auch mißbraucht, ja, in Ausschweifung verkehrt werden kann, ist wahr ‑ der Apostel spricht später von dieser Gefahr. Ach, wozu ist der Mensch nicht fähig?! Aber wenn Aufrichtigkeit der Seele vorhanden ist, wird die Gnade stets eine viel wahrere und weiter­gehende Absonderung von allem Bösen bewirken, als ein gesetzlicher Geist es je zu tun vermag.

Die bange Sorge des Apostels, seine Arbeit an den Galatern möge sich schließlich als vergeblich erweisen, klingt auch in den nächsten Versen noch nach. "Seid wie ich, denn auch ich bin wie ihr, Brüder, ich bitte euch; ihr habt mir nichts zuleide getan" (V. 12). Nur ein Va­ter in Christo konnte so schreiben, nur sorgende Liebe solche Worte finden, einen solchen Ton anschlagen. Es war in der Tat so: die Liebe Christi drängte diesen Mann; alles was er tat, tat er um des Evangeliums willen, um auch mit ihm teilzuhaben (Vergl. 1. Kor. 9, 20‑23; 2. Kor. 5, 14).

Die bösen Arbeiter hatten, wie anderswo, mit listigem Vorbedacht ihre zerstörende Arbeit unter den Galatern getan. Sie hatten auch ihnen wohl gesagt, Paulus sei äußeren Vorteils halber seiner früheren überzeugung un­treu geworden, habe aus unlauteren Beweggründen die Beobachtung des Gesetzes und damit seine ganze jüdische Stellung aufgegeben. Der Apostel weist diesen Vorwurf hier nicht wie in Röm. 9 zurück durch einen Hinweis auf seine unveränderte, glühende Liebe zu seinen "Ver­wandten nach dem Fleische", sondern gibt rückhaltlos zu: ja, es ist so; jene Leute haben recht, ich stehe nicht mehr auf jüdischem Boden, nicht mehr unter Gesetz. Bewun­derungswürdig ist die Weisheit, mit welcher er je nach Umständen so ganz verschieden handelte: einmal fest und entschieden, zuweilen fast hart, ein andermal nachgiebig, gütig einlenkend, aber nie die Wahrheit des Evangeliums um eines Haares Breite aufgebend (Vergl. Kap. 2, 5).

"Brüder, ich bitte euch!" Der Mann, der befehlsweise hätte sprechen können, bittet, bittet herzlich, innig. "Seid wie ich, denn auch ich bin wie ihr", d. h. frei vom Ge­setz. Christus hat mich, der ich einst unter Gesetz war, von seinen Verpflichtungen und seinem Fluche losge­kauft; ihr habt nie unter Gesetz gestanden, habt nie et­was mit ihm zu tun gehabt. Was ist's nun, daß ihr euch jetzt unter sein untragbares Joch begeben wollt? Seid wie ich! Ihr habt mir nichts zuleide getan, indem ihr jenen Verführern euer Ohr geliehen und dementspre­chend von mir gedacht oder gesprochen habt. Folgt nur meinem Beispiel und laßt das Gesetz da, wo es hinge­hört. Ich, der ich als Israelit auf dein Boden des Gesetzes stand, danke Gott, daß ich in Christo dem Gesetz ge­storben und nun mit viel höheren und herrlicheren Din­gen in Verbindung gekommen bin‑ einst ein Mensch im Fleische, jetzt ein Mensch in Christo, einst unter Ge­setz, jetzt unter Gnade.

Und wie hatten sie Gelegenheit gehabt, diese Gnade in ihm zu bewundern! Er war ja nicht zu ihnen gekom­men als ein Bote, dessen Erscheinung und Auftreten den Wünschen der Menschen, den Anforderungen einer fleischlichen Religion entsprach. Nein, "in Schwachheit des Fleisches" hatte er ihnen "ehedem das Evangelium verkündigt," aber, fügt er hinzu, "meine Versuchung, die in meinem Fleische war, habt ihr nicht verachtet noch verabscheut, sondern wie einen Engel Gottes nahmet ihr mich auf, wie Christum Jesum" (V. 13. 14). Näheres über diese "Versuchung" des Apostels wird uns in 2. Kor. 12 mitgeteilt. Worin sie bestand, wissen wir freilich nicht. Es ist ja an und für sich auch nicht von Wichtigkeit. Da aber wieder und wieder danach gefragt wird, mögen einige Worte darüber hier Platz finden.

Aus allem, was uns über den "Dorn im Fleische" mit­geteilt ist, müssen wir schließen, daß er in etwas Ent­stellendem, den Apostel in den Augen der Menschen ver­ächtlich Machendem bestanden haben muß. Das war auch wohl der Grund, weshalb er so anhaltend zu Gott flehte um Befreiung von diesem "Engel Satans, der ihn mit Fäusten schlug"; mußte es ihn, den treuen, hingebenden Boten des Evangeliums doch aufs empfindlichste treffen, wenn seine Person und sein Auftreten von vornherein den Eindruck des Verächtlichen auf die Zuhörer machte. Man könnte nun denken, daß das Entstellende in seiner Gestalt, seinem Gesicht oder in seiner Sprache (vergl. 2. Kor. 10, 10) gelegen habe. Wenn wir aber hier hören, daß die Galater, "wenn möglich, ihre Augen ausgerissen und ihm gegeben hätten", und uns zugleich vergegen­wärtigen, daß der Apostel keinen seiner Briefe, außer diesem verhältnismäßig kurzen an die Galater, mit ei­gener Hand, und auch diesen wohl nur mit besonderer Mühe (Kap. 6, 11 ), geschrieben hat, so liegt der Schluß nahe, daß es sich um ein besonders peinliches, wahrscheinlich verunstaltendes Augenleiden gehandelt haben müsse.

Doch, wie gesagt, die Beantwortung der Frage ist von keiner großen Bedeutung. Viel wichtiger und für uns be­lehrender sind die Begleitumstände und vor allem die Er­gebnisse dieser erzieherischen Handlung Gottes mit Sei­nem Knechte. Den Galatern konnte er das Zeugnis geben, daß sie die Versuchung in seinem Fleische nicht verachtet, sondern ihn wie einen Engel Gottes, ja, wie Christum Jesum selbst aufgenommen hatten. Ihre Glückseligkeit über das Wort vom Kreuze, das Paulus ihnen gebracht hatte, war so groß gewesen, daß alles andere wert‑ und bedeutungslos für sie geworden war. In ihrer Dankbar­keit wären sie zu den größten Opfern bereit gewesen, wenn dadurch nur das Leiden des geliebten Apostels hätte behoben oder doch gemildert werden können.

Und jetzt? War er mit einemmale ihr Feind geworden, weil er ihnen die Wahrheit sagte? (V. 16). Das taten freilich die falschen Lehrer nicht. "Sie eifern um euch nicht gut, sondern sie wollen euch ausschließen, auf daß ihr um sie eifert" (V. 17). Der Eifer dieser Leute vrar nicht gut; sie eiferten um ihre eigene Ehre, sie wollten "im Fleische wohlangesehen sein" (Kap. 6, 12), wollten "die Jünger hinter sich herziehen". Hatte der Apostel so gehandelt? Hatte er je das Gringste getan, um seine Per­son in den Vordergrund zu stellen, oder gar die Galater zu veranlassen, "um ihn zu eifern"? Und von diesem treuen Manne wollten jene Menschen die gläubigen Ga­later trennen, sie "von ihm ausschließen", indem sie eine Scheidewand zwischen ihm und ihnen errichteten! Ihre Person, ihre Anerkennung, ihr Ansehen waren der Gegenstand, um den sich alles bei ihnen drehte. Das war in der Tat ein böses, schlimmes Eifern.

"Es ist aber gut, allezeit im Guten zu eifern, und nicht allein, wenn ich bei euch gegenwärtig bin" (V. 18). So­lang Paulus in ihrer Mitte weilte, hatten sie dem Guten nachgestrebt, warum jetzt nicht mehr? Bei den Philippern durfte der Apostel eine bessere Erfahrung machen. Ihnen konnte er in späteren Tagen das Zeugnis geben, daß sie nicht nur in seiner Gegenwart allezeit gehorsam gewesen seien, sondern noch viel mehr in seiner Abwesenheit (Phil. 2, 12). So ist es immer, wenn die Gnade ungehin­dert zu wirken vermag. Sie vereinigt die Herzen um einen Gegenstand, und dieser Gegenstand ist Christus. Ein ge­setzlicher Geist wirkt stets trennend, erhebt das Ich, lenkt das Auge von Christo ab und erstickt die Liebe.

Indem die Galater den Einflüsterungen der bösen Ar­beiter Gehör schenkten, waren sie den tödlichen Ein­flüssen dieses Geistes erlegen, oder sie standen doch in großer Gefahr, ihnen zu erliegen. Diese Erkenntnis rief in dem Apostel ähnliche Gefühle wach, wie er sie im An­fang gehabt hatte, als er ihnen Jesum Christum verkün­digte. Ergreifend sind die Worte, in welchen er diesen Gefühlen Ausdruck gibt; sie lassen uns wieder einen Blick in dieses Herz der Liebe tun. Moses, der treue Knecht Gottes im Zeitalter des Gesetzes, liebte auch sein Volk über alles, aber seine Worte in 4. Mose 11, 12: ,~Bin ich mit diesem ganzen Volke schwanger gegangen, oder habe ich es geboren, daß du zu mir sprichst: Trage es in deinem Busen, gleichwie der Wärter den Säugling trie?" erheben sich nicht zu der Höhe der Worte des Apostels, der die in Christo völlig geoffenbarte Gnade Gottes kannte.

"Meine Kindlein, um die ich abermals Geburtswehen habe, bis Christus in euch gestaltet worden ist" (V. 19). Noch einmal durchlebte Paulus im Geiste dieselben Schmerzen und Kämpfe, die er beim Ringen um die See­len der Galater erfahren hatte. Ach! jener böse Geist hatte ihre Herzen im Blick auf die Wahrheit so in Ver­wirrung gebracht, daß sie noch einmal in den Anfangs­gründen des Christentums unterwiesen und zu dem Kreu­ze zurückgeführt werden mußten. Äußerlich mochte ja noch manches Gute bei ihnen gefunden werden, aber innerlich hatten sie sich von Christo entfernt, sie hatten den Boden des Christentums verlassen, waren aus der Gnade gefallen.

"Ich wünschte aber jetzt bei euch gegenwärtig zu sein und meine Stimme umzuwandeln, denn ich bin eurethal­ben in Verlegenheit" (V. 20). Ich bin eurethalben in Verlegenheit! So war es im Falle der "geliebten und er­sehnten Brüder" in Philippi nicht. Sie waren die Freude und Krone des Apostels, standen fest im Herrn und durf­ten die Ermunterung hören: "Freuet euch in dem Herrn allezeit!" Hier wünscht der Apostel noch einmal bei den Galatern gegenwärtig zu sein, um das gefährdete Werk in ihrem Innern zu erneuern. Er möchte seine Stimme umwandeln und ihnen noch einmal persönlich dienen, je­nachdem ihr Zustand es erforderlich machen würde. Es war nicht seine Freude, Strenge zu gebrauchen oder mit der Rute zu kommen, aber wenn das um ihres geistlichen Wohles willen nötig war, würde er auch dazu bereit ge­wesen sein. Lieber aber wäre er in Liebe und im Geiste der Sanftmut zu ihnen geeilt, und ohne Zweifel hoffte er, daß sein ernster Brief seinen Zweck nicht verfehlen würde.

Noch einmal kommt er jetzt auf den unversöhnlichen Gegensatz zwischen Gesetz und Gnade zurück. "Saget mir, die ihr unter Gesetz sein wollt, höret ihr das Gesetz nicht?" (V. 21). Zum Verständnis dieser Stelle sei zu­nächst darauf hingewiesen, daß das Wort "Gesetz" hier in zweierlei Sinn gebraucht wird. Während der Vorder­satz: "die ihr unter Gesetz sein wollt", uns, wie immer, an das Gesetz vom Sinai erinnert, redet der Nachsatz: "was das Gesetz sagt", vom Gesetz in dem Sinne, wie der Herr in Luk. 16, 16 und anderen Stellen davon redet: "Das Gesetz und die Propheten waren bis auf Johannes". Das Alte Testament teilt sich in Gesetz, Propheten und Psalmen. An manchen Stellen, wie z. B. in Psalm 19, 7: "Das Gesetz Jehovas ist vollkommen, erquickend die Seele", bezeichnet es auch ganz allgemein das Wort Got­tes. Der Apostel will also sagen: Höret ihr nicht, was das Wort in seinem "Gesetz" genannten Teile sagt?

"Denn es steht geschrieben, daß Abraham zwei Söhne hatte, einen von der Magd und einen von der Freien; aber der von der Magd war nach dem Fleische geboren, der aber von der Freien durch die Verheißung" (V. 22. 23). Die Tatsache, daß Abraham zwei Söhne hatte, einen von Hagar, einen von Sara, war den Galatern zur Ge­nüge bekannt, auch daß Isaak der Sohn der Verheißung war, während Ismael nach dem Fleische geboren wurde. Aber wohl nie vorher hatten sie den tieferen, vorbildli­chen Sinn dieses Unterschiedes erfaßt, und auch wir wür­den ihn wohl nie entdeckt haben, wenn es nicht dem Heiligen Geist gefallen hätte, uns durch Paulus auf ihn auf­merksam zu machen. So geht es mit manchen alttesta­mentlichen Vorgängen; ohne die Belehrung des Geistes würden wir sie kaum als anwendbar auf neutestament­liche Wahrheiten erkannt haben. In dem vorliegenden Falle haben Fleisch und Gesetz einerseits, Verheißung und Gnade anderseits in den beiden Söhnen Abrahams, dem nach dem Fleische und dem nach dem Geiste gebo­renen, ihre Vorbilder gefunden. So war es von Gott be­absichtigt, und der Unglaube Saras mußte mit dazu bei­tragen, um das interessante Bild vollständig zu machen. Wie wunderbar ist unser Gott in all Seinem Leiten oder Geschehenlassen!

Die beiden Frauen, Hagar und Sara, sind denn, wie der Apostel weiter lehrt, "zwei Bündnisse: eines vom Berge Sinai, das zur Knechtschaft gebiert, welches Hagar ist" (V. 24). Sie wird deshalb auch mit ihrem Sohne in Gegnerschaft mit Sara und Isaak gefunden. Wie könn­ten Gesetz und Gnade, Fleisch und Geist jemals im Ein­klang miteinander stehen? Hagar, die in Knechtschaft Stehende, gebiert zur Knechtschaft, genau so wie das Ge­setz vom Berge Sinai. "Denn Hagar ist der Berg Sinai in Arabien, entspricht aber dem jetzigen Jerusalem, denn sie ist mit ihren Kindern in Knechtschaft" (V, 25). Das Jerusalem zur Zeit des Apostels, die Hochburg des ge­setzlichen Systems, war das traurige Bild innerer und äußerer Knechtschaft. Ihre Bewohner waren in doppelter Hinsicht geknechtet: Knechte der Sünde und Knechte Roms. Das einst von Gott zu Seinem Wohnsitz erkorene Zion war eine Stadt der Mörder geworden und befand sich in der Gewalt der Heiden. Und dahin wollten die Galater sich jetzt wenden, wollten für das Gesetz streiten und so Kinder der Magd werden?

Nein, fährt der Apostel fort, Das Jerusalem droben ist frei", und dieses Jerusalem ist "unsere Mutter". Soll­ten wir nun aus der Stellung der freien Gnade zurückleiten in einen Zustand gesetzlicher Knechtschaft? Das sei ferne! Alle Beziehungen zu dem alten, irdischen Je­rusalem, soweit sie bestanden haben mögen, sind abge­brochen, neue Verpflichtungen ihm gegenüber bestehen nicht, in Christo sind wir mit der himmlischen Stadt in Verbindung gekommen. Das Jerusalein droben, da wo der Christus ist, ist unsere Mutter, und dieses Jerusalem ist frei, und mit ihm seine Kinder.

,Penn es steht geschrieben: Sei fröhlich, du Unfrucht­bare, die du nicht gebierst; brich in jubel aus und schreie, die du keine Geburtswehen hast! denn die Kinder der Einsamen sind zahlreicher als derjenigen, die den Mann hat« " (V. 27). Im ersten Augenblick mutet es uns fremd an, diese Stelle hier angeführt zu finden. Sie ist bekannt­lich dem 54. Kapitel des Propheten Jesaja entnommen, das die wunderbaren Ergebnisse des im vorhergehenden Kapitel beschriebenen Werkes Christi für Israel behan­delt. Jerusalem, die Unfruchtbare, die keine Wehen ge­habt und nicht geboren hat, wird aufgefordert, zu jubeln und zu jauchzen, weil die ihr in ihrer Vereinsamung (der Zeit ihrer Scheidung von Gott) geborenen Kinder zahl­reicher sind als die, welche sie in der Zeit ihres Verehe­lichtseins hatte. Zurückschauend auf ihren langen, einsa­men Weg mit all seinen Drangsalen und Stürmen, für die Gegenwart noch einem elenden, verlassenen Weibe gleichend, darf sie Worte wunderbarer Gnade verneh­men; sie soll der Schmach ihrer Jugend vergessen und der Schande ihrer Witwenschaft nicht mehr gedenken. Nicht nur sollen aus Israel selbst ihr so zahlreiche Kinder ge­boren werden, daß ihnen der Raum zum Wohnen im Lande zu eng wird, und sie selbst in ihrem Herzen spricht: "Wer hat mir diese geboren, da ich doch der Kinder be­raubt und unfruchtbar war, verbannt und umherirrend? und diese, wer hat sie großgezogen?" (Jes. 49, 20. 21), sondern Gott will auch diejenigen zu ihrer Nachkommen­schaft rechnen, welche, aus allen Völkern der Erde stam­mend, auf dem Boden der Gnade mit Gott in Verbin­dung gekommen sind. Der Herr Jesus selbst sagt zu dem Weibe am Jakobsbrunnen: "Das Heil ist aus den Juden", und wenn wir, in Verbindung mit diesem Wort, an die Verheißung denken, die Gott einst dem Stammvater Israels gab, daß in Seinem Samen alle Nationen gesegnet werden sollten, verstehen wir den Gedanken des Apo­stels besser. Er denkt hier nicht so sehr an die beiden Weiber Abrahams, als an das, was sie vorstellten.

Erinnern wir uns zugleich daran, daß der Apostel im Galaterbrief von einem ganz anderen Ausgangspunkt aus­geht und deshalb auch zu ganz anderen Ergebnissen kommt, als z. B. in dem Brief an die Epheser. Redet er in diesem von dem vor Grundlegung der Welt gefaßten Ratschluß Gottes, dessen Gegenstand die Versammlung (Gemeinde), der Leib Christi, ist, so gründet er in je­nem seine Belehrungen auf die Verheißung, die Gott im Laufe der Zeit dem Abraham, dem jüdischen Patriarchen und Vater aller Gläubigen, gab, und die den Kindern Abrahams als solchen galt. Von der "Versammlung Got­tes" ist im Galaterbrief nur ein einziges Mal die Rede, und dann auch nur, um uns zu sagen, daß Paulus sie über die Maßen verfolgt habe. Sie war ein Geheimnis, das von den Zeitaltem und Geschlechtern her in Gott verborgen war, von dem die Verheißungen nie geredet hatten, zu dessen Höhe unser Brief sich auch nie erhebt. Die Gläubigen sind hier die Kinder, Söhne und Erben Gottes, nicht mehr Unmündige oder Knechte, aber die Vorrechte und Segnungen, die mit dem zur Rechten Got­tes verherrlichten Menschensohn verbunden sind, suchen wir vergeblich.

Alles das wird es uns, wie gesagt, besser verstehen lassen, warum der Geist Gottes an dieser Stelle alle Gläubigen, seien sie aus Israel oder aus den Nationen, die während der Zeit, daß Israel keinen Mann hat, ge­boren werden, zusammenfaßt und Kinder Jerusalems nennt, des Jerusalem freilich, wie es dereinst gesehen wer­den wird, wenn ihm bedingungslose Gnade zuteil gewor­den ist und es aufgehört hat, eine "Hagar" zu sein. Auch die unzähligen Scharen der himmlischen Heiligen, die dann den ihnen eigentümlichen Platz droben schon ein­genommen haben (s. die 24 Ältesten in Offbg. 4. 5 usw.), werden Jerusalem hier als Kinder angerechnet.

In ähnlicher Weise wendet der Apostel in Röm. 9, 24‑26 einen Ausspruch des Propheten Hosea, der sich zunächst nur auf Israel bezieht, auf alle Gefäße der Begna­digung aus Juden und Heiden an, indem er im Blick auf diese sagt: "uns, die Er auch berufen hat, nicht allein aus den Juden, sondern auch aus den Nationen. Wie Er auch in Hosea sagt: . . . und es wird geschehen, an dem Orte, da zu ihnen gesagt wurde: Ihr seid nicht mein Volk, daselbst werden sie Söhne des lebendigen Gottes genannt werden" (Vergl. Hos. 1, 10). So sind auch wir alle Kinder des Jerusalem droben, sie ist unsere Mutter. Da ist nur ein gemeinsamer Boden, auf dem alle Gläu­bigen vor Gott stehen, und dieser Boden ist Seine be­dingungslose, freie Gnade. Der Apostel kann deshalb, diese kostbare Wahrheit auf die Galater anwendend, sei­ne Beweisführung mit den Worten schließen:

"Ihr aber, Brüder, seid, gleichwie Isaak, Kinder der Verheißung" (V. 28). Nicht Kinder der Magd, nach dem Fleische und darum zur Knechtschaft des Gesetzes ge­boren, sondern Kinder der Freien, nach dem Geiste ge­boren, Kinder der Verheißung, und darum der in Christo, dem Samen Abrahams, geoffenbarten Gnade und aller mit ihr verbundenen Vorrechte teilhaftig.

Aber so wie damals der nach dem Fleische Geborene (Ismael) den nach dem Geiste Geborenen (Isaak) ver­folgte, so war es auch jetzt ‑ die Juden waren die un­versöhnlichen Feinde der Christen, ja, sie waren selbst allen Menschen entgegen, indem sie den Aposteln wehr­ten, zu den Nationen zu reden, auf daß sie errettet wür­den. Der Zorn Gottes war deshalb über sie gekommen (l. Thess. 2, 15. 16). Auch in dieser Beziehung ähnlich wie damals; denn "was sagt die Schrift? Stoße hinaus die Magd und ihren Sohn, denn der Sohn der Magd soll nicht erben mit dem Sohne der Freien" (V. 30; vergl. 1. Mose 21, 9. 10).

So redet die Schrift, die nicht gebrochen werden kann. Vernichtendes Urteil für alle, die da meinen, ein Kind Gottes habe noch irgend etwas mit dem Gesetz zu tun als Grundlage oder Regel seiner Beziehungen zu Gott! So passend und scharf das Gesetz ist als Waffe wider Gesetzlose und Zügellose, wider Gottlose und Sünder, so wenig ist es für den Gerechten bestimmt (l. Tim. 1, 8. 9). Wer deshalb den Gläubigen wieder unter dasselbe zu bringen sucht, in welcher Weise es auch sein mag, führt ihn aus der seligen Freiheit des Kindes Gottes in die unselige Knechtschaft des Juden zurück.

"Der Sohn der Magd soll nicht erben mit dem Sohne der Freien." Deutlicher könnte die Schrift nicht reden und sie hat schon so geredet, lang bevor das Gesetz kam. In der vorbildlichen Geschichte jener beiden Söhne hat sie die Stellung des Gläubigen im Gegensatz zu der eines gesetzlichen Menschen, den Unterschied zwischen Fleisch und Geist, so klar gezeichnet, daß jeder, der sehen will, sehen kann. Frohlockend, wir möchten fast sagen, trium­phierend schließt der Apostel seine Belehrung mit den Worten: "Also, Brüder, sind wir nicht Kinder der Magd, sondern der Freien". Unser ist die Befreiung von jeder gesetzlichen Sklaverei, unser die Verheißung, unser das Erbe!

Kapitel 5

»Für die Freiheit hat Christus uns freigemacht; stehet nun fest und lasset euch nicht wiederum unter einem Joche der Knechtschaft halten" (V. 1). Die Eingangswor­te unseres Kapitels lauten wie ein Jubelruf. "Für die Freiheit hat Christus uns freigemacht" ‑ nicht: Er will uns freimachen, oder: Er kann uns freimachen, sondern: Er hat uns freigemacht. ja, so ist es, Gott sei gepriesen! und alle, die des Herrn sind, dürfen die Worte des Apo­stels dankbar nachsprechen. Sie alle sind freigemacht, und das nicht nur teilweise oder zeitweilig, sondern voll und ganz, auf immerdar. Immer wieder dürfen sie es sich ins Gedächtnis rufen, daß Christus, als Er am Kreuze für sie im Gericht stand, mit dem ganzen elenden Zustand, in welchem sie sich einst befanden, für immer ein Ende gemacht hat.

Der Herr Jesus selbst hatte schon zu den Juden ge­sagt: "Wenn der Sohn euch freimachen wird, so werdet ihr wirklich frei sein" (Joh. 8, 36), und nun lag der Weg, auf welchem diese Befreiung geschehen ist, allein geschehen konnte, klar und deutlich vor den Augen der Galater. Der Tod des Herrn hatte aus hilflosen, mit Ket­ten der Sünde gebundenen Sklaven freie Söhne gemacht, die nun befähigt waren, "Gott wohlgefällig zu dienen mit Frömmigkeit und Furcht"; hatte sie selbst von dem Joch des Gesetzes befreit, das, für den Menschen im Fleische bestimmt, ihn infolge der Kraftlosigkeit des Fleisches ja nur unter Fluch und Verdammnis bringen konnte. "Frei­heit" ‑ wunderbares Wort für einen einst hoffnungslos Gefangenen! Sollte man meinen, daß ein Mensch, der die Süßigkeit einer solchen Befreiung gekostet hat, je wieder umwenden könnte zu der Stellung, die ihm einst so viel Schmerz und Kampf bereitet hat?

Und doch, so müssen wir uns immer wieder sagen, war es gerade dies, was die Galater wollten. 0, ruft der Apostel ihnen zu, "stehet fest und lasset euch nicht wie­derum unter einem Joche der Knechtschaft halten!" Be­achten wir, daß sie sich nicht eigentlich unter das Sitten­gesetz, d. h. die zehn Gebote stellen wollten, sondern meinten, die eine oder andere jüdische Zeremonie, diesen oder jenen gesetzlichen Brauch in das Christentum ein­führen zu sollen. Die Verordnung über die Beschneidung findet sich nicht unter den zehn Geboten, so wenig wie eine Anweisung über die Feier von Tagen (den Sabbath ausgenommen) oder Monaten, Zeiten und Jahren. Nun hätte man freilich fragen können: Was für Böses kann denn darin liegen, Verordnungen wieder aufzunehmen, die einerseits nur äußere Begleiterscheinungen des Alten Bundes bildeten, und in denen man anderseits solch schöne, bezeichnende Vorbilder und Schatten auf Chri­stum hin erblicken kann? Hatte überdies Gott die Be­schneidung nicht schon dem Abraham gegeben? Sie war also weit älter als das Gesetz, weshalb der Herr im Blick auf sie sagt, daß Moses sie wohl dem Volke gegeben ha­be, daß sie aber nicht von ihm sei, sondern von den Vä­tern (Joh. 7, 22).

Alle solche Fragen erledigt der Apostel kurz und be­stimmt mit den Worten: "Siehe, ich, Paulus, sage euch, daß, wenn ihr beschnitten werdet, Christus euch nichts nützen wird" (V. 2). Mögen die beiden Gesetzestafeln auch nicht von der Beschneidung reden, mag Gott sie schon Jahrhunderte vorher angeordnet haben, sie kann doch nicht vom Gesetz getrennt werden. Sie bildete ei­nen untrennbaren Bestandteil des ganzen Systems, war unerläßliche Bedingung nicht nur für den Juden, sondern auch für den Fremdling, der sich Israel anschließen woll­te. Mit ihr stand und fiel sozusagen das ganze Gebäude. Wer darum zur Beschneidung umwandte, betrat damit den Boden des Gesetzes, auf welchem Christus ihm nichts nützen konnte. Der Apostel will damit natürlich nicht sagen, daß für einen Gläubigen, der sich durch die jü­dischgesinnten Lehrer zur Beschneidung hätte verleiten lassen, persönlich keine Umkehr, keine Vergebung mehr möglich, daß die Gnade für ihn nicht mehr dagewesen wäre. Er redet nur grundsätzlich: Wenn die Galater da­hin kommen würden, die Beschneidung als notwendig zu ihrer Rechtfertigung zu erklären, so würde das Werk Christi für sie wirkungslos werden, ihnen nichts mehr nützen können.

Aber mehr noch:

"Ich bezeuge aber wiederum jedem Menschen, der be­schnitten wird, daß er das ganze Gesetz zu tun schuldig ist" (V. 3). Wer durch die Beschneidung auf jüdischen Boden trat, verpflichtete sich damit, das ganze Gesetz zu halten. Man kann unmöglich mit dem einen Fuß auf dem Boden des Gesetzes stehen, mit dem anderen auf dem der Gnade. In dieser Beziehung stellt uns das Wort immer wieder vor ein unbeugsames "Entweder ‑ oder«. Ob es sich um die Rechtfertigung oder um den Wandel des Gläubigen handelt, er steht nicht unter Gesetz, sondern unter Gnade. Grundlage und Quelle aller seiner Segnungen und Beziehungen zu Gott ist die Gnade, und nur die Gnade, wie Gott sie in Christo geoffenbart hat. Wer darum im Gesetz gerechtfertigt werden will, ist von Christo abgetrennt, ist aus der Gnade gefallen (V. 4). Das will wiederum nicht sagen, daß ein solcher sich da­durch von Christo lossage, um fortan der Welt und der Sünde zu dienen. Im Gegenteil, er hofft sogar, auf dem neuen Wege Ihm mehr dienen, der praktischen Heili­gung näher kommen zu können als bisher, vergißt aber, daß er durch die Vermengung des Gesetzes mit Christo, des eigenen Tuns mit der Gnade, die einzige Grundlage aufgibt, auf welcher Gott ihn rechtfertigen kann, und da­mit zugleich die einzige Möglichkeit des inneren Wachs­tums.

"Denn wir erwarten durch den Geist aus Glauben die Hoffnung der Gerechtigkeit" (V. 5). Damit ist das ei­gene Ich, das Fleisch mit all seinen guten Vorsätzen völlig ausgeschlossen, jede Heiligkeit durch Werke unmöglich gemacht. Wir erwarten durch den Geist, nicht auf Grund von irgend etwas von oder in uns, die Hoffnung der Ge­rechtigkeit. Durch die wirksame Kraft des Heiligen Gei­stes lebendig gemacht, durch Ihn versiegelt, der unseren ,Blick über das Sichtbare und Zeitliche hinweglenkt, er­warten wir aus Glauben ‑ Was? die Hoffnung, einmal gerechtfertigt zu werden? Nein, wir besitzen die Gerech­tigkeit bereits in Christo, und der Glaube ruht in ihr ‑Aa, wo Gott mit Wonne ruhet, bin auch ich in Ruh' ge­setzt". In voller Glaubensgewißheit dürfen wir sagen: "Da wir nun gerechtfertigt worden sind aus Glauben, so haben wir Frieden mit Gott usw." Christus, unser ge­fiebter Herr, "ist uns geworden Weisheit von Gott und Gerechtigkeit und Heiligkeit und Erlösung" (l. Kor. 1, 30).

Was erwarten wir denn? "Die Hoffnung der Gerech­tigkeit", d. h. das, was diese Gerechtigkeit als Lohn zu erwarten hat, was ihr rechtmäßig zusteht, worauf ‑sie al­so zuversichtlich hoffen darf. Und was ist diese Hoff­nung? Die Herrlichkeit droben, die Herrlichkeit, in wel­che Christus auf Grund Seines vollendeten Werkes schon eingegangen ist, die Er als Lohn Seiner Arbeit, Seines Opfertodes, mit einem Wort, als Lohn der Gerechtigkeit bereits genießt. Wir sind noch nicht dort, aber der Geist zeigt uns Ihn dort zur Rechten der Majestät in der Höhe, im Besitz der Herrlichkeit, die für uns noch ein Gegen­stand des Glaubens und der Hoffnung ist: "Wir rühmen uns in der Hoffnung der Herrlichkeit Gottes" (Röm. 5. 2).

So ist denn alles gewiß und wohlbegründet. Wir be­sitzen schon die Gerechtigkeit, die "aus Glauben" ist, und wir erwarten, wiederum "aus Glauben", zuversichtlich die Herrlichkeit, welche der Gerechtigkeit, die in Christo unser Teil ist, als Lohn gebührt. Wir wissen also "durch den Geist", daß wir Gottes Gerechtigkeit haben, ja, Seine Gerechtigkeit in Christo sind, und wir kennen durch den­selben Geist die Herrlichkeit, in welche unser geliebter Herr schon eingegangen ist. Noch über ein gar Kleines, und auch wir werden dort einziehen. Auf die Rechtfer­tigung folgt die Verherrlichung.

Auf dem Wege zu dieser Herrlichkeit spielt wiederum der Glaube eine bedeutungsvolle Rolle. So wie er den Gläubigen seiner Rechtfertigung versichert und seinen Blick nach oben zur Herrlichkeit lenkt, wirkt er während seines Pilgerganges auf Erden in ihm, und er tut dies durch die Liebe. Es sind nicht etwa Gebote oder gesetz­liche Verpflichtungen, die seine Tätigkeit regeln. Nein, Liebe ist die Quelle und treibende Kraft all seiner Äuße­rungen, jene Liebe, deren Offenbarung der Gläubige in Christo gesehen hat, und die nun in sein Herz ausgegos­sen ist durch den Heiligen Geist, der ihm gegeben ist. Ob er einst Jude oder Heide war, ob er beschnitten oder unbeschnitten ist, ist bedeutungslos. "Denn in Christo Jesu vermag weder Beschneidung noch Vorhaut etwas, sondern der Glaube, der durch die Liebe wirkt" (V. 6).

Für den natürlichen Menschen, den Menschen im Flei­sche, mag die Frage, ob Jude oder Heide, Wichtigkeit haben, "in Christo" vermag weder Beschneidung noch Vorhaut etwas ‑ hier handelt es sich um innere Wirk­lichkeit, nicht um äußere fleischliche Unterschiede. In Christo Jesu, in welchem es nicht Jude noch Grieche gibt, ist der Gläubige jetzt eine neue Schöpfung geworden, und während einst die Leidenschaften der Sünde in ihm wirkten, ist jetzt der Glaube, der durch die Liebe wirkt, in sein Herz eingezogen. Welch ein Gegensatz, ja, welch eine Befreiung! Die Galater hatten sie einst erkannt und bekannt, hatten, der Wahrheit gehorchend, einen guten Anfang gemacht. Aber es war leider anders geworden. Der Apostel muß ihnen klagend zurufen: "Ihr fiefet gut; wer hat euch aufgehalten, daß ihr der Wahrheit nicht ge­horchet?" (V. 7). Ach! sie hatten ihre Ohren von der Wahrheit abgekehrt und den falschen Lehrern zugewandt, hatten sich von ihnen überreden lassen (V. 8).

Aber "ein wenig Sauerteig durchsäuert den ganzen Teig" (V. 9). An dieselbe ernste Wahrheit erinnert der Apostel fast mit den gleichen Worten die Korinther: >,Wisset ihr nicht, daß ein wenig Sauerteig die ganze Masse durchsäuert?" (l. Kor. 5, 6). Was will das sagen? Daß das Eindringen des gesetzlichen Geistes in die Mitte der Gläubigen auf keinen anderen Boden gestellt wird, als grobe sittliche Vergehungen, als eine Sünde, die selbst unter den Heiden nicht vorkam. Dies ist "Sauerteig", und jenes ist "Sauerteig", das eine durchdringt und durch­säuert die ganze Masse in derselben Weise wie das an­dere. Es fällt uns schwer, das anzunehmen; aber bei ei­nigem Nachdenken werden wir erkennen, daß böse Lehre im Grunde noch mehr zu fürchten ist, als offenkundige Unsittlichkeit, weil diese schon von dem natürlichen Ge­wissen des Menschen als böse verurteilt wird, während jene sich in das täuschende Gewand der Unschuld zu kleiden weiß.

Daß der Sauerteig seiner Eigenschaft wegen, alles zu durchdringen, in der Schrift stets als ein Bild des Bösen, ja, des sich auswirkenden Bösen, gebraucht wird, darf wohl als bekannt vorausgesetzt werden. Doch vergleiche der Leser Stellen wie 2. Mose 12, 15. 19; 13, 7; 34, 25; 3. Mose 2, 11; 10, 12; Matth. 13, 33; 16, 6. 12. Manche Ausleger haben gemeint, Matth. 13, 33 bilde eine Aus­nahme von der allgemeinen Regel, hier bedeute der Sau­erteig etwas Gutes, nämlich das Evangelium, das allmäh­lich die ganze Welt mit seiner durchsiuernden Kraft durchdringe! Es ist erstaunlich, daß diese Auslegung eine so weite Verbreitung finden konnte; man sollte meinen, es gehöre nicht viel geistliches Verständnis dazu, um sie als durchaus unhaltbar zu erkennen.

Die Galater haben den ersten Brief an die Korinther nicht gekannt, wenn er überhaupt damals schon geschrie­ben war, was nicht wahrscheinlich ist. Wir aber kennen ihn, und die eben besprochene Tatsache, daß böse Lehren dieselben zerstörenden und verheerenden Wirkungen ha­ben wie sittlich Böses, wenn sie in der Mitte der Gläu­bigen geduldet werden, sollte uns zu denken geben und uns allem gegenüber, was die göttliche Wahrheit antastet, was Sauerteig unter das gute feine Mehl mischen will, ernstlich auf die Hut stellen. Der Mensch mag anders urteilen als Gott und Unsittlichkeit für das größere Übel erklären, aber Gott wird recht behalten. In den Folgen wird es sich immer wieder zeigen, welch ein verhängnis­volles Übel es ist, der Lüge Gehör zu schenken.

Dennoch konnte der Apostel seinem Vertrauen zu den Galatern "im Herrn" Ausdruck geben. Wenn er auf sie selbst blickte, war er allerdings in Verlegenheit und fürchtete, vergeblich an ihnen gearbeitet zu haben; wenn er aber sein Auge nach oben richtete und sein Herz zum Herrn erhob, gewann er wieder Vertrauen, daß sie nicht anders gesinnt sein würden, als er ihnen geschrieben und sie belehrt hatte (V. 10). Wir machten schon wiederholt darauf aufmerksam, wie interessant es ist, den innersten Gefühlen dieses Mannes nachzuspüren und immer wie­der seine tiefe Sorge um die Ehre seines Herrn und das Wohl der Gläubigen wahrzunehmen. Der Gedanke daran, daß die ganze Herrlichkeit des Erlösungswerkes Christi durch die bösen Lehrer in Frage gestellt wurde, läßt ihn die ernsten Worte sagen: "Wer euch aber verwirrt, wird das Urteil tragen, wer er auch sei". Der Herr selbst wird sie zur Verantwortung ziehen.

"Ich aber, Brüder, wenn ich noch Beschneidung pre­dige, was werde ich noch verfolgt? Dann ist ja das Är­gernis des Kreuzes hinweggetan" (V. 11). So wird es immer sein. Wer dem Evangelium von Christo irgend etwas hinzufügt, was dem Fleische, dem Tun des Men­schen, einen Platz einräumt, wird Anerkennung finden, dessen Predigt wird gehört werden. Die Feindschaft der Juden wäre gewiß nicht so tödlich gewesen, ihr Haß und ihre Verfolgungswut nicht so bitter, wenn Paulus dem Worte vom Kreuz nur ein klein wenig, den Menschen und seine Religiosität Anerkennendes hinzugefügt hätte. Aber ganz und gar verderbt, zu nichts Gutem tauglich, tot in Sünden und Vergehungen, hoffnungslos dem Ge­richt verfallen zu sein ‑ und das ist es, was das Kreuz Christi predigt ‑ das will der Mensch nicht, diese Pre­digt wird ihm stets "ein Ärgernis'« bleiben. Umgekehrt: mit seinem eigenen Wirken, mit seiner Gerechtigkeit und Frömmigkeit mehr oder weniger Gnade verbinden, dazu ist er gern bereit. Aber keinerlei Ruhm haben, alles der Gnade Gottes und nur der Gnade verdanken, das weist er zurück. Das vernichtende Urteil des Kreuzes ist ihm ein Greuel.

Die Unnachgiebigkeit des Apostels in dieser Bezie­hung, sein treues, nimmer wankendes Festhalten an der "Wahrheit des Evangeliums" (Kap. 2, 5), war also die Ursache der Leiden und Verfolgungen, denen er unauf­hörlich ausgesetzt war. Ein Einlenken in die Gedanken der Menschen, eine geringe Berücksichtigung ihrer religiösen Wünsche würde das Ärgernis des Kreuzes hinweg­getan haben; aber dieses anscheinend geringe Nachgeben hätte die Wahrheit verfälscht, die Grundlage des Frie­dens und des geistlichen Wachstums der Gläubigen völlig erschüttert. Daher die heilige Entrüstung des Apostels, die unerbittliche Schärfe des Ausrufs, mit welchem er den vorliegenden Abschnitt schließt: "Ich wollte, daß sie sich auch abschnitten, die euch aufwiegeln!" (V. 12). Diese Leute führten, indem sie die Beschneidung predigten, in Wirklichkeit die Zerschneidung herbei. (Vergl. Phil. 3,2). Ach, wenn sie sich nur selbst abschneiden (od. verschnei­den, verstümmeln) möchten, die in solcher Weise den Geist der Galater verwirrten und gegen den Apostel und die von ihm verkündigteWahrheit aufwiegelten! Es han­delte sich eben um ein offenbares Werk des Feindes, der immer darauf aus ist, eine fleischliche Religion der geist­lichen gegenüber zu stellen, und der stets auf Erfolg rech­nen kann, weil diese letztere rücksichtslos das Todesur­teil über das Fleisch spricht.

Noch einmal denn: Christo und Seinem Werke etwas hinzufügen, heißt den Menschen und sein Tun an die Stelle Christi und des Kreuzes setzen, den alten Men­schen mit dem neuen in Verbindung bringen, es heißt mit einem Worte, den Gottesdienst des Fleisches anerkennen und das Evangelium zerstören. Das Wort vom Kreuze, die einzige, aber vollkommene Erlösung,aus Gnade und nur aus Gnade, wird für den religiösen Menschen stets ein Stein des Anstoßes bleiben, weil es ihn und all sein Tun beiseite setzt und sein Ansehen von Grund auf zer­stört. Den Gesetzesmenschen ein Ärgernis, den Weisen eine Torheit, ist und bleibt aber dieses Wort den Beru­fenen selbst "Gottes Kraft und Gottes Weisheit". Der Apostel hielt dafür, unter den Korinthern nichts anderes zu wissen "als Jesum Christum, und Ihn als gekreuzigt".

Gott schenke auch den Gläubigen unserer Tage, treu und klar bei diesem Worte zu beharren und nichts an­deres wissen zu wollen als Christum, Christum allein! ‑Jesus Christus derselbe gestern und heute und in Ewig­keit!"

Kapitel 5, 13‑26

Hat die erste Hälfte des Kapitels uns mit der kostba­ren Stellung bekannt gemacht, in welche wir durch Chri­stum gebracht sind, so redet die zweite von der Anwen­dung dieser Wahrheit auf unseren praktischen Wandel. "Ihr seid zur Freiheit berufen worden, Brüder; allein gebrauchet nicht die Freiheit zu einem Anlaß für das Fleisch, sondern durch die Liebe dienet einander" (V. 13). So allgemein, alle Gläubigen umfassend, der erste Ausspruch ist, daß Christus uns für die Freiheit freige­macht hat, genau so allgemein ist dieser zweite: "Ihr seid zur Freiheit berufen worden, Brüder". Wie keine Ver­dammnis mehr ist für die, welche in Christo Jesu sind, so gibt es auch keine Notwendigkeit mehr für sie, nach dem Fleische zu wandeln. "Die, welche nach dem Geiste sind, sinnen auf das, was des Geistes ist" (Vergl. Röm. 8, 1‑5).

Beachten wir, daß es sich hier nicht um Dinge handelt, die schwer zu erfassen sind, zu deren Verständnis es viel­leicht der Reife eines "Vaters in Christo" bedürfte, sondern vielmehr um die Anfangsgründe des Christentums, um Dinge, die gerade den jungen und noch wenig er­fahrenen Gläubigen in Galatien durch den Apostel mit­geteilt worden waren, und an die er sie nun als an längst bekannte Wahrheiten erinnert. Sie hatte Christus frei­gemacht, ihnen ruft er zu: "Ihr seid zur Freiheit berufen

worden". Freigemacht von dem Gesetz der Sünde und des Todes, ist der Gläubige berufen, nicht mehr sich selbst und seinen natürlichen Neigungen, sondern ande­ren zu dienen.

junge Gläubige mögen durch die Entdeckung, daß nach ihrer Bekehrung die Sünde noch genau so in ihnen ist wie früher, tief beunruhigt werden und darüber er­schrecken, daß in ihrem Fleische nach wie vor nichts Gu­tes wohnt. Sie mögen in der überzeugung und dem Wun­sche, daß ihr ganzes Leben fortan Christo gehören sollte, sich ernstlich darüber betrüben, daß sie Ihm, achl noch so wenig dienen, mögen selbst dahin kommen, an der Echtheit ihrer Bekehrung zu zweifeln. Aber das alles beweist nur, daß sie Wahrheiten, die sie längst kennen sollten, noch nicht gelernt haben, daß sie nicht einmal wissen, was die Taufe bedeutet; denn durch ihre Taufe auf den Tod Christi haben sie zu erkennen gegeben, daß sie, mit ihrem gestorbenen, begrabenen und auferstandenen Herrn einsgeworden, von dem Leibe des Todes gerettet worden sind (Röm. 7, 24)und nun als neue Menschen, als Men­schen "in Christo" vor Gott stehen.

..Zur Freiheit berufen" ‑ ein anscheinend leicht ver­ständliches Wort, und doch macht es, wie wir sahen, man­chen Gläubigen große Schwierigkeiten. Obwohl sie ver­standen haben, daß im Blick auf ihre Rechtfertigung alles in Ordnung ist, daß Gott sie als gerechtfertigte und be­freite Menschen vor sich sieht kennen sie doch noch wenig von dieser Befreiung i;~sichtlich ihres Wandels im täglichen Leben. Aus diesem mangelhaften Verständ­nis ergeben sich zwei Gefahren: entweder neigen solche Gläubige dahin ‑ und das ist gewöhnlich der Fall, wenn das Gewissen wach ist ‑ sich unter gesetzliche Forde­rungen und Einschränkungen aller Art zu stellen, oder ‑wenn das Gewissen wenig tätig ist ‑ sich einer gewissen Ungebundenheit hinzugeben; da sie ja doch errettet sind, halten sie sich für frei, den in ihnen nun einmal vorhan­denen natürlichen Neigungen gelegentlich nachzugeben, mit der Welt zu liebäugeln und so die Grenzen des ihnen vermeintlich Erlaubten immer weiter zu ziehen. In bei­den Fällen, so gegensätzlich sie erscheinen mögen, ist das Ergebnis dasselbe: die wahre praktische Heiligung leidet not.

Wie böse und verkehrt ist doch das mensd‑iliche Herz! Wenn Gott dem Menschen aus Gnaden Gerechtigkeit schenken will, so möchte der Mensch sie durch eigene Kraft erwirken, möchte seine Gerechtigkeit an den Platz der Gerechtigkeit Gottes oder doch neben sie stellen. Und weiter: Wenn Gott den Gläubigen zur Freiheit be­ruft, so will er sie "zu einem Anlaß für das Fleisch ge­brauchen", sie dazu benutzen, dem Fleische die Zügel schießen zu lassen, will sie gar, wie Petrus es ausdrückt, "zum Dedunantel der Bosheit" machen (l. Petr. 2, 16).

Der ersten der beiden Gefahren ist der Apostel in der ersten Hälfte unseres Kapitels begegnet, vor der zweiten warnt er jetzt so feierlich: "Gebrauchet nicht die Freiheit zu einem Anlaß für das Fleisch, sondern durch die Liebe dienet einander". Denn worin besteht diese Freiheit? Tun und lassen zu können, was dem Fleische beliebt? Das wäre wahrlich nicht Freiheit, sondern grobe Zügel­losigkeit. "Sollten wir", fragt der Apostel in Röm. 6, 15, "sündigen, weil wir nicht unter Gesetz, sondern un­ter Gnade sind?" Das sei ferne! Ja, Gott bewahre uns in Gnaden vor einer solch schrecklichen Sd‑ilußfolgerung! Wie auch vor jener ähnlichen: "Sollten wir in der Sünde verharren, auf daß die Gnade überströme?" Beide Fra­gen zeigen uns wieder, wozu das arme Herz fähig ist. Nein, die Freiheit des Gläubigen besteht darin, nicht mehr tun zu müssen, was dem Fleische gefällt, wozu Satan, Sünde und Welt ihn anleiten wollen, sondern das tun zu können, was den neuen Menschen kennzeichnet, was des Christus ist, und wodurch Gott verherrlicht wird. Zu dieser Freiheit sind wir berufen.

Wahrlich, diese Berufung führt nicht zu Sorglosigkeit und Leichtfertigkeit, sondern zu praktischer Gerechtig­keit und Heiligkeit, nicht zu Selbstsucht und Lieblosig­keit, sondern zu der selbstverleugnenden Liebe, durch die, wie wir im 6. Verse lasen, der Glaube wirkt. Ach, welch ganz andere Ergebnisse hatten sich bei den Gala­tern gezeigt! Anstatt "durch die Liebe einander zu die. ned' und so das ganze Gesetz zu erfüllen (V. 14), hat­ten sie "einander gebissen und gefressen"! (V. 15). Die einen, welche sich unter die gesetzlichen Verordnungen stellen wollten, hatten die anderen angegriffen; diese wieder, um jener Neigung entgegenzutreten, selbst viel­leicht auch einer fleischlichen Freiheit das Wort redend, hatten jene scharf verurteilt. So waren "Neid und Streit­sucht" unter ihnen entstanden, und sie mochten wohl zu­sehen, daß es nicht zu einer völligen "Zerrüttung" unter ihnen kam (Vergl. Jak. 3, 16). "Sehet zu, daß ihr nicht voneinander verzehrt werdet!" ruft der Apostel ihnen schmerzerfüllt zu.

Sein Warnungswort galt sicherlich beiden Teilen, aber doch wohl am meisten den Gesetzlichen unter ihnen. Denn wenn wirklich jene fleischliche Richtung sich unter ihnen geltend gemacht hatte, ‑ würde ein aufrichtiger Dienst in brüderlicher Liebe dein Übel wohl gesteuert und die Irrenden zurückgeführt haben. Aber an dieser Liebe, die nicht das Ihrige sucht, sich nicht erbittern läßt, die aufbauend, aber niemals zerstörend wirkt, hatten sie es beiderseits mangeln lassen. Nicht der Geist hatte sie geleitet, sondern das Fleisch.

',Ich sage aber: Wandelt im Geiste, und ihr werdet die Lust des Fleisches nicht vollbringen" (V. 16). Der Heilige Geist war es gewesen, der sie einst alle von ihrem traurigen, gottentfremdeten Zustand überführt und ein neues Leben, eine neue Natur in ihnen gewirkt hatte, und derselbe Geist war jetzt bemüht, die gesegneten Offenbarungen dieser neuen Natur, praktische Gerech­tigkeit und Heiligkeit, in ihnen hervorzubringen. Weder in ihnen selbst, noch in dem Gesetz, so gut und gerecht es in sich war, lag die Kraft, einen Wandel zur Ehre Got­tes zu bewirken. Die Lüste des Fleisches sind eine Macht, gegen welche die heiligsten Gebote und die besten Vor­sätze vergebens ankämpfen. Ein "Wandel im Geiste", unter der Leitung und in der Kraft dieses Geistes, bietet die einzige Möglichkeit, diese Lüste zu verleugnen, ja, sie praktisch im Tode zu halten.

"Denn das Fleisch gelüstet wider den Geist, der Geist aber wider das Fleisch; diese aber sind einander entge­gengesetzt, auf daß ihr nicht das tuet, was ihr wollt'« (V. 17). Mit diesen Worten zeigt der Apostel den Gala­tern, und damit uns, den Weg, auf welchem der Gläubi­ge, frei vom Gesetz (Kap. 3), frei von der Sünde (Kap. 5), frei von der Welt (Kap. 6), mit einem Wort "als Freier" (l. Petr. 2, 16), zur Ehre Gottes wandeln kann. Hier liegt die Kraft zu einem des Christus würdigen Wandel in Reinheit und Heiligkeit. Persönlich in ihnen wohnend, stand und wirkte der Geist jetzt in unmittel­barem, nie endendem Gegensatz zu dem Fleische. Solang der Gläubige noch in diesem Leibe ist, sind Fleisch und Geist in ihm wie zwei feindliche Mächte, die in stetem Kampf miteinander liegen, "widereinander gelüsten", wie der Apostel es ausdrückt: was die eine will, haßt die andere, und was die eine verwirft, übt die andere aus. Liebt die eine Sünde und Unreinigkeit und folgt den Lüsten der gefallenen menschlichen Natur, so strebt die andere nach Reinheit und Heiligkeit und offenbart die Eigenschaften der Natur Gottes. Nun kommt es darauf an, welcher von beiden Mächten wir folgen, ob wir dem Fleische oder dem Geiste zu wirken erlauben. Beide Mächte ringen um die Herrschaft in uns, auf daß wir nicht das tun was wir wollen; denn leitet der Geist uns an, das zu Z~, was des Geistes ist, so macht das Fleisch seine Einwendungen geltend, lassen wir dem Fleische Raum, so mahnt und warnt der Geist. Niemals können beide Hand in Hand gehen.

Was sollten die Galater nun tun? Was sagte ihnen ihr eigenes Gewissen? was der Geist, der in ihnen wohn­te? Sollten sie dem Fleische folgen? Wahrlich nicht! Sie sollten im Geiste wandeln. Wenn sie das taten, würden sie die Lust des Fleisches niemals vollbringen. Denn, fügt der Apotel hinzu, "wenn ihr durch den Geist gelei­tet werdet, so seid ihr nicht unter Gesetz" (V. 18). Wäre der Gläubige wieder unter ein Gesetz gestellt, un­ter Gebote, die von außen her ihre Forderungen an ihn stellten, so wäre sein Fall hoffnungslos; aber der Geist ist ihm gegeben, eine göttliche Person, deren Kraft in seinem Innern wirkt, die sich mit den Wünschen und Neigungen des neuen Menschen in ihm einsmacht, die Liebe des Herzens weckt, das Verlangen nach allem Gu­ten stärkt und die nötige Kraft darreicht, um alledem zu widerstehen, was aus dem Fleische kommt. Anstatt also die Freiheit, zu der er berufen ist, als einen Anlaß zu gebrauchen, um dem Fleische Raum zu lassen, sich selbst zu leben und zu gefallen, benutzt der Gläubige sie vielmehr dazu, in selbstvergessender Liebe anderen zu dienen und so "das Recht des Gesetzes zu erfüllen" (Röm. 8, 4).

Jakobus redet in seinem Briefe von einem Gesetz der Freiheit und nennt es das "vollkommene" Gesetz. Er preist den glücksefig in seinem Tun, der in dieses Gesetz "nahe hineingeschaut hat und darinnen bleibt", weil er nicht nur ein Hörer des Wortes, sondern ein Täter des Werkes ist. Die Gebote des Herrn sind für einen solchen Gläubigen nicht eine Last oder gar ein schweres Joch, sie stehen vielmehr in vollem Einklang mit den Wün­schen seines Herzens. Er liebt sie, in ihnen zu wandeln

ist seine Lust. Die durch den Geist geleitet werden sind nicht unter Gesetz (V. 18). Aber gerade in ihnen wird, wie der Apostel später sagt, "das Gesetz des Christus" erfüllt, und über alle, "die nach dieser Richtschnur wan­deln", erfleht er Friede und Barmherzigkeit (Kap. 6, 2. 16).

Wunderbare Worte der Gnade und Wahrheit! Wir alle wissen aus schmerzlicher Erfahrung, daß wir, auch wenn wir nach dem Geiste zu wandeln begehren, immer wieder zu kurz kommen, daß wir, wie Jakobus sagt, "alle oft straucheln". Und weiter, daß jeder, der da sagt~ er habe keine Sünde, sich selbst betrügt ‑ die Wahrheit ist nicht in ihm (l. Joh. 1, 8). Das Vollkommene ist eben noch nicht gekommen. Wie unser Wissen und Er­kennen, so bleibt unser Tun und Verwirklichen Stück­werk, solang wir in diesem Leibe sind. Aber so lang hö­ren auch Barmherzigkeit und Gnade nicht auf. Der Geist Gottes wird nicht verfehlen, uns aufmerksam zu machen, wenn Hochmut, Eitelkeit, Eigenliebe, Nachlässigkeit oder ähnliche Dinge sich bei uns geltend machen. Der Vater im Himmel beschäftigt sich mit uns, Seinen geliebten, irrenden Kindern, fühlt mit uns in unserem Kampfe mit dem Bösen, züchtigt und belehrt uns, um uns zur Einsicht zu bringen und Seiner Heiligkeit teilhaftig zu machen; und unser großer Hoherpriester droben vertritt uns alle­zeit, bittet für uns, damit unser Glaube nicht aufhöre, und wäscht uns die Füße, wenn wir sie verunreinigt ha­ben. Gnade und Barmherzigkeit umgeben uns, Güte und Huld folgen uns alle Tage unseres Lebens. Vielleicht müssen wir zuweilen, wie Jakob und Hiob, zwei sehr verschiedene Gläubige des Alten Bundes, tiefe Wege ge­führt werden, um die geheime böse Wurzel in uns zu ent­decken, aber "das Ende des Herrn" mit uns wird immer herrlich sein.

Daß mit einem solchen Wandel im Geist, wenn er auch immer unvollkommen bleiben wird, offenbare Wer­ke des Fleisches, deren der Apostel in den nächsten Ver­sen viermal vier aufzählt, nicht verbunden sein können, liegt auf der Hand. Menschen, die in solch groben Din­gen, wie Hurerei, Unreinigkeit, Ausschweifung, Götzen­dienst, Zauberei, Totschlag, Trunkenheit und dergleichen leben, werden sicherlich "das Reich Gottes nicht erer­ben" (V. 21). Das hatte der Apostel ihnen schon früher warnend gesagt, und er wiederholt es hier noch einmal. Selbst wenn solche Leute ein christliches Bekenntnis im Munde führen, beweisen sie doch deutlich, daß sie noch "im Fleische" sind (Röm. 8, 8). Ihre Sünden sind offen­bar und gehen voraus zum Gericht (l. Tim. 5, 24).

Ernst war es freilich für die Galater, daß der Apostel unter den Werken des Fleisches einige nennt, die wohl auch unter ihnen, wenngleich nicht in ihren gröbsten For­men, zutage getreten waren. Hader, Eifersucht, Zorn, Zank, Zwietracht, Sekten und Neid konnten Leuten, die einander bissen und fraßen, nicht unbekannt geblieben sein. Aber in der zuversichtlichen Hoffnung, daß die Er­mahnung ihre Herzen und Gewissen erreichen und ihnen zeigen werde, wohin ihre Untreue sie bereits gebracht hatte, zählt Paulus jetzt dreimal drei kostbare Früchte des Geistes auf, von denen er hofft, daß sie auch bei ihnen sich zeigen würden.

"Die Frucht des Geistes (beachten wir schon den auffallenden Gegensatz zwischen den beiden Ausdrücken:

,Werke des Fleisches' und: Frucht des Geistes'), aber ist Liebe, Freude, Friede, Langmut, Freundlichkeit, Gütigkeit, Treue, Sanftmut, Enthaltsamkeit; wider sol­che gibt es kein Gesetz" (V. 22. 23).,Wahrlich, an sol­chen Dingen hat das Gesetz nicht nur nichts auszusetzen, es selbst ist garnicht imstande, sie hervorzubringen. Es muß vor ihnen, wenn ich mich so ausdrücken darf, be­schämt verstummen. An erster Stelle steht hier die "Lie­be", gerade das, was anderswo "die Summe des Ge­setzes" genannt wird, weil sie dem Nächsten nichts Bö­ses ‑tut, das Gesetz also erfüllt (Röm. 13, 10). Auf die Liebe folgen Freude, Friede, Langmut, Freundlichkeit, Gütigkeit, Treue ‑ lauter liebliche Eigenschaften der neuen Natur, duftende Früchte des in ihr wirkenden Hei­ligen Geistes. Die schöne Reihe schließt mit "Sanftmut und Enthaltsamkeit", d. h. mit den beiden Eigenschaften, die uns einerseits für den Verkehr mit unserer Umgebung fähig machen und uns anderseits in den Stand setzen, in ernster Selbstzucht unseren Willen zu zügeln und als ein "Brief ChrisC dazustehen, der gekannt und gelesen wird von allen Menschen.

»Die aber des Christus sind, haben das Fleisch ge­kreuzigt samt den Leidenschaften und Lüsten" (V. 24). Fürchtete der Apostel, das Wort: "wider solche gibt es kein Gesetz", könnte mißverstanden, könnte gar von dem Fleische zu seinem Vorteil ausgebeutet werden? Wir wis­sen ja, zu welch falschen Schlüssen und Folgerungen das Fleisch fähig ist. Oder wollte er die Galater, ähnlich wie am Ende des 3. Kapitels, nur daran erinnern, daß alte, die des Christus sind, mit dem Alten für immer abge­brochen haben und nun in jeder Beziehung auf einem neuen Boden stehen?

7) Die aber des Christus sind", ‑ d. h. also alle, die an Christum geglaubt haben und nun durch den Geist mit Ihm verbunden sind, alle, ohne Ausnahme oder Un­terschied, "haben das Fleisch gekreuzigt" (V. 24). Man­cher mag denken, wenn er solche Worte hört: Wie groß und herrlich ist das! aber dann seufzend hinzufügen. Wenn ich es nur von mir sagen könnte! Und doch handelt es sich hier nicht um eine Wahrheit, die am Ende des Weges eines Gläubigen liegt, um etwas, das er, allmäh­lich wachsend und heranreifend, vielleicht nach vielen Jahren erreicht, vielleicht auch nie erreicht, sondern um eine Tatsache, mit der sein Weg als Christ beginnt. Als er Christum, den Gekreuzigten, im Glauben annahm, hat er das Fleisch samt seinen Leidenschaften und Lüsten ge­kreuzigt, d. h. er hat das Todesurteil über dasselbe ge­sprochen.

In dem Tode Christi ist diese Kreuzigung geschehen, und der Glaubende hat sie als unvermeindlich notwendig und gerecht anerkannt. Das "Kindlein in Christo" hat das getan, freilich nicht in dem vollen Verständnis der Tragweite des Geschehenen, aber doch in Wirklichkeit. Wer irgend des Christus ist, hat das Fleisch und damit dessen Leidenschaften und Lüste gekreuzigt. Vielleicht wird der eine oder andere Leser sagen: "Ich habe bisher geglaubt, ich müsse das Fleisch täglich kreuzigen". Nein, sagt dir das Wort, und ihm allein steht doch die Ent­scheidung in dieser wie in allen anderen Fragen zu, du hast das getan; was dir heute zu tun übrigbleibt, ist, dir diese Tatsache im Glauben immer wieder zu vergegenwärtigen und in der Verwirklichung derselben zu wan­deln. Könnte es überhaupt etwas Köstlicheres und Trö­stenderes geben, als das Bewußtsein: Das Fleisch ist ge­kreuzigt, das Urteil des Todes ist an ihm vollzogen? Wir sind "im Geiste", nicht mehr "im Fleische" ? (Röm. 8, 9).

Der Apostel kommt deshalb auch im nächsten Verse zu dem naturgemäßen, folgerichtigen Schluß: "Wenn wir durch den Geist leben, so laßt uns auch durch den Geist wandeln". Er sagt nicht: "so laßt uns die Lust des Flei­sches nicht mehr vollbringen". Höher, unendlich höher ist der Maßstab des Gläubigen, die Richtschnur seines Lebens. Sie lautet: "Laßt uns durch den Geist wandeln"! Daß wir dann der Lust des Fleisches nicht länger folgen, seinen Leidenschaften und Lüsten nicht mehr dienen wer­den, ist selbstverständlich, denn der Geist gelüstet wider das Fleisch und ist ihm entgegengesetzt; aber unsere Stelle geht viel weiter. Ein Wandel durch den Geist Got­tes hat nicht nur ein verneinendes Ergebnis, d. h. in ihm werden sich all die früheren bösen Erscheinungen nicht mehr finden, sondern auch ein bejahendes, d. h. fortan geschieht alles unter der Leitung und in der Kraft dieses guten Geistes, Seine Gesinnung kennzeichnet das ganze fernere Leben in Wort und Wandel.

Ach, wenn wir doch alle mehr im Glauben erfassen und verwirklichen möchten, wohin das Kreuz Christi uns gestellt, wohin Sein Tod uns gebracht hat! Ein Wandel durch den Geist ist ein Wandel "in Neuheit des Lebens", der notwendigerweise nicht mehr das verabscheuungs­würdige Bild des natürlichen Menschen, das "eitler Ehre Geizigsein, das einander Herausfordern, einander Benei­den" (V. 26) ans Licht treten läßt, sondern das Bild des "Sanftmütigen und von Herzen Demütigen" in uns ge­staltet. Der Geist ist allezeit bemüht, Christum vor un­sere Augen zu stellen, und lassen wir Seinem Wirken Raum, leben wir praktisch durch Ihn, so werden wir nicht uns selbst zu gefallen suchen, sondern nach dem Vorrecht streben, in einem Leben des Gehorsams und der Abhän­gigkeit von Gott Christum zu verherrlichen.

Noch einmal denn: "Wenn wir durch den Geist leben, so laßt uns auch durch den Geist wandeln!" Ist das erste von uns wahr, und es ist, Gott sei gepriesen! wahr, dann sollte auch das zweite immer mehr bei uns zur Wahrheit werden.

Kapitel 6 Vers 1‑10

Ähnlich so wie der Apostel am Ende des Römerbriefes (Kap. 15, 1‑3) die "Starken" ermahnt, die Schwach­heiten der Schwachen zu tragen und nicht sich selbst zu gefallen, wendet er sich hier an die Herzen und Gewis­sen der "Geistlichen", um sie an ihre Liebespflicht den Geschwistern gegenüber zu erinnern. Daß er mit dem Wort "Geistliche" nicht eine besondere Klasse von Per­sonen unter den Galatern meint, so wie man in der heu­tigen Christenheit von "Geistlichen" im Gegensatz zu der Gemeinde, den "Laien", zu reden pflegt, bedarf wohl keiner Erwähnung. Die Aufforderung richtet sich an alle: "ihr, die GeistlicheW'. Ob sie alle diese Bezeichnung ver­dienten, darüber mochte ein jeder sich selbst Rechen­schaft geben. Unwillkürlich drängt sich uns immer wieder das Gefühl auf: Wie ernst und erforschend ist doch Got­tes Wort! Fürwahr, es ist "siebenmal gereinigt"! Das zeigt uns der Anfang unseres Kapitels von neuem:

"Brüder! wenn auch ein Mensch von einem Fehltritt übereilt würde, so bringet ihr, die Geistlichen, einen sol­chen wieder zurecht im Geiste der Sanftmut, indem du auf dich selbst siehst, daß nicht auch du versucht wer­dest" (V. 1). "Wenn auch ein Mensch von einem Fehl­tritt übereilt würde! " Es wird also nicht vorausgesetzt, daß der Gläubige sündigt; wenn es aber geschehen, wenn einmal der Fall eintreten sollte, daß ein Mensch ‑ be­achten wir auch dieses Wort: ein Mensch, ein schwaches, zum Fehlen geneigtes Geschöpf ‑ sich vergäße und von einem Fehltritt übereilen ließe, "so bringet'« usw. Es ist ähnlich wie in 1. Joh. 2, 1. Hier wie dort wird nicht angenommen, daß der Gläubige sündigen, Fehltritte be­gehen müsse. Johannes schrieb im Gegenteil an seine Kinder, "auf daß sie nicht sündigten", und Paulus sagt zu seinen Brüdern: "Wandelt im Geiste, und ihr werdet die Lust des Fleisches nicht (in keiner Weise) vollbrin­gen' .

Doch wer sind die "Geistlichen"? Ihrer Stellung und Berufung nach tragen alle aus Gott Geborenen diese Be­zeichnung. Ob aber alle in Wort und Wandel sich prak­tisch als "geistliche Menschen" erweisen, ob sie alle "im Geist wandeln", das ist eine zweite Frage. Sie sollten es alle tun, sollten alle "Geistliche" sein, und das umso­mehr, je länger sie auf dem Wege sind. Aber es ist uns nur zu gut bekannt, daß die Wirklichkeit nicht immer der Voraussetzung oder Erwartung entspricht. "Geist­lich" sein hängt nicht so sehr von dem Maße der geist­lichen Erkenntnis ab, so wichtig und schätzenswert diese ist, als vielmehr von der inneren Herzensstellung, von dem Grade oder Maße, in welchem wir in all unserem Denken, Tun und Lassen durch die belehrende und hei­ligende Kraft des Geistes geleitet werden.

Der Apostel wendet sich also an alle; aber nur die wirklich Geistlichen waren und sind heute imstande, seiner Ermahnung zu folgen, und auch sie wiederum nur in dem Maße des in dieser Beziehung erreichten inneren Wachstums. Wir wollen das nicht vergessen. So heilig die Pflicht und so groß das Vorrecht ist, den Bruder oder die Schwester, die gefehlt haben, wieder zurechtzubrin­gen, bedarf es dazu doch besonderer Gnade. Man sollte meinen, die ältesten Gläubigen wären naturgemäß die zu diesem Dienst besonders Berufenen; aber so wichtig Alter und Erfahrung in dieser wie in mancher anderen Beziehung sein mögen, sie genügen doch nicht allein.

Das untrügliche Kennzeichen eines wirklich geistlichen Christen ist ein "Wandel mit Gott", d. i. ein Leben im Licht, in der gewohnheitlichen Verurteilung des Bösen bei sich selbst, in dem schonungslosen Gericht über das eigene Ich und in der damit notwendig verbundenen Er­kenntnis, daß er zu jedem Schritt der Gnade bedarf, ja, nur durch Gnade leben kann. Wiederum möchte man meinen, daß ein solcher Christ der rücksichtslosteste Be­urteiler und Verurteiler des Bösen in dem anderen wäre. Aber die Erfahrung lehrt, daß das Gegenteil der Fall ist; und es kann nicht anders sein. Gerade das fortwährend geübte Selbstgericht befähigt den Gläubigen, die Fehler des anderen milde zu beurteilen; sollte er, der selbst täglich und stündlich so viel Gnade bedarf und erfährt, nicht auch Gnade üben? Nicht daß er das Böse bei an­deren beschönigte oder entschuldigte; im Gegenteil, es schmerzt ihn tief, es dort zu sehen, weil er weiß, wie der Herr dadurch verunehrt und die beglückende Gemein­schaft der betreffenden Seele mit Gott unmöglich ge­macht wird. Aber seine eigenen Erfahrungen setzen ihn in den Stand, Jin Geiste der Sanftmut" dem anderen zu begegnen und zurechtzuhelfen. Indem er das eigene Ich in seinem Verderben kennen gelernt hat, weiß er, wie sehr er bedarf, auf sich selbst zu sehen, daß nicht auch er versucht werde und falle.

Nachdem wir in den früheren Kapiteln so viel von Gesetz gehört haben und ermahnt worden sind, uns in keinerlei Form unter ein gesetzliches Joch bringen zu lassen, sind wir vielleicht überrascht, im 2. Verse dieses Kapitels dennoch von einem Gesetz zu hören, das wir erfüllen sollen: "Einer trage des anderen Lasten, und also erfüllet das Gesetz des Christus". Der Apostel sagt gleichsam: Ihr redet so viel von Gesetz; wenn ihr denn durchaus ein Gesetz haben wollt, hier ist eins: erfüllt das Gesetz des Christus. Ein Gesetz ist eine Regel, eine Richtschnur für unser Verhalten. Nun, die Regel des ganzes Lebens Christi, das was Ihn auf Erden leitete, war, anderen zu dienen. Er fand Seine Freude darin, ihre Lasten auf sich zu nehmen. Laßt uns es auch so machen! Das Leben bringt neben Versuchungen zur Sün­de auch Schwierigkeiten, Prüfungen, Leiden aller Art mit sich, lauter Dinge, die sich wie eine drückende Last auf Herz und Gemüt, besonders der Schwachen im Glau­ben, legen wollen. Hier gibt es Gelegenheiten in Fülle, unsere Liebe und unsere Bereitwilligkeit zum Dienen zu beweisen. Aber wollen wir es tun, so müssen wir uns bücken und dürfen unsere Schultern nicht schonen. Eine solche Forderung stellte das Gesetz vom Sinai nicht, es war dem Menschen im Fleische gegeben; aber so erfüllt der "geistliche Mens&' das "Gesetz des Christus". Welch ein weites Feld eröffnet sich da für unsere Tätig­keit!

Zur Erfüllung dieses Gesetzes gehört indes, wie schon angedeutet, ein demütiger Sinn, ein unterwürfiges, von der Gesinnung Christi erfülltes Herz. "Denn wenn je­mand meint, etwas zu sein, da er doch nichts ist, so be­trügt er sich selbst" (V. 3). Der religiöse Mensch be­müht sich gern im Dienste anderer, aber demütig, in der Liebe Christi des anderen Lasten zu tragen, das vermag er nicht. Die Liebe, die Gesinnung Christi ist ihm fremd, und anstatt anderer Lasten auf sich zu nehmen, legt er ihnen lieber Lasten auf. So war es zur Zeit des Herrn mit den gesetzeseifrigen Pharisäern und Schriftgelehrten, und so ist es heute mit jeder gesetzlichen oder, was dasselbe bedeutet, jeder menschlichen Religion. Auf diesem Boden stehend, gefällt man sich darin, Almosen zu geben, gute Werke zu tun, seinen Namen an die Spitze der Sammellisten für Arme und Kranke, für Mission in Heimat und Fremde zu setzen; ja, man ist unter Um­ständen bereit, selbst beträchtliche Opfer für die ver­schiedenen Zweige der Werke der Nächstenliebe usw. zu bringen, aber indem man das tut, um die Anerkennung der Menschen zu haben, indem man meint, selbst etwas zu sein, betrügt man sich selbst. Man ist vor Gott nichts, und der vermeintliche Gottesdienst ist eitel. Beachten wir jedoch, daß der Apostel nicht an bloße Bekenner, sondern an wahre Gläubige schreibt, daß also auch sie der Gefahr ausgesetzt sind, von sich selbst etwas zu halten, sich selbst zu suchen. Aber wie häßlich, ja, wie verächtlich ist das! Die Worte des Apostels sind einfach, aber gerade deshalb umso bedeutsamer und wirkungsvoller: "Wer da meint, etwas zu sein, da er doch nichts ist". Möchten sie sich tief in unsere Herzen eingraben!

,Xin jeder aber prüfe sein eigenes Werk, und dann wird er an sich selbst allein und nicht an dem anderen Ruhm haben" (V. 4). Ein weiterer wichtiger Grundsatz! Wenn ich mein eigenes Werk im Lichte Gottes prüfe, wird die Gefahr, mich selbst und mein Tun zu rühmen, nicht groß sein. Ich werde einerseits mein stetes Zukurz­kommen sehen, und anderseits liegt in dem Bewußtsein, irgend etwas für den Herrn tun zu dürfen, für mich Ruhm genug. Aber was taten jene Gesetzeslehrer in Galatien? Nicht genug damit, daß sie sich darin gefielen, selbst Juden zu sein, rühmten sie sich auch derer, die, ihren Belehrungen folgend, sich wieder unter das Joch des Gesetzes beugen ließen. Anstatt die Lasten der an­deren zu tragen, legten sie ihnen Lasten auf! Welch ein Werk! Sie waren in das Feld eines anderen Arbeiters eingedrungen und suchten die Früchte seines Werkes zu zerstören. Wahrlich, sie arbeiteten nicht für den Herrn und Seine Ehre, sondern für sich selbst und ihren eigenen Ruhm.

Wie ganz anders war die Arbeit des Apostels, und wie schön das Ergebnis derselben gewesen! Seelen Chri­sto zugeführt zu haben, das war sein Ruhm. Deshalb konnte er ruhig in die Zukunft blicken und an das Ende von allem denken. "Ein jeder wird seine eigene Last tragen" (V. 5). Wir alle haben es mit Gott zu tun. Ein jeder von uns wird einmal für sich selbst Gott Rechen­schaft geben müssen (Röm. 14, 12). Nicht daß der Gläubige je wieder ins Gericht kommen könnte wegen seiner Sünden, dafür hat Christus ein für allemal auf Golgatha im Gericht gestanden; aber wir werden alle vor den Richterstuhl Gottes gestellt, werden alle einmal offenbar werden, um dann unser ganzes Leben als Gläu­bige in dem Lichte dieses Richterstuhls zu sehen. Dann "wird ein jeder seinen eigenen Lohn empfangen nach seiner eigenen Arbeit" ‑ "einem jeden wird sein Lob werden von Gott" (l. Kor. 3, 8; 4, 5). Dann wird es sich zeigen, wie ein jeder von uns seiner Verantwortlich­keit als Gläubiger, als Christi Diener, entsprochen hat, aber auch, wie alles, was wir für unseren Herrn hienie­den tun konnten, ausschließlich auf Seine Gnade zurück­zuführen ist. 0 wie sollte dieser Gedanke uns anspor­nen, wachsam zu sein, allezeit überströmend in dem Werke des Herrn! Wie sollten wir uns beeifern, Ihm wohlgefällig zu sein bei Seiner Ankunft!

Im nächsten Verse erinnert Paulus die gläubigen Ga­later an eine Pflicht, über die er auch in anderen Brie­fen wiederholt redet, und in deren Erfüllung sie vielleicht lässig gewesen waren: "Wer in dem Worte unterwiesen wird, teile aber von allerlei Gutem dem mit, der ihn un­terweist". Beachten wir, daß das Wörtlein "ihn" im Grundtext nicht steht. Dieser Umstand weist uns viel­leicht darauf hin, daß wir nicht danach fragen sollen, ob wir selbst gerade den Segen des Dienstes empfangen ha­ben; jeder Arbeiter des Herrn, wo er auch arbeiten mag, ist seines Lohnes wert, und es ist das Vorrecht der Gläu­bigen, alle, die der Herr ausgesandt hat, ob in der Nähe oder in der Ferne, in ihrem Werk mit allerlei Gutem zu unterstützen, jenachdem sie es nötig haben mögen, und soweit es möglich ist. Das liebende Auge des Herrn ruht auf allen Seinen Knechten, und kein Liebesdienst, der ihnen geschieht, entgeht diesem Auge. Keiner wird unbelohnt bleiben. Paulus selbst nennt eine Gabe, die er von den Philippern empfangen hatte, einen "duftenden Wohlgeruch, ein angenehmes Opfer, Gott wohlgefällig".

"Irret euch nicht, Gott läßt sich nicht spotten! denn was irgend ein Mensch sät, das wird er auch ernten" (V. 7). Man kann nicht ungestraft sich zum Christentum bekennen, von Gnade reden und doch nach dem Flei­sche wandeln. Der Gott, den wir als Vater anrufen, ist der heilige Gott, "der ohne Ansehen der Person rich­tet nach eines jeden Werk". Wer darf es wagen, Seiner zu spotten, indem er bekennt, ein Kind Gottes zu sein, den Heiligen Geist zu besitzen, und doch seinem eigenen bösen Willen folgt und dem Fleische dient? Die ernsten Folgen können nicht ausbleiben. Wie die Aussaat, so ist die Ernte. Was irgend ein Mensch sät, das muß er ein­ten. "Denn wer für sein eigenes Fleisch sät, wird von dem Fleische Verderben ernten; wer aber für den Geist sät, wird von dem Geiste ewiges Leben ernten" (V. 8). Die heiligen Grundsätze der Regierung Gottes sind un­umstößlich.

Einem ähnlichen Wort begegnen wir in Röm. 8, 13: "Wenn ihr nach dem Fleische lebet, so werdet ihr ster­ben«'. Es ist, genau so wie das hier vorfiegende, an Gliu­bige gerichtet. Von dem Fleische können nur Tod und Verderben geerntet werden. Wenn ein Mensch, der an Christum zu glauben bekennt, die Wege des Fleisches einschlägt, auf das Fleisch sät, so ruft ihm das Wort zu: Das Ende deines Weges ist der Tod, ist das Verderben! Wer in dem Glauben nicht gegründet und fest bleibt, wer sich abbewegen läßt von der Hoffnung des Evan­geliums (Kol. 1, 23), mit anderen Worten, wer auf dem Wege nicht beharrt, sondern wieder zu dem umwendet, was er aufgegeben zu haben bekennt, wird das Ziel nicht erreichen, wird das Ende des Glaubens, die Errettung der Seele (l. Petr. 1, 9), nicht davontragen.

Vielleicht wird der eine oder andere Leser jetzt kopf­schüttelnd fragen: Aber wie soll ich das verstehen? Hängt mein ewiges Heil schließlich also doch von mir, von mei­nem Tun ab? Ist das ewige Leben nicht mehr die freie, unverdiente Gabe Gottes, die keine Macht der Welt oder der Hölle mir rauben kann?

Man sagt in zeitlichen Angelegenheiten mit Recht: Je­des Ding hat seine zwei Seiten. So gibt es auch in den ewigen oder geistlichen Dingen zwei Seiten, eine gött­liche und eine menschliche. Wenn es sich um die göttliche Seite der Errettung handelt, so ist alles vollkommen, für ewig gesichert. Wer oder was könnte eine errettete Seele aus der Hand Gottes rauben? Wer oder was könnte das Werk Christi in Frage stellen oder Sein Opfer unwirk­sam machen? Welche Macht in der Höhe oder in der Tiefe "wird uns zu scheiden vermögen von der Liebe Gottes, die in Christo Jesu ist, unserem Herrn"? Hier gibt es kein "Werid', keinen Zweifel, keine Bedingung. Gott wird Sein Werk vollenden, Seinen Rat ausführen, trotz all unserer Schwachheit und Unvollkommenheit.

Nun aber die menschliche Seite. Wie redet das Wort zu der erretteten Seele? Sagt es ihr: Da du einmal für immer errettet bist, darfst du getrost die Hände in den Schoß legen; wenn auch die Sünde noch in dir wohnt und die Welt um dich her voll von Gefahren und Ver­suchungen ist, beunruhige dich nur nicht, es wird schon alles recht werden? Nein, es sagt im Gegenteil, um nur einiges anzuführen: Wache und bete, daß du nicht in die Versuchung hineinkommest; wandle die Zeit deiner Fremdlingschaft in Furcht; suche deine eigene Seligkeit mit Furcht und Zittern, und: wer überwindet, wird dies ererben, wer ausharrt bis ans Ende, wird errettet wer­den. Viele andere ähnliche Aussprüche könnten noch an­geführt werden, aber diese genügen, um uns zu zeigen, daß wir, obwohl wir errettet sind, doch die volle Selig­keit, die völlige Errettung nach Leib, Seele und Geist, erst am Ende unseres Glaubensweges finden werden, daß ferner, obwohl wir ewiges Leben in dem Sinne, wie Jo­hannes immer wieder von ihm redet, gegenwärtig schon besitzen, doch zugleich auf dem Wege zum ewigen Le­ben sind, und daß alle, die auf den Geist säen, von dem Geiste ewiges Leben ernten werden. Indem sie in Ein­falt und Treue den Willen Gottes hier tun und so durch Gottes Macht mittels des Glaubens bewahrt bleiben, fin­den sie es droben.

Wir wiederholen: Dort wird sich dann auch alles wie­derfinden, was wir während unseres Pilgerlaufes, ge­leitet durch den Geist, zur Ehre unseres Herrn und zum Wohle unserer Mitpilger tun konnten. Nichts wird ver­gessen werden, nichts unbelohnt bleiben. So laßt uns denn "im Gutestun nicht müde werden, denn zu seiner Zeit werden wir ernten, wenn wir nicht ermatten" (V. 9). Wieder ein "WeriW', eine Bedingung, und unser er­neuerter Wille, unser innerer Mensch, sagt ja und Amen dazu. Der treue Gläubige möchte nicht ermatten, sondern benutzt mit Freuden jede Gelegenheit, das Gute zu wir­ken, selbst wenn er mancher Enttäuschung, manchem Un­dank dabei begegnen sollte. Er läßt sich nicht aufhalten, nicht erbittern. Daß seine Liebe sich "am meisten an den Hausgenossen des Glaubens", mit denen ein besonderes Band ihn verbindet, betätigt und betätigen soll, ist selbst­verständlich; aber er geht über den Kreis der Gläubigen hinaus und sucht allen Menschen Gutes zu tun, wie und wo sich Gelegenheit dazu bietet.

Kapitel 6, 11‑18

Paulus schließt seinen Brief mit einem rührenden An­ruf an die Gefühle der Galater: "Sehet, welch einen lan­gen Brief ich euch geschrieben habe mit eigener Hand!" (V. 11). Bei der Betrachtung des 4. Kapitels erinnerten wir uns schon daran, daß es nicht die Gewohnheit des Apostels war, seine Briefe selbst zu schreiben; wir sagten uns auch, daß wohl ein Augenleiden die Ursache dieser Erscheinung gewesen ist. Abgesehen davon ist es aber von Wichtigkeit, daß Paulus keinen seiner inspirierten Briefe hinausgesandt hat, ohne ihn durch einen eigen­händig geschriebenen Gruß oder durch seine Namensun­terschrift als von ihm kommend bestätigt zu haben. Es waren keine gewöhnlichen Briefe, wie Menschen sie an andere Menschen senden, und wie er sie hie und da selbst oder durch andere geschrieben haben mag, sondern Kund­gebungen Gottes, Mitteilungen Seines Geistes durch ihn an einzelne Personen oder ganze Versammlungen, mit einem Wort, Offenbarungen Gottes an Seine Kinder und an Sein Volk ‑ "heilige, von Gott eingegebene Schrif­ten". Die Wichtigkeit dieser Beglaubigung ist in die Au­gen fallend; der Apostel hebt sie aber noch ganz beson­ders am Schluß des 2. Thessalonicherbriefes hervor, wenn er sagt: "Der Gruß mit meiner, des Paulus Hand, wel­ches das Zeichen in jedem Briefe ist; so schreibe ich" (Vergl. auch 1. Kor. 16, 21). In dem Briefe an die R:6­mer nennt, beiläufig bemerkt, auch der damals von Pau­lus benutzte Schreiber seinen Namen: "Ich, Tertius, der ich den Brief geschrieben habe usw." (Kap. 16, 22).

Der Brief an die Galater ist also als einziger von Pau­lus mit eigener Hand geschrieben worden; zugleich macht der Schreiber die Empfänger darauf aufmerksam, welch einen langen Brief ‑ oder, wie es auch übersetzt werden kann, "mit welch großen Buchstaben" ‑ er ihnen ge­schrieben habe. Der Brief ist aber, im Vergleich mit man­chen anderen, eher kurz als lang zu nennen. Wie man deshalb die Stelle übersetzen mag, sie weist jedenfalls darauf hin, daß das Schreiben des Briefes dem Apostel besondere Schwierigkeiten bereitet hat. Aber seine Sorge um die Versammlungen von Galatien war so groß, die Gefahr, daß die Grundpfeiler der Wahrheit umgerissen werden könnten, stand so drohend vor ihm, daß er keine Mühe scheute, um die Galater in eindringlichster Weise zu warnen. Er mußte ihnen diesen langen Brief schrei­ben, und er selbst mußte es tun. Wie war dieser Umstand geeignet, "die lautere Gesinnung in ihnen aufzuwecken" und, wenn irgend noch Gefühle der Liebe in ihren Her­zen vorhanden waren ‑ und sie waren gewiß noch da‑, diese aufs tiefste zu erregen, ihr ganzes Inneres zu er­schüttem!

In welch einem Gegensatz zu dieser Liebe und Treue stand die Gesinnung der falschen Lehrer! "So viele im Fleische wohl angesehen sein wollen, die nötigen euch, beschnitten zu werden, nur auf daß sie nicht um des Kreuzes Christi willen verfolgt werden" (V. 12). Ach! die Gefahr, im Fleische wohl angesehen sein zu wollen, die Anerkennung der Menschen zu suchen, ist von jeher groß gewesen. Wie bald ist gerade auf diesem Wege das Verderben in die Kirche Christi eingedrungen, und wie furchtbar sind die Folgen davon gewesen! Wir erblicken sie in ihrem erschreckenden Vollmaß in der großen Hure, der abtrünnigen Kirche, in "Babylon", dem satanischen Zerrbilde der wahren Kirche, des Weibes des Lammes (Offbg. 17). Christus, unser Herr, fand Seinen Platz "außerhalb des Lagers", und an Seine treuen Nachfolger ergeht die Aufforderung: "Gehet aus ihr (Babylon) hinaus!" oder: "Laßt uns zu Ihm hinausgehen Seine Schmach tragend!" (Offbg. 18, 4; Hebr. 13, 13).

Aber jene jüdischen Lehrer fürchteten diese Schmach, sie wollten nicht um des Namens Christi willen als "Aus­kehricht der Welt" betrachtet werden. Das war im tief­sten Grunde die Ursache, weshalb sie die Galater nötig­ten, sich beschneiden zu lassen. Es war diesen wohl nie in den Sinn gekommen, in jenen anscheinend so eif­rigen Männern die leidensscheuen Anhänger einer Reli­gion zu erblicken, die von der Welt anerkannt und ge­achtet wird; an so etwas hatten sie nicht gedacht. Und doch war es so. Ein Jude zu sein, in Verbindung zu ste­hen mit Jetusalern, dem großen Mittelpunkt einer durch ehrwürdiges Alter ausgezeichneten Religion, mit einem prächtigen, von Weihgeschenken aller Art geschmückten Tempel, auf dessen herrliche Gebäude selbst die jünger den Herrn aufmerksam machten (Mark. 13, 1; Luk. 21, 5) ‑ das war keine Schande, trug keine Verfolgungen seitens der Menschen ein. Aber die Nachfolger eines Menschen zu werden, der am Kreuze Sein Leben beendet hatte, dem von seiten Seiner Mitmenschen der Platz zwischen zwei Räubern gegeben worden war, zu predi­gen, daß in diesem Gekreuzigten allein Heil und Rettung zu finden sei ‑ das war etwas, das den Widerspruch und die Verachtung der ganzen ehrbaren Welt wachrief. Demgegenüber war das Judentum, eine Religion, die dem Menschen und seinem Tun, mit einem Wort, dem Fleische Raum ließ, geradezu Weisheit.

Das Kreuz ist der ernste Scheidepunkt zwischen der alten und der neuen Schöpfung, zwischen dem Fleische und dem Geiste. Es spricht das Todesurteil über den Menschen im Fleische, ob religiös oder irreligiös, ehrbar oder unehrbar; es versetzt seiner vermeintlichen Fröm­migkeit den Todesstoß und zeigt ihm seine ganze Hilf­losigkeit und Nacktheit vor Gott. Es hätte deshalb für den Heiden keine größere Torheit, für den Juden kein größeres Ärgernis geben können als das Kreuz. Indem es einerseits alle Weltweisheit zuschanden machte, nahm es anderseits dem auf seine äußere Verbindung mit Gott, auf das Gesetz und die Väter stolzen Juden jeden Vor­zug; ihn beleidigte es noch weit mehr als den Heiden.

Das Kreuz bildet naturgemäß auch die scharfe Grenze zwischen der Welt in jeder ihrer Formen und den Men­schen, die der neuen Schöpfung angehören. An ihm ist der Fürst der Welt zunichte gemacht worden, an ihm über die Welt selbst ein schonungsloses Gericht ergan­gen. Es verurteilt nicht nur die Sünde in dem Menschen, sondern auch alles, worin er sich gefällt und seine Ehre sucht. Wir hörten schon, daß der religiöse Mensch gern Opfer bringt, selbst Opfer, die ihm schwer fallen; er ist unter Umständen sogar bereit, sein Leben für seine über­zeugung zu lassen, wenn nur er es ist, der das tut. Es gibt nichts Schmerzlicheres für ihn, als die Erkenntnis, daß er zu nichts Gutem tauglich ist, daß er nur durch Gnade errettet werden und leben kann. Und das ist ge­rade die Bedeutung des Kreuzes. Was dem Gläubigen so über alles wertvoll und kostbar ist, daß nämlich in dem Tode Christi der alte Mensch mit Stumpf und Stiel gerichtet wurde und so für immer zu seinem Ende kam, kann und will der Mensch nicht annehmen. Einen Gottes­dienst, bei welchem es für ihn keinerlei Ruhm gibt, der ihm vielmehr Leiden und Schmach bringt, haßt er.

Um des Kreuzes Christi willen verfolgt werden, das wollten, wie gesagt, auch jene Verführer nicht. Darum nötigten sie die Galater, die Beschneidung mit dem Kreu­ze zu verbinden. ja, ihre Beweggründe waren noch niedri­gerer Art. "Denn auch sie, die beschnitten sind, beob­achten selbst das Gesetz nicht, sondern sie wollen, daß ihr beschnitten werdet, auf daß sie sich eures Fleisches rühmen" (V. 13). Wieder werden wir an ein Wort er­innert, das der Herr einst den Schriftgelehrten und Pha­risäern Jerusalems zurief: "Wehe euch, Schriftgelehrte und Pharisäer, Heuchler! denn ihr durchziehet das Meer und das Trockene, um einen Proselyten zu machen" (Matth. 23, 15). So war es auch mit diesen Leuten. Sie wollten sich des Fleisches der Galater rühmen, sie woll­ten sagen können, daß sie so und so viele Proselyten ge­macht, so und so viele Menschen zu ihrer Überzeugung oder ihrer Religion bekehrt hätten; und dabei dachten sie gar nicht daran, das ganze Gesetz zu halten. Die Beobachtung der Beschneidung sollte nur dazu dienen, die Schmach des Kreuzes von ihnen abzuwenden. Welch eine Ungereimtheit! Aber erleben wir nicht auch heute oft genug Ähnliches, wenngleich unter veränderten Formen?

Und nun der Apostel! "Von mir aber", sagt er, "sei es ferne, mich zu rühmen, als nur des Kreuzes unseres Herrn Jesus Christus, durch welchen mir die Welt ge­kreuzigt ist, und ich der Welt" (V. 14). Wenn jene Ver­führer einen Weg suchten, aus welchem sie den Leiden entgehen und schließlich die Welt in die Kirche Christi einführen konnten, rühmte er sich in dem, was ihn für immer von der Welt und die Welt von ihm trennte. Hat er früher davon gesprochen, daß das Kreuz den Gläubi­gen von dem Joche des Gesetzes und der Herrschaft der Sünde befreit hat, hier nennt er es die unverrückbare Scheidewand zwischen ihm und der Welt. Es hat ans Licht gebracht, daß es in der Welt, auch in der ehrbaren und religiösen Welt, trotz ihres schönen Scheines, nichts gibt als nur Eitelkeit und Sünde, Schuld und Empörung gegen Gott, hat aber anderseits auch gezeigt, was Gott ist in Seiner Gerechtigkeit wider die Sünde und in Sei­ner Liebe zu dem Sünder. Zugleich erblickt das Auge des Glaubens dort Jesum, den Menschen Gottes, in Sei­ner Demut und Gnade, in Seinem Gehorsam gegen Gott und in Seiner vollkommenen Widmung für Gott und das Ihm übertragene Werk. Und diesen Jesus, den die Welt ans Kreuz geschlagen, hatte Paulus auf dem Wege nach Damaskus als den Herrn der Herrlichkeit gesehen! Ist es ein Wunder, daß er seitdem die Welt nur noch in dem Lichte des Kreuzes sah? Der dort gehangen hatte war ..Sein Herr Jesus Christus", war alles für ihn, die Welt nichts, ja, weniger als nichts. Sie war ihm gekreuzigt, tot für ihn, und er für sie. Er lebte zwar noch in ihr, aber nur um als ein himmlischer Fremdling sie zu durchschrei­ten und sich des Kreuzes zu rühmen, das ihn von ihr ge­trennt und ihn auf den Pfad gestellt hatte, welchen sein Herr und Heiland ihm vorangegangen war. Gesinnt zu sein, wie Er gesinnt war, zu wandeln, wie Er gewandelt hatte, außerhalb des Lagers Seine Schmach zu tragen, auf Ihn zu warten und, fern von jeder Gemeinschaft mit der Welt, ihr zu bezeugen, daß Gott sie trotz ihrer tödlichen Feindschaft so geliebt habe, daß Er Seinen eingeborenen Sohn gegeben, auf daß jeder, der an Ihn glaube, ewiges Leben habe ‑ das war es, was Herz und Sinn dieses Mannes ausfüllte, das war sein Leben.

Mit Christo gekreuzigt, lebte nicht mehr er, sondern Christus lebte in ihm, und was er noch lebte im Fleische, lebte er durch den Glauben an den Sohn Gottes, der ihn geliebt und sich selbst für ihn hingegeben hatte (Kap. 2, 20). Glücklicher, beneidenswerter Mann! Glücklich auch ein jeder von uns, der heute seinem Beispiel folgt, in einer Zeit, wo die Neigung groß ist, der Welt in reli­giöser, gesellschaftlicher und politischer Beziehung immer mehr Zugeständnisse zu machen!

"Denn weder Beschneidung noch Vorhaut ist etwas, sondern eine neue Schöpfung" (V. 15). Noch einmal kommt der Apostel hier auf die oft betonte Tatsache zurück, daß vor Gott Beschneidung und Nichtbeschnei­dung völlig wertlos sind; sie haben in der neuen Schöp­fung, in welche wir versetzt sind, in der Tat jede Bedeu­tung verloren. Hier wird alles von einem ganz anderen Gesichtspunkt aus betrachtet und nach einem ganz neuen Maßstab gewertet.

"Und so viele nach dieser Richtschnur wandeln wer­den ‑ Friede über sie und Barmherzigkeit, und über den Israel Gottes!" (V. 16). Die Richtschnur, von welcher der Apostel redet, ist wohl die Richtschnur der neuen Schöpfung, in welcher der Mensch eben nichts ist, aber Christus alles. Allen, die nach dieser Richtschnur wandel­ten, ob sie nun beschnitten oder nicht beschnitten waren, wünscht er Frieden und Barmherzigkeit, Frieden des Herzens und Barmherzigkeit von seiten Gottes. Beides wird denen, die Christo Jesu gemäß wandeln, auf ihrem Wege nicht fehlen. In ihrem Innern herrscht der Friede, und Gott schaut mit väterlichem Erbarmen auf sie herab.

Der Zusatz "und über den Israel Gottes" bedarf noch einer kurzen Erklärung. Er ist am Schlusse gerade dieses Briefes besonders bedeutsam. Am Ende des 2. Kapitels des Briefes an die Römer sagt Paulus, daß nur der ein Jude nach Gottes Gedanken sei, der es innerlich ist, und daß die wahre Beschneidung die des Herzens ist, im Geiste, nicht im Buchstaben. Gott will Wirklichkeit ha­ben, alles Äußerliche ist wertlos vor Ihm. Wer denn von Israel diese Herzensbeschneidung empfangen hatte und sich mit dem Apostel des Kreuzes Christi rühmte, der gehörte zu dem Israel Gottes, dem wirklichen Israel, das nur aus solchen bestand, die durch den Glauben mit Christo in wahre, innere Lebensverbindung gekommen waren. In weiterem Sinne gehörten zu diesem Israel Got­tes aber auch alle anderen Gläubigen, soweit ihr Wan­deln nach der Richtschnur der neuen Schöpfung die Echt­heit ihres Glaubens bewies.

An den Segenswunsch über sie knüpft der Apostel dann die Aufforderung: "Hinfort (od. übrigens) mache mir keiner Mühe, denn ich trage die Malzeichen des Herrn Jesus an meinem Leibe" (V. 17). Wie wir schon in der Einleitung zu unserem Briefe bemerkten, hatten die bösen Lehrer Angriffe auf die Person und das Amt des Apostels gemacht, und anstatt dieselben mit Ent­rüstung zurückzuweisen, hatten die Galater ihnen ihr Ohr geliehen. Viel Mühe war dem treuen Manne daraus erwachsen. Und doch trug er, allen sichtbar, die Malzei­chen des Herrn Jesus an seinem Leibe. Es ist bekannt, daß in jenen alten Zeiten den Sklaven die Anfangsbuch­staben des Namens ihrer Herren oder ein anderes, den Besitzer andeutendes l~Ial mit glühenden Eisen aufge­brannt wurden. So trug auch er gleichsam die Anfangs­buchstaben des Namens seines Herrn an seinem Leibe umher. Ach, wie oft war er im Dienste Jesu eingekerkert, gegeißelt, mit blutigen Striemen bedeckt, selbst gesteinigt worden; welch überschwengliche Mühen und Leiden hat­te er erduldet, die ihre Spuren an seinem Körper zurück­gelassen hatten! Wenn einer sich als treuer Diener Christi erwiesen hatte, dann war er es gewesen. Darum sollte niemand fortan sein Recht, sich so zu nennen, in Zweifel ziehen.

Welch eine Verurteilung der Galater und besonders jener Leute, die ihre eigene Ehre suchten und allen Lei­den so sorglich aus dem Wege gingen! Und anderseits welch rührende Verteidigung eines liebenden, tiefver­wundeten Herzens! Wieviel Anlaß hatte dieser Mann den Gläubigen in Galatien gegeben, ihm dankbar zu sein,

..Sich seiner zu rühmeW'! Und was hatten sie statt dessen getan!

Es ist darum begreiflich, daß die Schlußworte des Briefes, so lieblich sie sind, doch der Wärme entbehren, wie wir sie in anderen Briefen finden. "Die Gnade un­seres Herrn Jesus Christus sei mit eurem Geiste, Brü­der! Amen." Das ist alles. Die Galater waren errettet und deshalb dein Herrn teuer, wie schwach auch ihr prak­tischer Zustand sein mochte. Die Liebe konnte deshalb nicht anders, als sie der Gnade dieses Herrn befehlen. Wir hören kein strenges Wort, keine Strafandrohung, aber auch keine Äußerung warmer, aus der Tiefe des Herzens hervorquellender Gefühle. Grüße der Liebe an einzelne Brüder oder Schwestern suchen wir ebenfalls vergeblich. Der Schreiber fühlt sich offenbar in seinem Innern gehemmt. Welche innigen Beziehungen hätte er auch mit solchen haben können, die das Kreuz Christi zunichte machten oder doch zunichte machen ließen, die den Boden der Gnade verlassen hatten? Er liebte sie und erfüllt hier eine Liebespflicht, aber auch nicht mehr als das. Es war die Schuld der Galater, daß es so stand, und es war nötig, daß sie das fühlten. 0 wie schlimm hatte der Sauerteig schon in ihrer Mitte gewirkt! Würden sie es verstehen? Der Apostel hofft es in der Liebe, die alles erträgt, alles hofft, und so empfiehlt er sie der Gnade des Herrn, der hier allein Wandel schaffen konnte. "Im Herrn" hatte er noch Vertrauen zu ihnen, aber auch nur in Ihm.

Dieser Herr erwärme in Seiner Gnade auch unser aller Herzen und mache uns mehr zu Nachahmern Seines treuen Dieners!

Zum Schluß unserer Betrachtung sei noch einmal kurz an den Charakter des Galaterbriefes erinnert. Er macht uns nicht mit dem eigentlichen Stande des Christen: er in Christo (Epheserbrief) und Christus in ihm (Ko­losserbrief), bekannt, sondern stellt Christum, den Ge­kreuzigten, und die Folgen Seines Todes vor unsere Blicke, d. h. Christum als jetzt lebend in uns im Gegen­satz zu dem Fleische oder zu dem noch im Fleische leben­den Ich. Ferner zeigt er uns den für den Gläubigen allein richtigen praktischen Zustand: da er mit Christo gekreu­zigt ist, lebt nicht mehr er, sondern Christus lebt in ihm. Das Gesetz, das zwischen der Verheißung, die einst dem Abraham und seinem Samen gegeben wurde, und der Er. füllung derselben in dem Kommen Christi nebeneinge­kommen und für den Menschen im Fleische bestimmt war, hatte diesem nur Tod und Verdammnis gebracht. Jede Rückkehr zum Gesetz war also ein Aufgeben nicht nur der Verheißung, sondern auch des von Christo voll­brachten Werkes und ein Zurückkehren zum Fleische, als wenn es in ihm noch einen Anknüpfungspunkt mit Gott geben könnte. Es war deshalb im Grunde nichts an­deres als Heidentum. Der Mensch im Fleische hat jede Verbindung mit Gott verloren, und keine kann wieder angeknüpft werden, es sei denn auf dem Boden einer völlig neuen Schöpfung.

Es braucht kaum gesagt zu werden, daß alles das un­serem Brief eine besondere Bedeutung gibt und ihm ei­nen außergewöhnlichen Wert für uns verleiht.