2. Tim. 4,5 Du aber sei nüchern in allem BdH 1881

07/24/2023
von Christ-und-Buch Günter Arhelger

Paulus stand am Ende seiner Laufbahn hienieden, als er Timotheus, sein „geliebtes Kind im Glauben“, ermahnte: „Du aber sei nüchtern in allem, leide Trübsal, tue das Werk eines Evangelisten, vollführe deinen Dienst; denn“, fügt er hinzu, „ich werde schon zum Opfer gesprengt, und die Zeit meines Abscheidens ist vorhanden usw.“ Der ganze Weg mit all seinen mannigfachen und oft so harten Prüfungen lag hinter ihm; er hatte den guten Kampf gekämpft und den Glauben bewahrt; allein im Blick auf das Werk, das er zurückließ – im Blick auf die Kirche oder Versammlung hienieden, war sein Herz tief gebeugt und bekümmert. 

Die Zeichen des Verfalls traten schon überall deutlich hervor. Die Kirche hatte angefangen, einem großen Haus zu gleichen, worin es Gefäße der Ehre und der Unehre gibt; und es war nötig, um „ein Gefäß der Ehre, geheiligt und dem Hausherrn nützlich, zu allem guten Werke bereitet zu sein“, sich von den Gefäßen der Unehre zu reinigen, d. h. sich in allem von ihnen abzusondern, wodurch der Herr verunehrt und der Heilige Geist betrübt wird. Der erste Schritt auf dem Weg der Wahrheit ist die Trennung vom Bösen. „Wer den Namen des Herrn anruft, stehe ab von der Ungerechtigkeit“; und dann heißt es: „Strebe aber nach Gerechtigkeit, Glaube, Liebe, Frieden mit denen, die den Herrn anrufen aus reinem Herzen“ (2. Tim 2,19–22). Das ist der gute und gesegnete Weg zu jeder Zeit, also auch in der gegenwärtigen, bis der Herr kommt. Der treue und einsichtsvolle Christ wandelt auf demselben und verherrlicht den Namen des Herrn durch Gehorsam und Abhängigkeit. Es ist der Weg der Wahrheit, auf dem der Gott des Friedens die Seinen begleiten und segnen kann.

In der gegenwärtigen Zeit ist der Heilige Geist in ganz besonderer Weise wirksam, die Heiligen auf diesen gesegneten Pfad der Wahrheit zurückzuführen. In der bekennenden Christenheit werden noch viele Wahrheiten der Schrift festgehalten, aber die Wahrheit als solche wird nur von wenigen erkannt und aufrecht gehalten. Schon die Tatsache, dass es hunderte von Parteien, große und kleine, in der Christenheit gibt, in welchen die Gläubigen, die Glieder Christi, gefunden werden, zeigt zu deutlich, wie sehr man von der Wahrheit abgewichen ist. Wir sehen schon zur Zeit der Apostel in Korinth, dass es die Absicht des Feindes war, in der Versammlung Parteiungen hervorzurufen. 

Da hieß es: „Ich bin des Paulus, ich aber des Apollos, ich aber des Kephas, ich aber Christi“ (1. Kor 1,12); und ach! bis zu welch einer Ausdehnung und Mannigfaltigkeit ist ihm in unseren Tagen diese Zersplitterung gelungen! Ungeistliche Christen mögen es gutheißen und darin einen Gewinn für die Wahrheit erblicken, indem, wie sie sagen, die eine Partei diesen, die Andere jenen Teil derselben hervorhebe und so der Einseitigkeit gesteuert werde. Der Heilige Geist aber nennt es in 1. Korinther 3 fleischlich und menschlich (V 3–4). An einer anderen Stelle erklärt der Apostel, dass die Parteiungen nötig seien, damit die Bewährten offenbar würden (1. Kor 11,19); allein auch dieses gesegnete Resultat wird leider in unseren Tagen nur bei wenigen erreicht, weil man sich zu lange an das Schlechte gewöhnt hat und der Sinn für die Wahrheit zu sehr abgestumpft ist. Die Meisten halten fest an ihrer Partei, die sich entweder durch Größe, Alter und Ansehen, oder durch gewisse Wahrheiten von den übrigen unterscheidet. 

Das Wort Gottes kommt dabei wenig in Frage; es hat bei vielen, namentlich in diesem Punkt, seine Kraft und Autorität über das Herz und das Gewissen mehr oder weniger eingebüßt. Der Heilige Geist aber wirkt und ist, wie gesagt, in ganz besonderer Weise bemüht, die Heiligen zur Wahrheit zurückzuführen. Wir leben in einer Zeit großer Gnade und großer Verantwortlichkeit. Die Ankunft des Herrn ist nahe gerückt; der glänzende Morgenstern hat sich angekündigt. „Der Geist und die Braut sagen: Komm! Und wer es hört, spreche: Komm!“ (Off 22,17) Dieser Ruf ist durch den Geist bereits in den Herzen vieler Gläubigen erweckt worden, und ihre Zahl wächst von Tag zu Tage.

Der Herr ist nahe, und für den, der Ihn liebt und sich nach seiner Ankunft sehnt, wird es eine ernste Frage sein: „Wo findet Er mich, wenn Er kommt? Wandle ich gemäß der Wahrheit, in Abhängigkeit und Gehorsam, oder gemäß des Fleisches, in Eigenwillen und Ungehorsam? Ist sein Wort meines Fußes Leuchte, oder gehe ich in dieser oder jener Sache nach meinen eigenen Gedanken und menschlichen Meinungen einher?“ Als der Herr dem Jakob gebot, nach Bethel zu ziehen, wo Er ihm früher erschienen war, sprach dieser „zu seinem Haus und zu allen, die bei ihm waren: Tut hinweg die fremden Götter, die unter euch sind, und reinigt euch und wechselt eure Kleider“ (1. Mo 35,1–2). 

Das Gefühl der Heiligkeit Gottes trieb ihn an, alles zu entfernen, was nicht in seine Gegenwart passte. Unmöglich kann jemand den Herrn wirklich lieben und sich nach seiner Ankunft sehnen, noch ein wahres Gefühl von seiner Heiligkeit haben, wenn er in Dingen beharrt und vorangeht, die Ihm missfallen – wenn er nicht bereit ist, in allem seinen wohlgefälligen Willen zu erforschen und zu tun. Ja, je inniger und tiefer die Liebe zu Ihm ist, desto größer wird die Bereitwilligkeit und die Freude sein, Ihm zu leben und zu dienen, jeden bösen Weg zu verlassen und in allem Guten zu wandeln.

Der ergebene, geistlich gesinnte Christ kennt keinen höheren Zweck seines Lebens hienieden, als den, in allem den Namen seines geliebten Herrn zu verherrlichen; und darum wird er sich von allem absondern, was den Herrn verunehrt, und zu dem zurückkehren, was „von Anfang“ war – zu den heiligen Schriften, wie sie uns durch die inspirierten Schreiber mitgeteilt worden sind. Sobald die Abweichung von der Wahrheit begonnen hatte, ermahnt der Apostel Johannes: „Ihr, was ihr von Anfang gehört habt, bleibe in euch. Wenn in euch bleibt, was ihr von Anfang gehört habt, so werdet auch ihr in dem Sohn und in dem Vater bleiben“ (1. Joh 2,24). 

Es ist der unveränderliche Wille Gottes, dass alle die Seinen zu jeder Zeit an dem festhalten, was Er ihnen beim Beginn des Christentums durch seine Apostel und Propheten mitgeteilt hat. Wenn wir irgendwie davon abweichen, so geben wir Zeugnis von unserem Mangel an Unterwürfigkeit und Gehorsam gegen Ihn. Ein jeder aber, der sich mit willigem Herzen dem Wort Gottes unterwirft, findet das, was ihm als ein Gefäß der Ehre geziemt und ihn für den Herrn passend macht, klar und bestimmt vorgezeichnet. Er hat sich von den Gefäßen der Unehre zu reinigen, von allem Bösen abzusondern und mit denen, die den Herrn aus reinem Herzen anrufen, allem Guten nachzustreben.

Der Herr, der in seiner Treue gegen die seinigen nie fehlt, hat dafür gesorgt, dass sie auch während der Verweltlichung und des Verfalls der Kirche die gesegneten Vorrechte derselben genießen können. Seine tröstliche zusage: „Wo zwei oder drei versammelt sind in meinem Namen, da bin ich in ihrer Mitte“ (Mt 18,20), bleibt zu jeder Zeit in Kraft, und seine Gegenwart vermag alles zu ersetzen. Das Bewusstsein, Jesus in unserer Mitte zu haben – hienieden im Geist und droben persönlich – erfüllt das unterwürfige Herz mit Freude und Wonne. In seinem Namen sich zu versammeln, sei es auch nur zu zweien oder zu dreien, seinen Tod zu verkündigen, sich aus seinem Wort zu erbauen und in gemeinschaftlichem Gebet zu verharren, bleibt stets das gesegnete Vorrecht aller derer, die sich seinem Wort unterwerfen. Das ist der Weg, den der Herr uns anweist inmitten des Verfalls – der Weg, den Er gutheißt und auf dem Er uns segnen will. 

Deshalb ist es die Pflicht und das Vorrecht eines jeden Gläubigen, seinen Platz da einzunehmen, wo zwei, drei oder mehrere im Namen Jesu versammelt sind. In dieser Weise kehrt er zu dem zurück und hält an dem fest, was „von Anfang“ war, und so kann er völlig auf die wirksame Gnade dessen vertrauen, der gegenwärtig ist, und der seine Versammlung nie vergessen, noch versäumen kann. Apostel und Propheten berufen und einsetzen, wie dies durch eine Partei in der bekennenden Christenheit geschieht, heißt nicht zu dem zurückkehren, was „im Anfang“ war; denn dergleichen hat die Kirche oder Versammlung nie getan, auch nicht im Anfang, und das Wort Gottes gibt nicht die geringste Anleitung oder Anweisung dazu. Es ist ein schrecklicher Eingriff in die Rechte Gottes; und wenn man vorgibt, solches unter der Leitung des Geistes zu tun, so kann dies nur ein falscher Geist, unmöglich aber der Heilige Geist sein. Gott allein berief die Apostel und Propheten (vgl. Gal 1,1) und bezeichnete sie als die Grundlage des göttlichen Baus, von dem Jesus Christus selbst der Eckstein ist (Eph 2,20–22). Durch sie ist das Wort Gottes vollendet worden (Kol 1,25). 

Alles, was Gott der Kirche durch sie offenbaren und mitteilen wollte, ist vorhanden, und nirgendwo in der Schrift finden wir die geringste Andeutung von ihrer Fortdauer. Lehrer, Hirten und Evangelisten berufen und einsetzen, ist ebenso wenig ein Festhalten an dem, was „von Anfang“ war, denn die Kirche oder Versammlung hat dies im Anfang, zur Zeit der Apostel, nicht getan. Es ist vielmehr ein Zeichen des Verfalls und der menschlichen Anmaßung. Wenn auch diese Gaben, sei es zur Auferbauung der Versammlung oder zur Bekehrung des Sünders, bis ans Ende bleiben werden, so ist es doch der Herr, der sie gibt (vgl. Eph 4,11), und es ist der Heilige Geist, der alles wirkt und „jeglichem insbesondere austeilt, wie Er will“ (1. Kor 12,11). 

Der Mensch hat nichts anderes dabei zu tun, als diese Gaben mit dankbarem Herzen anzuerkennen und zu benutzen. Endlich ist auch das Erwählen und Einsetzen von Ältesten seitens der verschiedenen Parteien nur ein Eingriff in ein fremdes Amt. Hat dies im Anfang irgendeine Versammlung getan, oder ist irgendeine Versammlung damit betraut worden? Nein, sondern es war lediglich die Sache des Apostels und derer, die von ihm dazu autorisiert waren, wie z. B. Titus und vielleicht auch Timotheus. Im Werk des Herrn das zu tun, wozu wir nicht beauftragt sind, ist Vermessenheit, und das nachzuahmen – vielleicht aus Unwissenheit und ohne böse Absicht – was Gott seiner Weisheit und Macht allein vorbehalten hat, heißt in den Fußstapfen des Feindes wandeln; denn Satan hat von jeher Gott alles nachzuahmen gesucht. 

Er hatte seine Apostel und Propheten, und er hat heute noch seine Prediger und Lehrer, und am Ende wird er auch seinen Christus haben. Ach, ein oberflächlicher Blick in die Christenheit genügt, um zu sehen, wie tief die Kirche gefallen, wie sehr sie die Wahrheit verlassen hat und wie weit sie von dem abgewichen ist, was „von Anfang“ war. Und in welch hohem Maß – und das sollte stets unser tiefster Schmerz sein – wird der Herr dadurch verunehrt, der Heilige Geist, der inmitten der Versammlung wohnt, betrübt und bei Seite gesetzt! Die meisten Gläubigen, wenn sie wirklich zur Wahrheit zurückkehren, müssen außer Christus säst alles aufgeben, woran sie bis dahin festgehalten haben.

Der einzig wahre Platz des Jüngers des Herrn ist, nach dem Wort Gottes, inmitten des Verfalls nur da, wo die Gläubigen in seinem Namen versammelt sind und jede Segnung von seiner Gegenwart abhängig machen; und der Heilige Geist ist, wie schon bemerkt, in unseren Tagen ganz besonders bemüht, alle, welche errettet sind, auf diesen gesegneten Pfad zu leiten und ihre Herzen durch die Erwartung der nahen Ankunft des Herrn, sowie durch die Hoffnung der himmlischen Herrlichkeit zu erfreuen und zu beleben. Ja, das ist der Platz, den ein jeder Gläubige mit dem glücklichen Bewusstsein einnehmen kann, dass er nach dem wohlgefälligen Willen Gottes handelt, und dass der Herr selbst jetzt schon inmitten der Versammelten im Geist gegenwärtig ist.

Wenn wir aber nun die Wahrheit erkannt und den Platz, wo der Herr uns segnen will, eingenommen haben, sind wir dann in völlige Sicherheit gebracht und nicht mehr den mannigfachen Versuchungen hienieden ausgesetzt? Gewiss nicht; das nur einen Augenblick zu denken, wäre große Torheit. Die Versammlung zu Philippi war ohne Zweifel in einem guten und wohlgeordneten Zustand; und gerade an diese schreibt der Apostel: „Bewirkt eure eigene Seligkeit mit Furcht und Zittern“ (Kap 2,12). Solange wir hienieden sind, sind wir in einer gefahrvollen und beschwerlichen Wüste, in einer versuchungsreichen Welt, welche Satan zu ihrem Fürsten hat. In uns ist Schwachheit und Sünde, und außer uns das, was durch Schmeichelei oder Feindschaft Einfluss auszuüben vermag. Wir sind auf allen Seiten von Gefahren umgeben, und die gegenwärtige Zeit hat ihre ganz besonderen Versuchungen für den Gläubigen.

Es ist stets zum Segen der Kirche oder Versammlung – wie uns ihre ganze Geschichte zeigt – ausgeschlagen, wenn die Welt als Verfolgerin gegen sie auftrat. Ein solcher Widerstand von außen läutert das Herz und reinigt den Wandel des Christen. Hienieden gehasst und verfolgt, nimmt er seine Zuflucht zu der Gnade und Macht Gottes droben; und vor seinem Angesicht ist zu jeder Zeit, auch inmitten der mannigfachen Prüfungen und Schwierigkeiten, „Freude die Fülle.“ In jenem ungetrübten Licht wird alles nach den Gedanken Gottes gemessen und nach seinem wahren Werte gekannt und beurteilt; alles wird gerichtet, was nicht der Gegenwart Gottes entspricht, und das Herz wird in wahrer Wachsamkeit und Nüchternheit erhalten. In solchen Zeiten der offenbaren Feindschaft und des Drucks von außen wird das Wort Gottes weit mehr erforscht und geschätzt, das Gebet ist anhaltender und brünstiger und das Bedürfnis nach Gemeinschaft fühlbarer. Die Teilnahme des Einen an dem Anderen ist herzlicher, die Liebe lauterer und die gegenseitige Geduld und Tragsamkeit ausharrender; und alles erinnert uns daran, dass wir hienieden nur Pilger und Fremdlinge sind.

Es werden aber ganz andere Erfahrungen gemacht, wenn die Welt sich freundlich gegen uns stellt, wenn sie uns schmeichelt und durch ihre Reize anlockt, wenn sie uns an all ihren Bestrebungen teilnehmen lässt und uns sogar dazu einladet, so wie es in unseren Tagen der Fall ist. Wie leicht kann da das Bewusstsein der Fremdlingschaft verschwinden! Gewiss, solche Zeiten wie die gegenwärtige haben ihre ganz besonderen Gefahren für die Gläubigen. Da ist doppelte Wachsamkeit und Nüchternheit im Gebet nötig, um nicht durch irgendeine der mannigfachen und gefährlichen Strömungen mit fortgerissen zu werden. 

Da gibt es von außen fast nichts, was uns abstoßt und zum Herrn hintreibt; alles ist vielmehr geeignet und geneigt, uns anzuziehen und vom Herrn abzulenken. Zudem hat in diesem allen der Feind seine Hand, der nie etwas anderes im Sinn hat, als die Heiligen Gottes zu verderben. Es schützt uns nicht, dass wir uns zu irgendeiner Zeit vom Bösen abgesondert und der Wahrheit gemäß unseren Platz eingenommen haben, dass wir uns, getrennt von allen Parteien, im Namen Jesu versammeln; wir müssen diese Absonderung und diesen Platz auch der Wahrheit gemäß bewahren und aufrecht halten; und dazu bedürfen wir stets der Wachsamkeit, der Nüchternheit und des anhaltenden Gebets. Sobald wir darin nachlassen, tritt Ohnmacht und Schlaffheit ein; wir kommen wieder mehr unter den Einfluss des Feindes, und der Geist dieser Welt wird sich bald unser bemächtigen. 

Zudem dürfen wir nicht außer Acht lassen, dass viele Gläubige unter denen, die sich im Namen Jesu versammeln, nicht durch Erkenntnis der Wahrheit auf diesen Platz geführt worden sind. Manche haben sich angeschlossen, weil sie dort mehr als anderswo Nahrung für ihre Seele fanden, und andere, weil sie von Jugend auf gewohnt waren, dort das Wort Gottes zu hören. Diese letzteren sind zwar mit der Wahrheit bekannt, aber sie sind ihretwegen noch nie auf die Probe gestellt worden. Werden nun solche Gläubige inmitten der großen Verwirrung das Zeugnis der Wahrheit aufrecht halten? Eins ist gewiss; sie sind für ihr Bekenntnis, sowie für das, was sie hören und wissen, verantwortlich. Der Herr ruft der Versammlung in Philadelphia zu: „Ich komme bald; halte fest, was du hast, auf dass niemand deine Krone nehme“ (Off 3,11).

Es wird leider jetzt schon bei manchen unter denen, die sich auf dem Boden der Wahrheit versammeln, die betrübende Erfahrung gemacht, dass sie in der Wachsamkeit und Nüchternheit nachgelassen, dass sie ihre erste Frische verloren haben. Das Verhalten oder der Wandel des Einen und Anderen zeigt nur zu deutlich, dass Schlaffheit, Trägheit und Weltförmigkeit sich seines Herzens bemächtigt haben. Früher war ihm kein Weg zu weit, kein Wetter zu rau und nichts zu beschwerlich, wenn er Gelegenheit hatte, mit seinen Miterlösten am Tisch des Herrn, oder zur Betrachtung des Wortes, oder zum gemeinschaftlichen Gebet versammelt zu sein; es war ihm stets Erquickung und Freude, und sein Herz war betrübt, wenn er einmal wirklich verhindert war, teilnehmen zu können. Doch wie ist es so ganz anders geworden! Trägheit und Gemächlichkeit haben ihn überwältigt. 

Es ist ihm ein Leichtes, das Zusammenkommen zu versäumen, und selbst das geringste Hindernis ist ihm ein hinreichender Grund, sein öfteres Wegbleiben vor seinem Gewissen und vor anderen zu entschuldigen. In Wirklichkeit hat Christus aufgehört, für ihn der Zweck und das Ziel seines Lebens, die Freude und Wonne seines Herzens zu sein. Für ihn ist das Wort Gottes keine köstliche Speise mehr und das Gebet kein Bedürfnis Er mag einen unermüdlichen Eifer und große Anstrengungen an den Tag legen, wenn es sich um sein Interesse handelt, aber sobald die Sache Gottes in Frage kommt, ist er träge und nachlässig; sein Herz mag sehr belebt sein, wenn weltliche Dinge Gegenstand der Unterhaltung sind, aber sobald es sich um göttliche Dinge handelt, ist er gleichgültig und teilnahmslos. Er mag aus Gewohnheit und der Form nach an dieser und jener Segnung teilnehmen, um sein Gewissen oder sein religiöses Bedürfnis zu befriedigen – vor Gott aber ist dies ohne Wert und ohne Kraft.

So betrübend und demütigend nun auch solche Erscheinungen sind, so ist dies doch – Gott sei Dank! – nicht der allgemeine Zustand derer, die sich im Namen Jesu versammeln. Der Geist Gottes ist wirksam; sie wandeln durchgängig unter einander in Frieden und werden erbaut; das Zeugnis der Wahrheit wird von vielen durch Wort und Schrift mit Eifer verbreitet, und der Herr fährt in Gnade fort, immer mehr Seelen hinzuzufügen. 

Doch dürfen wir unser Auge und unser Herz nicht verschließen vor solchen Erscheinungen, wie sie bei etlichen schon mehr oder weniger zu Tage getreten sind. Sie rufen einem jeden zu: „Du aber, sei nüchtern in allem“; sie zeigen uns, wie viel Ursache wir haben, in Bezug auf uns selbst wachsam und nüchtern zu sein, „angetan mit dem Brustharnisch des Glaubens und der Liebe und mit dem Helm der Hoffnung der Seligkeit“, damit wir nicht auch nach und nach in denselben Zustand versinken; sie fordern uns zum Gebet und Flehen für jene auf, die durch die List des Feindes in dem „guten Kampf“ ermattet sind, ja für alle, die sich in dieser versuchungsreichen Welt in denselben Gefahren befinden; sie ermahnen uns ernstlich, das Zeugnis der Wahrheit unerschütterlich festzuhalten und zu bekennen und an allem, was den Herrn verherrlicht und zum Besten der Seinen ist, stets von Herzen Anteil zu nehmen. 

Es muss den Herrn sicher tief betrüben, wenn solche, die in diesen letzten Tagen vor vielen Tausenden bevorzugt sind – solche, welche die Wahrheit erkennen und welche bekennen, dass sie den Herrn erwarten und sich der Herrlichkeit Gottes rühmen – wenn sogar auch diese aufs Neue die Gnade vernachlässigen und ihre große Verantwortlichkeit nicht beachten. Ach, es bleibt eine Wahrheit, ja, eine höchst traurige Wahrheit, dass zu jeder Zeit alles, was den Händen des Menschen anvertraut wird, dem Verfall entgegengeht. Welch ein armseliges Geschöpf ist doch der Mensch in sich selbst! Aber wie anbetungswürdig ist die Gnade und Liebe Gottes, die in Christus Jesus ein solches Geschöpf zu seiner eigenen Herrlichkeit berufen und fähig gemacht hat!

Alle die Gläubigen nun, die der Heilige Geist in der Jetztzeit aus der Verwirrung herausgeführt und auf den untrüglichen Boden der Wahrheit gestellt hat – alle, die mehr oder weniger ihre Befreiung in Christus, sowie ihre herrlichen und himmlischen Vorrechte kennen, sind dadurch zugleich mit einer hohen und wichtigen Aufgabe betraut worden, nämlich die Wahrheit, „wie sie in dem Jesus ist“, durch Wort und Wandel zu bekennen und inmitten der Verwirrung und des zunehmenden Verfalls aufrecht zu halten. Dieser Platz gegenwärtiger Segnung, in welchen der Heilige Geist sie geführt hat, und das damit verbundene wichtige Zeugnis inmitten des Verfalls stellt alle, die daran Teil haben, unter eine große Verantwortlichkeit. Deshalb ist es umso ernster, die Ermahnungen des Apostels zu beherzigen: „Du aber, sei nüchtern in allem“, und: „Schafft eure eigene Seligkeit mit Furcht und Zittern“, besonders wenn wir an unsere Schwachheit, an die List des Feindes und an die uns umringenden, mannigfachen Gefahren denken.

In der Hoffnung und dem Wunsch, dem christlichen Leser irgendwie nützlich zu sein und ihn zu doppelter Wachsamkeit und Nüchternheit im Gebet anzuspornen, möchte ich noch einen Augenblick bei den traurigen Folgen verweilen, die hie und da in die Erscheinung treten und unausbleiblich sind, sobald wir dem Fleisch Raum geben, in der Wachsamkeit träge werden, das Lesen des Wortes und das Gebet vernachlässigen und das Zusammenkommen versäumen. Ach, wie bald tritt da Erschlaffung ein! Denn der Feind ist stets beschäftigt und benutzt alles, um verderblich auf unsere Seelen einzuwirken. Die Gemeinschaft mit dem Vater und mit Christus Jesus – unser so köstliches Vorrecht schon hienieden – wird immer weniger genossen, der Friede schwindet, die Liebe erkaltet, das Interesse am Werk des Herrn und an den Seinen hört auf, und das Gewissen erschlafft. 

Während die Form der Gottseligkeit beibehalten werden mag, entfernt sich das Herz immer mehr aus der Gegenwart Gottes und sinkt hinab zu seinen eigenen Gedanken und Bewegungen und verliert sich endlich ganz in der Welt. Das ist der ungöttliche Pfad, auf dem sich mehr oder weniger viele Gläubige befinden, und leider auch solche, die sich, wenn auch nicht mehr dem Herzen, so doch der Gewohnheit nach, mit anderen im Namen Jesu versammeln. Das Wort Gottes hat seine Kraft über ihre Gewissen vielfach verloren; die brüderlichen Ermahnungen werden mit allerlei Entschuldigungen und oft mit Bitterkeit zurückgewiesen. Der Genuss an dem einfachen, nüchternen Worte ist nicht mehr vorhanden; zum Hören und Lesen desselben hat man kein Bedürfnis und keine Zeit, oder man langweilt sich und schläft bald ein. Man findet wieder mehr Genuss an schönen, schwungvollen Reden, welche die Sinne aufregen, aber das Gewissen und unsere ernste Verantwortlichkeit vor Gott meist unberührt lassen. In demselben Maße nun wie das Interesse und der Sinn für die Wahrheit abnimmt, verliert das Auge seine Einfalt und das Herz seine Nüchternheit, seine Freude und seine Kraft; ja je weiter man sich vom Herrn entfernt, desto mehr tritt Verblendung und Verhärtung ein. 

Der schmale Pfad, auf dem man einst so glücklich und gesegnet war, ist jetzt zu enge und zu einseitig. Man hält es für wahre Freiheit, ihn weiter und weiter zu machen, bis man endlich wieder da ankommt, von wo man ausgegangen ist. Doch befindet man sich jetzt in einem weit traurigeren Zustand wie damals, als man aus Mangel an Einsicht an Dingen teilnahm, die Gott verunehren. Es ist jetzt nicht mehr Unwissenheit, sondern Untreue und Ungehorsam, und zudem findet man bei einem solchen Zustand nicht selten, dass das, was in den Tagen der Absonderung und der Treue gelernt worden ist, jetzt benutzt wird, um sich über andere zu erheben. Das Gedächtnis hat die Erkenntnis aufbewahrt, die einst das Herz mit Frieden, Freude und Kraft erfüllte, und das, was früher ein Anlass wurde, den Herrn zu preisen und anzubeten, ist jetzt nur ein totes Wissen und wird zur Selbsterhebung und Aufblähung benutzt.

Die Gemeinschaft der Heiligen wird als ein großes Vorrecht betrachtet und mit Freuden gepflegt, solange man in der Gegenwart des Herrn wandelt. Es ist für alle geistlich gesinnten Christen sowohl Bedürfnis als auch Genuss, sich mit einander im Herrn zu erfreuen, einander zu dienen, Leid und Freud mit einander zu teilen, einander zu ermuntern und zu ermahnen. Doch wie verändert sich dies alles, sobald das Herz schlaff und weltförmig geworden ist. In dem Maß, als es gegen den Herrn erkaltet und sich von Ihm entfernt, in demselben Maß erkaltet es gegen die Brüder und entfernt sich von ihnen. Man nimmt wenig Teil an ihrem Wohl und Wehe; man findet kein Interesse an ihren Unterhaltungen über geistliche Dinge. Anstatt der Liebe, die tragsam, friedfertig und langmütig ist, ist Unduldsamkeit, Störrigkeit, Parteisucht und Verurteilung vorhanden. Das ganze Verhalten eines verweltlichten Gläubigen offenbart stets mehr oder weniger die Gesinnung Kains, welcher sagte: „Soll ich meines Bruders Hüter sein?“

Jeder einsichtsvolle Christ wird mit mir überzeugt sein, dass das hier entworfene, traurige Bild von Erlösten, deren Herzen gegen den Herrn erkalten und sich verweltlichen, bei manchem leider! noch weit hinter der Wirklichkeit zurückbleibt. Es sind Erfahrungen, die zu jeder Zeit gemacht worden sind, und ach! auch in unseren Tagen so vielfach gemacht werden; sogar unter denen, die sich großer Gnade und Vorzüge rühmen können – unter denen, die durch die Kraft des Geistes sich von den Gefäßen der Unehre gereinigt und ihren gesegneten Platz erkannt und eingenommen haben – ja unter denen, die da bekennen, dass sie den Herrn erwarten und sich ihrer gesegneten und himmlischen Vorrechte rühmen. Sicher ist es eine höchst betrübende und demütigende Erscheinung. Und deshalb, geliebter Leser, fühle ich mich gedrungen, einige ernste Fragen an dich zu richten, die du dir selbst vor dem Herrn mit aller Aufrichtigkeit beantworten wollest. 

Kannst du sagen, dass der Herr der Zweck und das Ziel deines Lebens, die Freude und Wonne deines Herzens ist, oder haben sichtbare Dinge mehr oder weniger den Ihm allein gebührenden Platz eingenommen? Ist die erste Frische und Freude des inneren Lebens noch vorhanden, oder ist Schlaffheit und Weltlichkeit eingeschlichen und hat deinen Frieden getrübt, den Genuss und die Freude am Herrn, an seinem Wort und am Gebet geschwächt? Ist der Eifer zum Zusammenkommen derselbe geblieben, oder bist du darin säumig und lässig geworden und kannst du ohne ein wirkliches Hindernis wegbleiben? Hast du noch dieselbe Teilnahme am Werk des Herrn, dasselbe Interesse an den Heiligen und Geliebten Gottes, an ihrer Freude und ihrem Leid, oder ist dem Herz erkaltet und gegen dies alles mehr oder weniger verschlossen? 

Das sind ernste und höchst wichtige Fragen, und es ist sicher der Mühe wert, einmal stille zu stehen und sie in der Gegenwart Gottes zu beantworten. Und solltest du auch nur ein wenig in deiner Gesinnung gegen den Herrn, in deinem Eifer für das, was Ihm wohl gefällt, nachgelassen haben, so bitte ich dich im Namen Jesu: gehe keinen Augenblick weiter darin voran, sondern wende dich mit aufrichtigem Bekenntnis und Selbstgericht zu Ihm, und Er wird dir gnädig sein, wird dir vergeben und dich reinigen, und Er wird dir Kraft darreichen, um deinen ferneren Weg, bis Er kommt, zu seiner Verherrlichung zu wandeln. Gedenke doch an die großen Vorzüge, die dir zu Teil geworden, an die göttliche Huld und Gnade, die dir täglich zu Teil werden, und zugleich an deine große Verantwortlichkeit. 

Gedenke, welch großen Schaden du dir selbst bereitest, wenn du in Gleichgültigkeit und einer weltlichen Gesinnung vorangehst, und welch großen Schaden du deinen Miterlösten zufügst, wenn du aufhörst, ihnen zum Nutzen und Segen zu sein, wenn du im Gegenteil jetzt ihre Herzen beschwerst und betrübst. Vor allem aber bedenke, wie sehr du das Wort Gottes und den Namen des Herrn verunehrst – Ihn, der dich so unendlich geliebt hat und liebt, und von dem du weißt, dass Er bald kommt, und dass du dann für immer bei Ihm sein wirst; gedenke endlich, wie sehr du den Heiligen Geist betrübst, mit dem du bis auf den Tag Christi versiegelt worden bist. O erwäge dies alles und kehre um! Der Herr möge dir dazu Gnade und Kraft verleihen!

Es ist zugleich sehr zu beherzigen, dass sich dann, wenn Schlaffheit und Weltförmigkeit oder gar offenbare Sünden in der Mitte derer, die sich im Namen Jesu versammeln, vorhanden sind, alle zu richten und zu demütigen haben. Und dies wird sicher geschehen, wenn die Verherrlichung des Herrn den ersten Platz im Herzen einnimmt, und die Einheit und die priesterliche Stellung der Gläubigen erkannt wird. Sie werden sich vor Gott in Gnade mit der Sünde oder dem traurigen Zustand, der vorhanden ist, eins machen und vor Ihm bekennen und sich verurteilen. In dem Licht seiner Gegenwart wird auch mancher zu der Einsicht kommen, dass er selbst aus Mangel an Wachsamkeit und Treue an dem Übel schuld ist, dass er die Ermahnung des Apostels: „Lasst uns auf einander Acht haben zur Anreizung der Liebe und guter Werke“, nicht genügsam beherzigt hat. Ist das Böse wirklich eingedrungen, sind traurige Zustände vorhanden, so bedarf es der besonderen Weisheit von Oben, der Liebe, Gnade und Geduld, um sich auf eine Gott wohlgefällige Weise damit zu beschäftigen. Wie leicht können wir in der Ausübung der Zucht zu strenge, wie leicht zu nachlässig und zu schlaff sein! 

Wenn in irgendeiner Sache, so bedürfen wir in dieser der Leitung des Geistes; und vor allen solche unter uns, die Einfluss ausüben, die sich im Werk des Herrn bemühen und nach der ihnen verliehenen Gnadengabe für die Herde Christi Sorge zu tragen haben. Sie sind in ihrem Dienst unter eine große Verantwortlichkeit gestellt. Sie haben sich mit dem Teuersten zu beschäftigen, was der Herr besitzt. Es gibt auf dieser Erde, sowohl im Blick auf das Vorrecht als auch die Verantwortlichkeit, kein Werk, keine Arbeit, keine Sorge, die so wertvoll und wichtig wäre, als jene für die teure Herde Christi. Ernster, beherzigenswerter Gedanke für alle, die zum Dienst der Heiligen berufen sind! Welch unermüdlichen Eifer, welche Hingebung, Treue, Selbstverleugnung und Aufopferung, welch lautere Beweggründe erfordert dieser Dienst! Nur die Liebe zu Christus und die ununterbrochene Gemeinschaft mit Ihm kann den treuen Diener befähigen, denselben zu erfüllen. Wie nötig ist es daher, dass er sich mit aller Aufrichtigkeit die ernste Frage vorlegt:

 Wie steht mein Herz zu Ihm? Ist Er mein Ein und Alles? Wandle ich in seiner Gegenwart, in seiner Gemeinschaft? Ist die Liebe zu Ihm und zu den Seinen der einzige Beweggrund in dem mir anvertrauten Dienste? Vollführe ich ihn mit aller Willigkeit und Hingebung? Diesen Dienst ausüben, weil die Pflicht es erfordert, ist von geringem Nutzen. „Wenn ihr alles getan, was euch befohlen ist, so sprecht: Wir sind unnütze Knechte.“ So sagt der Herr. Wie kann ich die Herzen anderer für Christus erwärmen, wenn mein eigenes Herz kalt gegen Ihn ist? Wie kann ich andere auf die rechte Weise ermuntern und ermahnen, wenn ich selbst der Ermunterung und Ermahnung bedarf? Wie kann ich andere zum Forschen in der Schrift und zum Gebet oder zu guten Werken reizen, wenn ich selbst darin gleichgültig und nachlässig bin? oder andere in der Erkenntnis fördern, wenn ich selbst keine Fortschritte darin mache? Es ist gewiss, dass es in manchen Versammlungen an wirklicher Nahrung für die Seele fehlt. Wenn die Liebe schwach ist – denn die Liebe erbaut – und zudem auch wenig Gaben vorhanden sind, so kann leicht das innere Leben mehr und mehr verkümmern. 

Es mag jemand mancherlei Wahrheiten wissen und auch in der Versammlung vortragen, so ist es doch von geringem Nutzen für die Hörenden, wenn diese Wahrheiten nicht aus einem Herzen kommen, das sich selbst darin erfreut, und worin der Heilige Geist wirkt. Wiche mögen sich, im Blick auf die große Verantwortlichkeit, wohl prüfen, ob ihr Reden in der Versammlung wirklich zur Erbauung und Belehrung derselben ist; und ebenso mögen sich andere wohl die ernste Frage vorlegen, ob es der wohlgefällige Wille des Herrn ist, dass sie nie ein Wort zur Ermunterung und Ermahnung in der Versammlung zu sagen haben. Ich bin völlig überzeugt, dass es nicht die Sache eines jeden Gläubigen ist, die Versammlung zu erbauen und zu belehren, aber es kann auch wohl sein, dass nicht Mangel an jedweder Begabung, sondern eine unlautere Gesinnung und ein ungeistlicher Wandel die Ursache unserer Unfähigkeit sind, und darüber haben wir uns ernstlich zu demütigen und zu richten; denn in einem solchen Zustand wird selbst der begabteste Diener die Versammlung nicht wirklich erbauen. 

Wenn bei ihm der verborgene Umgang mit dem Herrn fehlt, wenn von früh bis spät die irdischen Dinge sein Herz beunruhigen und mit Sorge erfüllen, wenn er sich keine Zeit nimmt, sich selbst durch und Erforschen des Wortes zu ernähren und zu belehren, so wird er sicher für andere von geringem Nutzen sein. Seine Vorträge mögen wahr sein, aber sie sind kraftlos; er mag seine Rede in noch so liebliche oder inbrünstige Worte kleiden – das Gewissen und das Herz des Hörenden werden nicht erreicht. Und ein solcher ist in hohem Grad mitschuldig an dem Rückgang, an dem Verfall und der Verkümmerung des inneren Lebens – mitschuldig an dem schlaffen, verweltlichten Zustand der Versammlung, in deren Mitte er wirksam ist, und er hat vor allen die Verantwortlichkeit davon zu tragen. Wie ernst sind solche Erwägungen für alle, die in irgendeiner Weise vom Herrn begabt und berufen sind, die Heiligen zu ermahnen, zu erbauen und zu belehren! Möchte doch vor Ihm ein jeder unter ihnen mit aller Aufrichtigkeit seine Gesinnung und sein Verhalten in dem ihm anvertrauten Dienste zu erforschen suchen!

Wir leben, wie schon bemerkt, in einer Zeit großer Gnade und großer Verantwortlichkeit. Der Heilige Geist ist wirksam, und zudem haben wir das Vorrecht, dass wir uns trotz der tiefen Versunkenheit, die sich in verschiedenen Schichten der christlichen Bevölkerung kundgibt, und trotz der stets zunehmenden, öffentlichen Feindschaft wider das Christentum, in Ruhe versammeln und ohne besondere Störung von außen den Pfad des Glaubens wandeln können. Es ist der Herr, der solches tut, und wir mögen deshalb wohl das Wort des Apostels beherzigen: „Ich ermahne nun vor allen Dingen, dass Flehen, Gebete, Fürbitten, Danksagungen getan werden für alle Menschen, für Könige und alle, die in Hoheit sind, auf dass wir ein ruhiges und stilles Leben führen mögen, denn dies ist gut und angenehm vor unserem Heiland Gott“ (1. Tim 2,1–3). Gott benutzt diese Zeit der Ruhe, um durch Wort und Schrift die Seinen zur Erkenntnis der Wahrheit zu bringen, um sie dadurch aus der großen Verwirrung in der Christenheit zu befreien und sie auf den einfachen und gesegneten Pfad des Glaubens und des Gehorsams zu leiten. 

Es ist aber gewiss eine höchst betrübende Erscheinung in unseren Tagen, dass so viele Gläubige, und namentlich die Führer unter ihnen, sei es aus Unwissenheit oder aus Mangel an Unterwürfigkeit unter das Wort, dem Wirken des Geistes entgegenarbeiten. Und ich möchte diese Brüder, falls diese Zeilen in ihre Hände kommen sollten, im Namen Jesu bitten, sich einmal mit aller Gewissenhaftigkeit folgende Fragen vorzulegen: Eifern wir für den Herrn oder für unsere Partei? Ist das Wort Gottes unsere alleinige Richtschnur, oder sind es menschliche Gedanken und Meinungen? Fördern wir die Einheit oder vermehren wir die Zersplitterung der Versammlung Gottes? Versammeln wir uns auf dem Boden der Wahrheit im Namen Jesu oder auf dem Boden menschlicher Einrichtungen und Satzungen? Haben wir den Tisch des Herrn zum Tisch unserer Partei gemacht, oder nehmen wir alle Gläubige auf, wenn anders ein würdiger Wandel und Unverdorbenheit in der Lehre bei ihnen vorhanden ist? 

Erkennen wir die wahre, durch den Heiligen Geist bewirkte Einheit der Versammlung Gottes an, oder verachten wir sie und sind beschäftigt, an ihrer statt eine scheinbare, menschliche Vereinigung unter dem Namen „Allianz“ und dergleichen herbeizuführen? Das sind in der Tat Fragen von der höchsten Wichtigkeit, und ich möchte den Leser dieser Zeilen, falls er sich noch zu irgendeiner Partei bekennt, dringend bitten, sie mit aller Aufrichtigkeit vor dem Herrn zu erwägen. – Der Heilige Geist aber fährt trotz alles Widerstandes fort, die Wahrheit auszubreiten. Es vermehren sich stets die Orte, wo Gläubige, abgesondert von jeder Partei, sich im Namen Jesu versammeln und an seinem Tisch die Einheit des Leibes, d. i. der Versammlung bekennen. Das ist das gesegnete Vorrecht der Gläubigen, bis der Herr kommt. O möchten all die Seinen es erkennen und zur Ehre des Herrn und zu ihrer eignen Segnung es verwirklichen!

Ich möchte nun noch einen Augenblick bei der Verkündigung des Evangeliums unter der Welt verweilen, die in unseren Tagen in einer so ausgedehnten Weise stattfindet, wiewohl nie zuvor. Fast überall hat der Herr die Türen geöffnet, und alle werden eingeladen; denn „Er will, dass alle Menschen errettet werden und zur Erkenntnis der Wahrheit kommen“ (2. Tim 2,4). Der einladende Ruf ist jetzt: „Wen da dürstet, komme; wer da will, nehme das Wasser des Lebens umsonst“ (Off 22,17). Und viele sind in unseren Tagen errettet worden, und der Herr fährt fort, immer mehr zu erretten. Eine segensvolle, gnadenreiche Zeit! Aber auch eine Zeit großer Verantwortlichkeit für alle, die das Evangelium der Gnade und der Herrlichkeit hören. 

Der Herr sammelt in Eile, und es ist wohl die letzte große Einladung, bevor Er kommt, um die Seinen aufzunehmen. Zugleich ist es eine ernste Mahnung an alle, die zur Verkündigung des Evangeliums berufen sind, diesen wichtigen Dienst auf eine Gott wohlgefällige Weise und mit allem Eifer und aller Treue auszuüben. Sie sind Ihm dafür verantwortlich. Vor allem ist es nötig, dass ein jeder, der das Evangelium verkündigt, sei es in persönlichen Unterredungen oder in öffentlichen Vorträgen, selbst von seinem köstlichen Inhalt tief durchdrungen ist. Leere, trockene Worte bleiben wirkungslos; schwungvolle Reden und ausgeschmückte Mitteilungen mögen die Sinne und die Gefühle erregen, aber für das Gewissen sind sie nutzlos und fruchtleer; und sollten trotzdem Seelen bekehrt werden, so wissen wir, dass der Herr über allem steht und in seiner Gnade zu erretten vermag, wo, wann und wie Er will, und dass Er selbst verwerfliche Mittel und Werkzeuge dazu benutzen kann. 

Doch eins ist gewiss, dass der Erfolg ebenso wenig die Mittel heiligt, als der Zweck; der Herr wird nie sein Wohlgefallen daran haben. Und wie sehr unterscheidet sich eine solche Verkündigung des Evangeliums von derjenigen des Apostels. Wir lesen in 1. Korinther 2,1–5: „Und ich, da ich zu euch kam, Brüder, kam nicht nach Vortrefflichkeit der Rede oder Weisheit, euch das Zeugnis Gottes verkündigend. Denn ich hielt nicht dafür, etwas unter euch zu wissen, als nur Jesus Christus, und Ihn als Gekreuzigten. Und ich war bei euch in Schwachheit und in Furcht und in vielem Zittern; und meine Rede und meine Predigt war nicht in überredenden Worten der Weisheit, sondern in Erweisung des Geistes und der Kraft, auf dass euer Glaube nicht in Weisheit der Menschen, sondern in der Kraft Gottes sei.“ Möchten doch alle, die das Evangelium verkündigen, diese Worte beherzigen!

Schließlich möchte ich in Verbindung mit der Verkündigung des Evangeliums noch auf ein Verfahren aufmerksam machen, das in unseren Tagen viel Nachahmung gefunden hat. Dieses Verfahren bezweckt die Bekehrung der Seelen, aber so ernst und treu es auch oft gemeint sein mag, so bin ich doch überzeugt, dass es die Kraft des Evangeliums schwächt und den Seelen mehr zum Schaden als zum Nutzen gereicht. Man wendet sich nämlich am Schluss eines Vortrages an die versammelte Menge mit der Frage: „Wer unter euch möchte gerne bekehrt oder selig werden?“ Diejenigen nun, die dies wünschen, bleiben zurück, und es wird mit ihnen gesungen und gebetet, und meist solange, bis sie als bekehrt entlassen werden können. Auf diese Weise wächst nun die Zahl der Bekehrten sehr schnell; aber die Erfahrung hat bereits an mehreren Orten gelehrt, dass viele von ihnen, ja sogar die meisten, nach kurzer Zeit wieder in ihren alten Wegen wandeln, und manche sogar mit ihrer Bekehrung Spott treiben. Worin mag nun diese betrübende Erscheinung ihren Grund haben? Die Seelen schienen doch wirklich glücklich zu sein? 

Es liegt einfach an dem bei ihnen angewandten Verfahren. Der Gesang, die oft sehr aufgeregten Gebete usw. haben auf ihre Gefühle und Sinne gewirkt. Man könnte sagen, dass ihre Gefühle bekehrt worden seien, aber nie ist ihr Gewissen in der Gegenwart Gottes gewesen; und ohne dieses wird keine wirkliche Bekehrung stattfinden. Die Buhe, das Bekenntnis, das Selbstgericht – mag es kurze oder längere Zeit dauern – geht jeder wahren Bekehrung voran, und je tiefer diese vorhergehende Bearbeitung des Geistes ist, desto gründlicher wird auch nachher das ganze Werk in der Seele sein. Darum muss jene Bekehrungsmethode jedem einsichtsvollen Christen sehr bedenklich erscheinen, indem nicht nur viele Seelen dadurch getäuscht und betrogen werden, sondern auch das Werk Gottes mehr oder weniger zu einem Werk des Menschen herabgewürdigt wird. 

Es ist nicht mehr allem das Wort Gottes in der Kraft des Heiligen Geistes (wie wir 1. Thes 1,5; 1. Pet 1,23 und an anderen Stellen lesen), sondern es sind die Gebete des Menschen, durch welche die Seelen errettet werden; wenigstens macht man es von diesen Gebeten abhängig, wenn man auch anerkennt, dass Gott allein es bewirken kann. Es mag bei solchem Verfahren manche Seele wirklich bekehrt worden sein, aber dann war schon in irgendeiner Weise das Gewissen aufgeweckt und in Tätigkeit vor Gott. Wir finden aber nirgendwo in der Schrift, dass die Apostel und andere bei aufgeweckten und beunruhigten Seelen ihre Zuflucht zum Gebet genommen hätten. Sie verkündigten ihnen das Wort, richteten ihre Blicke auf das durch Christus vollbrachte Werk auf dem Kreuz und ermunterten sie zum Glauben. So geschah es bei Kornelius, beim Kerkermeister und anderen. 

Die Seelen mit dem zu beschäftigen, was in ihnen vorgeht, mit ihren Gefühlen usw., hat die traurige Folge, dass ihr Friede, selbst wenn sie wirklich errettet sind, ein schwankender bleibt, weil sie denselben von ihren Gefühlen abhängig machen und nicht allein von dem vollbrachten Werk Christi. Das krankhafte und schwache geistliche Leben vieler Gläubigen in unseren Tagen hat oft allein darin seinen Grund, dass sie von Anfang an nur mit sich und nicht mit Christus und seinem Werk beschäftigt worden sind. Möge daher ein jeder, der für das Werk des Evangeliums berufen ist, stets durch das Wort und den Geist Gottes geleitet werden! Und möge ein jeder Gläubige in dieser versuchungsreichen Zeit, wo auf allen christlichen Gebieten menschliche Torheit und Anmaßung zu Tage treten, stets die ernste Ermahnung des Apostels beherzigen: „Du aber sei nüchtern in allem!“