Bonhoeffer Dietrich, Der Traum vom schönen frommen Tod 1914-1918, Renate Wind

05/17/2023
von Christ-und-Buch Günter Arhelger

Am 1. August 1914 wird in Deutschland die Generalmobilmachung erklärt. Auf den Straßen herrscht Volksfeststimmung. Die Bonhoeffer-Kinder werden davon angesteckt. Dietrichs älteste Schwester Ursula stürmt von der Straße ins Haus, ruft: »Hurra, es gibt Krieg!« - und bekommt eine Ohrfeige. Krieg ist eine ernste Sache.

Die deutsche Bildungsellte will den Krieg nicht, aber sie glaubt, daß er unvermeidlich sei. Nach der offiziellen Version ist der Angriff die beste Verteidigung gegen die Einkreisung der »Achsenmächte«, die dem erstarkten deutschen Konkurrenten den »Platz an der Sonne« verwehren und den Krieg auf zwingen wollen.

Keiner will das Vaterland in dieser Situation im Stich lassen. Selbst die Sozialdemokraten wollen nicht als »vaterlandslose Gesellen« da stehen. Sie bewilligen am 4. August gegen die Stimmen von Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht der Regierung die Kriegskredite. Der Kaiser verkündet: »Ich kenne keine Parteien mehr, ich kenne nur noch Deutsche!«, Pfarrer beider Kirchen predigen: »Gott mit uns!«, Soldaten schreiben an ihre Frontzüge: »Jeder Schuß ein Russ',jeder Stoß ein Franzos'« und winken dazu, als ginge es zum Schützenfest.

Von dieser Art Kriegsbegeisterung sind die Bon-hoeffers weit entfernt. Aber sie sind von der Jtechtmä-ßigkeit der deutschen Kriegsziele überzeugt und tun ihre »vaterländische Pflicht«. Kriegsanleihen werden gezeichnet, und Karl Bonhoeffer unterschreibt, wie Tausende anderer Universitätsprofessoren, eine Erklärung: »Es erfüllt uns mit Entrüstung, daß die Feinde Deutschlands einen Gegensatz machen wollen zwischen dem Geiste der deutschen Wissenschaft und dem, was sie preußischen Militarismus nennen. In dem deutschen Heere ist kein anderer Geist als in dem deutschen Volke. 

Der Dienst im Heer macht unsere Jugend tüchtig für alle Werke des Friedens, denn er erzieht sie zu selbstentsagender Pflichttreue und verleiht ihr das Selbstbewußtsein und Ehrgefühl des wahrhaft freien Mannes, der sich willig dem Ganzen unterordnet. Unser Glaube ist, daß für die ganze Kultur Europas das Heil an dem Sieg hängt, den der deutsche Militarismus erkämpfen wird, die Manneszucht, die Treue, der Opfermut des einträchtigen deutschen Volkes.«'
In diesem Sinne werden deutsche Kinder und Jugendliche erzogen. Das Bewußtsein, daß »am deutschen Wesen die Welt genesen« soll, wird weit über den ersten Weltkrieg hinausreichen. Auch Dietrich wird die Werte, an denen angeblich das Heil der Kultur Europas hängt, erst nach und nach in Frage stellen.

Tag für Tag steckt er mit seinen Schulkameraden den neuesten Frontverlauf ab. In jedem Klassenzimmer hängt die Karte mit den Ländern Europas, auf der das Vorrücken der deutschen Armeen mit schwarz-weißroten Fähnchen dokumentiert wird. Doch dann kommt die Front zum Stehen. Man hört Gerüchte über Materialschlachten, Stellungskrieg und Giftgas; In der großen Verwandtschaft der Bonhoeffers gibt es die ersten Kriegstoten.
Der Tod der älteren Vettern beschäftigt Dietrich und seine Zwillingsschwester Sabine bis tief in die Nacht hinein. »Wir lagen abends noch lange wach und versuchten, uns das Totsein und das ewige Leben vorzustellen. Wir bemühten uns, der Ewigkeit jeden Abend etwas näherzukommen, indem wir uns vornahmen, nur an das Wort Ewigkeit zu denken ... sie erschien uns sehr lang und unheimlich.«'
Die beiden Zehnjährigen sind nicht die einzigen, die sich mit solchen existentiellen Fragen beschäftigen. Der Krieg, der nicht enden will, bringt den Tod ins öffentliche Bewußtsein. Der Kirche wird die Stärkung des Durchhaltewillens anvertraut. Die Allgemeine Lutherische Kirchenzeitung zitiert 1917 aus einer Rede des Theologieprofessors Reinhold Seeberg, Dietrichs späteren Doktorvaters: »Weiter kämpfen, weiter aushalten! Überall Zeugnis ablegen für einen deutschen Frieden! 

Wir vertrauen auf den gesunden Sinn unseres Volkes, auf unser Heer und seine Führer, auf unseres Kaisers deutsches Herz, auf Gott. Der deutsche Friede ist der Friede der siegenden Kultur. Diesen deutschen Frieden schenke uns Gott!«3
Diese Rede wurde auf einer Kundgebung gegen einen möglichen Friedensschluß auf der Grundlage der bestehenden Grenzen gehalten. Deutscher Friede ist: Landgewinn für Deutschland.
Mit den Durchhalteparolen geht die Romantisie-rung des Todes einher. Vaterländische Lieder und Postkarten verherrlichen den Soldatentod. Humanistische Pädagogen traktieren den Satz des Horaz: »Süß und ehrenvoll ist es, für das Vaterland zu sterben.« Der Augsburger Gymnasiast Bertolt Brecht entgeht nur knapp der Relegation, als er in einem Aufsatz über Horaz schreibt, im Ernstfall würde dieser Hofnarr »als erster entwetzen«4.

Dietrichs Gefühls- und Gedankenwelt sieht dagegen eher vaterländisch und opfermütig aus. Mit Begeisterung liest er Geschichten von Menschen, die für eine gute Sache ihr Leben opfern. Für den empfindsamen und phantasievollen Jungen wird die Auseinandersetzung mit dem Tod zeitweilig zu einem Dauerthema. Dietrich ist fasziniert von der Frage, wie der Tod zu bestehen sei. Juden schon erwähnten Selbstreflexionen aus dem Jahr 1932 schildert er, was damals in ihm vorging: »Er wäre gern und früh gestorben, einen schönen frommen Tod. Sie sollten es alle sehen und wissen, daß das Sterben nicht hart, sondern herrlich ist für den, der an Gott glaubt.«


Aber der Traum vom schönen frommen Tod hat seine Tücken. Dietrich sehnt sich nach dem Tod und fürchtet ihn zugleich. Denn er lebt auch sehr gerne. Manchmal genießt er sein Leben so intensiv, daß es der Familie auffällt. Als am Ende des Krieges die Versorgung auch in großbürgerlichen Haushalten knapp wird, entwickelt Dietrich unerwartete Fähigkeiten beim Organisieren von Lebensmitteln. Er ißt nämlich sehr gern und möglichst gut.
Diese vitale und sinnliche Lebensbejahung steht der Todessehnsucht entgegen. Dietrich erinnert sich: »Abends, wenn er übermüdet zu Bett ging, hatte er manchmal gemeint, es sei jetzt so weit. Dann schrie er in seiner Ahnungslosigkeit zu Gott und forderte Aufschub. Diese Erfahrung verwirrte ihn einigermaßen. Also wollte er offenbar doch nicht sterben, also war er doch feige ... Er war wirklich todesbereit, es war nur sein animalisches Dasein, das ihn immer wieder vor sich selbst verächtlich machte, das ihn an sich irre werden ließ.«'


Es ist sicher kein Zufall, daß Dietrich sich als erwachsener Mann gerade an diese Szene erinnert. Wie bei vielen sensiblen und lebendigen Menschen bleiben auch bei ihm diese inneren Gegensätze ein Leben lang bestehen. Dietrich wird immer wieder beides in sich zu vereinen suchen, Einsatzbereitschaft und den Hang zum angenehmen Leben, freiwilligen Verzicht und Le-bensgenuß, Todessehnsucht und Lebensbejahung.
Die kindliche Vision vom schönen frommen Tod verschwindet jedoch in dem Maße, wie das wirkliche Leben vom wirklichen Tod bedroht wird. 1917 werden die großen Brüder eingezogen. Über Vaters Beziehungen könnten sie sich der unmittelbaren Gefahr entziehen, aber sie melden sich zur Infanterie, »weil dort die Not am größten ist«?.

Im April 1918 wird Walter Bonhoeffer schwer verwundet. Drei Stunden vor seinem Tod diktiert er einen Brief nach Hause: »Meine Technik, an den Schmerzen vorbeizudenken, muß auch hier herhalten. Doch gibt es in der Welt interessantere Sachen als meine Verwundung. Der Kemmelberg und das heute besetzt gemeldete Ypern gibt uns viel zu hoffen
In diesen Zeilen kommt alles zusammen, was die Bonhoeffersche Erziehung ausgemacht hat: die Beherrschung des Affektiven und die selbstverständliche Erfüllung dessen, was man für seine Pflicht hält. Es ist nur logisch, daß sich auch Karl Bonhoeffer seinen Schmerz nicht anmerken läßt. Wie tief er getroffen ist, zeigt sich erst später, als sich herausstellt, daß er das traditionelle Familientagebuch zehn Jahre lang nicht weiterführen kann.

Das, was er selbst sich an Gefühlen nicht leisten kann, überläßt er auch diesmal so vollständig seiner Frau, daß es ihr fast zuviel wird. Paula Bonhoeffer lebt ihren Schmerz aus, auf eine Weise, die der Familie unheimlich wird. Wochenlang wird sie bei einer befreundeten Familie in der Nachbarschaft untergebracht.
Dietrich ist tief getroffen vom Tod des Bruders und vom Schmerz der Mutter. Der Krieg hat einer scheinbar heilen Welt ein Ende bereitet. Die Bilder aus der »guten alten Zeit« sind nicht wiederherstellbar. Dietrich wird sich den Krisen und Konflikten einer veränderten Welt stellen. Aber er wird lange nicht aufhören, Sehnsucht zu haben nach den intakten Ordnungen einer vergangenen Welt.