Bormuth Lotte Ein Blumenstrauß voll Leben

12/30/2022
von Christ-und-Buch Günter Arhelger

Sie sind wie meine MutterBV12840Lotte-Bormuth%2BEin-Blumenstrau%C3%9F-voll-Leben-Gro%C3%9Fdruck.jpg?1672430631404

Wir waren schon ein seltsames Trio, wie wir so im D-Zugabteil beieinandersaßen. Neben mir hatte es sich ein etwas heruntergekommener junger Mann bequem gemacht, wenn man ihn nach seinem Äußeren bewertete. Er sah ungepflegt aus, war unrasiert, und die vom Zigarettenrauch gebräunten Zähne schienen schon lange nicht mehr eine Bürste und Zahnpasta gesehen zu haben. 

Die schmutzigen halbhohen Stiefel ruhten auf dem roten Polster. In mir erregte dieses stoffelige Benehmen Widerwillen, denn wie oft habe ich mir schon meine Kleider auf Bahnfahrten verdorben und fleckig gemacht. Mal klebte ein Kaugummi auf der Sitzbank, mal waren die Bezüge mit verstreuter Zigarettenasche bedeckt und mal hatte einer eine Milchtüte ins Gepäcknetz gestellt, und das weiße, fettige Nass tropfe langsam auf meine Bluse. Aber ich schwieg jetzt, wenn auch mein durchdringender Blick keinen Zweifel an meinem Ärger ließ. Später nahm dann dieser ‚Jüngling mit langem lockigem Haar" seine Füße auch wieder herunter. Er gehörte einer alternati-

ven Gruppierung an, wie er mir sagte, und versuchte mich auch sogleich mit seinen Parolen und Schlagworten zu bombardieren. Als er merkte, dass er bei mir mit seinen verbogenen, abstrusen Ansichten nicht landen konnte, ließ er von mir ab, und nun war ich im Gegenzug dran, ihm durch ein Traktat, das ich ihm reichte, das Zeugnis von Christus weiterzusagen. Er nahm mir das Blatt ab und bedankte sich sogar dafür, was bei mir aufrichtiges Staunen hervorrief.

Mir schräg gegenüber saß ein farbiger amerikanischer Soldat. In Gießen war er stationiert. Sein Käppi hatte er sich weit ins Gesicht gezogen; bequem lehnte er sich gegen die Nackenstütze. Er schien vor sich hin-zudösen, und sicher trugen der warme Herbstnachmittag und das gleichmäßige Geratter der Räder zu diesem Nickerchen noch bei. Wahrscheinlich hatte ihn unser reges Gespräch aus seinen Träumen gerissen, denn nun wachte er auf, gähnte und reckte sich und wurde so nach und nach recht munter. Natürlich wollte ich auch ihn in den Genuss der Botschaft von Gott kommen lassen, aber vergeblich kramte ich in meiner Tasche und suchte nach einem englischen christlichen Blatt. 

So entschuldigte ich mich bei ihm für meine Nachlässigkeit, denn ich bemühe mich, auf meinen Reisen auch missionarisch ausgerichtete Schriften für Ausländer in meiner Mappe zu haben.
Unbekümmert, wie es so meine Art ist, fragte ich ihn: „Sind Sie Christ?"
„Nur christlich, aber noch nicht wiedergeboten." Diese Antwort verwunderte mich. Der Amerikaner bemerkte mein Erstaunen und meinte, mir das näher erklären zu müssen.
„Wissen Sie, meine Mutter war eine Christin durch und durch. Wir waren zu Hause eine große Familie Mutter lehrte uns das Beten und erzählte uns viele spannende Geschichten aus der Bibel. Wir gingen auch in die Sonntagsschule und später zur Kirche. Manchmal war ich verärgert, knirschte mit. den Zähnen (und dabei ließ er seine blendend weißen Zähne hörbar mahlen) und drohte unter dem Tisch mit der Faust, wenn wir am Sonntagmorgen früh aufstehen mussten.

 Kaum hatten wir Kaffee getrunken, ging's schon in die Kirche und das Sonntag für Sonntag. Ausnahmen gab es nicht, auch wenn ich nach einer durchfeierten Nacht noch recht
müde war. Heute tut mir mein jungenhaftes Aufbegehren leid. Unsere Mutter war eine fromme Frau. Ihren Glauben nahm sie ernst und lebte auch danach. Sie hat wunderbar für unsere große Familie gesorgt, und wir haben sie alle trotz ihrer Strenge und Unnachgiebigkeit geliebt. Erst im Nachhinein erkenne ich, wie viel sie für mein Leben bedeutet hat.
Vor drei Jahren ist sie an einer schweren, heimtückischen Krankheit gestorben, und wir Kinder standen verzweifelt und in großem Kummer um ihren Sarg herum. Aber an ihrem Grab begriff ich durch die Predigt, meine Mutter lebt in der neuen Welt Gottes und darf nun das schauen, was sie hier auf Erden geglaubt hat. Sie wohnt bei Gott und wartet darauf, dass jedes ihrer Kinder auch in den Himmel kommt: Seitdem packt mich die Sehnsucht, und ich will auch das ewige Leben empfangen, damit ich immer bei meiner Mutter sein kann. Ich habe sie doch so sehr geliebt. Das ist auch der Grund, warum ich die Wiedergeburt erfahren möchte. Meine Mutter hat uns nämlich immer wieder gesagt: Nur wer sich durch eine klare Bekehrung an Christus ausliefert, empfängt das neue

Leben, das kein Tod auslöschen kann, und wird Gott schauen in seiner Schönheit und Majestät. Der Tod ist nur Durchgang zu diesem neuen Sein, auch wenn er schrecklich ist und tiefe, schmerzende Wunden schlägt. Ich habe mir nach dem Heimgang meiner Mutter die Bibel aus der Dachkammer hervorgeholt, lese darin und bete zu Gott, dass er mir die Wiedergeburt schenkt, denn ich will unter allen Umständen meine Mutter wiedersehen. Sie war eine wunderbare Frau, durch und durch aufrichtig und von ihrem Herrn Christus geprägt."

So weit die Lobeshymne dieses schwarzen Soldaten auf seine geliebte Mutter. Ich glaube, ich brauche nicht zu erwähnen, dass seine Augen sprühten und die Dankbarkeit an ihrem leuchtenden Glanz abzulesen war. Sie verrieten aber auch das innige Verlangen und die tiefe Sehnsucht nach einem sinnerflillten Leben in der Gemeinschaft mit Christus.
Hätte ich da schweigen können?
Es sprudelte förmlich aus mir heraus, und ich gab ihm Handreichung, wie er dieses herrliche Geschenk der Wiedergeburt erlangen könnte. Jesus will sich jedem schenken, der ihn aufrichtig begehrt und bereit ist, seine
Sünde vor. Gott einzugestehen. Dass ein Mensch Jahre seines Lebens ohne Gott zugebracht hat, ist Schuld vor ihm, ganz abgesehen von den Verfehlungen, Versäumnissen und Verstößen gegen die zehn Gebote.
Aber das darf anders werden, und in der Begegnung mit Christus erfährt der Mensch Vergebung seiner Schuld und die Aussöhnung mit Gott.
Friede und Freude münden ein in den Jubel über dieses wunderbare Geschenk der Got-teskindschaft.
Eigentlich war die Fahrt durch dieses intensive Gespräch wie im .Nu verflogen. Beim Aussteigen half mir der baumlange Hüne von Mann, nahm meine Hand in seine beiden großen Hände, drückte sie mir und sagte mit bewegten Worten: „Sie sind wie meine Mutter." Und Sie sind wie mein Sohn, musste ich im Stillen denken.

ISBN 978 3 86827 072 3 francke