Bovet Theodor, Die Ehe Ein Handbuch für Eheleute

06/22/2023
von Christ-und-Buch Günter Arhelger

Unterwegs zur Liebe

Man hat immer wieder versucht, »echte« und »unechte« Liebe zu unterscheiden, und es war eine Zeitlang Mode, die unechte Liebe als »Eros« und die echte als ».Agape« zu bezeichnen. Heute halte ich aus verschiedenen Gründen diese Unterscheidung für unhaltbar. Wir wollen statt dessen untersuchen; wie Liebesgefühle eigentlich entstehen..
Die erste Beziehung eines jeden Menschen ist die zu seiner Mutter. Sie ist: noch keine personale Liebe, wie ich sie schilderte, aber sie gibt dem Kind das Erlebnis der Geborgenheit, der unbedingten Gegenwart des Andern seiner Zuneigung und Zärtlichkeit. Wo die Mutter (oder eine mutter-flehe Pflegerin) in den ersten Lebensjahren fehlt, entsteht eine schwere Schädigung, ein »Verlassenheitskomplex« und ein so geschadigter Mensch hat es im späteren Leben viel schwerer, Liebe zu geben und Liebe anzunehmen.

Später kommen noch andere Beziehungen hinzu, zum Vater; den Geschwistern, zu Kameraden, aus .denen allmählich das personhafte Dü-Erlebnis entsteht. Aber die Mutterbeziehung ist wohl die allerwichtigste und am wenigsten ersetzbare Wir haben Liebe nicht einfach »in uns«, wie unsere Triebe sie steht uns nicht zur Verfügung; wir können nur die Liebe .: weitergeben, die wir selber bekommen haben, allerdings in neuer und reiferer Weise Damit hängt eine merkwürdige Erscheinung zusammen.

Wenn ein Kind einem neuen Menschen begegnet, hat es .die Neigung, diesen mit einer bereits bekannten Person gleichzusetzen und ihm ähnliche Gefühle entgegenzubringen Die ältere Frau ist eine »Mutti« der altere Mann ein »Vati« (oder »Großvater«) gleichaltrige Kinder sind »Bruder« und »Schwestern«.Psychologisch sagt man: Das Kind projiziert das Bild eines ihm vertrauten Menschen auf den fremden, und es braucht einige Zeit, bis es erkennt, daß dieser eine Person für sich ist. 

Nun kommen aber solche Identifikationen und Projektionen nicht nur bei Kindern vor, sondern wir neigen alle mehr oder weniger dazu, auf einen neuen Menschen unbewußt das Bild eines bekannten zu projizieren. Dieses Bild kann positiv oder negativ • sein, so daß wir einen Unbekannten auf den ersten Blick als »sehr sympathisch« oder »widerwärtig« empfinden können. Auch brauchen wir einige Zeit, um hinter dem projizierten, gewissermaßen von außen aufgeklebten. Bild das wahre, eigene Gesicht •dieses Menschen zu erkennen.. Vielleicht 'sind wir dann enttäuscht, vielleicht angenehm überrascht, auf jeden Fall aber der Wirklichkeit näher. '

Indessen projizieren wir nicht nur die Bilder uns vertrauter Menschen •aus unserm persönlichen Unbewußten, sondern auch :Urbilder, Archetypen, die sich in Zehntausenden von Jahren im sogenannten »kollektiven Unbewußten« (C. G. JUNG) gebildet haben und damit so etwas wie die kollektive Erfahrung der Menschheit seit frühester Zeit widerspiegeln. Sie können bisweilen mit verblüffender Ähnlichkeit in mythologischen Gestalten, in primitiven Malereien oder in den Träumen moderner Menschen wiedergefunden werden. Einer der wichtigsten Archetypen ist die sogenannte »Anima« beim Mann (»Animus« bei der Frau).: Meine Anima entspricht etwa der Frau, die ich hätte werden können, wenn ich eben kein Mann wäre; sie bezeidinet also meine ungeleb-. ten weiblichen Möglichkeiten und bildet damit weitgehend mein unbewußtes Ideal der Frau; Begegne ich nun einer Frau, auf die 'meine Anima mit mehr oder weniger Recht projiziert werden kann (natürlich unbewußt), dann habe ich das Gefühl: »Das ist sie, die lang Ersehnte, endlich habe ich sie gefunden!« Durch meine Projektion wird für mich natürlich das wirkliche Wesen dieser Frau zugedeckt, und wenn ich es mit der Zeit allmählich entdecke, bin ich zunächst auch enttäuscht. Sie ist nicht mehr meine Traumgeliebte, sondern »nur noch« die Anna Meier. Wiederum braucht es einige Zeit, bis ich merke, daß ich allein die wirkliche Anna Meier aus Fleisch
und Blut im eigentlichen Sinne lieben kann, während meine traumgeliebte Anima nur ein Aspekt von mir• selber ist,. ich also in mein eigenes (weibliches) Spiegelbild verliebt war. Ein anderer Archetyp ist der von Jung so benannte »Schatten«'. Er bezeichnet das genaue Gegenteil meines »Ideals«, also all das, was ich nicht sein will, was ich besonders . verabscheue. Nun besitzen wir in Wirklichkeit diese, negativ bewerteten Eigenschaften trotzdem - vielleicht sogar.. in, besonders starkem Grade -‚ nur haben wir sie ins Unbewußte verdrängt und glauben von ihnen .frei zu sein. Die Folge dieser Verdrängung ist indessen, daß wir diesen »Schatten« ‚auf andere Menschen projizieren, bald mit mehr, bald mit we-niger Grund, und ihm genau das' vorwerfen, was wir im Unbewußten selber (auch) sind Wenn wir also einen Menschen ganz besonders hassen oder verabscheuen, muß immer kritisch untersucht werden, ob er für uns nicht einfach ‚eine »Schattenprojektion« bedeutet., Haben wir diese einmal durchschaut, kann der Haß plötzlich verschwinden. Praktische Beispiele: Für den Kampfsportler, der seine Angst verdrängt, ist der Ausdruck »Feigling« das ärgste Schimpfwort. Für die Frau, die ihre an sich starke Sexualität verdrängt,' ist die »Hure« der Inbegriff alles Bösen.
Solche Projektionen spielen bei der Partnerwahl und zu Beginn der Ehe oft eine große Rolle, und es bedarf. einiger Mühe, um sie zu durchschauen. Wir werden, später darauf zurückkommen. 

Was veranlaßt uns nun - abgesehen von den Projektionen, einen bestimmten Menschen zu lieben? Es können zunächst äußere Eigenschaften sein Schönheit, Kraft Fröhlichkeit, Intelligenz, Verständnis, Güte usw. Oder besondere Gelegenheiten, die uns einen anderen Menschen nahebringen: ein freudiger . Sieg ‚oder trauriger Anlaß, ein persönlicher Triumph, 'eine schöne Wanderung oder akute Lebensgefahr - das alles kann ein Liebesgefühl auslösen, das man zunächst noch als Verliebtheit bezeichnen, mag. 

Solche Eigenschaften sind jedoch austauschbar: Ich kann, später einem andern Menschen begegnen, der noch schöner, intelligenter oder' gütiger ist, und das bei einer nöch eindrucksvolleren Gelegenheit Dann geht die Verliebtheit auf diesen üben Im günstigen Fall aber führen die als sympathisch empfundenen Eigenschaften weiter zur eigentlichen Person, und dann entsteht aus Verliebtheit Liebe. Der Freund erzählt von seinem Leben, von seinen äußeren und inneren Nöten, von seinen geheimsten Schwierigkeiten und Hoffnungen, und die Freundin hört zu, stundenlang; sie ermuntert ihn, weiter zu reden, zeigt Verständnis für das, was er selber nicht verstand, und hilft ihm, den »roten Faden« seines Lebens zu finden und weiterzuführen. Denn Liebe erkennt uns besser, als wir uns selber kannten, und zeigt uns den einzuschlagenden Weg sicherer, als wir es allein könnten DoSTOJEWSKiJ sagt: '>Einen Menschen lieben heißt, ihn sehen, wie ihn Gott gemeint hat.« Diese Liebe vergeht nie, sie gilt einem ganz bestimmten Menschen und kann durch keine andere verwischt werden. Erst wenn wir solche Liebe erleben? wagen wir, ganz zu uns selbst zu stehen. Jeder Mensch hält Ausschau nach einem Menschen, der ihm das Ja des Seindürfens zuspricht« (Martin BUBER). Liebe ist jedoch kein Zustand, der ein für allemal erreicht wäre; sie ist ein immerwährender Prozeß, eine ständige NeuwSdung der Liebenden und ihrer Beziehung, ein unaufhörlicher Kampf umeinander und die Neuentdeckung durch den  Andern. Wenn wir einander in dieser Weise lieben, merken wir zuinnerst, daß wir nicht allein sind, daß ein Dritter mitten unter uns ist.

Anstatt eine »echte« von einer »unechten« Liebe zu unterscheiden, ist es richtiger; von »reifer« und »unreifer« Liebe zu reden. Liebe ist ein höchst dynamischer Ausdruck der Person, sie ist nie vollendet und bleibt wohl zeitlebens im Kampf mit unserem trägen Ich und seinem Machtanspruch. Aber auch kämpfende und unvollendete Liebe ist Liebe.
Projektionen und Verliebtheit sind meistens notwendig; um eine Beziehung anzuknüpfen; danach zeigt es sich, ob Liebe entstehen kann. WERNER HOFMANN sagt das sehr anschaulich: »Man muß verliebt sein, wenn man einen Menschen heiraten
will. Das ist gewissermaßen die Initialzündung, der Anlasser. Aber man kann nicht ständig mit dem Anlasser allein Auto fahren. Für eine Ehe braucht es neben der Verliebtheit die Liebe.« (»Ich, Du, wir«) Ja es braucht noch mehr als Liebe. In der Ehe erzeugt die Liebe nicht nur Nachkommen, sie macht auch aus Mann und Frau mehr und mehr ein neues Wesen, ohne ihre Persönlichkeiten auszulöschen. Im Gegenteil: Sie sind erst recht sich selbst und dabei dennoch eins mit dem Andern. In der Schöpfungsgeschichte wird das so ausgedrückt: »Mann und Frau werden ein Fleisch« (Gen 2, 24). Der Ausdruck »Fleisch« heißt hier so viel wie »Geschöpf«, »lebendige Ganzheit«. Modern können wir sagen »Person«. In der Ehe werden Mann und Frau eine neue Person, die ihre beiden Personen erst recht stark macht.

@1972 Katzmann Verlag