Böhm Heinz, Die Stunde der Abrechnung

06/15/2023
von Christ-und-Buch Günter Arhelger

Wohin mit der Schuld.?

Schräg sickerte das graue Licht des schwindenden Tages in das heimelige Dachzimmer, in dem Ralph Breuer grübelnd wach lag. Die erste Begegnung mit seinen Eltern war gut verlaufen. Selbst sein Vater hatte angesichts des fiebernden Patienten jegliche Grobheit unterlassen, und gerade diese Art Begegnung hatte in Ralph das Gewissen mächtig in Wallung gebracht'. Wenige Minuten war auch Reiner bei ihm gewesen. Zuerst hatten beide sehr wenig gesprochen, aber dann hatten sich ihre Zungen gelöst. »Ich war gemein zu euch, besonders zu Heiko. Dabei hat er mir nie einen Grund gegeben, ihn zu hassen.« Reiner hafte Ralphs kräftige Hand ergriffen.
Weißt du, manchmal erschrickt man selbst über die dunkle Landschaft im eigenen Herzen.« Ralph hafte nur genickt. »Ich habe oft versucht, meine bösen Gefühle Heiko gegenüber zu rechtfertigen, aber da war nichts. Meinst du, Reiner, daß auch alles gut werden kann - mit ihm?« - »So 'wie ich ihn in den wenigen Tagen kennengelernt habe, auf jeden Fall.«
Nach diesem zuversichtlichen Satz hafte Reiner dem anderen noch einmal freundlich zugelächelt und war leise aus dem Zimmer gegangen.


Nach dieser Begegnung mit Reiner konnte Ralph einfach nicht mehr, einschlafen. Die Schatten an den Wänden wurden immer länger und dunklen Durch das geöffnete Fenster drang das Pfeifen einer Singdrossel. Unten vom Balkon klang Tellergeklirr herauf. Ralph richtete sich ein wenig auf.
Jetzt sah er den grauen, unscheinbaren Sänger auf der Spitze einer Lärche sitzen. Von draußen dröhnte die liefe 'Stimme des Försters. Der Lauschende hörte Stühlerücken, dann wieder die Stimme des Hausherrn.

»Komm, Herr Jesus, sei unser Gast und segne alles, was du aus Gnaden beschert hast.«
Daß es so etwas heute noch gab? Tischgebet. Ralph spitzte die Ohren, um irgend etwas von der Unterhaltung mitzubekommen. Dominierend war die brummige Stimme des Försters. »Langsam kommen mir Bedenken, daß es sich bei unserem Widersacher um einen Geistesgestörten handelt. Mir scheint, daß da einer berechnend, gut durchdacht, all seine Gemeinheiten plant und ausführt. Ich werde die Wälder solange durchstreifen, bis ich ihn habe.« 

»Und hast du keinen Verdacht, Obkel Robert?« fragte Reinen Ralph wäre am liebsten von seiner Liege heruntergekrochen und ans offene Fenster gehumpelt. Dr. Zähr aber hatte strengstens angeordnet, in den nächsten drei Tagen im Bett liegen zu bleiben.
»Ich wüßte nicht, Junge. Vor etwa vier Wochen habe ich einen Beerensammler ganz furchtbar zur Schnecke gemacht, weil er rücksichtslos ein eingegrenztes Gebiet überklettert hatte, aber das war doch nicht mehr als die Ordnung.«
Reiners Blicke huschten zu seiner Cousine hinüber. Sie hatte ihren Kopf gesenkt und stocherte offenbar unbeteiligt auf ihrem Salatteller herum.
»Onkel, ich sehe ein, daß wir dir helfen müssen. Wenn Ralph wieder gesund ist, werden wir gemeinsam dem Unheimlichen auf die Spur kommen, verlaß dich drauf.«
Der Lauschende in seinem Dachzimmer lächelte vor sich hin. Seltsam - jetzt freute er sich auf die Aussicht, in Reiner und Heiko neue Freunde zu bekommen. 

Das wäre eine tolle Sache, diesem Lumpenkerl sein Handwerk zu vermasseln. Ralph rieb sich über seinen dicken Verband. Hoffentlich heilte die tiefe Schnittwunde bald zu. Unten auf dem Balkon klapperten wieder die Teller.
»Heute liest Silvia uns einen Abschnitt aus dem Andachtsbuch, dann werde ich unserem Patienten etwas raufbringen.«

 »Vorausgeetzt, daß er wach ist«, warf die Försters-frau ein. »Er ist wach«, murmelte Ralph, »sogar hellwach.«
Laut und deutlich drang die Stimme des jungen Mädchens durch den Abend. »Da trat Petrus zu ihm und sprach, wie oft muß ich denn meinem Bruder, der an mir sündigt, vergeben? Ist's genug siebenmal?«
Ralph setzte sich kerzengerade in seinem Bett auf. Ein kurioser Zufall. Als ob dieses Wort für ihn ausgesucht wäre. Irgendwie kannte er dieses Gleichnis von dem Knecht und dem König. Er lauschte gespannt bis zum Ende. »Also wird euch mein himmlischer Vater auch tun, so ihr nicht vergebet in eurem Herzen, ein jeglicher seinem Bruder seine Fehler.«
Die Mädchenstimme brach ab und die des Försters setzte ein. »Nun wollen wir noch beten und uns der treuen Fürsorge Gottes für diese Nacht anbefehlen.« In freien Worten dankte der Förster Gott für alles Durch-tragen an diesem Tag, dankte dafür, daß dem Patienten nicht mehr passiert sei und befahl ihn im besonderen der Treue und Obhut Gottes an. Ralph wischte sich eine dicke Träne aus seinen Augen.
Solche Art Mitgefühl war ihm völlig .fremd. In seinem Elternhaus wurde nicht gebetet. Er konnte sich schwach erinnern, daß seine Oma immer ein ziemlich zerflattertes Buch gelesen hatte, aber seit ihrem Tode herrschte, wie sein Vater es einmal ausgedrückt hatte, aufgeklärte Nüchternheit. Ralphs Gedanken wurden durch .schwere Schritte draußen auf dem Gang unterbrochen. Ein leises Klopfen. »Ja, herein.«
Die Tür wurde aufgedrückt, und in der Öffnung stand die wuchtige Gestalt des Försters.
»Na, schläft mein Patient?«
Das Licht flammte auf.
»Seit dem. Besuch meiner Eltern bin ich wach, Herr Thielscher.«
»Dann kannst du ja was Anständiges essen.«
Ralph leckte sich über die Lippen. Schinken mit Spiegelei und eine riesige Schüssel. frischer Salat. Der Mann schob seinem Patienten den Stuhl nahe an das Bett heran und lud ihm eine ansehnliche Portion Schinken auf einen großen blaugemusterten Teller. »Läß es dir schmecken, Junge. Ach so.. Die Buttermilch habe ich noch vergessen. Du trinkst doch welche?«
»Und ob, Herr Thielscher.«
Verführerisch stieg der Duft des Gebratenen in Ralphs Nase.
Verlegen registrierte er das erwartungsvolle Gesicht seines freundlichen Gastgebers.
»Gebetet haben Sie ja schon. Ich hab' es gehört, auch das lange biblische Gleichnis«, fügte er leise hinzu.
»Ja, auf diese geistliche Nachspeise können und wollen wir nicht mehr verzichten.«
»Tun Sie das schon immer? In unserer Familie wird das Leben ohne Gebet nicht als ein Verzicht empfunden.«
Ralph fühlte fl die große Hand des Försters auf seinem Haar. »Du hast recht, es war nicht immer so. Mein Lebenswagen hatte auch ohne Gott gute Fahrt bekommen, und ich glaubte nie daran, daß gerade seine Hand die tolle Fahrt bremsen würde.«
Ralph kaute mit vollen Backen. »Ich hoi' nur die Buttermilch.«
Der Mann wandte sich um. Im Türrahmen stand Reiner mit einem bauchigen, buntbemalten Porzellankrug. 
»Du hattest die Milch vergessen, Onkel Robert.« »Herzlichen Dank für deine Aufmerksamkeit. Gerade wollte ich sie unserem Gast holen.«
Reiner kam einige Schritte näher. »Na, wie geht es dir, Ralph?« 
»Blendend.«
»Übrigens, gerade hat ein gewisser Paulchen angerufen. Deine Eltern hatten ihn getroffen und ihm von deinem Mißgeschick erzählt.«
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