Der Brief an die Römer, Rudolf Brockhaus

03/25/2023
von Christ-und-Buch Günter Arhelger

Der Brief an die Römer

Rudolf Brockhaus
Einleitung

Der Brief an die Römer wurde in dem Jahr 58 oder 59 n. Chr. von Korinth aus geschrieben, als Paulus im Begriff stand, nach Jerusalem zu reisen und die „Hilfleistung" der in Achaja und Macedonien wohnenden Gläubigen dorthin zu bringen. (Kap. 15,25—28; vergl. auch Kap.16,1 — „Kenchreä" war eine der Hafenstädte Korinths.) Paulus selbst war bis dahin nie in Rom gewesen, obwohl es ihn schon „seit vielen Jahren" sehnlich verlangt hatte, die Gläubigen dort zu sehen. Wie das Werk in Rom seinen Anfang genommen und welche Mittel Gott gebraucht hat zur Gründung der dortigen Ge­meinde, darüber ist uns nichts Sicheres bekannt. Man nimmt gewöhnlich an, daß in Rom wohnende Juden, die auf ihren jährlichen Festreisen nach Jerusalem von den Vorgängen dort unterrichtet worden waren, die Kunde von Jesu in die große Hauptstadt der Welt gebracht haben. Jedenfalls steht fest, daß weder Paulus noch Petrus, der Apostel der Be­schneidung, hierbei in Frage kommen können. Beide Männer sind erst wenige Jahre vor ihrem Märtyrertode, der unge­fähr um die gleiche Zeit stattfand, nach Rom gekommen.

War es nicht durch die Weisheit Gottes so geordnet, daß gerade Rom sich nicht einer durch apostolische Wirksamkeit gegründeten Versammlung rühmen konnte, gleich anderen, viel unbedeutenderen Städten, wie Ephesus, Korinth, Philipp! usw.? Hat nicht gerade dieser Umstand Anlaß gegeben zu einer so umfassenden schriftlichen Abhandlung über den Zu­stand des Menschen von Natur, über Gottes mächtige Dazwischenkunft im Evangelium, über die Rechtfertigung des Glaubenden durch den Tod und die Auferstehung Jesu Christi usw.? 

Wäre der Apostel früher nach Rom gekommen, wie er es vorhatte, würde er naturgemäß das, was wir jetzt in seinem Briefe niedergelegt finden, den Gläubigen in Rom mündlich mitgeteilt haben. Zugleich hatte Gott die Zustände in Rom inzwischen sich so gestalten lassen, daß sie eine solch eingehende und gründliche Behandlung der Grundwahrheiten des Evangeliums nötig machten. Denn obwohl die Versamm­lung in Rom vorwiegend aus Christen, die aus den Heiden gekommen waren, bestanden haben wird, gab es doch ohne Zweifel auch ein gut Teil bekehrter Juden in ihrer Mitte, und unter diesen solche, die einen gesetzlichen Geist — „berühre nicht, koste nicht, betaste nicht!" — einzuführen suchten, dem gegenüber die Gläubigen aus den Heiden in Gefahr kamen, ihrerseits einer fleischlichen Freiheit das Wort zu reden. Da­durch waren lieblose Reibereien entstanden, die nicht nur Zwietracht und Spaltung herbeizuführen, sondern auch die Wahrheit zu verderben drohten.

Dem Brief an die Römer ist bei der Feststellung des Kanons der heiligen Schriften die erste Stelle unter allen Briefen der Apostel angewiesen worden, obwohl er der Zeit seiner Abfassung nach keineswegs der erste ist. Die Briefe an die Thessalonicher, Galater und Korinther sind früher ge­schrieben. Warum man ihm diesen Platz gegeben hat, geht zum Teil schon aus dem eben Gesagten hervor.

In Verbindung mit der Beziehung oder dem Verhältnis des Menschen zu Gott werden in der Schrift zwei große Ge­genstände behandelt. Diese sind einerseits der Mensch in seiner Verantwortlichkeit Gott gegenüber, und andererseits der Gnadenratschluß Gottes dem Menschen gegenüber. Der eine hat seine Darstellung gefunden in dem ersten Men­schen, Adam, der andere in dem zweiten Menschen, dem letzten Adam, in Jesu Christo, dem Sohne Gottes. Der erste Mensch, aufrichtig und rein erschaffen, wurde in dem Stande der Unschuld in den Garten Eden gestellt, dessen zwei Bäume, der Baum des Lebens und der Baum der Erkenntnis des Guten und Bösen, auf die Möglichkeit eines endlosen Lebens für den Menschen und auf die Verantwortlichkeit des Menschen Gott gegenüber hindeuteten. Statt daß der Mensch nun seine Abhängigkeit von Gott bewahrt hätte und so ewiglich auf der Erde hätte leben können, hat er sich gegen Gott erhoben, Sein Gebot übertreten und damit Leben und Unschuld verloren. Und als später in dem Gesetz vom Sinai die Frage bezüglich des Lebens und der Verantwortlichkeit noch einmal erhoben wurde, hat der Mensch das Gesetz ge­brochen und ist unter Fluch und Gericht gekommen. Und wenn schließlich Gott in unendlicher Güte in der Person Seines Sohnes in dieser Welt erschien, hat der Mensch seinen hoffnungslos verlorenen Zustand in der Verwerfung der Liebe Gottes und in seiner bitteren Feindschaft gegen Chri­stum geoffenbart. Damit war die Zeit der Erprobung des Menschen vorüber. Er hat sich nicht nur als unheilbar ver­derbt, sondern auch als ein Feind Gottes und ein Verächter Seiner Gnade erwiesen. So blieb nichts anderes für ihn übrig als G e r i c h t. „Jetzt ist das Gericht dieser Welt", sagte der Herr, als Er zum Kreuze schritt.

Es ist gut, dies klar zu verstehen. Es zeigt uns die Grund­lage, auf welcher der ganze Römerbrief aufgebaut ist, und läßt uns wiederum verstehen, weshalb man ihm seinen Platz an der Spitze der Briefe gegeben hat. Er behandelt die vor allen anderen wichtige Frage, wie die, soweit es den Men­schen betraf, für immer abgebrochene Beziehung zu Gott auf neuer Grundlage wiederhergestellt werden konnte.

Auf welchem Wege ist nun diese Wiederherstellung ge­schehen? Nachdem der Mensch, wie eben ausgeführt, in jeder Beziehung seine Schuld, Sünde und Feindschaft wider Gott erwiesen hatte und nun die unabänderlichen Folgen seines Falles tragen mußte, ist Gott ins Mittel getreten. Schon die Ankündigung, daß der Same des Weibes der Schlange den Kopf zertreten sollte, wies darauf hin. Die in späteren Tagen dem Abraham gegebene Verheißung, daß in s e i n e m Samen (Christus) alle Völker der Erde gesegnet werden sollten, ist in Erfüllung gegangen. Das was das Gesetz, obwohl es heilig, gerecht und gut war, unmöglich tun konnte, „tat Gott, indem er, seinen eigenen Sohn in Gleichgestalt des Fleisches der Sünde und für die Sünde sendend, die Sünde im Fleische verurteilte" (Kap. 8, 3). Christus begegnete unserer ganzen Verantwortlichkeit, indem Er am Kreuze nicht nur unsere Sünden auf sich nahm, sondern auch, zur Sünde gemacht, Gott im Blick auf die Sünde vollkommen verherrlichte und uns Leben und Herrlichkeit erwarb.

Beachten wir indes von vornherein, daß der Römerbrief, obwohl er uns das Evangelium Gottes in seiner ganzen Fülle vor Augen stellt, doch nicht über die genannten Grenzen hinausgeht. Der vor Grundlegung der Welt gefaßte Rat­schluß Gottes, der den Glaubenden heilig und tadellos in Liebe vor Gott hinstellt, ihm jetzt schon in Christo einen Platz in den himmlischen Örtern gibt, das Geheimnis von Christo und Seinem Leibe, der Versammlung, von dem zur Rechten Gottes verherrlichten Haupte der neuen Schöpfung, das was der Apostel, im Unterschiede von den anderen Apo­steln, so gern sein Evangelium nennt, finden wir im Römer­brief nur andeutungsweise. Wollen wir diesen Ratschluß kennen lernen, so müssen wir uns zu dem Brief an die Epheser wenden, während der Kolosserbrief mehr das Leben eines im Glauben auferstandenen Menschen be­schreibt.

Der Römerbrief betrachtet den Christen als einen auf dieser Erde lebenden Menschen, der das Leben Christi und den Heiligen Geist besitzt, so daß es für ihn, als „in Christo" geborgen, „keine Verdammnis mehr gibt". Seine Schuld ist getilgt, die Sünde ist gerichtet und, gerechtfertigt durch das Werk Christi, hat er Frieden mit Gott und ist berufen, in Neuheit des Lebens zu wandeln, ja, seinen Leib als ein lebendiges Schlachtopfer Gott wohlgefällig darzustellen. Un­ser Brief betrachtet ihn aber noch nicht als mit Christo auf­erstanden. Wohl zieht der Apostel die Folgerung: „Wenn wir mit ihm einsgemacht worden sind in der Gleich­heit seines Todes, so werden wir es auch in der seiner Auferstehung sein" (Kap. 6, 5), geht aber nicht weiter. Diese Wahrheit finden wir, wie oben bemerkt, im Kolosserbrief. Ich wiederhole: Was uns im Römerbrief vorgestellt wird, ist also das Gnadenwerk Gottes zur Rechtfertigung des gott­losen Sünders durch den Tod und die Auferstehung Jesu Christi, sowie die Annahme des Gläubigen in Christo, so daß er als „in Christo" betrachtet werden kann, aber lebend auf dieser Erde, obwohl nicht mehr als ein Mensch, der „im Fleische", sondern der „im Geiste" ist, weil Gottes Geist in ihm wohnt.

Als eine „neue Schöpfung" wird der Gläubige hier nicht gesehen, wenngleich wir aus anderen Schriftstellen wissen, daß er das ist, und daß das neue Leben, welches er besitzt, zu dieser neuen Schöpfung gehört. Die neue Schöpfung bildet einen Teil des Ratschlusses Gottes, und diesen finden wir, wie gesagt, im Römerbrief nicht. Der Mensch ist ein verantwortliches Geschöpf in dieser Welt und wird als sol­ches behandelt. Das Werk Christi ist seiner Verantwortlich­keit begegnet, und nun steht der Gläubige in dieser Welt, indem sein Leib ein Tempel des Heiligen Geistes ist und die Liebe Gottes durch diesen Geist in sein Herz ausgegossen ist. In Hoffnung errettet, steht er in der Gunst Gottes, rühmt sich in der Hoffnung der Herrlichkeit Gottes, ist ein Sohn Gottes und als solcher ein Erbe Gottes und Miterbe Christi, aber er erscheint nicht als mit Christo auferstanden, nicht als in Christo mitversetzt in die himmlischen Örter , sondern ist berufen, hienieden mit Christo zu leiden, um am Ende seines Weges dann auch mit Ihm verherrlicht zu werden.

Beschäftigen wir uns jetzt einen Augenblick mit der Ein­teilung oder dem Aurbau des Briefes. Nach einer kurzen Ein­leitung, in welcher der Apostel von dem ihm gewordenen Auftrag, „das Evangelium Gottes über Seinen Sohn" zu ver­kündigen, gesprochen und seiner Liebe zu den Gläubigen in Rom sowie seinem sehnlichen Verlangen Ausdrude: gegeben hat, sie zu sehen, um auch „ihnen etwas geistliche Gnaden­gabe mitzuteilen", beschreibt er mit wenigen Worten dieses Evangelium selbst. Er nennt es „Gottes Kraft zum Heil jedem Glaubenden" und sagt, daß „Gottes Gerechtigkeit darin geoffenbart werde aus Glauben zu Glauben" (V. l—17). So wird hier alles Gott zugeschrieben. Es ist Gottes Evan­gelium, Gottes Kraft und Gottes Gerechtigkeit.

Mit dem 18. Verse des 1. Kapitels beginnt dann die Be­schreibung des verderbten Zustandes des Menschen, seiner Schuldbarkeit. Wieder ist es „Gottes Zorn, der vom Himmel her geoffenbart wird über alle Gottlosigkeit und Un­gerechtigkeit der Menschen, welche die Wahrheit in Un­gerechtigkeit besitzen". Alle, Heiden und Juden, sind schuldig; die einen „gehen ohne Gesetz verloren", die anderen „werden durch Gesetz gerichtet werden". Die ganze Welt, ohne irgendwelche Ausnahmen, ist gerechter­weise dem Gericht Gottes verfallen. Jeder Mund ist ver­stopft. (Kap. 3, 20.)

Diesem furchtbaren Zustand ist Gottes Barmherzigkeit in Christo begegnet. Das einzige Heilmittel lag in dem Blute des Sohnes Gottes. Dieses Blut ist auf Golgatha ge­flossen, und nun offenbart sich Gottes Gerechtigkeit durch den Glauben an Jesum Christum gegen alle, und auf alle, die da glauben. Gott ist als gerecht erwiesen, sowohl in dem Hingehenlassen der früher geschehenen Sünden unter Seiner Nachsicht, als auch darin, daß Er jetzt den rechtfertigt, der des Glaubens an Jesum ist. Diese wunderbare Wahrheit wird bis zum 11. Verse des 5. Kapitels näher entwickelt. Sie warf alle Ansprüche der Juden auf vermeintliche, in ihrer Abstammung von Abraham begründete Vorrechte über den Haufen und öffnete allen, auch den für unrein gehaltenen Heiden, die Tür. Waren doch Abraham und David, diese beiden großen Säulen des Judentums, auf demselben Boden, durch Glauben, ohne Werke, gerechtfertigt worden.

Die Berufung auf Abraham führt den Apostel zu einer anderen, überaus wichtigen Wahrheit, nämlich zu der Auf­erstehung Christi und der Einführung des Gläubigen in einen ganz neuen Stand vor Gott; aus Glauben gerecht­fertigt, hat er Frieden mit Gott, steht in Seiner Gunst und hat Zugang zu Seiner Gnade. Die Auferstehung des Herrn ist der vollgültige Beweis seiner Annahme und Rechtfertigung.

Von Kapitel 5, 12 bis zum Ende des 8. Kapitels behandelt dann der Apostel die Frage der Sünde, nicht also der persönlichen Schuld, wie bisher, sondern der Sünde als solcher, des Zustandes des Menschen im Fleische. Im ersten Falle gibt es einen Unterschied in der Größe der Schuld und Verantwortlichkeit, im zweiten Falle nicht: wir alle sind von einem, von einer Natur, von einem Stoff, von einer Masse. Der Apostel redet daher von den Quellen zweier Naturen, oder von den Häuptern zweier Familien, von Adam und von Christo. In Übereinstimmung damit ist in diesem Teil unseres Briefes Christus nicht für unsere Sünden, sondern der Sünde gestorben. (Kap. 6, 10.) Wir werden nicht über das belehrt, was wir getan haben, sondern über das, was wir sind. Wir erfahren, daß in uns, d. 1. in unserem Fleische, Gutes nicht wohnt. Diese Erkenntnis kann einen Menschen, selbst wenn er schon das klare Bewußtsein der Vergebung seiner Sünden hat, tief unglücklich machen. Aber umso tiefer und beständiger ist dann auch der Friede, wenn der Gläubige auf dem Wege der Erfahrung lernt, daß Christus nicht nur für ihn gestorben ist, sondern daß er in Ihm mit-gestorbenist, und daß all die gesegneten Folgen Seines Todes ihm geschenkt sind. Wer gestorben ist, ist freige­sprochen von der Sünde; sie herrscht nicht mehr über ihn. Als ein Lebender aus den Toten vermag er sich selbst Gott darzustellen und seine Glieder Gott zu Werkzeugen der Gerechtigkeit. (Kap. 6.) Er ist auch dem ersten Ehemann gestorben, dem Gesetz, das ja für den Menschen im Fleische gegeben wurde, und ist eines Anderen geworden, des aus den Toten Auferstandenen. (Kap. 7.)

Während also der erste Hauptteil unseres Briefes durch die Worte Schuld und Vergebung gekennzeichnet werden kann, dürfen wir über den zweiten wohl die Über­schrift setzen: Sünde und Befreiung. Verschuldungen, Sünden in Worten und Werken, können vergeben, ein Zustand muß entfernt oder umgewa ndelt werden. In unserem Falle konnte das nur durch den Tod geschehen. Nun, wir sind in Christo unserem alten Zustand gestorben, um fortan, aufrecht gehalten durch die Gnade, in Neuheit des Lebens vor Gott zu wandeln. Sahen wir also im ersten Teile, daß unsere Sünden, als verantwortlicher Wesen im Fleische, durch den Tod Christi ausgelöscht sind, so lehrt uns der zweite Teil, daß wir durch dasselbe Mittel jetzt unseren Platz vor Gott in Christo haben. Das 8. Kapitel entwickelt dann die herrlichen Ergebnisse, die aus dieser Befreiung hervor­gegangen sind. Wir sind nicht mehr imFleische, sondern im Geiste, der Geist der Sohnschaft wohnt in uns, und wir erwarten die Erlösung unseres Leibes; Gott ist für uns, und nichts vermag uns zu scheiden von Seiner Liebe, die in Christo Jesu ist, unserem Herrn.

Wie aber sind diese Gnadenwege Gottes im Blick auf alle Menschen mit den besonderen Verheißungen zu vereinigen, die Gott Seinem irdischen Volke gegeben hat? Diese Frage behandelt der Apostel in den Kapiteln 9—11. Die Verheißun­gen waren bedingungslos gegeben worden, und nachdem die Juden, obwohl die natürlichen Nachkommen Abrahams, „sich an dem Stein des Anstoßes gestoßen" und durch Ungehorsam und Unglauben alle Ansprüche an jene Verheißungen ver­loren hatten, war Gott vollkommen frei, Seine in den Schrif­ten der Propheten schon niedergelegten Gedanken im Blick auf die Heiden zur Ausführung zu bringen. Er ist unum­schränkt in Seinem Tun, und, in dieser Unumschränktheit handelnd, hat Er einen Überrest aus Israel errettet und er­rettet heute aus Juden und Heiden, wen Er will. (Kap. 9 u. 10.)

Dennoch hat Gott Sein Volk nicht verstoßen. Seine Gnaden­gaben und Berufungen sind unbereubar, und wenn einmal die von Gott bestimmte Vollzahl der Nationen eingegangen ist, wird ganz Israel errettet werden; denn „aus Zion wird der Erretter kommen, und Er wird die Gottlosigkeit von Jakob abwenden". Die aus dem Ölbaum der Verheißung aus­geschnittenen Zweige werden wieder in ihren eigenen Ölbaum eingepfropft werden. (Kap. 11.)

Mit dem 11. Kapitel schließt der belehrende Teil des Briefes. Es folgen Ermahnungen, zunächst zu einem Gott wohlgefälligen Wandel in Erfüllung Seines guten und voll­kommenen Willens, dann im Blick auf das Verhältnis der Gläubigen zueinander als Glieder eines Leibes — dies ist die einzige Stelle in unserem Briefe, wo auf dieses Verhältnis hingedeutet wird — und schließlich im Verkehr unterein­ander, sowie der Obrigkeit gegenüber, die nach Gottes An­ordnung und als Seine Dienerin in dieser Welt steht. (Kap. 12 u. 13.) Es ist, mit einem Wort, der Christ im Hause Gottes, in der himmlischen Familie, und der Christ in der Welt.

Nachdem der Apostel dann im 14. und 15 Kapitel die Gläubigen ermuntert hat, hinsichtlich persönlicher Meinungs­verschiedenheiten über Essen und Trinken, Halten von Tagen und dergleichen, die wohl durch das Vorhandensein der jüdischen Elemente unter ihnen hervorgerufen waren, sich gegenseitig zu ertragen, mit den Schwachheiten der Schwachen Geduld zu haben und alle „gleichgesinnt, Christo Jesu gemäß", zu wandeln, spricht er noch einmal von seiner Hoffnung, bald nach Rom zu kommen und von dort nach Spanien zu reisen.

Im letzten Kapitel folgt eine ungewöhnlich lange Reihe von Grüßen an Personen, die dem Apostel in Rom persönlich bekannt waren und sich mehr oder weniger durch Treue und Fleiß im Dienst des Herrn ausgezeichnet hatten; ver­bunden mit einer ernsten Warnung vor Männern, die das liebliche Verhältnis zwischen den Geschwistern zu stören und Zwietracht und Ärgernis anzurichten suchten.

Tertius, der Gehilfe des Apostels und Schreiber des Brie­fes, — außer dem Briefe an die Galater hat Paulus bekannt­lich keinen seiner Briefe mit eigener Hand geschrieben, — und einige andere Brüder fügen ihre Grüße hinzu. Dann schließt der Apostel mit einem Gebetswunsch, der in wunder­barem Einklang steht mit alle dem, was er in dem Briefe ent­wickelt hat: „Dem allein weisen Gott durch Jesum Christum, ihm sei die Herrlichkeit in Ewigkeit! Amen."

Obwohl Paulus, wie wiederholt gesagt, im Römerbrief nicht von dem Ratschluß Gottes redet, kann er doch nicht umhin, in den letzten Versen wenigstens mit einigen Worten seines Evangeliums zu gedenken und des Geheimnisses, das in den Zeiten der Zeitalter verschwiegen war, aber heute geoffenbart und durch prophetische Schriften, nach Befehl des ewigen Gottes, kundgetan worden ist. Dieses Geheimnis, das sein Herz belebte und sein ganzes Sinnen und Denken aus­füllte, das zum Teil auch schon in den Briefen an die Korin­ther enthüllt worden war, hat er dann zur gegebenen Zeit, unter der Leitung des Heiligen Geistes, in den Briefen an die Epheser und Kolosser näher entwickelt.

Kapitel 1
Kapitel 1. 1-17

Der Gruß oder die Anrede, mit welcher der Apostel seinen Brief einleitet, ist ungewöhnlich lang und inhaltsreich. Paulus nennt sich zunächst einen Knecht (Sklaven) Jesu Christi. Ein Leibeigener Christi zu sein, betrachtete der Mann, der die christliche Freiheit kannte wie kein anderer, als eine beson­dere Ehre. Immer wieder nennt er sich so, und wahrlich, auch wir sollten es mit Freuden tun.

Aber er war nicht nur „Knecht", sondern auch „Apostel", und zwar ein „berufener Apostel". Nicht daß die übrigen Apostel das nicht gewesen wären, aber doch war er es in besonderem Sinne. Die Zwölfe waren durch den auf Erden lebenden Messias berufen und ausgesandt worden; er hatte Gnade und Apostelamt unmittelbar vom Himmel her emp­fangen, durch den zur Rechten Gottes verherrlichten Men­schensohn, und seine Sendung war dann durch den Heiligen Geist bestätigt worden. (Apstgsch. 9; 13, l—4.) Sein Apostel­amt gründete sich auch nicht auf irgend eine Bestimmung oder Ausrüstung seitens der Menschen — „nicht von Men­schen, noch durch einen Menschen" (Gal. 1. l) —, sondern allein auf Gott. Schon von seiner Mutter Leibe an durch Gott „abgesondert", war er später durch Gottes Gnade „berufen" worden. (Gal. 1. 15.)

„Abgesondert zum Evangelium Gottes." Gott hat eine gute Botschaft für die ganze Welt, für Juden und Heiden, eine Botschaft, die genau das Gegenteil von dem enthält, was die Menschen gewöhnlich von Gott denken. Denn wo ist der natürliche Mensch, der Ihn als den Gott kannte, welcher allen willig gibt und nichts vorwirft, der am Tode des Gesetzlosen kein Gefallen hat und zum Vergeben bereit ist? Jahrtausende waren allerdings schon dahingegangen, seitdem der Mensch von Gott abgefallen war, ohne daß Gott Sein Evangelium geoffenbart hätte. Aber unmöglich hätte Er in dieser langen Zeit über Seine Gnadenabsichten schweigen können; immer wieder hatte Er durch Seine Propheten in heiligen Schriften Verheißungen gegeben (V. 2), daß Licht aufgehen würde, und daß alle Enden der Erde Sein Heil sehen sollten. Und „als die Fülle der Zeit gekommen war, sandte Gott seinen Sohn, geboren von einem Weibe" (Gal. 4, 4).

Zu diesem Evangelium war Paulus, wie er hier sagt, ab­gesondert worden. Der Herr hatte ihn zu einem Diener und Zeugen verordnet, indem Er ihn herausnahm aus dem Volke Israel und den Nationen, zu denen Er ihn senden wollte, um ihre Augen aufzutun und ihnen Vergebung der Sünden zu verkündigen. (Apstgsch. 26, 16—18.) Den einen sollte er Befreiung vom Joche des Gesetzes, den anderen Erlösung aus der finsteren Macht Satans bringen. Und Der ihn berief und aussandte war Jesus, das verherrlichte Haupt Seines Leibes. Auf seine Frage: „Wer bist du, Herr?" war ihm die Antwort geworden: „Ich bin Jesus, den du verfolgst". Alles war in diesem Falle eigenartig: der Berufende, die Berufung und der Berufene. Darum konnte Paulus auch das ihm anvertraute Evangelium sein Evangelium oder das Evangelium der Herrlichkeit nennen. Es stellte ihn und die, welche seine Botschaft annahmen, auf einen ganz neuen Boden. Es nahm sie aus Juden und Heiden heraus und ver­band sie nicht mit einem lebenden Messias, sondern mit dem auferstandenen Menschensohn in der Herrlichkeit droben, dem Haupte einer neuen Schöpfung. Daher kannte Paulus auch „niemand nach dem Fleische", selbst Christum nicht (2. Kor. 5, 16), obwohl er Ihn in anderem Sinne durchaus als den Sohn Davids anerkannte.

Diese wunderbare Person war Gegenstand und Inhalt des von ihm gepredigten Evangeliums. Es war „das Evangelium Gottes über seinen Sohn, der aus dem Samen Davids ge­kommen ist dem Fleische nach" (V. 3). Als solcher, in Er­füllung der Verheißungen, in der Mitte Seines irdischen Volkes erschienen, war Christus verworfen worden. Damit hatte Israel als Volk alle A n r e c h t e an die Verheißungen verloren. Fortan konnte es für die Nachkommen Abrahams wie für die Heiden, die, entfremdet dem Bürgerrecht Israels, ohne Gott und ohne Hoffnung in der Welt waren, nur einen Boden der Annahme geben, den der bedingungslosen Gnade. Daß Gott, dessen Gnadengaben und Berufung unbereubar sind, dereinst auch Sein irdisches Volk segnen und ihm alle Seine Verheißungen erfüllen wird, ist eine kostbare Wahrheit. Heute aber sammelt Er aus Juden und Heiden ein himmlisches Volk. Der Heilige Geist ist herabge­kommen, um den „Sohn" zu verherrlichen und Ihm aus allen Völkern der Erde eine Braut, ein Weib zuzuführen.

So ist denn das, was einst nur als „Verheißung" bekannt war, zur Wirklichkeit geworden. Die Aussprüche der alttestamentlichen Propheten (denn nur diese kommen hier in Frage) sind in Erfüllung gegangen, insoweit sie die Menschwerdung des Herrn, Seinen Tod und Seine Auferstehung, sowie die herrlichen Folgen Seines Werkes betrafen. Die Dinge, welche sie einst für uns bedienten, sind uns jetzt verkündigt worden durch die Boten des Evangeliums in der Kraft des Heiligen Geistes. (Vergl. 1. Petr. 1. 10—12.) Wohl sind auch uns kost­bare Verheißungen für unseren Weg durch diese Welt ge­geben, aber darum handelt es sich hier nicht. Die hier in Rede stehenden, auf das Evangelium Gottes bezüglichen Ver­heißungen sind erfüllt.

Der, von welchem dieses Evangelium redet, ist erschienen, ist in die Welt gekommen, und zwar in zweierlei Art oder unter zwei verschiedenen Beziehungen. Er ist der Sohn Davids, dem Fleische nach, das Er in Gnaden angenommen hat; und Er ist der Sohn Gottes, und als solcher „in Kraft erwiesen dem Geiste der Heiligkeit nach durch Toten-Auferstehung" (V. 4). Als Sohn Davids war Er nicht nur der Gegenstand der Verheißungen Gottes, sondern auch der Er­füller derselben. Wir sagten bereits, daß das Volk Israel, dem die Verheißungen gehörten, durch die Verwerfung seines Messias alle Anrechte an dieselben verloren hat. Aber Gott hat gerade diese Tat dazu benutzt, um größere und herrlichere Dinge ans Licht zu bringen und Seinen ewigen Ratschluß zu erfüllen. Gott hat Den, der auf alle Seine Rechte als Sohn Davids verzichtete und sich in vollkommenem Ge­horsam dem Kreuzestode unterzog, aus den Toten aufer­weckt und Ihm Herrlichkeit gegeben. So ist Er als Sohn Gottes in Kraft erwiesen worden. Gott hatte diese Kraft schon in der Auferweckung des Lazarus geoffenbart; sie wird sich in der Auferweckung aller Heiligen wiederum offenbaren, aber den stärksten Beweis derselben finden wir in der Auf­erstehung des Herrn Jesus selbst. (Vergl. Job. 12, 28; Eph. 1. 20.) Er, der mit unseren Sünden beladen, für uns zur Sünde gemacht war und als solcher gerechterweise den Tod als Sold der Sünde erleiden mußte, ist als Sieger über Sünde, Tod und Teufel aus den Toten wieder hervorgekommen. Die „überschwengliche Kraft" Gottes hat sich da geoffenbart, wo der Tod als Folge der Sünde eingetreten war. Christus ist auferstanden; Sein Fleisch hat die Verwesung nicht ge­sehen, Seine Seele ist nicht im Hades zurückgelassen worden. (ps. 16, 10; Apstgsch. 2, 27.)

Doch was bedeutet der Ausdruck: „dem Geiste der Heilig­keit nach"? Von dem Propheten Jeremia lesen wir, daß er schon vor seiner Geburt für Gott abgesondert war (Jer. 1,5), und von Johannes dem Täufer wird gesagt, daß er von Mutterleibe an mit dem Heiligen Geiste erfüllt gewesen sei; aber Christus war, als Mensch, aus dem Heiligen Geist geboren, und Sein Leben war in jeder Beziehung der Ausdruck der Wirkungen dieses Geistes. Seine Worte waren Geist und Leben, und alle Seine Handlungen geschahen in der Kraft des Heiligen Geistes. Mit einem Wort, Er erwies sich in Seinem ganzen Leben als der Heilige Gottes, un­schuldig, unbefleckt, abgesondert von den Sündern, und schließlich opferte Er sich ohne Flecken Gott durch den ewi­gen Geist. (Hebr. 7, 26; 9, 14.) Als das vollkommene Speis­opfer: Feinmehl, mit Öl gemengt und mit 01 gesalbt, war Er allezeit der Ausdruck und Abglanz der Gottheit, deren Fülle leibhaftig in Ihm wohnte. Erprobt bis in den Tod am Kreuze, im heißesten Feuer geprüft, zeigte sich in Ihm nichts als Vollkommenheit und Wohlgeruch. Er starb (und Er mußte sterben), weil Er unsere Sache übernommen hatte, aber der Tod konnte Ihn nicht behalten. Getötet nach dem Fleische, ist Er lebendig gemacht worden nach dem Geiste, (1. Petr. 3, 18.) Das will sagen: In Seiner Auferstehung war die ganze wunderbare Kraft des Heiligen Geistes wirksam. Das ändert nichts an der Tatsache, daß der Vater es Seiner Herrlich­keit schuldig war, Den aufzuerwecken, der Ihn hienieden ver­herrlicht hatte, und daß der Sohn die Gewalt besaß, Sein Leben zu lassen und es wiederzunehmen. Die Auferweckung des Herrn war das überwältigende, öffentliche Zeugnis von der Kraft, die während Seines ganzen Lebens in Ihm gewirkt und Ihn als das erwiesen hatte, was Er war: der Sohn Gottes.

Der Gegenstand des Evangeliums Gottes ist also Christus, als Sohn Davids gekommen zur Erfüllung der Verheißungen, und als Sohn Gottes in Kraft erwiesen dem Geiste der Heiligkeit nach durch Toten-Auferstehung. Von diesem Herrn, der inzwischen mit Ehre und Herrlichkeit zur Rechten Gottes gekrönt worden war und nun als Herr und Christus handelte, hatte Paulus Gnade und Apostelamt empfangen, um alle Völker der Erde in Seinem Namen zum Glaubens­gehorsam zu führen. (V. 5.) In derselben Stunde, in welcher die Gnade ihm begegnet war, und Licht von oben in sein finsteres Herz hineingeleuchtet hatte, war er berufen worden, von dem zu zeugen, was er gesehen und gehört hatte und worin der Herr ihm noch weiter erscheinen wollte. (Apstgsch. 26, 16.) So war von vornherein der Inhalt und Bereich seines Dienstes weiter als der der Zwölfe. Darum ist hier auch wohl von Glaubens gehorsam die Rede, der sich willig unter die vom Himmel her gebrachte Botschaft beugt, welche sich jetzt nicht an Israel allein, sondern an die ganze Welt richtet.

Das also war der Apostel. Wie stand es nun mit den Gläubigen in Rom? Sie waren nicht zu Aposteln berufen, und doch waren sie Berufene: „Berufene Jesu Christi, Ge­liebte Gottes, berufene Heilige", und das alles „durch Jesum Christum, ihren Herrn". Fürwahr, herrliche Titel, die einerseits ihre neuen Beziehungen zu dem Vater und dem Sohne zum Ausdruck brachten, und anderseits darauf hin­wiesen, daß ihre Träger, wenngleich Paulus mit der Gründung der Gemeinde in Rom nichts zu tun gehabt hatte, doch seiner Autorität als Apostel der Nationen unterstanden. Als solcher konnte er mit der Machtvollkommenheit Christi an sie schrei­ben und ihnen seinen gewöhnlichen, aber so tief bedeutsamen Gruß senden: „Gnade euch und Friede von Gott, unserem Vater, und dem Herrn Jesus Christus!" (V. 7). Sie waren jetzt Kinder dieses großen Gottes und Knechte dieses reichen und gnädigen Herrn, und es war die Freude des Heiligen Geistes, sie durch den Apostel als solche anzu­erkennen.

Nie vorher waren solche Titel bekannt gewesen, weder zur Zeit der Patriarchen, noch unter der glorreichen Regie­rung eines David oder eines Salomo; nie auch waren Ge­fühle und Beziehungen kundgetan worden, wie sie uns in den nächsten Versen unseres Briefes entgegentreten. Wohl hatte Gott in mancherlei Weise sich geoffenbart und Seine herr­liche Größe oder Seine wunderbare Güte, Geduld und Treue kundgetan, aber solche Titel oder eine ähnliche Sprache, wie wir sie hier finden, suchen wir im Alten Testament vergeb­lich. Sie waren vor dem Kommen des Herrn in diese Welt einfach unmöglich. Ja, selbst noch während Seines Lebens und Wandeins auf dieser Erde hätten Gedanken und Gefühle, wie sie in den Versen 8—15 zum Ausdruck kommen, in den Herzen der Jünger nicht aufsteigen können. Dafür mußte das Werk auf Golgatha erst die Grundlage schaffen. Wenn wir uns vergegenwärtigen, daß die Versammlung in Rom zum allergrößten Teil aus Gläubigen bestand, die früher Heiden gewesen waren, staunen wir umsomehr über die innige Herzensverbindung zwischen ihnen und dem Apostel, dessen Angesicht sie noch nie gesehen hatten.

„Aufs erste danke ich meinem Gott durch Jesum Chri­stum euer aller halben, daß euer Glaube verkündigt wird in der ganzen Welt" (V, 8). Die Liebe ist stets bemüht, das her­vorzuheben und anzuerkennen, was es Gutes in dem ande­ren gibt. Paulus war in dieser, wie in so mancher anderen Beziehung, ein treuer Nachahmer seines Herrn. Die Lage und Bedeutung der Stadt Rom als Mittelpunkt des gewaltigen Römischen Reiches der damaligen Zeit macht es verständlich, daß die Kunde von der Treue der dortigen Gläubigen unter mancherlei Verfolgungen von außen und Versuchungen von innen in alle Welt gedrungen war, ähnlich dem Glauben der Thessalonicher, der an jedem Orte Macedoniens und Achajas ausgebreitet worden war, so daß der Apostel nicht nötig hatte, etwas zu sagen. Dafür dankte Paulus seinem Gott, und je mehr er das tat und die Gläubigen in Rom (samt so vielen anderen) in brennender Liebe und mit unablässigem Gebet auf seinem Herzen trug, umso tiefer und dringender wurde das Verlangen in ihm, sie zu sehen, um auch ihnen etwas geistliche Gnadengabe mitzuteilen und sie so im Glau­ben weiter zu befestigen. (V. 9—11.)

Welch eine Veränderung war doch mit diesem Manne vor­gegangen! Einst ein fanatischer Vertreter des Gesetzes, ein Verächter und Lästerer des Namens Jesu und ein glühender Feind Seiner Jünger — heute ein liebeerfüllter, unermüdli­cher Prediger der in Jesu geoffenbarten Gnade, ein Mann des Glaubens, der durch die Liebe wirkt, ein Sklave Jesu Christi, der in Mühen und Kämpfen, in Leiden und Drang­salen sich völlig für andere „verwandte" und umsomehr lieben wollte, je weniger er geliebt wurde. Das war der Mann — und wie vieles andere könnte noch von ihm gesagt werden! — der sehnlich danach verlangte, „nun endlich ein­mal durch den Willen Gottes so glücklich zu sein", auch zu ihnen nach Rom zu kommen. (V. 10.) Fürwahr, wenn es je einen Mann gegeben hat, der mit dem Herzen Jesu Christi für das geistliche Wohl der Herde besorgt war, dann war er es. Unwillkürlich drängt sich das Gebet auf unsere Lippen; „Herr, laß uns von ihm lernen! Laß uns seine Nachahmer sein, gleichwie er der Deinige war !"

Wie müssen solche Worte auch die Herzen der Gläubigen in Rom bewegt haben! Und Paulus konnte Gott selbst zum Zeugen anrufen, daß er die Wahrheit sagte. Ja, Ihm allein diente er „in seinem Geiste in dem Evangelium Seines Sohnes". Es war nicht ein Dienst in nur äußerem Eifer zur Erfüllung einer obliegenden Pflicht, sondern in innerer Wid­mung für Gott und bedingungsloser, liebender Hingabe an das Evangelium Seines Sohnes. Beachten wir im Vor­beigehen den Wechsel im Ausdruck. Hörten wir im 1. Verse von dem Evangelium Gottes, so hier von dem Evangelium S e i n es Sohnes. Es ist selbstverständlich dasselbe Evan­gelium, nur daß uns im ersten Falle die Quelle desselben gezeigt wird, im zweiten die Art und Weise, wie Gottes Liebe darin gewirkt hat, der Weg, den Jesus gegangen ist, um Verlorene zu erretten.

Geradezu rührend und zugleich ein eindrucksvoller Beweis von der Demut und Bescheidenheit des Apostels ist der Inhalt des 12. Verses. Wir hörten schon, daß Paulus nach Rom zu kommen wünschte, um den Gläubigen dort etwas geistliche Gnadengabe mitzuteilen, um sie zu befestigen, „das ist aber", so fügt er hinzu, „mit euch getröstet zu werden in eurer Mitte, ein jeder durch den Glauben, der indem anderen ist, sowohl euren als meinen". War es ein einfacher Bruder, einer gleich ihnen, der nach Rom kommen wollte, oder war es der große Apostel der Nationen? (Vergl. Phil. 2, 1—3.)

Die Versammlung in Rom sollte auch wissen, daß der Wunsch, sie zu besuchen, bereits alt war. „Ich will aber nicht, daß euch unbekannt sei, daß ich mir oft vorgesetzt habe, zu euch zu kommen, und bis jetzt verhindert worden bin" (V. 13). Paulus hatte also oft den Vorsatz gehabt zu kommen, aber Gott hatte es in Seiner Weisheit nicht geschehen lassen; über die wahrscheinlichen Gründe haben wir bereits ge­sprochen. Dennoch war der Wunsch, „auch unter ihnen einige Frucht zu haben, gleichwie auch unter den übrigen Nationen", durchaus berechtigt und Gott wohlgefällig, denn Paulus war ja als Apostel der Nationen ein Schuldner „sowohl Griechen als Barbaren (Fremdsprachigen), sowohl Weisen als Unverständigen". (V. 14.) Und dieser Schuld war er sich bewußt. Darum war er, soweit es ihn betraf, völlig bereit, auch denen, die in Rom waren, das Evangelium zu verkün­digen. (V. 15.) Die Weite der Reise, Furcht vor etwaigen Gefahren in der großen heidnischen Weltstadt oder irgend­welche ähnliche Abhaltungsgründe konnten ihn nicht beein­flussen. Der Herr hat denn auch seinen sehnlichen Wunsch erfüllt, allerdings auf einem ganz anderen Wege, als er und die Gläubigen in Rom es damals ahnen konnten, nämlich als „ein Gefangener Christi Jesu für sie, die Nationen" (Eph. 3, l).

Der beglückende Gedanke, auch in Rom das Evangelium verkündigen zu dürfen, führt den Apostel jetzt dahin, näher über den Charakter und Inhalt dieses Evangeliums zu reden und so zu der eigentlichen Lehre des Briefes zu kommen. „Denn ich schäme mich des Evangeliums nicht, denn es ist Gottes Kraft zum Heil jedem Glaubenden, sowohl dem Juden zuerst als auch dem Griechen" (V. 16). Das Evangelium ist Gottes Kraft, nicht eine bloße Lehre, eine Richtschnur für den Menschen, wie das Gesetz es gewesen war; darum ist es auch für „jeden Glaubenden". Es stellt nicht Anforderungen an den Menschen, sondern bringt ihm ein Heil, vollendet in Heiligkeit und Gerechtigkeit, unmittel­bar von Gott kommend und Gottes Kraft offenbarend. Es verkündigt dem Sünder, kraftlos wie er ist, ein Werk, das durchaus vollkommen und ein für allemal vollbracht ist. Deshalb ist es, wie gesagt, nur für den Glauben. Das Gesetz forderte, das Evangelium gibt, gibt bedingungslos und umsonst, und zwar jedem, der es annehmen will, ob Jude oder Heide. Der Jude war infolge seiner äußeren Verbindung mit Gott zuerst berufen, wenigstens solang das damalige religiöse System noch nicht endgültig beseitigt war; aber der Heide stand nicht hinter dem Juden zurück. „Die Gnade Gottes ist erschienen, heilbringend für alle Menschen" (Tit. 2, 11).

Im nächsten Verse beantwortet der Apostel die Frage, warum das Evangelium Gottes Kraft ist. „Denn", sagt er, „Gottes Gerechtigkeit wird darin geoffenbart, aus Glauben zu Glauben." Es ist nicht eine menschliche Gerechtigkeit, die uns aus (oder durch) Glauben, d. 1. auf dem Boden oder Grundsatz des Glaubens, zuteil wird, son­dern die Gerechtigkeit Gottes selbst. Was anders als die Kraft Gottes1 hätte so etwas zustande bringen können? Das Gesetz hätte eine menschliche Gerechtigkeit dem ge­geben, der es hielt, aber da war niemand, der es halten konnte. Zudem hätte eine auf dem Boden des Gesetzes er­langte Gerechtigkeit dem Menschen nur Leben auf dieser Erde schenken können; denn „wer diese Dinge getan hat, wird durch sie leben", d. h. am Leben bleiben, nicht sterben. Durch Glauben aber wird uns Gottes Gerechtigkeit ge­schenkt.

Was ist aber Gottes Gerechtigkeit? Diese Frage erscheint angesichts mancher Mißverständnisse, die über den Sinn des Ausdrucks herrschen, wohl berechtigt. Es ist nicht etwa eine Gerechtigkeit, die vor Gott gilt, wie Luther übersetzt hat; denn eine durch das Halten des Gesetzes erlangte Gerechtig­keit würde, wenn sie möglich wäre, tatsächlich Gültig­keit vor Gott haben. Aber die vollkommenste menschliche Gerechtigkeit könnte doch niemals Gottes Gerechtigkeit ge­nannt werden.
Wir müssen uns zu Gottes Wort wenden, um eine Ant­wort auf unsere Frage zu erhalten, und was sagt dieses Wort? In Johannes 16, 8—10 lesen wir, daß der Heilige Geist, dessen Kommen der Herr dort ankündigt, die Welt über­führen würde von Sünde, von Gerechtigkeit und von Gericht. „Von Sünde", sagt der Herr, „weil sie nicht an mich glauben, von Gerechtigkeit aber, weil ich zu meinem Vater gehe, und ihr mich nicht mehr sehet." Gottes Gerechtigkeit hat sich also darin erwiesen, daß Er Seinen Sohn zu Seiner Rechten setzte, weil dieser Ihn hienieden verherrlicht hatte. (Vergl. Joh. 13, 31. 32.) Mit anderen Worten: sie besteht darin, daß der Vater den Menschen Jesus Christus in die Herrlichkeit erhoben hat, die Er bei Ihm hatte, ehe die Welt war. (Joh. 17, 5.) Die Welt hat Den ver­worfen, den der gerechte Gott verherrlicht hat. So ist ihre Sünde vollkommen erwiesen, und es bleibt für sie nichts anderes übrig als Gericht.

Das Evangelium nun, welches Paulus predigte, verkündigte diese Gerechtigkeit Gottes, die sich einerseits darin erwies, daß sie Jesum aus den Toten auferweckt und mit Ehre und Herrlichkeit gekrönt hatte, und anderseits darin, daß sie nunmehr jeden an Jesum Glaubenden in dieselbe Stellung versetzt, in welche Er als Mensch eingegangen ist. Denn das, was Christus zur Verherrlichung Gottes getan hat, hat Er zu gleicher Zeit f ü r u n s getan, so daß der Apostel an einer anderen Stelle sagen kann: „Den, der Sünde nicht kannte, hat er (Gott) für uns zur Sünde gemacht, auf daß wir Gottes Gerechtigkeit würden in ihm" (2. Kor. 5, 21). Wie Gottes Gerechtigkeit zunächst in der Verherrlichung Christi erblickt wird, so wird sie heute in uns ge­sehen, die wir in Christo sind, und bald wird sie zur völligen Darstellung in uns kommen, wenn wir als die Frucht der Mühsal Seiner Seele in derselben Herrlichkeit mit Ihm er­scheinen werden.

Wenn das aber so ist, wenn wir der Gerechtigkeit Gottes bedürfen, um vor Ihm bestehen zu können, so ist es offenbar, daß wir nur durch Glauben, auf Grund einer bedingungs­losen Gnade, dazu gelangen können. Jedes Tun und Be­mühen des Menschen ist hier nicht nur ausgeschlossen, son­dern unmittelbar böse. Zugleich war auf diese Weise die Tür für alle Menschen geöffnet. Beide, Juden und Heiden, hatten in gleicher Weise auf dem Boden des Glaubens An­teil daran. Es war „aus Glauben zu Glauben". Der Glaube war das einzige Mittel, um ein solches Heil zu erlangen, und es wurde dem Glauben, wo er sich auch zeigen mochte, zuteil, wie geschrieben steht: „Der Gerechte aber wird aus Glauben leben" (Hab. 2, 4). Und wie es damals war, so ist es heute. Gott sei ewig dafür gepriesen! Gott erweist in der jetzigen Zeit Seine Gerechtigkeit darin, daß Er gerecht ist, wenn Er den rechtfertigt, der des Glaubens an Jesum ist (Kap. 3, 26), ja, wenn Er ihm heute schon einen Platz in Christo gibt in den himmlischen Ortern. (Eph. l.)

Kapitel 1. 18—32

Nach dem bisher Betrachteten verstehen wir, daß der Apostel sich des Evangeliums nicht schämte. Der Träger einer solchen Botschaft Gottes an die Welt hatte wahrlich keine Ursache, mit der Verkündigung derselben zurückzuhalten. Wo und wann war je Ähnliches gehört worden? Gottes Gerechtigkeit wurde frei und umsonst angeboten, und zwar allen Menschen ohne Unterschied, und ohne jedes menschliche Zutun, durch Glauben allein, wurde sie erworben.

Ganz von selbst kommt der Apostel jetzt zur Behandlung der Frage, wodurch eine solch allumfassende Liebestat Gottes notwendig geworden ist. Die veranlassende Ursache ist das hoffnungslose Verderben der ganzen Welt, die Schuldbarkeit aller Menschen, ob Juden oder Heiden. Wollte Gott der verlorenen Welt Seine Liebe beweisen, wollte Er Men­schen erretten, deren sündiger, heilloser Zustand sie un­rettbar dem Verderben entgegen führte, so mußte Er einen Boden schaffen, auf welchem Er nicht nur unbeschadet, son­dern auf Grund Seiner Gerechtigkeit ihnen gnädig sein konnte. So wie die Dinge lagen, konnte der heilige Gott nur Zorn offenbaren.

Wir begegnen deshalb auch im 18. Verse den bedeutungs­vollen, obwohl im allgemeinen wenig verstandenen Worten: „Denn es wird geoffenbart Gottes Zorn vom Himmel her über alle Gottlosigkeit und Ungerechtigkeit der Men­schen, welche die Wahrheit in Ungerechtigkeit besitzen."

Beachten wir zunächst die ganz gleichen Ausdrücke im 17. und 18. Verse: „es wird geoffenbart Gottes Gerechtig­keit", und „es wird geoffenbart Gottes Zorn". Beides ge­schieht in der gegenwärtigen Zeit, und zwar in Verbindung mit dem Evangelium. Gleichzeitig mit der in ihm darge­botenen Gerechtigkeit Gottes wird der Zorn Gottes vom Himmel her geoffenbart. Er wird noch nicht ausge­übt, die Zeit der Ausführung des Gerichts ist noch nicht da, aber der Zorn wird geoffenbart, und zwar neben dem Worte vom Kreuze herlaufend.

Das mag für den Augenblick befremdend klingen, wird uns aber verständlich werden, wenn wir an die durch das Kreuz Christi veränderte Sachlage denken. Auch früher schon hatte Gott zeitweilig ernste Gerichte über die Menschen kommen lassen. Wir brauchen uns nur an die große Flut, an Sodom und Gomorra, an das Rote Meer, an die Rotte Korah usw. zu erinnern. Aber alle diese Gerichte waren irdische Wege der Vorsehung Gottes gewesen, deutliche Zeichen Seiner Regierung, nicht aber eine Offenbarung Seines Zornes vom Himmel her. In diesen Heim­suchungen hatte Gott wohl Zeugnisse davon gegeben, daß Er gerecht und heilig ist und die Sünde haßt, aber Er war doch nie aus Seinem Dunkel hervorgetreten, der Vorhang verbarg Ihn. Erst als der Sohn Gottes Sein Sühnungswerk vollbrachte und darin die Grundlage zu unserer Errettung legte, trat es völlig ans Licht, wer Gott ist, freilich auch was der Mensch und was die Sünde ist.

Das Gesetz und die Wege Gottes im Alten Bunde hatten Teile Seines Wesens geoffenbart, aber niemals hatte Gott so deutlich gezeigt, wie unerträglich die Sünde und alles Böse für Ihn ist, wie es am Kreuze geschah, da, wo Er, der Sünde nicht kannte, für uns zur Sünde gemacht wurde und den Kelch des Zornes Gottes wider die Sünde trank. Zugleich war niemals Seine Liebe, Sein Erbarmen so ans Licht ge­treten, wie gerade dort. Mit der erschütterndsten Offen­barung der Gerechtigkeit Gottes verband sich am Kreuze der höchste Beweis Seiner Liebe. 

Noch einmal denn: Wird im Evangelium einerseits Gottes Gerechtigkeit geoffenbart und jedem Glaubenden um­sonst geschenkt, so zeigt Gott in Verbindung mit ihm ander­seits deutlicher und eindringlicher als je, daß Sein Zorn „alle Gottlosigkeit" (welcher Art sie sein mag) treffen muß; und nicht nur sie, sondern auch „alle Ungerechtigkeit der Menschen, welche die Wahrheit in Ungerechtigkeit besitzen". Es ist nicht länger ein einzelnes Volk, an welchem Gott die Missetaten heimsucht, wie einst an Israel (vergl. Amos 3,1.2), das Sein Wort besaß, auch handelte es sich nicht nur um Wege Seiner vergeltenden Regierung an Menschen und Völkern ihres Tuns wegen, sondern Er richtet jetzt alles Böse, alles, was mit Ihm, der Licht ist, im Widersprach steht. Sein Zorn wird vom Himmel her geoffenbart gegen alle Menschen ohne jegliche Ausnahme. Alle stehen ihrer Sünden wegen unter Seinem Zorn und bleiben darunter, wenn sie nicht im Glauben von dem ihnen ange­botenen Heil Gebrauch machen. (Joh. 3, 36.) Die Schuldbarkeit der einzelnen mag verschieden groß sein, aber alle sind schuldig, alle sind Kinder des Zorns, die ganze Welt ist dem Gericht Gottes verfallen.

„Gottlosigkeit" ist die charakteristische Bezeichnung des Zustandes der Heiden. Ohne Gott und ohne Hoffnung in der Welt, unwissend und verstockt, verfinstert am Verstande und entfremdet dem Leben Gottes, so lebten und leben sie dahin (Eph. 2, 12; 4, 18.) „Ungerechtigkeit" kennzeichnet mehr den Zustand des Juden, der nicht nur die Verheißungen Gottes besaß, sondern im Gesetz auch mit Gottes gerechten Forderungen an Sein Geschöpf bekannt gemacht worden war. Aber obwohl er die Gedanken Gottes über gut und böse wohl kannte, hat er doch die Ungerechtigkeit geliebt und die heili­gen, guten Gebote Gottes tausendfach übertreten. Die Vor­züge, die der Jude vor dem Heiden besaß, haben also nur dazu gedient, seine Verantwortlichkeit und Schuld zu mehren, geradeso wie heute die Schuld der Namenchristenheit infolge der ihr zuteil gewordenen Vorzüge riesengroß geworden ist.

Da die Versammlung oder Gemeinde in Rom zumeist aus früheren Heiden bestand, ist es erklärlich, daß der Apo­stel sich zunächst, (bis zum 16. Verse des zweiten Kapitels) mit dem Zustand der heidnischen Welt beschäftigt und erst nachher (Kap. 2, 17—3, 20) von der Ungerechtigkeit der Juden redet. Er zählt drei Gründe für die Schuldbarkeit der Heiden vor Gott auf:

    1. Sie besitzen das Zeugnis der Schöpfung. Das von Gott Erkennbare, Seine ewige Kraft und Göttlichkeit, wird von Erschaffung der Welt an in den von Ihm gemachten Dingen wahrgenommen. (V. 19. 20.)
    2. Sie haben im Anfang die Kenntnis Gottes gehabt. (V. 21.)
    3. Sie haben ein (wenn auch irregeleitetes) Gewissen, das in ihrem Innern zeugt, so daß „ihre Gedanken sich unter­ einander anklagen oder auch entschuldigen" (Kap. 2, 14. 15).

Die Heiden besitzen also viel mehr, als man gewöhnlich meint. Was aber haben sie mit dem ihnen Anvertrauten gemacht? Ach, sie sind ohne „Entschuldigung"! Obwohl sie durch die wunderbaren Werke und Gesetze der Schöpfung immer wieder von Gottes Größe, Macht und Weisheit über-. führt wurden, haben sie doch „weder ihn verherrlicht, noch ihm Dank dargebracht", sondern sind in ihrem Hochmut und Dünkel immer mehr der Torheit und Herzensverfinsterung verfallen. Gericht ist über sie gekommen. Dreimal be­gegnen wir in unserem Kapitel dem ernsten Wort: „Gott hat sie da hinge geben". In Seiner Güte ließ Er sich nicht an ihnen unbezeugt. Er gab ihnen „vom Himmel Regen und fruchtbare Zeiten und erfüllte ihre Herzen mit Speise und Fröhlichkeit" (Apstgsch. 14, 15—17), aber sie vergalten Seine Güte mit Undank und Verachtung.

Doch nicht nur gab es eine Möglichkeit, in der Schöp­fung Gott zu erkennen, die Menschen haben im Anfang tatsächlich auch Gott gekannt. (V. 21.) Bis zur großen Flut hören wir kein Wort von Götzendienst, und wenn auch des Menschen Bosheit groß wurde, hat es doch in jener ganzen langen Zeit, von Adams Erschaffung bis auf Noah, (mehr als 1600 Jahre) nie an einem Zeugnis für Gott gefehlt. Auch als auf der durch das Gericht gereinigten Erde die Ge­schichte des Menschen von neuem begann, gab es in der Familie Noahs, welche die Kenntnis Gottes besaß, wieder ein Zeugnis für das neuentstehende Menschengeschlecht. Aber anstatt auf dieses Zeugnis zu achten und das göttliche Licht auf Herz und Wege leuchten zu lassen, wandte der Mensch sich von Gott ab, vergaß allmählich, daß es nur einen lebendigen Gott gibt, und verfiel in Narrheit. „Indem sie sich für Weise ausgaben, sind sie zu Narren geworden und haben die Herrlichkeit des unverweslichen Gottes verwandelt in das Gleichnis eines Bildes von einem verweslichen Menschen und von Vögeln und von vierfüßigen und kriechenden Tieren" (V. 22. 23).

Mit wenigen Strichen malt der Apostel hier das vielge­staltige Verderben, in welches der Mensch nach der Flut in religiöser Hinsicht geraten ist, um dann den furchtbaren sittlichen Verfall zu beschreiben, der die nie fehlende Folge der Gottentfremdung und des Götzendienstes ist. „Darum hat Gott sie auch dahingegeben in den Gelüsten ihrer Herzen in Unreinigkeit, ihre Leiber untereinander zu schänden; welche die Wahrheit Gottes in die Lüge verwandelt und dem Geschöpf mehr Verehrung und Dienst dargebracht haben als dem Schöpfer." Wer ein wenig die Schriften der alten heidni­schen Völker kennt, weiß, wie sie an vielen Stellen von diesen Schändlichkeiten mit einer Offenheit Bericht geben, die unbegreiflich wäre, wenn wir nicht wüßten, bis zu welch einem Grade die Sünde zu verhärten und jedes Schamge­fühl zu töten vermag.

Dabei hat man nicht verfehlt, die Wahrheit Gottes in die Lüge zu verkehren und dem Geschöpf mehr Ehre zu geben als dem Schöpfer. Es ist ja nicht anders möglich. Wenn der Mensch aus der ihm geziemenden, einzig möglichen Stellung eines abhängigen Geschöpfes heraustritt, wird er die Beute seiner Leidenschaften und Lüste, ein Spielball Satans, des Vaters der Lüge, und rasch sinkt er hinab, bis er am Ende weit unter dem Tiere steht. Die Dinge, die in den Versen 26 und 27 genannt werden, können uns nur mit Abscheu und Ekel erfüllen. Und wie ernst ist der Gedanke, daß sie sich heute in der sogenannten christlichen Welt Zug um Zug wiederfinden! Auch das in 2. Tim. 3, 2 ff. gezeichnete prophe­tische Bild von den „letzten Tagen" der Christenheit gleicht genau dem hier in Vers 28—31 von der Heidenwelt ent­worfenen. Da fehlt nichts. Wie furchtbar wird das Gericht sein, das in Bälde über ein solches Verderben hereinbrechen muß!

Die Menschen haben es nicht „für gut gefunden, Gott in Erkenntnis zu haben", so lautet das Endurteil des Geistes Gottes. (V. 28.) Darum „hat Gott sie dahingegeben in einen verworfenen Sinn, zu tun was sich nicht geziemt"; und nun folgt jene lange finstere Liste, die mit „Ungerech­tigkeit und Bosheit" beginnt und mit „Treulose, ohne natür­liche Liebe, Unbarmherzige" endet. Was alles hat Gottes heiliges Auge in den vergangenen Jahrhunderten auf dieser Erde geschehen sehen, und was alles sieht es heute!

Und nicht nur hat der unter der verwüstenden Macht der Sünde zu einem Götzendiener und Narren gewordene Mensch an sich selbst den gebührenden Lohn seiner Verirrung emp­fangen und ist einem verworfenen Sinn übergeben worden, um alles Schändliche mit Gier zu tun, nein, es kitzelt seine Lust, andere es tun zu sehen, ja, es treibt ihn, solche, die noch verhältnismäßig rein geblieben sind, in denselben Schmutz hineinzuziehen, in welchem er sich bewegt. Er „er­kennt Gottes gerechtes Urteil, daß, die solches tun, des Todes würdig sind", aber trotzdem übt er es nicht nur selbst aus, sondern hat „Wohlgefallen an denen, die es tun" (V. 32.)

Könnte das herrliche Geschöpf, das einst in dem Bilde Gottes geschaffen wurde, sich noch mehr herabwürdigen, noch tiefer erniedrigen? Fürwahr, seine Schuld (nicht nur seine Sünde) ist aufs unzweideutigste erwiesen, und Gott ist nur gerecht, wenn Er den Schuldigen Seiner Heiligkeit gemäß richtet.

Kapitel 2
Kapitel 2, 1 — 16
Aber waren denn alle Heiden so tief gesunken, daß sie ausnahmslos unter das am Schluß des 1. Kapitels ausge­sprochene Urteil fielen? Nein, es gab auch solche unter ihnen, die sich mit Entrüstung von den Schändlichkeiten abwandten, die allgemein im Schwange waren und selbst mit Wohlgefallen betrachtet wurden. Diese Philosophen, Sittlichkeitsapostel usw. verurteilten die traurigen Wege ihrer Mitmenschen und bemitleideten oder verachteten die, welche sie gingen. Sie machten es wie die Schriftgelehrten und Pharisäer zur Zeit des Herrn Jesus, die sich hoch er­haben dünkten über die unwissende Volksmenge, ja, sie ver­fluchten. (Joh. 7, 48. 49.) Aber indem sie schwere und schwer zu tragende Lasten auf die Schultern der Menschen legten, wollten sie selbst sie mit keinem Finger bewegen. (Matth. 23, 4.) Und sich für sehend haltend, waren sie doppelt schul­dig — ihre Sünde blieb. (Joh. 9, 40. 41.)

Ähnlich war es mit den hier genannten Menschen. Sie „richteten" andere wegen ihres Tuns, und im verborgenen taten sie dasselbe, machten sich also erst recht verantwort­lich. „Deshalb bist du nicht zu entschuldigen, o Mensch, jeder, der da richtet; denn worin du den anderen richtest, verdammst du dich selbst; denn du, der du richtest, tust dasselbe" (Vers l). Bei Menschen mag man sich auf solchem Wege ein gewisses Ansehen verschaffen können, aber wird Gott sich jemals durch Scheinfrömmigkeit täuschen lassen, oder irgendwelche menschliche Gerechtigkeit anerkennen? Nein, „wir wissen, daß das Gericht Gottes nach der Wahrheit ist über die, welche solches tun" (V. 2). Gott prüft Herzen und Nieren. Unaufrichtigkeit und Heuchelei sind Ihm ein Greuel. Wie töricht also, wenn ein Mensch, der andere wegen ihrer Sünden verurteilt und doch die gleichen Sünden begeht, dem Gericht Gottes entfliehen zu können meint l (V. 3.) Indem er durch sein „Richten" zu er­kennen gibt, daß er Gottes Urteil über das Böse kennt und anerkennt, und es dennoch tut, erklärt er sich selbst für doppelt schuldig.

Der Apostel benutzt diese Gelegenheit, um einen wichtigen göttlichen Grundsatz ans Licht zu stellen. Nachdem Gott sich den Menschen auf mancherlei Weise geoffenbart hat, be­urteilt und behandelt Er jetzt jeden Menschen nach seinem Verhalten diesen Offenbarungen gegenüber. Der Apostel redet deshalb nicht mehr ausschließlich von Heiden, sondern ganz allgemein von Menschen, „ob Juden oder Griechen" (V. 9. 10), oder Namenchristen, wie wir heute hinzufügen könnten. .Du bist nicht zu entschuldigen, o M e n s c h", sagt er, jeder, der da richtet", und nachher: „Denkst du aber dies, o Mensch usw.?" Nun, für diesen Menschen kommt .ein Tag des Zorns und der Offenbarung des gerechten Gerichts Gottes" (V. 5), wo einem jeden nach seinen Werken vergolten werden wird, denn „bei Gott ist kein Ansehen der Person" (V. 11). Mag Gott auch in der Verfolgung besonderer Ratschlüsse und Gedanken aus den Bewohnern der Erde ein Volk zu Seinem Eigentumsvolk erwählt und ihm Sein Ge­setz und Seine guten Verordnungen gegeben haben, im Grunde gab und gibt es doch keinen Unterschied zwischen den Menschen. Ihrer Natur nach sind sie alle gleich, stehen allesamt als unreine, schuldige Sünder vor Gott, und alle haben nötig und werden aufgefordert, Buße zu tun. Wohl ist das Maß des Lichtes und der Erkenntnis verschieden, und Gott in Seiner Gerechtigkeit berücksichtigt das, aber alle müssen einmal vor Ihm offenbar werden, um zu emp­fangen was ihre Taten wert sind. (V. 6.)

Heute ist indes noch Gnadenzeit, und Gottes Güte ist beschäftigt, die Menschen zur Buße zu leiten. (V. 4.) Zur Buße? Was ist Buße? Buße besteht nicht, wie man meist denkt, in der Verurteilung der Ausflüsse der bösen Natur, obwohl diese selbstverständlich miteingeschlossen ist, sondern ist die völlige Sinnesänderung eines Menschen, die schonungslose Verurteilung des alten Ichs, soweit es jeweils im Lichte Gottes erkannt wird. Buße ist insofern also ein fortschreitendes Werk, ist ein Werk des Geistes Gottes im Innern der Seele, durch welches der aus seinem Sündenschlaf aufgewachte Mensch dahin geführt wird, immer ernster und gründlicher sich selbst und alle seine Wege in Gottes heiliger Gegenwart zu prüfen und zu richten. Wahre Buße bringt die Seele in Übereinstimmung mit Gott. Ohne Buße ist ein echter, errettender Glaube nicht denkbar. Auf dem Wege der Buße und des Glaubens wird der Mensch „in dem Geiste seiner Gesinnung erneuert" und zieht „den neuen Menschen" an, „der nach Gott geschaffen ist in wahrhaftiger Gerechtigkeit und Heiligkeit" (Eph. 4, 23. 24).

Nach dem Reichtum Seiner Gütigkeit, Geduld und Langmut ist Gott heute noch bemüht, den Menschen zur Buße zu leiten. Wehe deshalb einem jeden, der diese Güte Gottes verachtet, oder sich dieser Güte getröstet — man redet ja so gern von dem „lieben" Gott — und so das sichere Ge­richt zu vergessen sucht! Aber ach! wie viele Millionen von Menschen handeln so! Indem sie nichts von dem kommenden Gericht wissen wollen, versäumen sie den Tag der Gnade und vernachlässigen das große Heil, das ihnen angeboten wird. Ja, mehr noch: „Nach seiner Störrigkeit und seinem unbußfertigen Herzen häuft der Mensch sich selbst Zorn auf am Tage des Zorns und der Offenbarung des gerechten Gerichts Gottes." Wenn schon jemand, der das Ge­setz Moses verwirft, ohne Barmherzigkeit auf die Aussage von zwei oder drei Zeugen stirbt, „wieviel ärgerer Strafe wird der wert geachtet werden", der den Sohn Gottes verwirft und die Gnade verschmäht! (Vergl. Hebr. 10, 28. 29.)

Wenn wir den Gedankengang des Apostels erfaßt haben, der an dieser Stelle nicht, wie im ersten Kapitel, von dem Evangelium Gottes über Seinen Sohn redet, sondern die un­veränderlichen, gerechten Grundsätze und Wege Gottes den Menschen gegenüber vorstellt, so wird es uns nicht schwer werden, seine weiteren Ausführungen zu verstehen. Der gerechte Gott, bei dem es kein Ansehen der Person gibt, wird „an jenem Tage" einem jeden nach seinen Werken ver­gelten: „denen, die mit Ausharren in gutem Werke Herrlichkeit und Ehre und Unverweslichkeit suchen, ewiges Leben; denen aber, die streitsüchtig und der Wahrheit un­gehorsam sind, der Ungerechtigkeit aber gehorsam, Zorn und Grimm. Drangsal und Angst über jede Seele eines Menschen, der das Böse vollbringt, sowohl des Juden zuerst als auch des Griechen; Herrlichkeit aber und Ehre und Frieden jedem, der das Gute wirkt, sowohl dem Juden zuerst als auch dem Griechen" (V. 6—11).

Hat der Apostel im ersten Kapitel die herrliche Botschaft verkündet, daß das Evangelium „Gottes Kraft ist zum Heil jedem Glaubenden, sowohl dem Juden zuerst als auch dem Griechen", so stellt er hier, wo es sich um das gerechte Tun Gottes handelt, jeden Menschen, wiederum zuerst den Juden und dann den Griechen, vor ein ernstes Entweder — oder. Ein jeder muß vor Gott nach dem offenbar werden, was er in seinem Wandel und seinem inneren Zustand hienieden ge­wesen ist. Wer mit Ausharren in gutem Werke Herrlichkeit und Ehre und Unverweslichkeit gesucht hat, empfängt ewiges Leben; wer der Wahrheit ungehorsam, der Ungerechtigkeit aber gehorsam gewesen ist, Zorn und Grimm. Daß ein Mensch das erste nur tun kann unter den Gnadenwirkungen des Geistes Gottes, ja, daß das Suchen der genannten Dinge eine Kenntnis der im Christentum geoffenbarten Wahrheiten vor­aussetzt, ist eine Sache für sich, die hier nicht in Betracht kommt. Es handelt sich nur um die Darstellung der gerechten Wege Gottes mit dem Menschen, wenn Er dessen sittlichen Zustand, sein Sinnen und Trachten vor Sein heiliges Auge stellt. Ähnlich sagt der Herr in Johannes 5, 29, daß „die das Gute getan haben" zur Auferstehung des Lebens aus ihren Gräbern hervorkommen werden, „die aber das Böse verübt haben" zur Auferstehung des Gerichts.

Beachten wir auch die Weise, wie der Apostel hier von dem „ewigen Leben" spricht. Die mit Ausharren in gutem Werke Herrlichkeit usw. suchen, empfangen am Ende ihres Weges ewiges Leben, gehen in dieses Leben ein. Das ewige Leben wird hier also nicht als der gegenwärtige Besitz des Gläubigen in Christo betrachtet, sondern als das Ziel oder der Ausgang eines Pfades in treuem Dienst für den Herrn. In dieser Bedeutung kommt es auch an anderen Stellen vor. So gehen in Matthäus 25, 46 die Gerechten i n d a s ewige Leben. 

Timotheus wird ermahnt, das ewige Leben zu e r g r e i f e n; in dem Briefe an Titus wird von der Hoffnung des ewigen Lebens gesprochen. Der Evangelist und Apostel Johannes redet dagegen fast ausschließlich von dem ewigen Leben in dem erstgenannten Sinne. In unserem Briefe gibt es eine interessante Stelle, in welcher wir beide Bedeutungen vereinigt finden. In Kapitel 6, 22. 23 sagt der Apostel nämlich, daß wir, von der Sünde freigemacht, unsere Frucht zur Heiligkeit haben, als das Ende aber ewiges Leben, und fügt dann hinzu: „Denn der Lohn der Sünde ist der Tod, die Gnadengabe Gottes aber ewiges Leben in Christo Jesu, unserem Herrn." Jetzt schon in Christo im Besitz des ewigen Lebens als der Gabe Gottes stehend, gehen wir am Ende unseres Weges in den eigentlichen Bereich desselben, die Herrlichkeit, ein. Welche Gnade!

Weitergehend entwickelt der Apostel die verschiedene Größe der Verantwortlichkeit der einzelnen Menschen. Wenn auch alle verantwortlich sind, und Gottes Gericht in jedem Falle gerecht sein wird, bedingt doch die Höhe der jeweili­gen Vorrechte das Maß der Schuld. Es gab Menschen ohne Gesetz (die Heiden) und solche unter Gesetz (die Juden). Daß die ersten schuldig waren, hatte der Apostel in der zweiten Hälfte des ersten Kapitels klar bewiesen. Darum werden sie „auch ohne Gesetz verloren gehen"; es gibt kein Entrinnen für sie. Aber die unter Gesetz stehenden Juden, die, Gottes Willen kennend, Seine Gebote bewußt übertreten hatten, waren ungleich schuldiger als jene. Darum werden sie „durch Gesetz gerichtet werde n" (V. 12). Gerade ihre bevorzugte Stellung als Gottes Zeugnis unter den Völkern der Erde machte ihr Sündigen umso verhäng­nisvoller und strafbarer. War nicht sogar der Name Gottes ihretwegen unter den Heiden verlästert worden? (V. 24.) Würde Gott Sein Auge vor Bosheiten, wie sie sie verübt hatten, verschließen? Nein, gerade das Gesetz, dessen sie sich rühmten, würde ihr Richter sein.

An jenem Tage wird also ein jeder nach seiner persönli­chen Stellung und den Vorrechten, die er besessen hat, ge­richtet werden: der Heide als ohne Gesetz, der Jude als unter Gesetz, der Namenchrist als Besitzer und Bekenner der christ­lichen Wahrheiten. Wahrlich, der Richter der ganzen Erde wird recht tun. Jeder Mund wird verstopft werden, jede Einrede wird verstummen. Gott schaut, wie gesagt, nach Wirklichkeit aus. Er hat Wohlgefallen an der Wahrheit im Innern. Darum „sind nicht die H ö r e r des Gesetzes gerecht vor Gott, sondern die T ä t e r des Gesetzes werden gerecht­fertigt werden" (V. 13). Alles Scheinwesen ist ein Gegen­stand des Absehens vor Ihm, an Aufrichtigkeit hat Er Wohl­gefallen. Wenn daher Heiden, die kein Gesetz hatten, .von Natur die Dinge des Gesetzes ausübten", so waren sie vor Gott wohlgefälliger als ein Jude, der sich des Gesetzes rühmte und doch nicht scheute, es zu brechen. Sie waren dann, wie der Apostel es ausdrückt, »sich selbst ein Gesetz". Den Mahnungen ihres Gewissens folgend, soweit sie belehrt waren und .ihre Gedanken sich untereinander anklagten oder auch entschuldigten", zeigten sie das Werk des Gesetzes, geschrie­ben in ihren Herzen (V. 14. 15.) Obwohl sie das Gesetz nie gehört hatten, waren sie Täter des Gesetzes und wurden als solche von Gott anerkannt.

Hier wollen wir indes beachten, daß der Apostel nicht sagt, daß solchen Heiden das gegeben sei, was in Hebräer 10, 15. 16 als ein Zeichen des neuen Bundes erscheint, den der Herr am Ende der Tage Seinem irdischen Volke errichten will: .Indem ich meine Gesetze in ihre Herzen gebe, werde ich sie auch auf ihre Sinne schreiben", und: .Ihrer Sünden und ihrer Gesetzlosigkeiten werde ich nie mehr gedenken". Wir ständen sonst vor einem unlöslichen Widerspruch. Nein, nicht das Gesetz Gottes zeigte sich in den Herzen jener Heiden geschrieben, sondern das Werk des Ge­setzes. Nehmen wir z. B. an, ein Heide hätte die Ver­pflichtung in sich gefühlt, seine Eltern zu ehren oder seinen Nächsten zu lieben, so würde er, dieser Verpflichtung fol­gend, unbewußt die Gebote Gottes gehalten haben und in­sofern vor Ihm annehmlich gewesen sein. Ein solcher Heide war, wie wir weiter oben schon sagten, in seiner Unwissen­heit und Blindheit vor Gott weit wohlgefälliger, als ein un­treuer Jude mit all seinem vermeintlichen Wissen und seinen religiösen Vorzügen. Das stößt aber in keiner Weise den im 12. Verse aufgestellten ernsten Grundsatz um, daß alle, die ohne Gesetz gesündigt haben, verloren gehen, und alle, die u n t e r Gesetz gesündigt haben, dereinst durch Gesetz gerichtet werden.

Die Strenge des Gerichts wird dem persönlichen Tun und dem Maße der Verantwortlichkeit jedes einzelnen Menschen entsprechen, er mag Heide oder Jude oder Namenchrist sein, Wahrlich, ein erschreckender Gedanke für jeden Menschen, der den Willen Gottes kennt und doch den Begierden seiner Natur oder den Gedanken seines eigenwilligen, ungläubigen Herzens folgt! Dieses Gericht wird an dem Tage ausgeübt werden, „da Gott das Verborgene der Menschen richten wird durch Jesum Christum" (V. 16). Gott richtet und züchtigt schon heute einzelne Menschen und ganze Völker in den Wegen Seiner Vorsehung und Regierung, aber einmal wird Er „jedes Werk, es sei gut oder böse, in das Gericht über alles Verborgene bringen" (Pred. 12, 14). Es kommt ein Tag, an welchem der Herr, auch das Verborgene der Finsternis ans Licht bringen und die Ratschläge der Herzen offenbaren wird" (1. Kor. 4, 5).

Von diesem Tage spricht der Apostel hier, und wenn er von dem dann erfolgenden Gericht Gottes über den Menschen redet, fügt er hinzu: „nach meinem Evangelium". Paulus war der Träger des Evangeliums von Christo, dem gekreuzigten, auferstandenen und zur Rechten Gottes ver­herrlichten Menschen, der allen Gläubigen zur Gerechtigkeit, Heiligkeit und Erlösung geworden ist. Angesichts der wun­derbaren, errettenden Gnade, die in diesem Jesus erschienen ist, um allen ohne Unterschied Heil und Leben zu bringen, wird Gottes heiliger Zorn, der heute schon vom Himmel her geoffenbart wird (Kap. 1. 18), sich ergießen über alle, die gesündigt und die ihnen angebotene große Errettung ver­nachlässigt haben. Jesus selbst, der jetzt als Heiland den Sünder zur Buße ruft, wird dann als „Richter der Lebendigen und der Toten" all die verborgenen Ratschläge und Wege der Menschen ans Licht bringen, und ein jeder wird „emp­fangen, was er in dem Leibe getan, nach dem er gehandelt hat, es sei Gutes oder Böses" (2. Kor. 5, 10). Und das alles wird geschehen in Übereinstimmung mit dem Evange­lium, welches Paulus anvertraut war — „nach meinem Evangelium"! Welch eine vernichtende Antwort auf die Träumereien und Torheiten aller derer, welche, auf die Tat­sache sich berufend, daß Gott Liebe ist, das ewige Gericht leugnen und die endliche Errettung aller Menschen predigen! 

Kapitel 2, 17—29
Nachdem der Apostel im ersten Kapitel den sündigen Zustand der Heiden beschrieben und sich in den ersten 17 Versen des zweiten mit der Verantwortlichkeit des Men­schen im allgemeinen (ob Jude oder Heide) dem gerechten Gott gegenüber beschäftigt hat, wendet er sich jetzt zu dem Juden im besonderen. .Wenn du aber ein Jude genannt wirst und dich auf das Gesetz stützest und dich Gottes rühmst usw." (V. 17). Israel erfreute sich ja vor allen übrigen Völkern der Erde einer bevorzugten Stellung. Gott hatte sich ihm als der eine, wahrhaftige Gott geoffenbart, hatte ihm Seine guten, heiligen Gebote gegeben; der Jude war in den Gedanken Gottes unterwiesen und wußte „das Vorzüglichere zu unterscheiden", getraute sich deshalb, ein Leiter der Blinden und ein Lehrer der in Finsternis sitzenden Heiden zu sein. Von seiner vermeintlichen Höhe schaute er mitleidig oder gar verächtlich auf jene herab. Aber wie stand es tat­sächlich um ihn? Hatten die ihm geschenkten Vorzüge ihn dahin geleitet, in den Wegen Gottes zu wandeln? Hatte das Licht, das er besaß, dazu gedient, ihn vor den heidnischen Greueln zu bewahren?

Ach! Eine Form der Erkenntnis und der Wahrheit im Ge­setz besitzend und in der Meinung, „ein Erzieher der Törich­ten, ein Lehrer der Unmündigen" sein zu können, hatte er genau dasselbe getan wie der Heide, sich so doppelt schuldig gemacht. «Der du nun einen anderen lehrst, du lehrst dich selbst nicht? der du p r e d i g s t, man solle nicht stehlen, du stiehlst? der du sagst, man solle nicht ehebrechen, du be­gehst Ehebruch? der du die Götzenbilder für Greuel hältst, du begehst Tempelraub? der du dich des Gesetzes rühmst, du verunehrst Gott durch die Übertretung des Gesetzes?" (V. 21—23). Niederschmetternde Worte! All das eitle Reden, Meinen und Rühmen ließ die beschämende Lage des Juden nur in einem umso helleren Licht erscheinen. Wenn sein Gewissen noch irgendwie wach war, mußte er sich unter das strenge Urteil des Apostels beugen und seine Sünde und Torheit anerkennen.

Ja, die Juden hatten nicht nur Sünde auf Sünde gehäuft und ihrem Gott die schuldigen Opfer vorenthalten, indem sie sie zu ihrem eigenen Vorteil benutzten, sondern ihre Bosheit hatte eine solche Höhe erreicht, daß der Name Gottes ihrethalben unter den Heiden beständig gelästert wurde. (V. 24.) überall, wohin sie gekommen waren, hatten sie die­sen heiligen Namen der Entweihung preisgegeben. (Vergl. Jes. 52, 5; Hes. 36, 20—23.) Konnte ein Gott, der Seine Ehre keinem anderen gibt und ohne Ansehen der Person richtet nach eines jeden Werk, zu solchem Tun schweigen?

Er schaut, wie wir sahen, nach Wahrheit und Wirklichkeit aus. Äußere Formen und Zeremonien ohne innere Kraft können Ihm nicht genügen. „Beschneidung ist wohl nütze", fährt der Apostel deshalb fort, „wenn du das Gesetz tust; wenn du aber ein Gesetzesübertreter bist, so ist deine Beschneidung Vorhaut geworden (d. h. du unterscheidest dich in nichts mehr von einem Heiden)." Und umgekehrt: „Wenn die Vorhaut die Rechte des Gesetzes beobachtet, wird nicht seine Vorhaut für Beschneidung gerechnet werden?" Mit anderen Worten: wenn ein Heide die Rechte des Gesetzes beobachtet, so wird er dadurch vor Gott annehmlich, und ob­wohl ihm die äußeren Vorzüge des Juden mangeln, spricht er durch seine Erfüllung des Gesetzes das Urteil über den Juden, der „mit Buchstaben und Beschneidung ein Gesetzesübertreter ist" (V. 25—27). Beachten wir, daß der Apostel hier, wie in seinen früheren Belehrungen (V. l—16), nicht die Wahrheiten des Evangeliums entwickelt, sondern von den gerechten Wegen Gottes dem Menschen gegenüber redet. Daß diese Wege sich jedem aufrichtigen Gewissen empfehlen und in keiner Weise im Widerspruch stehen mit den Offenbarungen der Gnade Gottes in Seinem geliebten Sohne, braucht kaum hinzugefügt zu werden.

Das Ergebnis der Beweisführung des Apostels ist einfach und klar: „Nicht der ist ein Jude, der es äußerlich ist, noch ist die äußerliche Beschneidung im Fleische Beschneidung; sondern der ist ein Jude, der es innerlich ist, und Beschnei­dung ist die des Herzens, im Geiste, nicht im Buchstaben; dessen Lob nicht von Menschen, sondern von Gott ist" (V. 28. 29). Immer wieder begegnen wir derselben ernsten Tatsache: Gott hat Wohlgefallen an Aufrichtigkeit, alles Form- und Scheinwesen ist vor Ihm verwerflich. Was nützt alle äußere Religion, was die genaueste Beobachtung von Satzungen, wenn Herz und Gewissen nicht in das Licht Gottes gebracht sind? Beschneidung am inneren Menschen, im G e i s t e, ist notwendig, um ein wahrer Jude zu sein, dessen Lob nicht von Menschen, sondern von Gott ist.2
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Kapitel 3
Kapitel 3, 1—20
Wenn Gott aber so ernst nach Wirklichkeit verlangt und jede äußere Form verwirft, war es dann nicht besser, ein unbeschnittener Heide zu sein, dessen Verantwortlichkeit doch ungleich geringer war, als die eines Juden? Ganz von selbst entsteht so die Frage: „Was ist nun der Vorteil des Juden? oder was der Nutzen der Beschneidung?" Der Apostel antwortet: „Viel, in j e d e r Hinsicht. Denn zuerst sind ihnen die Aussprüche Gottes anvertraut worden" (V. 2). An anderer Stelle (Kap. 9, 4. 5) zählt er noch eine Reihe von weiteren Vorzügen des Juden auf, hier nennt er nur diesen einen, und zwar den hervorragendsten: sie besaßen das geschriebene Wort Gottes. Keinem anderen Volke auf Erden hatte Gott sich in solch unmittelbarer Weise geoffenbart, wie Seinem Volke Israel. Nur ihnen, den Nachkommen Abrahams, der einst durch die Beschneidung von allen anderen Menschen abgesondert worden war, hatte Er Sein gutes Wort gegeben. Aber wie hatten sie diesen Vorzug benutzt?

Israel hatte die Güte Gottes mit Füßen getreten. Es handelt sich hier nicht um die Frage, wie viele oder wenige von dem Volke persönlich bekehrt waren, sondern um die Vorrechte, die Israel als das Eigentumsvolk Gottes vor allen anderen Völkern besaß, und um die Frage, welchen Gebrauch es von diesen Vorrechten gemacht hatte. Nun, die Antwort war be­kannt genug: Israel war untreu gewesen. Aber würde seine Untreue die Treue Gottes aufheben und die göttlichen Aus­sprüche ungültig machen? „Das sei ferne!", erwidert der Apostel. „Gott aber sei wahrhaftig, jeder Mensch aber Lügner!" Gott steht unverbrüchlich zu Seinem Wort. Er wird Seine Verheißungen erfüllen, wenn auch Israel durch seine Untreue alle Ansprüche daran verloren hat. Diesen Punkt verfolgt der Apostel hier aber nicht weiter, sondern kommt erst im 11. Kapitel ausführlich darauf zurück.

Gleichwie Gott aber Seine Verheißungen wahr macht, so hält Er auch Sein Urteil über die Sünde aufrecht. Schon David hatte nach seinem schweren Fall seine einzige Hilfsquelle darin gefunden, daß er seine Sünde rückhaltlos bekannt und Gott gerechtfertigt hatte, mochte es ihn selbst kosten, was es wolle. Er sagt: „Ich habe getan, was böse ist in deinen Augen, damit du gerechtfertigt werdest in deinen Worten, und überwindest, wenn du gerichtet wirst" (V. 4; ps. 51, 4). Wie könnte auch jemals in Gottes Reden oder Richten ein Fehler gefunden werden? Am Ende wird alles zu Seiner Verherrlichung und zur Beschämung des Menschen ausschla­gen. Gott wird in jeder Beziehung als „Überwinder" da­stehen.

Aber — wir werden diesem „Aber", das der Menschengeist Gottes Aussprüchen gegenüber immer wieder erhebt, in unserem Briefe noch oft begegnen — wenn des Menschen Untreue die unfehlbare Treue und Wahrhaftigkeit Gottes nur umso glänzender hervortreten läßt, „wenn unsere Un­gerechtigkeit Gottes Gerechtigkeit erweist, was wollen wir sagen?" Ist Gott dann nicht ungerecht, wenn Er an denen Gericht übt, die durch ihr Tun Seine Treue in ein umso herrlicheres Licht stellen? Der Apostel sagt, daß er „nach Menschenweise" rede, d. h. so wie Menschen in ihrer Un­wissenheit unüberlegt sprechen und urteilen. Aber wieder antwortet er: „Das sei ferne!" Denn wenn dieser Einwurf berechtigt wäre, dann könnte Gott überhaupt niemand rich­ten, auch die Heiden nicht. (V. 6.) Daß Gott aber der gerechte Richter der ganzen Erde sei, hatte schon Abraham ausge­sprochen (1. Mose 18, 25), und die Juden waren durchaus der Meinung, daß die Gottlosigkeiten der Heiden Gericht verdienten.

Wie töricht und sinnlos also ist der Schluß, daß infolge der Tatsache, daß durch die Untreue des Menschen Gottes Treue sich umso herrlicher erweist, die Sünde und Schuld des Menschen geringer werde, Gott sich gar gehindert sehe, als Richter der ganzen Erde Recht zu üben! Mit anderen Worten:
daß Gott den Sünder nicht bestrafen dürfe, sondern gar noch belohnen müsse, weil seine Lüge die Wahrhaftigkeit Gottes umsomehr ans Licht stellt. Nein, Gott bleibt stets treu, un­veränderlich derselbe, „Er kann sich selbst nicht verleugnen" (2. Tim. 2, 13). Seine Verheißungen wie Seine Gerichtsandrohungen werden unausbleiblich in Erfüllung gehen. Trotz aller Einwendungen des Menschen werden Juden wie Heiden dem Gericht des heiligen Gottes verfallen.

Schließlich fragt der Apostel noch einmal: „Denn wenn die Wahrheit Gottes durch meine Lüge überströmender gewor­den ist zu seiner Herrlichkeit, warum werde ich auch noch als Sünder gerichtet?" Aber er überläßt jetzt die Antwort den Hörern oder Lesern. Ein natürlich aufrichtiges Gewissen kann bezüglich der Antwort auch nicht in Verlegenheit kommen. Könnten, selbst in menschlichen Beziehungen, die vielleicht günstigen Folgen eines Ver­gehens den Täter von Schuld und Strafe befreien, oder das Vergehen selbst gar in etwas Lobenswertes verwandeln? Dieser ganz widersinnige Gedanke erinnert den Apostel dann an den bösen Grundsatz, der den Gläubigen von ihren Fein­den in den Mund gelegt wurde. Man sagte nämlich, daß sie sprächen; „Laßt uns das Böse tun, damit das Gute komme I" (V. 8). Innerlich entrüstet über eine solche Beschuldigung, die schließlich nur die eigene innere Stellung der Redenden verriet, fügt er hinzu: „deren Gericht gerecht ist". Wer so redet, spricht sich selbst das Urteil. Aber die Gnade wird immer angegriffen und verunglimpft werden, solang das Ge­wissen nicht von der Sünde überführt ist; wo das aber ge­schieht, da wird sie verstanden und dankbar begrüßt.

Mit dem 9. Verse nimmt der Apostel seinen Gedankengang wieder auf und fragt, an Vers l anknüpfend: „Was nun? Haben wir einen Vorzug?" Die Antwort lautet: „Durchaus nicht; denn wir haben sowohl Juden als Griechen zuvor be­schuldigt, daß sie alle unter der Sünde seien." Beide Klassen waren widerspruchslos der Sünde überführt. Die Juden, ob­wohl völlig bereit, das im Blick auf die Heiden zuzugeben, hätten sich selbst gern diesem Urteil entzogen. Darum führt Paulus jetzt eine Reihe von Stellen aus ihren eigenen Schrif­ten an, die in schlagender Weise dartun, daß sie nicht nur selbst Sünder waren, sondern daß sie es in der Sünde weiter getrieben hatten als die Heiden. Diese Beweisführung ist zu Boden schmetternd. Gerade die Aussprüche Gottes, die den Juden anvertraut waren, und deren sie sich, als ihnen allein gehörend, so gern rühmten, entwarfen ein furchtbares Bild von ihrem sittlichen Zustand. Die Schilderung der Sünden und Schändlichkeiten der Heiden im ersten Kapitel ist erschüt­ternd, aber die Täter waren eben Heiden, die ohne Gott in der Finsternis ihrer Herzen dahinlebten. Aber hier handelt es sich um Juden mit ihren mannigfaltigen, großen Vorzügen!

Da war nicht ein Gerechter unter ihnen, nicht einer, der nur nach Gott gefragt hätte. Allesamt waren sie abge­wichen und untauglich geworden, keiner war da, der Gutes getan hätte, auch nicht einer. Alle ihre Glieder hatten sie als Werkzeuge der Ungerechtigkeit benutzt; alles an ihnen war verderbt, durch Sünde und Gewalttat befleckt: ihr Schlund, ihre Zunge, ihre Lippen, ihr Mund, ihre Füße, ihre Wege. Keine Furcht Gottes gab es vor ihren Augen. Die Zeugnisse von diesem schrecklichen Verderben sind aus den Psalmen und Propheten zusammengetragen. Was konn­ten die Juden darauf erwidern? Nichts. Denn „wir wissen, daß alles, was das Gesetz sagt, es denen sagt, die unter dem Gesetz sind". Der Beweis der Schuld, der doppelt großen Schuld der Juden war also unwiderleglich erbracht.

Und nun kommt die geradezu überwältigende Schlußfol­gerung. Sie lautet: „auf daß jeder Mund verstopft werde und die ganze Welt dem Gericht Gottes verfallen sei". Jeder Mund, auch der des Juden, verstopft, ja, noch wir­kungsvoller verstopft, als der des Heiden; die ganze Welt, Juden und Heiden, unrettbar dem Gericht Gottes verfallen — das ist in der Tat ein Ergebnis, wie man es sich furchtbarer nicht denken könnte. Die gesamte Menschheit dem Gericht Gottes verfallen! Alle, ob religiös oder gottlos, gut oder böse, verstummen vor dem Richterstuhl des heiligen Gottes! Welch eine Demütigung für den Stolz und die Selbstgefällig­keit des eitlen Menschen! Und umsonst lehnt er sich mit aller Macht dagegen auf. So steht es mit der Welt nach Gottes Urteil. 

Der Apostel schließt den ganzen Abschnitt mit den Worten: „Darum, aus Gesetzeswerken wird kein Fleisch vor ihm gerechtfertigt werden; denn durch Gesetz kommt E r k e n n t n i s der Sünde" (V. 20). Wenn es irgendwie eine Möglichkeit gegeben hätte, durch Werke Gerechtigkeit vor Gott zu er­langen, so wäre sie dem Volke Israel in dem Gesetz vom Sinai gegeben gewesen. Aber genau das Gegenteil war ein­getreten: der Zustand der Juden hatte sich, wie wir gesehen haben, so schlimm erwiesen, daß sie zu einem Sprichwort unter den übrigen Völkern geworden waren. Ihre Schuldbarkeit war also durch die Übertretung des Gesetzes, dessen Unverletzlichkeit sie anerkannten, riesengroß geworden.

Doch hätte es anders sein können? Nein; denn das Gesetz überführt nur von der Sünde, läßt sie in ihrer ganzen Häßlichkeit erscheinen — sie wird „überaus sündig durch das Gebot" (Kap. 7, 13) — aber es kann niemals Heiligkeit hervorbringen, niemals den Sünder vor Gott rechtfertigen. Indem es ihn die Sünde in ihrem wahren Charakter erkennen läßt, verurteilt es ihn in seinem Gewissen, so daß nichts anderes für ihn übrigbleibt, als Beugung und Selbst­gericht, oder, wenn er die Gnade versäumt, am Ende ein schreckensvolles Verstummen.

Kapitel 3, 21-31
„Jetzt aber" — mit diesem kurzen Wort leitet der Apostel einen ganz neuen Abschnitt ein, der uns mit lieb­licheren Gegenständen beschäftigen soll, als der lange, von Kapitel 1. 18—3, 20 sich hinziehende Zwischensatz. Hat er in diesem von dem traurigen Zustand des Menschen ge­sprochen, von den schrecklichen Folgen seines Falles, die in dem Endergebnis gipfeln, daß die ganze Welt dem Gericht Gottes verfallen ist, führt er uns jetzt zu dem, was Gott dem hoffnungslosen Verderben des Menschen gegenüber getan hat — zur Offenbarung Seiner Gerechtigkeit im Evange­lium. Das Gesetz hatte diese Gerechtigkeit nicht offenbaren, hatte nicht einmal eine menschliche Gerechtigkeit schenken können — denn durch das Gesetz ist nur Erkenntnis der Sünde gekommen. Aber in dem Evangelium der Gnade wird Gottes Gerechtigkeit geoffenbart „aus Glauben zu Glauben". 

Damit kommt der Apostel auf den 17. Vers des ersten Kapitels zurück. Diese Gerechtigkeit hat mit dem Gesetz nichts zu tun, obwohl sie durch das Gesetz bezeugt worden ist: „Jetzt aber ist, ohne Gesetz, Gottes Gerechtigkeit ge­offenbart worden, bezeugt durch das Gesetz und die Pro­pheten: Gottes Gerechtigkeit aber durch Glauben an Jesum Christum gegen alle und auf alle, die da glauben." Welch eine wunderbare Wahrheit, ja, welch eine Fülle von Wahr­heit in so wenigen Worten! Wir haben schon weiter oben ein wenig von der Gerechtigkeit Gottes gesprochen. Sie findet ihren Maßstab nicht in der Verantwortlichkeit des Menschen, sondern in Gott selbst, in Seiner Natur. Gott richtet den Menschen nach dessen Verantwortlichkeit, aber Seine Ge­rechtigkeit offenbart sich in Seinem Tun; und wo und wie Er sich offenbaren mag, da kann es nur zu Seiner Verherr­lichung ausschlagen. Gottes Offenbarung ist immer auch Seine Verherrlichung.

Gottes Gerechtigkeit ist also ohne Gesetz geoffenbart worden. Das Gesetz war dem Menschen und seinem Ver­hältnis zu Gott angepaßt. Es gebot ihm, Gott über alles zu lieben, aber Gott blieb bei alledem im Dunkel, und das Gesetz erwies nur die Schuld und völlige Hilflosigkeit des Menschen. Wo ein aufrichtiges Gewissen war, mußte es anerkennen, daß die eigene, auf gesetzlichem Boden erwachsene Gerechtig­keit nur aus schmutzigen Lumpen bestand. Gottes Ge­rechtigkeit steht ganz und gar außerhalb jedes Gesetzes und hat sich, wie wir sahen, zunächst darin erwiesen, daß Er Jesum auf Grund Seines vollbrachten Werkes zur Rechten Seiner Majestät mit Herrlichkeit und Ehre gekrönt hat. Wohl haben das Gesetz und die Propheten des Alten Bundes von dieser Gerechtigkeit geredet, sie bezeugt, aber mehr als das konnten sie nicht tun. Wir lesen in Jesaja 46, 13: „Ich habe meine Gerechtigkeit nahe gebracht, sie ist nicht fern, und mein Heil zögert nicht", und im 56. Kapitel desselben Propheten: „Mein Heil steht im Begriff zu kommen, und meine Gerechtigkeit, geoffenbart zu werden" (V. l; vergl. auch Kap. 51, 5. 6. 8; Dan. 9, 24). So haben diese alten Zeugen Gottes Gerechtigkeit angekündigt, ihre Offenbarung als nahe bevorstehend bezeichnet, damit aber zugleich bekundet, daß sie in ihren Tagen nicht geoffenbart war.

Jetzt aber ist sie geoffenbart worden, und zwar durch Glauben an Jesum Christum, den gekreuzigten und verherr­lichten Heiland. Das Gesetz wußte nichts von einem Stellver­treter und Bürgen für den schuldigen Sünder, es konnte nur in schwachen Schatten und Vorbildern auf den Kommenden hinweisen. „Jetzt aber" — Gott sei gepriesen für dieses Wort! — ist in Jesu Christo Gottes Gerechtigkeit g e o f f e n b a r t worden. Die Gnade zeugt von einem Eintreten und Eingreifen Gottes in Seinem geliebten Sohne, dessen Er nicht geschont hat, um unser schonen zu können. Das Kreuz auf Golgatha redet indes nicht nur von dem Vorrecht Gottes, da, wo alle Hoffnung verloren war, in Gnaden eingreifen zu können, sondern auch von Seiner Gerechtigkeit, die sich darin kundgibt, daß Er jetzt jeden rechtfertigt, der des Glaubens an Jesum ist. Anderseits bekennt der Mensch durch sein Glauben an das Zeugnis Gottes über Seinen Sohn, daß er schuldig und sündig ist, jeder eigenen Gerechtigkeit entbehrt und nur durch das Sühnungswerk Christi der Gerechtigkeit Gottes teilhaftig werden kann.

Stände diese Gerechtigkeit irgendwie mit dem Tun des Menschen in Verbindung, so wäre sie durch Gesetz, könnte also nur für Israel in Betracht kommen. Aber weil es Gottes Gerechtigkeit ist, so findet sie Anwendung auf alle Menschen ohne Unterschied, es ist „Gottes Gerechtigkeit g e g e n a 11 e", d. h. sie ist a 11 e n zugewandt, ist für alle da. Gerade weil es sich um eine Gerechtigkeit handelt, die gegründet ist auf das Werk Christi, der für alle starb, hat sie Bezug auf die ganze Welt, auf alle Menschen, ob Juden oder Heiden. Aber — beachten wir es wohl! — obwohl sie allen zugänglich gemacht ist, kommt sie doch nur auf alle, kommt nur denen zugute, welche glauben. Nur wer in persönlichem Glauben mit Christo in Verbindung kommt, hat teil an ihr und genießt alle die Vorrechte, die mit ihr in Verbindung stehen.

„Denn es ist kein Unterschied, denn alle haben gesündigt und erreichen nicht die Herrlichkeit Gottes" (V. 23). Der gefallene Mensch wurde durch die Herrlichkeit Gottes aus dem Garten Eden vertrieben, und seine weitere Geschichte ist nichts als Sünde und wachsende Entfremdung von Gott. Er ermangelt alles dessen, was ihm einen Platz in Gottes heili­ger Nähe geben könnte. Die Herrlichkeit Gottes muß ihn ver­zehren. Und da ist k e i n Unterschied, alle haben gesündigt, keiner erreicht (oder reicht hinan an) die Herrlichkeit Gottes. Aber, Gott sei gepriesen! gerade so wie alle Men­schen von Natur in derselben Stellung vor Gott sich befinden, so ist auch für alle ohne Unterschied die gleiche Gnade da alle, die da glauben, „werden umsonst gerechtfertigt durch seine Gnade, durch die Erlösung, die in Christo Jesu ist" (V. 24). Alles ist Gottes Werk und deshalb so voll­kommen; alles gründet sich auf die Erlösung, die in Chri­sto Jesu ist, und steht deshalb so unerschütterlich fest. Alle Glaubenden standen und stehen auf demselben Boden vor Gott: gestern unterschiedslos Sünder und Ver­lorene, heute unterschiedslos Gerechtfertigte und Begnadigte.

Doch wie ist die Erlösung zustande gekommen? Selbst­verständlich konnte es nur auf einem Wege geschehen, der den Forderungen der Heiligkeit und Gerechtigkeit Gottes völlig Genüge leistete. Schon im Alten Bunde hatte Gott diesen Weg vorbildlich dargestellt. Einmal im Jahre, am Versöhnungstag, ging der Hohepriester in das Allerheiligste, um das Blut des Opfertieres auf den goldenen Deckel, der auf der Bundeslade lag, zu sprengen und so Sühnung vor Gott zu tun. Das Blut befand sich nunmehr zwischen den Cherubim, den heiligen Wächtern über die Ausführung der gerechten Regierungswege Gottes, und dem gebrochenen Ge­setz, das, von Gottes Finger unauslöschlich eingegraben, auf den beiden in der Bundeslade liegenden Steintafeln stand. So war das Blut gleichsam an die Stelle der Sünde getreten, der Thron des Gerichts auf gerechter Grundlage in einen Gnadenstuhl umgewandelt. Nur das Blut eines von Gott an­erkannten und angenommenen Opfers konnte so etwas tun.

Heute ist das Vorbild in Erfüllung gegangen. Gott hat Christum Jesum „dargestellt zu einem Gnadenstuhl durch den Glauben an sein Blut" (V. 25). Das kostbare Blut des Sohnes Gottes ist in die Gegenwart Gottes gebracht und dort in seinem ganzen Werte vor Gott gesprengt worden. Christus ist sowohl der Hohepriester, der mit Seinem eigenen Blute gekommen und ins Heiligtum eingegangen ist, als auch der von Gott aufgerichtete Gnadenstuhl. Sein Blut hat eine voll­kommene Sühnung gebracht. Wer zu diesem Blute seine Zu­flucht nimmt, tritt als ein Gerechtfertigter auf den Boden der Erlösung. Seiner Sünden will Gott nie mehr gedenken, und das nicht nur auf Grund Seiner Gnade, sondern „zur Erweisung seiner Gerechtigkeit wegen des Hingehenlassens der vorher geschehenen Sünden unter der Nachsicht Gottes, zur Erweisung seiner Gerechtigkeit in der jetzigen Zeit, daß er gerecht sei und den rechtfertige, der des Glaubens an Jesum ist" (V.25. 26).

Gott konnte die Sünden der Seinigen in alttestamentlichen Zeiten in Nachsicht tragen, weil Er auf das Opfer voraus­blickte, das auf Golgatha gebracht werden sollte. Er sah das kostbare Blut, das von aller Sünde reinigt, und konnte un­beschadet Seiner Gerechtigkeit, nein, zur Erweisung der­selben, an diesen Sünden mit Nachsicht vorübergehen. Die spätere Aufrichtung des Gnadenstuhls, die Er voraussah, und die in den Opfern des Alten Testamentes fortwährend vorgebildet wurde, hat Ihn in diesem Tun gerechtfertigt. Doch überdies erweist sich Gottes Gerechtigkeit in der gegenwär­tigen Zeit darin, daß Er den rechtfertigt, der des Glaubens an Jesum ist. Es handelt sich nicht länger um Nachsicht. Die Schuld i s t bezahlt, das Sühnungsblut ist geflossen. Gottes Gerechtigkeit steht nicht länger in Aussicht, sie ist in Christo ans Licht gebracht, geoffenbart worden, so daß Gott heute Seine Gerechtigkeit gerade darin erweisen kann, daß Er jeden Sünder rechtfertigt, der an Jesum glaubt. Er ist nur gerecht, wenn Er das tut.

Wunderbare Wahrheit! In der Tat, sie ist eines Gott-Heilandes würdig, sie verherrlicht Ihn und Den, der da kam, um Gottes Heilsplan auszuführen, während sie für den Menschen keinerlei Raum zu seiner Verherrlichung läßt. Darum fragt der Apostel auch in Vers 27: .Wo ist denn der Ruhm? Er ist ausgeschlossen worden." Gott will Seine Ehre keinem anderen geben, am allerwenigsten dem hochmütigen, eigen gerechten Menschen.

Doch wie ist dem Menschen jeder Ruhm genommen worden? »Durch was für ein Gesetz? Der Werke? Nein, sondern durch das Gesetz des Glaubens." Der Leser ist vielleicht erstaunt, das Wort „Gesetz" hier zu finden. Aber er wolle bedenken, daß Paulus dieses Wort oft gebraucht, um eine bekannte Regel, einen durch Erfahrung festgestellten Grundsatz zu bezeichnen. Er denkt bei dem Worte keines­wegs immer an das Gesetz vom Sinai. (Vergl. z. B. Kap. 7, 21. 23; 8, 2.) Ähnlich reden wir von Naturgesetzen, vom Gesetz der Schwere usw. Was ist es nun, das im vorliegenden Falle den Ruhm ausgeschlossen hat? Die einfache, klar fest­gestellte Tatsache, daß kein Mensch durch sein Tun gerecht­fertigt werden kann, daß das vielmehr nur auf dem Grund­satz des Glaubens möglich ist. Man sagt zwar oft: .Keine Regel ohne Ausnahme." Aber hier ist eine Regel, die k e i n e Ausnahme zuläßt. Wenn wir urteilen müssen — und da ist kein anderes Urteil möglich — »daß ein Mensch durch Glauben gerechtfertigt wird, ohne Gesetzeswerke", so fällt unbedingt aller Ruhm Dem zu, an welchen man glaubt. »Das Gesetz des Glaubens" verschließt ein für allemal jedem Selbstruhm die Tür. Das mag tief beschämend und demüti­gend sein für den eigen gerechten Menschen, aber es ist überaus kostbar für den bußfertigen, verlorenen Sünder.

Ist dies aber der einzige, von Gott bereitete Weg zur Rechtfertigung, so folgt daraus, daß Gott nicht Gott der Juden allein ist, oder auch nur mehr Gott der Juden, als der Heiden. Nein, Er ist der „einige" Gott. Er war das freilich schon im Alten Testament, wenngleich Er, als alle Völker der Erde dem Götzendienst verfallen waren, in Abraham und seinen Nach­kommen sich ein Volk erkor, das die Erkenntnis des einen wahren Gottes auf Erden bewahren sollte. Jetzt aber hat Er in Gnaden Seinen Platz als Gott über alle Menschen, Juden und Heiden, eingenommen, und Er rechtfertigt einen beschnit­tenen Juden nicht etwa auf Grund seiner Werke, auf dem Boden des Gesetzes, sondern nur „aus Glauben", d. h. auf dem Grundsatz des Glaubens, und einen unbeschnittenen Heiden, der kein Gesetz kennt, nur „durch Glauben", d. h. mittels des Glaubens. Ein anderes Mittel der Rechtfertigung gibt es nicht.

So ist denn jeder Unterschied aufgehoben. Alle Menschen sind verlorene, ohnmächtige Sünder, die nur durch Gnade, durch den Glauben an das Werk eines Anderen errettet wer­den können. „Gott hat", wie der Apostel im 11. Kapitel es ausdrückt, „alle zusammen (Juden und Heiden) in den Un­glauben eingeschlossen, auf daß er alle begnadige", oder unter die Begnadigung bringe. ,0 Tiefe des Reichtums, so­wohl der Weisheit als auch der Erkenntnis Gottes l" (V. 32.33).

Aber, könnte man fragen, wird nicht die Autorität des Gesetzes durch eine solche Lehre geschwächt? Werden nicht seine heiligen Rechte dadurch beiseite gesetzt? „Das sei ferne!" antwortet der Apostel. Anstatt das Gesetz aufzu­heben, bestätigen wir es. (V. 31.) Das Gesetz hat niemals eine unzweideutigere Bestätigung gefunden, als gerade durch das Wort vom Kreuz. Das Evangelium lehrt nicht nur die ganze Verdammungswürdigkeit des Menschen, sondern auch die Notwendigkeit einer vor Gott gültigen Gerechtigkeit. Das Gesetz gibt freilich keine Gerechtigkeit, aber es fordert sie. Der „Glaube" erkennt beides an, sowohl das völlige Verderben des Menschen als auch die Notwendigkeit der Gerechtigkeit, und siehe da, anstatt einer menschlichen Gerechtigkeit, wie das Gesetz sie verlangt, empfängt er dankbar die ihm umsonst geschenkte Gerechtigkeit Gottes! Zugleich lehrt das Evangelium, daß Christus uns von dem Fluch des Ge­setzes losgekauft hat, indem Er ein Fluch für uns geworden ist. Da der heilige Gott den Grundsatz der Verpflichtung gegen das von Ihm gegebene Gesetz selbstverständlich in keiner Weise schwächen konnte, „sandte er seinen Sohn, ge­boren von einem Weibe, geboren unter Gesetz, auf daß er die, welche unter Gesetz waren, loskaufte, auf daß wir die Sohnschaft empfingen" (Gal. 4, 4. 5).

Wir fragen: Hätte das Gesetz jemals deutlicher bestätigt oder seine Autorität vollkommener festgestellt werden können?

Kapitel 4
Nach Behandlung der Frage, in welcher Beziehung der Glaube zum Gesetz steht, kommt Paulus jetzt ganz von selbst zu der anderen, wie es mit den Gläubigen des Alten Testa­ments aussah, ehe das Evangelium von Jesu der ganzen Welt gepredigt wurde. Da sind es denn vornehmlich zwei Perso­nen, die für den Apostel in Frage kommen, weil sie, der eine als Empfänger und Träger der Verheißungen Gottes, der andere als Vertreter des von Gott erwählten Königtums, für jeden Juden von besonderer Bedeutung waren. Mit ihnen standen alle Erwartungen Israels in Verbindung. War doch der Messias der Sohn Davids, des Sohnes Abrahams l (Vergl. Matth. 1. l.) In beiden Männern, vornehmlich aber in Abraham, werden wir die Beweisführung des Apostels be­stätigt finden. Er fragt zunächst:

„Was wollen wir denn sagen, daß Abraham, unser Vater, nach dem Fleische gefunden habe? Denn wenn Abraham aus Werken gerechtfertigt worden ist, so hat er etwas zum Rüh­men, aber nicht vor Gott. Denn was sagt die Schrift? „Abra­ham aber glaubte Gott, und es wurde ihm zur Gerechtig­keit gerechnet"." (V. l—3). Abraham erlangte die Gerech­tigkeit samt der Verheißung, „daß er der Welt Erbe sein sollte" (V. 13), auf dem Grundsatz des Glaubens. Von einem Tun Abrahams war dabei gar keine Rede. Es gab deshalb nichts darin, dessen er sich hätte rühmen können. Alles war die freie Gabe Gottes. Gott sprach, und Abraham glaubte. Gott verhieß in Gnaden einen Segen, und Abraham verherrlichte Gott, indem er wider Hoffnung auf Hoffnung glaubte. Und dieser Glaube wurde ihm zur Ge­rechtigkeit gerechnet.

Jakobus scheint im 2. Kapitel seines Briefes dem hier Ge­sagten zu widersprechen, wenn er fragt: „Ist nicht Abraham, unser Vater, aus Werken gerechtfertigt worden, da er Isaak, seinen Sohn, auf dem Altar opferte?" (Jak. 2, 21). Aber wenn wir uns daran erinnern, daß Jakobus an die zwölf Stämme Israels, also an meist unbekehrte Menschen, ge­schrieben hat, die wohl ein Bekenntnis, aber nicht wahren Herzensglauben besaßen, daß er deshalb auf eine praktische Bestätigung des Bekenntnisses, Glauben zu haben, dringt, so schwindet die Schwierigkeit. Die Opferung Isaaks war ein Beweis des bereits vorhandenen Glaubens. Der Glaube wirkte bei dieser Opferung mit und wurde durch sie vollen­det, geradeso wie bei Rahab die Aufnahme und Entlassung der Kundschafter auf einem anderen Wege den Glauben in ihr bewies und das Bekenntnis, das sie den Kundschaftern gegenüber abgelegt hatte, rechtfertigte. In beiden Fällen han­delt es sich also nicht um Rechtfertigung vor Gott, sondern vor Menschen, um den allen sichtbaren Beweis, daß das Bekenntnis zu glauben echt war. In der Opferung Isaaks und in dem freien Entlassen der Kundschafter (trotz der damit verbundenen Lebensgefahr für Rahab) zeigte sich ein be­wußter und wirksamer Glaube. Beide Taten waren nicht Gesetzes werke — weder Totschlag noch Landesverrat werden vor dem Gesetz gutgeheißen — auch nicht gute Werke in dem gewöhnlichen Sinne des Wortes, sondern Wer­ke des Glaubens, durch welche dieser sich als wahr und lebendig erwies. Denn ein Glaube, der nicht Werke hat, ist tot, ist nur ein Kopfglaube. Das ist die Seite der Wahrheit, die Jakobus vertritt.

Welcher Schluß mußte nun aber aus der Geschichte Abra­hams gezogen werden? Wenn Abraham durch Werke gerecht­fertigt worden wäre, so wäre etwas dabei auf seine Rechnung gekommen; aber wie wäre das möglich gewesen vor einem heiligen Gott, vor dem selbst die Himmel nicht rein sind? Nein, die Schrift berichtet nichts Gutes von Abraham, keiner­lei Werke, auf Grund deren Gott ihn hätte rechtfertigen kön­nen. Was sagt sie vielmehr? „Abraham aber glaubte Gott." So steht geschrieben, und so war und ist es in vollem Einklang mit dem Evangelium. Gott handelt auch heute noch so. Nachdem Christus für Gottlose und Sünder gestorben ist, wird jeder Glaubende von Gott in Gnaden angenommen. Gott ist jetzt ein Gott, „der den Gottlosen rechtfertigt", wobei naturgemäß Ihm alle Ehre zufallen muß.

Wenn ein Mensch eine Arbeit verrichtet, so wird ihm Lohn dafür zuteil, kleiner oder größer, je nach dem Wert und Umfang der Arbeit. Er empfängt eine Vergütung, und zwar nicht als Geschenk, sondern als Verdienst, als etwas ihm rechtlich Zukommendes. „Der Lohn wird nicht nach Gnade zugerechnet, sondern nach Schuldigkeit" (V. 4). Wenn aber jemand „nicht wirkt, sondern an den glaubt, der den Gottlosen rechtfertigt", und dieser Glaube ihm zur Ge­rechtigkeit gerechnet wird, welch ein einwandfreier und herr­licher Beweis für die Lehre von der freien Gnade! Das ist dann in der Tat das Gegenteil von einer Rechtfertigung auf dem Boden gesetzlicher Werke. Und so hatte Gott einst mit Abraham und den übrigen Gläubigen des Alten Bundes ge­handelt.

Der Nicht wirkende, der erkannt hat, daß er vor Gott nichts anderes ist als ein unreiner, verlorener Sünder, und nun im Glauben Gott naht als Dem, der auf Grund des Sühnungswerkes Christi den schmutzigen Sünder reinigen, den Gottlosen rechtfertigen kann, wird auf Grund dieses seines Glaubens gerechtfertigt. Die Gerechtigkeit Gottes, die mit dem Wirken des Menschen durchaus nichts zu tun hat, wird sein aus freier Gnade ihm geschenktes Teil.

So spricht auch David, der königliche Sänger, obwohl er unter Gesetz stand, im 32. Psalm nicht von der Glückseligkeit der Täter dieses Gesetzes — ach! er hatte schmerzlich genug erfahren, daß es eine solche nicht gibt — sondern von der „Glückseligkeit des Menschen, welchem Gott Gerechtigkeit ohne Werke zurechnet". Er preist Menschen glückselig, die das Gesetz verfluchen mußte — Sünder, die das Gesetz nicht beobachtet hatten, deren Gesetzlosigkeiten aber der in Gnade handelnde Gott vergeben, deren Sünde Er zudecken wollte. „Glückselig der Mensch, dem der Herr Sünde nicht zu­rechnet!" (V. 6—8.) Im Anschluß daran fragt der Apostel weiter:

„Diese Glückseligkeit nun, ruht sie auf der Beschneidung, oder auch auf der Vorhaut? denn wir sagen, daß der Glaube dem Abraham zur Gerechtigkeit gerechnet worden ist. Wie wurde er ihm denn zugerechnet? als er in der Beschneidung oder in der Vorhaut war? Nicht in der Beschneidung, son­dern in der Vorhaut" (V. 9. 10).

Daß nicht Werke, sondern der Glaube Abraham zur Ge­rechtigkeit gerechnet worden ist, stand also ein für allemal fest; aber die Frage blieb noch offen, besonders für die Nach­kommen Abrahams, wann diese Zurechnung stattgefunden hatte. War Abraham damals schon beschnitten, oder noch nicht? Nein, erst viele Jahre später, als er bereits in seinem 100. Lebensjahre stand (vergl. 1. Mose 17), empfing er „das Zeichen der Beschneidung als Siegel der Gerechtigkeit des Glaubens", den er vorher hatte. (V. 11.) Darum ist Abraham mehr als irgend ein anderer geeignet, Vater aller derer zu heißen, die als Unbeschnittene glauben, „damit auch ihnen die Gerechtigkeit zugerechnet würde". Zugleich ist er aber auch Vater der Beschneidung — beachten wir, daß der Apo­stel nicht sagt: der Beschnittenen — das will sagen, der Be­schneidung in ihrer wahren Bedeutung, als Zeichen einer wirklichen Absonderung für Gott, sei es im Blick auf die a u s der Beschneidung, die gläubigen Juden, oder auf die, welche als Unbeschnittene in den Fußstapfen des Glaubens wandeln, den Abraham vor seiner Beschneidung hatte. (V. 12.) Diese Absonderung hatte für Abraham begonnen, als Gott ihn in­mitten des ihn umgebenden Bösen durch die Beschneidung (das Bild des Todesurteils über das Fleisch) für sich beiseite stellte. Er war also nicht durch diesen Akt gerechtfertigt worden, die Beschneidung war nicht ein Mittel rechtfertigen­der Gnade, sondern das Siegel der unserem Patriarchen schon Jahrzehnte vorher zugerechneten Gerechtigkeit. Die Gläubigen aus den Nationen waren deshalb auch, ihrem Vater entsprechend, in geistlichem Sinne genau so beschnitten wie die Gläubigen aus den Juden. Da war kein Unterschied. Abraham war der Vater aller.

Mit dem 13. Verse beginnt ein neuer Gedanke. Abraham war der Träger der Verheißung Gottes. Stand nun diese, ihm oder seinem Samen gegebene „Verheißung, daß er der Welt Erbe sein sollte", irgendwie mit dem Gesetz in Ver­bindung? War sie von der Erfüllung desselben abhängig ge­wesen? Unmöglich! Eine bedingungslos gegebene Verheißung schließt ganz von selbst die Erfüllung gesetzlicher Ver­pflichtungen aus. Gott redet weder im 12. Kapitel des 1. Bu­ches Mose noch im 22., wo Er Seine Verheißung dem Samen Abrahams bestätigt, ein einziges Wort vom Gesetz. Es wäre, wie gesagt, gar keine Verheißung gewesen, wenn ihre Er­füllung von dem Tun dessen abhängig gemacht worden wäre, der sie empfing. Nein, Gott gibt, und Gott erfüllt die Verheißung. Das Erbe wird nicht durch Gesetz erlangt, „son­dern durch Glaubensgerechtigkeit". Darum, wenn die vom Gesetz Erben wären, so wäre „der Glaube zunichte gemacht und die Verheißung aufgehoben" (V. 14).

„Denn das Gesetz bewirkt Zorn; aber wo kein Gesetz ist, da ist auch keine Übertretung" (V. 15). Die ganze Geschichte Israels beweist die ernste Wahrheit dieses Satzes. Das Ge­setz vom Sinai, so gut und gerecht es war, hat in dem Menschen nur dessen Eigenwillen geweckt und die natürliche Feindschaft seines Herzens ans Licht gestellt, die sich in der Übertretung der heiligen Gebote Gottes kundgegeben hat und infolge dessen Gottes Zorn über den Menschen bringen mußte. Wo kein Gesetz ist, da mag wohl Sünde vorhanden sein, aber diese offenbart sich nicht in der Form von Über­tretung. Erst wenn ein Gebot gegeben ist, kann es über­treten werden, und gerade aus diesem Grunde kam, wie Paulus in Kapitel 5, 20 sagt, „das Gesetz daneben ein, auf daß die Übertretung (nicht: die Sünde) überströmend würde". Wie könnte also durch Gesetz das Erbe erlangt werden? Zudem war zur Zeit Abrahams das Gesetz noch gar nicht gegeben. Was ihm gegeben wurde, war, ich wiederhole es, eine bedingungslose Verheißung, die völlig unabhängig war von jedem menschlichen Wirken und sich einzig und allein auf die Gnade Gottes gründete.

„Darum ist es aus Glauben, auf daß es nach Gnade sei, damit die Verheißung dem ganzen Samen fest sei, nicht allein dem vom Gesetz, sondern auch dem vom Glauben Abrahams, welcher unser aller Vater ist", sowohl der Gläubigen aus den Juden als auch derer aus den Heiden. (V. 16.) Das stimmt auch mit dem Worte Gottes an Abraham überein: „Ich habe dich zum Vater vieler Nationen gesetzt" (V. 17). Die Gnade ist weit über die Grenzen Israels hinaus­gegangen und hat sich in Christo, dem wahren Samen Abra­hams, allen Völkern der Erde zugewandt. Wir sehen also immer wieder, daß allein der Glaube Anspruch auf das Erbe gibt, und zwar „vor dem Gott, welchem er (Abraham) glaubte, der die Toten lebendig macht und das Nichtseiende ruft, wie wenn es da wäre; der wider Hoffnung auf Hoffnung geglaubt hat, auf daß er ein Vater vieler Nationen würde, nach dem was gesagt ist: „Also soll dein Same sein"." (V. 17. 18.)

In diesen Worten tritt eine weitere kostbare Wahrheit vor unsere Blicke: die Kraft der Auferstehung, die Kraft, da Leben zu geben, wo alles im Tode liegt, in schöpferischer Weise da zu wirken, wo für Menschen jede Hoffnung aus­geschlossen ist. Diese Kraft war es, auf welche Abraham rechnete, als sein Leib so gut wie tot und der Mutterleib der Sara schon abgestorben war.

Für den Glauben hängt alles von dieser Kraft ab und von dem Gott, in welchem sie ist. Und dieser Glaube war in be­wunderungswürdiger Weise in Abraham wirksam: „Abraham zweifelte nicht an der Verheißung Gottes durch Unglauben, sondern wurde gestärkt im Glauben, Gott die Ehre gebend, und war der vollen Gewißheit, daß er, was er verheißen habe, auch zu tun vermöge" (V. 20. 21). Welch ein ermuntern­des und erhebendes Beispiel des Glaubens! Für das natürliche Auge Abrahams war alles hoffnungslos, aber Gott hatte ge­sprochen, und das war genug für ihn. Abraham glaubte dem Worte Gottes und wurde nicht beschämt. Wie schön ist die Steigerung: Abraham zweifelte nicht, sondern wurde gestärkt im Glauben, indem er Gott die Ehre gab, und er war der vollen Gewißheit, daß Gott Sein Wort erfüllen würde: „Also soll dein Same sein"! „D a r u m ist es ihm auch zur Gerechtigkeit gerechnet worden" (V. 22), und „er wurde Freund Gottes genannt" (Jak. 2, 23). Gott ehrt den, der Ihm die Ehre gibt.

Beachten wir, daß der Glaube hier nicht in Verbindung gebracht wird mit dem Blute Christi, „welchen Gott zu einem Gnadenstuhl dargestellt hat", wie im 25. Verse des vorigen Kapitels, sondern mit Gott, „der Jesum, unseren Herrn, aus den Toten auferweckt hat" (V. 24). Abraham glaubte Gott, der die Toten lebendig macht und das Nicht­seiende ruft, wie wenn es da wäre. Durch Glauben urteilte er, daß Gott seinen geliebten, eingeborenen Sohn „aus den Toten zu erwecken vermöge, von woher er ihn auch im Gleichnis empfing" (Hebr. 11, 17—19). Der Glaube ließ ihn so urteilen: „Wenn Gott den Isaak von mir fordert, den Er mir gegeben und in welchem Er mir Seine Verheißung be­stätigt hat, so muß Er ihn aus dem Tode wiederbringen und das Nichtseiende wieder ins Dasein rufen. Seine Verheißung ist unverbrüchlich." Wiederum möchten wir ausrufen: Be­wunderungswürdiger Glaube! Ja, nicht von ungefähr trägt Abraham den Titel „Vater aller Gläubigen".

Abraham kannte also den Gott der Auferstehung. Auch wir kennen Ihn und glauben an Ihn. Doch mit dem Unter­schied, daß Abraham und die alttestamentlichen Gläubigen Gott kannten als den allmächtigen Gott, der Verheißungen gegeben hatte, die zu ihrer Zeit sicher und gewiß in Er­füllung gehen würden; während wir Ihn kennen als den Gott, der in triumphierender Macht in den Bereich des Todes ein­getreten ist und Den aus den Toten auferweckt hat, der einst für uns im Gericht stand. Abraham glaubte, daß Gott Tote auferwecken könne und Isaak auferwecken werde; wir aber glauben, daß Gott Christum auferweckt hat. Der Unter­schied ist groß und wichtig. Der Glaube ist freilich in beiden Fällen derselbe; aber während er sich in dem einen auf ein gegebenes Wort stützt, ruht er in dem anderen auf einem vollbrachten Werke. Die gläubige Seele findet heute vollkommene Ruhe in der Gewißheit, daß Christus, der einmal für ihre Sünden und Übertretungen geopfert wurde, auferstanden ist und nun als der ewig Lebende zur Rechten Gottes sitzt. „Wir wissen, daß Christus, aus den Toten auferweckt, nicht mehr stirbt; der Tod herrscht nicht mehr über ihn" (Kap. 6, 9).

Noch einmal denn: Dem Abraham ist sein Glaube zur Ge­rechtigkeit gerechnet worden, wie geschrieben steht. „Es ist aber nicht allein seinetwegen geschrieben, daß es ihm zuge­rechnet worden, sondern auch unsertwegen, denen es zu­gerechnet werden soll, die wir an den glauben, der Jesum, unseren Herrn, aus den Toten auferweckt hat, welcher unserer Übertretungen wegen dahingegeben und unserer Rechtfertigung wegen auf erweckt worden ist" (V. 23—25). Diese Zurechnung der Gerechtigkeit ist also nicht nur für Abraham, sondern auch für alle Glaubenden da. Indem wir an Den glauben, der unsere ganze Sündenschuld auf Jesum gelegt und Ihn nach vollbrachtem Werke aus den Toten auf­erweckt hat, ergreifen wir die ganze Tragweite dieses Wer­kes, auf welches die Auferstehung ihr Siegel gedrückt hat. Dieses Werk wird in seiner ganzen Bedeutung und Aus­dehnung unser durch den Glauben. Gott ist im Tode Christi vollkommen verherrlicht worden. Was geschehen mußte, um den Sünder zu erretten und Gott hinsichtlich der Sünde zu verherrlichen, ist ein für allemal geschehen, und Gott hat zum Beweise davon Jesum auferweckt. Unsere Übertretungen brachten dem Heiligen und Gerechten den Tod, Seine Auf­erstehung ist der ewig vollgültige Beweis, daß alle diese Übertretungen für immer getilgt sind. Nie wieder können sie dem Glaubenden zugerechnet werden.

Wieder wird der Leser bemerken, daß wir hier einen Schritt weiter geführt werden, als im 3. Kapitel. Dort wurde uns gesagt, daß Gott gerecht sei, wenn Er den rechtfertige, der des Glaubens an Jesum ist. Hier ist von unserer Rechtfertigung die Rede. Unsere Sünden hatten das gerechte Gericht des heiligen Gottes verdient, und sie mußten ent­sprechend dieser göttlichen Heiligkeit gerichtet werden, anders konnte Gott den Sünder nicht frei ausgehen lassen. Aber, wie gesagt, hier im 4. Kapitel handelt es sich nicht um die gerechte Befriedigung Gottes und unsere Sicherstel­lung vor dem Gericht, sondern um unsere Recht­fertigung vor Ihm. Mit anderen Worten: In dem Tode Christi sind wir einerseits dem Gericht entronnen, wie einst Israel durch das Blut des Passahlammes dem Schwerte des Würgengels entging, und andererseits sind wir, infolge des für uns errungenen Sieges über Sünde und Tod, ein gerecht­fertigtes, befreites Volk geworden, das mit Israel am anderen Ufer des Roten Meeres stehen und nun, befreit von der Macht aller seiner Feinde, das Lied der Erlösung anstimmen kann.

Es ist wohl kaum nötig, darauf hinzuweisen, daß die Auf­erstehung Christi hier als eine Auferstehung aus den Toten dargestellt wird, d. h. als das wunderbare Eintreten Gottes, um Den, der Ihn verherrlicht hatte, aus den letzten Folgen der Sünde, dem Tode, in Gerechtigkeit hervorgehen zu lassen. Daß die Auferstehung der Toten im allgemeinen ebenfalls eine Folge der Auferstehung Christi ist, zeigt uns 1. Korin­ther 15, 21, aber davon redet der Geist Gottes hier nicht.

Kapitel 5
Kapitel 5, 1—11
In triumphierender Schlußfolgerung aus dem bisher Ge­sagten beginnt das Kapitel mit den Worten: „D a w i r n u n gerechtfertigt worden sind aus Glauben." Kein Zweifel kann mehr bestehen, keine Frage mehr auf­kommen. Die Rechtfertigung des an den gestorbenen und auferstandenen Heiland Glaubenden ist etwas Vollendetes, ist eine gegenwärtige Tatsache. Wer an Jesum glaubt. Ist gerechtfertigt. Seine Schuld ist bezahlt, und er steht in dem Auferstandenen in einem ganz neuen Zustand vor Gott. Die Auferstehung Christi ist der ewig gültige Be­weis, daß Gott das Werk auf Golgatha angenommen hat als die vollgenugsame Sühnung für unsere Sünden. Es ist die Felsen-Grundlage, auf welcher der gerechte Gott ruhen und jeden rechtfertigen kann, der des Glaubens an Jesum ist.

Daß wir zu dieser Rechtfertigung nichts beigetragen haben, nichts beitragen konnten, braucht kaum noch einmal be­tont zu werden. Der einzige Anteil, den wir an der ganzen Sache hatten, waren unsere Sünden, das, was unserem Herrn und Heiland die unsagbaren Leiden und das Verlassensein von Gott eintrug. Selbst unser Glaube kann dem Werke unserer Errettung nichts hinzufügen, ebensowenig wie die tiefste Dankbarkeit oder der hingehendste Dienst unserer­seits, nachdem wir geglaubt haben. Nein, Gott sei ge­priesen! das Werk ist allein vollendet durch Jesum Christum, unseren Herrn. Und nicht nur ist es vollendet, sondern auch als völlig genügend von dem heiligen Gott anerkannt. Der, der auf dem Wege seiner Vollbringung ins Grab sinken mußte, ist aus den Toten auferstanden und sitzt nun, mit Ehre und Herrlichkeit gekrönt, zur Rechten Gottes. Mit einem Opfer hat Er auf immerdar vollkommen gemacht, die geheiligt werden. (Hebr. 10, 14.) Wäre das nicht so, dann könnte uns niemals geholfen werden; denn Christus kann nicht noch einmal sterben, und wir wissen, daß ohne Blutvergießung keine Vergebung ist. Darum; entweder i s t das Werk geschehen, oder hoffnungslose Verzweiflung ist unser Teil.

In den ersten 11 Versen unseres Kapitels zieht der Apostel die Folgerungen aus dieser Rechtfertigung und entwirft da­mit ein Bild von der Gnade Gottes und Seinen Wegen in Gnade, wie es niemals in eines Menschen Herz hätte auf­kommen können. Betrachten wir an der Hand unseres heili­gen Führers seine einzelnen Züge.

„Da wir nun gerechtfertigt worden sind aus Glauben, so haben wir Frieden mit Gott durch unseren Herrn Jesus Christus" (V. l). Drei kostbare Dinge, die allen Gläubigen ausnahmslos gehören: wir sind gerechtfertigt aus Glauben, deshalb haben wir Frieden mit Gott, und der Schlüssel zu beidem ist unser Herr Jesus Christus. Da der Gläubige weiß, daß er in Christo angenommen ist, steht nichts mehr zwischen ihm und dem heiligen Gott, als nur das große Werk und die kostbare Person des Sohnes Gottes. Alles andere ist für immer hinweggetan. Die Anklagen eines schuldigen Gewissens sind verstummt, das Gewissen selbst ist gereinigt, und aus dem einst feindseligen, hassenswürdigen Sünder ist ein geliebtes Kind Gottes geworden, dem keine Sünde mehr zur Last gelegt werden kann, weil sie alle getragen und hinweggetan sind. Infolgedessen herrscht ein beständiger Friede zwischen Gott und dem Gläubigen. Weder die Erinnerung an vergangene Sünden, noch das Be­wußtsein des gegenwärtigen Vorhandenseins der Sünde in dem Gläubigen kann, so schmerzlich beides ist, die Grund­lage dieses Friedens antasten. Der Friede ist gemacht, für immer gemacht durch unseren Herrn Jesus Christus, dessen Blut sich allezeit vor Gottes Augen befindet. Nie wieder kann bezüglich der Vergebung unserer Sünden und unserer Annahme bei Gott eine Frage erhoben werden.

Um jedem Mißverständnis von vornherein vorzubeugen, sei hier kurz auf den Unterschied hingewiesen, der zwischen dem Ausdruck „Friede mit Gott" und „Friede Got­tes" besteht. Der erste Friede, der Friede mit Gott, ist die Folge oder das Ergebnis der Rechtfertigung auf Grund des Werkes Christi und darum das gemeinsame, unverlierbare Teil aller wahren Gläubigen; der Besitz und Genuß des zwei­ten Friedens, des Friedens Gottes, hängt davon ab, inwieweit der einzelne Gläubige sich allezeit in dem Herrn freut, um nichts besorgt ist, sondern in allem durch Gebet und Flehen mit Danksagung seine Anliegen vor Gott kundwerden läßt. (Vergl. Phil. 4,4—9.) Wir dürfen den praktischen zustand der einzelnen Seele nicht mit dem für uns und völlig außer uns vollbrachten Werke Christi verwechseln. So schwankend und unbeständig der erste sein kann und oft ist, so fest und unwandelbar ist das zweite. Göttliche Liebe und Gerechtig­keit haben sich miteinander verbunden, um den Boden zu schaffen, auf welchen wir Frieden haben mit Gott. Christus, „unser Friede" (Eph. 2, 14), ist jetzt allezeit in der Gegenwart Gottes, Er, der uns geworden ist „Weisheit von Gott und Gerechtigkeit und Heiligkeit und Erlösung" (1. Kor. 1. 30).

Die nächste kostbare Frucht der Rechtfertigung ist, daß wir durch unseren Herrn Jesus Christus „mittelst des Glau­bens auch Zugang haben zu dieser Gnade (oder Gunst), in welcher wir stehen" (V. 2). Handelte es sich bisher" um die Frage, wie alles das, was wir in unserem feindseligen Zu­stand gegen Gott gefehlt hatten, hinweggetan worden ist, so redet der Apostel jetzt von der Gnade, die Frieden ge­macht hat und nun allezeit im Herzen Gottes für uns ist. Gottes Auge ruht in Christo mit Wohlgefallen auf allen Seinen Kindern. Sie sind geliebt, wie Christus geliebt ist, und durch Ihn dürfen sie nun mit Freimütigkeit mittelst des Glaubens allezeit herzunahen und von der Gnade, in welcher sie stehen, Gebrauch machen. „Diese Gunst genießen wir", wie ein anderer Schreiber in treffender Weise gesagt hat, „in der Gegenwart Gottes. Nicht allein rechtfertigt uns der himmlische Richter, sondern ein himmlischer Vater nimmt uns auf; ein lichtvolles, gnädiges Antlitz voll väter­licher Liebe erleuchtet und erfreut unsere Seele und erquickt unser Herz, so daß wir mit einem völlig ruhigen Herzen in Seiner Gegenwart sind und auf Seinen Pfaden wandeln. Wir haben das köstliche Bewußtsein, daß wir in der Gunst Gottes stehen. Was unsere Sünden betrifft, sie sind alle hinweg­getan; was unsere gegenwärtige Stellung vor Gott betrifft, so ist alles Liebe und Gunst, in der hellen Klarheit Seines Angesichts; was die Zukunft betrifft, so wartet unser die Herrlichkeit."

Kostbare Worte, niedergeschrieben von einem hochbetag­ten Arbeiter des Herrn, kurz vor dem Abschluß eines langen, reichgesegneten Lebens im Dienste Dessen, den seine Seele liebte!3 Sie beweisen, wie wertvoll ihm selbst der Zugang zu dieser Gnade gewesen ist, und wie er im Glauben von ihm Gebrauch gemacht hat. Unwillkürlich erinnern sie uns an die Mahnung in Hebräer 13, 7: „Gedenket eurer Führer, die das Wort Gottes zu euch geredet haben, und, den Ausgang ihres Wandels anschauend, ahmet ihren Glauben nach." Die­selbe Gnade, die sie aufrecht gehalten hat, die gleiche Liebe, die sie genossen haben, sind unser Teil geworden, und es liegt nur an uns, inwieweit auch wir nun im Glauben Ge­brauch machen von der Gnade, „in welcher wir stehen". Gott sei Dank! wir sind nicht gekommen zu dem Berge des Ge­setzes mit seinem Feuer und seiner Finsternis, mit Worten, welche die Hörer nicht zu ertragen vermochten, sondern zu Zion, dem Berge der Gnade, und zu Jesu, dem Mittler eines neuen Bundes, zu einer Gnade, die allen unseren Bedürf­nissen begegnet ist und uns täglich in ihrer ganzen Fülle zu Gebote steht.

Auch das dritte Ergebnis der Rechtfertigung, zu dem wir jetzt kommen: „wir rühmen uns in der Hoffnung der Herrlich­keit", ist das sichere, unverlierbare Teil aller wahren Gläubi­gen. Die Herrlichkeit Gottes liegt vor uns. Freilich, wenn es von unserem Ausharren und unserer Treue abhinge, würde keiner von uns sie erreichen. Aber Jesus ist als unser „Vorläufer" in die Herrlichkeit eingegangen, und E r bringt auch uns dorthin. Auch sie ist uns gesichert durch Ihn, der für uns starb und aus den Toten auferstand. Denn könnte Er die Segnungen je wieder verlieren, die Er auf diesem Wege erworben hat? Unmöglich. Ebenso wenig wir, für die Er sie erworben hat. Er ist unser Bürge auch in dieser Be­ziehung. Deshalb können wir frohlockend in die Zukunft blicken und, während wir noch in Schwachheit und Unvoll­kommenheit hienieden wandeln, uns in der gewissen Hoff­nung der Herrlichkeit rühmen. Derselbe Gott, der Seine Gerechtigkeit und göttliche Kraft im Evangelium geoffenbart, der Seine Liebe und Gunst uns zugewandt hat, will uns auch bei und mit Christo in Seiner Herrlichkeit haben.
Könnte in wunderbarerer Weise, entsprechend dem Werte des Werkes und der Person unseres Herrn Jesus Christus, für unsere Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft gesorgt sein? Hinsichtlich der Vergangenheit beunruhigt uns nichts mehr: wir haben Frieden mit Gott; im Blick auf die Gegen­wart stehen wir in der Vatergunst Gottes, und was "die Zu­kunft betrifft, so wirft die himmlische Herrlichkeit schon ihre Strahlen auf unseren Weg. Man sollte meinen, dem Gesagten sei nichts mehr hinzuzufügen. Tatsächlich findet sich die ganze gesegnete Stellung eines Christen, sein Weg von den ersten Anfängen bis zum Zielpunkte darin ausgedrückt. Den­noch fährt der Apostel fort: „Nicht allein aber das" (V. 3), und wiederholt dasselbe Wort im 11. Verse.

„Nicht allein aber das, sondern wir rühmen uns auch der Trübsale." Das Ziel unserer Reise ist noch nicht erreicht. Zwischen Ägypten und Kanaan liegt die Wüste. Sie gehört nicht eigentlich zu dem Ratschluß Gottes, aber wir müssen hindurch, um das Ziel zu erreichen, und hier ist der Ort, wo wir die erziehenden Wege Gottes mit uns erfahren und zu­gleich kennen lernen, was in unseren Herzen ist. (Vergl. 5. Mose 8, 2.) In der Dürre der Wüste, wo „nicht Frucht noch Quell den Pilger lohnt", werden wir auf die Probe gestellt, ob wir wirklich imstande sind, allein auf Gott zu vertrauen. Unsere Seelen werden geübt, der Feind macht seine Anläufe, Kleinglaube und Unglaube regen sich, die Natur macht ihre Ansprüche geltend, und das arme Herz möchte oft verzagen. Die Wüsten-Erfahrungen sind zwar nicht notwendig zu unse­rer Errettung, aber gesegnet für unseren inneren Menschen. Sie machen nicht passend oder „reif" für den Himmel, sonst hätte der sterbende Räuber nicht noch am gleichen Tage mit Christo ins Paradies gehen können; aber sie lösen uns von dem Irdischen, belehren uns über unsere völlige Abhängig­keit von Gott und lassen uns Seine Treue erkennen. In den Trübsalen erfahren wir die Liebe und Fürsorge Gottes, das Mitgefühl Seines Vaterherzens in einer Weise, wie es auf anderem Wege, vor allem in der Herrlichkeit, nicht möglich wäre. Der Himmel bietet keine Gelegenheit dazu.
„Die Trübsal bewirkt Ausharren." Gerade das, was den Ungläubigen ärgerlich und mutlos macht, möglicherweise zur Verzweiflung treibt, bewirkt in dem Gläubigen Mut und Ausharren. Anstatt ihm die Zuversicht zu rauben, läßt die

Trübsal ihn mit Vertrauen nach oben blicken. Sie begegnet gerade dem in ihm, was das Ausharren hindern will, zer­bricht den eigenen Willen, schafft im Herzen „gebahnte Wege" für Gott, läutert den Glauben von allem Unechten und macht ihn fähig, still auf Gott zu harren. Die Trübsal hat nichts mit unserer Erlösung zu tun. Sie ist dazu be­stimmt, unseren Zustand zu prüfen und ans Licht zu stel­len, ob wir der Berufung und Stellung gemäß wandeln, in welche die Erlösung uns eingeführt hat. Sie läßt uns er­kennen, inwieweit die alte Natur, die noch in uns wohnt, uns beeinflußt, demütigt uns und führt uns zum Selbstgericht.

Bewirkt aber die Trübsal „Ausharren", so bewirkt das Ausharren wiederum „Erfahrung". Wir lernen in den Leiden und Schwierigkeiten einerseits erkennen, was wir sind, und anderseits, was Gott in Seiner Güte und Treue auf dem Wege für uns ist. Und indem so das Herz von dem Irdischen gelöst, das Auge von dem Zeitlichen abgelenkt und auf die himmlischen Dinge gerichtet wird, kommt die Hoff­nung, die bereits im Herzen lebt, lebendiger und stärker zur Wirkung. „Die Erfahrung bewirkt Hoffnung." So folgt ein gesegnetes Ergebnis dem anderen, und anstatt uns durch die Schwierigkeiten des Weges zur Ungeduld oder gar zum Murren verleiten zu lassen, lernen wir uns der Trübsale rühmen. Wir besitzen den Schlüssel zu so manchem, was uns anders als ein seltsames Rätsel erscheinen würde, und stärken unsere Hände in dem Gott, der Seine Kinder mit zärt­licher Liebe liebt und a 11 e s zu ihrem Wohl mitwirken läßt.

„Die Hoffnung aber beschämt nicht, denn die Liebe Gottes ist ausgegossen in unsere Herzen durch den Heiligen Geist, welcher uns gegeben worden ist" (V. 5). Damit erreichen wir den Höhepunkt der Belehrung unseres Apostels an dieser Stelle. Die Hoffnung, die durch die Erfahrung der nie fehlen­den Treue Gottes in uns belebt wird, kann nicht beschämen, kann sich nicht als trügerisch erweisen, denn zwischen Gott und uns ist ein Band geknüpft, das nie und nimmer zerrissen werden kann: Er hat uns Seinen Geist gegeben! Nicht nur sind wir durch die Wirksamkeit dieses Geistes erneuert, „geboren aus Wasser und Geist" (Joh. 3, 5), sondern der Heilige Geist selbst, der beiläufig bemerkt, hier zum ersten­mal in unserem Briefe erwähnt wird, ist uns gegeben als Siegel unseres Glaubens und als Unterpfand des durch Christum für uns erworbenen Besitzes. (2. Kor. 1. 11; Eph. 1. 13. 14). Unsere Leiber sind Wohnstätten des Heiligen Geistes geworden. Auf diesem Wege ist, wie der Apostel es hier ausdrückt, die Liebe Gottes in unsere Herzen ausge­gossen worden. An anderen Stellen wird uns gesagt, daß wir durch den Geist "Abba, Vater!" rufen, daß wir durch Ihn wissen, daß wir in Christo und Christus in uns ist usw. (Gal. 4, 6; Job. 14, 16—20.)

Welch eine wunderbare Tatsache: die Liebe Gottes ist in unsere Herzen ausgegossen, indem der Heilige Geist, die dritte Person der Gottheit, in uns Wohnung gemacht hat! Das konnte uns nicht eher mitgeteilt werden, als bis das Werk der Erlösung uns in seiner ganzen Fülle vor Augen gestellt war. Diese Tatsache bildet, wie gesagt, den Höhe­punkt der Ausführungen des Apostels. Inwieweit der ein­zelne Gläubige sie im Glauben erfaßt und durch die Wirksam­keit des Heiligen Geistes die Liebe Gottes genießt, inwieweit er persönlich in ihr wandelt, ist ja eine zweite Sache; aber für alle Gläubigen besteht die Tatsache als solche. Infolge dessen kann die Hoffnung niemals beschämen. Gott zieht Seine Augen nicht ab von dem Gerechten. (Vergl. Hiob 36, 7.)
Aber die Liebe Gottes ist nicht nur in unsere Herzen aus­gegossen, um i n uns genossen zu werden, sie ist auch außer uns geoffenbart und durch ein Werk erwiesen worden, das, völlig unabhängig von uns, vollbracht wurde, als wir uns noch in einem Zustand der Kraftlosigkeit und tiefsten Erniedrigung befanden. „Denn", so fährt der Apo­stel fort, „Christus ist, da wir noch kraftlos waren, zur be­stimmten Zeit für Gottlose gestorben" (V. 6). Ja, nur auf dieser Grundlage war es möglich, daß die Liebe Gottes in unsere Herzen ausgegossen werden konnte. Und „zur be­stimmten Zeit" ist das Werk geschehen, d. h. als „die Fülle der Zeit gekommen war" (Gal. 4, 4) und der Zustand des Menschen sich in seiner ganzen Hoffnungslosigkeit erwiesen hatte. Gerade das zeigt uns aber auch die ganze Reinheit und Vollkommenheit dieser Liebe. Nur sie vermochte sich solcher anzunehmen, in denen es, außer ihrer Schuld und ihrem verderbten Zustande, gar keine Beweggründe dazu gab. Nur Gottes Liebe, das was Er Selbst ist, konnte Quelle und wirkende Ursache sein, wenn Er Seinen Sohn für Kraft­lose und Gottlose sterben ließ.
Ein Geschöpf ist außerstande, so zu handeln. So kann ein Mensch nicht lieben, wenn auch sein Herz tiefer und starker Zuneigung fähig ist. Er ist imstande, für einen ande­ren Menschen, der ihm Güte und Wohlwollen erwiesen hat, sein Leben zu wagen; für einen bloß „Gerechten" wird sich wohl niemand einer Todesgefahr aussetzen. Gerechtigkeit als solche mag sich Wertschätzung und Achtung erringen, nie­mals aber wird sie todesmutige Liebe wecken. „Kaum wird jemand für einen Gerechten sterben; denn für den Gütigen möchte vielleicht jemand zu sterben wagen" (V. 7). — Doch was hat Gott getan?

„Gott aber erweist seine Liebe gegen uns darin, daß Christus, da wir noch Sünder waren, für uns gestorben ist" (V. 8). So kann nur Gott lieben. Der Mensch bedarf eines Beweggrundes, der von außen her auf ihn wirkt, Gott nicht. Er i s t Liebe und bedarf keines Antriebs von außen. Er hat die Welt, die böse, gottlose Welt, also ge­liebt, daß Er Seinen eingeborenen Sohn gab, auf daß jeder, der an Ihn glaubt, nicht verloren gehe, sondern ewiges Leben habe. Die Gegenstände Seiner Liebe waren solch hassenswürdige Sünder, so unrein und alles Guten bar, daß nur die Opferung Seines Geliebten ihnen helfen konnte; aber auch nichts Geringeres als das konnte Seiner Liebe genügen.

Wunderbarer Gott! Diese Liebe überwältigt den Stolzen und Hochmütigen, gewinnt den Armen und Hilflosen und erwärmt kalte, gleichgültige Herzen. Sie schenkt Frieden und Freude dem Herzen des Kindes und erfüllt mit anbetender Bewunderung das Innere des Mannes. Von ihr zu zeugen, zu singen und zu sagen, ist die dankenswerteste Aufgabe des erretteten Geschöpfes. Was sind die höchsten und edel­sten Ergebnisse menschlicher Weisheit im Vergleich mit dieser Liebe? Erkältende, finstere Nebel neben den Wärme und Leben gebenden Strahlen der Sonne! Ja, als wir noch Sünder waren, starb Christus für uns!

Wenn das aber so ist, wenn die Liebe so handelte, als wir noch Sünder waren, wieviel mehr werden wir jetzt, „da wir durch sein Blut gerechtfertigt sind, durch ihn gerettet werden vom Zorn"! (V. 9). Die Folgerung ist so einfach und überzeugend wie möglich, aber der Apostel vertieft und er­weitert sie noch, indem er hinzufügt: „Denn wenn wir, da wir Feinde waren, mit Gott versöhnt wurden durch den Tod seines Sohnes, vielmehr werden wir, da wir versöhnt sind, durch sein Leben gerettet werden" (V. 10). Wenn der Tod des Sohnes Gottes Feinden Versöhnung mit Gott gebracht und sie von dem Zorn, der über diese Erde und ihre Be­wohner kommen wird, gerettet hat, wird dann nicht vielmehr Sein Leben die also Versöhnten, von Christo F r e u n d e und Brüder Genannten, retten? Wenn ein sterben­der Christus gottlosen Sündern Heil und Leben gebracht hat, sollte dann ein zur Rechten der Majestät Gottes leben­der Christus solche auf dem Wege umkommen lassen, die um den kostbarsten Preis in solch neue, heilige Beziehungen zu Gott gebracht worden sind?

Klarere und entscheidendere Schlüsse, als wie der Heilige Geist sie hier zieht, könnten wir uns gar nicht denken. Nach­dem der Fall aufs gründlichste behandelt ist, beseitigen die Worte des Apostels jeden Zweifel und geben dem ängst­lichsten Gemüt und dem zartesten Gewissen selige Ruhe. Zuerst wird unser Zustand von Natur rückhaltlos aufgedeckt: wir waren kraftlos, gottlos, Sünder und Feinde, und dann wird uns gezeigt, wie die Liebe Gottes auf dem Boden der Gerechtigkeit dem ganzen Jammer begegnet ist: „Gerechtigkeit hat mein Gericht beendet." Liebe an und für sich hätte uns nicht von dem gerechten Zorn Gottes retten können, sie mußte in der Hingabe des einzigen, geliebten Sohnes erst die gerechte Grundlage schaffen, auf welcher sie in Gnade mit uns zu handeln vermochte. Und das hat sie getan, das Werk ist vollbracht, Gott sei gepriesen in Ewigkeit!

So sind wir denn zu Gott gebracht, haben verstanden, was Erlösung und Rechtfertigung bedeutet, besitzen als solche, die der göttlichen Natur teilhaftig geworden sind, das kostbare Bewußtsein, daß wir in Gott sind, und daß Er in uns wohnt, und erfahren auf dem Wege zu der vor uns liegenden Herrlichkeit täglich Gottes Güte und Treue. Mit anderen Worten: wir kennen Ihn und rühmen uns des­halb nicht nur dessen, was Er für uns getan hat oder tut, was Er uns gegeben hat oder gibt, sondern rühmen uns Seiner selbst.

„Nicht allein aber das, sondern wir rühmen uns auch Gottes durch unseren Herrn Jesus Christus, durch welchen wir jetzt die Versöhnung empfangen haben" (V. 11). Nicht die Herrlichkeit, nicht die Trübsale und ihre gesegneten Folgen stehen jetzt vor dem Geiste des Apostels, es ist Gott selbst. Ein verständiges, dankbares Kind redet und freut sich nicht nur über das, was es von seinem Vater empfangen hat oder noch zu empfangen hofft, sondern ist vor allem darüber glücklich, daß es einen solch liebevollen, treuen Vater hat, daß es mit ihm verkehren, ihn täglich besser kennen lernen und immer mehr in seine Gedanken eindringen darf. Der Umgang mit dem Vater ist eine tägliche und wachsende Freude. Es rühmt sich seiner.

So dürfen auch wir uns Gottes als unseres Gottes und Vaters rühmen. Welch ein unschätzbares Vorrecht! Je mehr wir es verstehen und verwirklichen, desto tiefer wird unsere Freude, desto inniger der Genuß der Gnade werden. Wir genießen dann schon hienieden etwas von dem, was einst droben den höchsten Charakter unserer Freude ausmachen wird. Wir genießen Gott selbst durch unseren Herrn Jesus Christus als den unendlichen, aber gegenwärtigen Gegen­stand der neuen Natur, die zu einem solchen Genuß fähig ist, weil der Heilige Geist in uns wohnt und der Seele Gott offenbart.

Wir genießen dankbar Gottes Gaben, aber höher und herrlicher als sie alle ist der Geber. In Ihm ist unsere höchste und herrlichste Freude. Wohl ist Er der heilige Gott, aber Seine Heiligkeit erschreckt uns nicht; im Gegenteil, wir fühlen uns nur wohl in dem Lichte dieser Heiligkeit. Sie ist unsere Freude.

Und fragen wir nun: Wie ist das Große geschehen, das Unmögliche möglich geworden? so ist die Antwort: „Durch unseren Herrn Jesus Christus, durch welchen wir jetzt die Versöhnung empfangen haben." Das was der erste Adam in seiner Unschuld nie hätte genießen können, ist jetzt in dem letzten Adam das Teil solcher geworden, die einst „Kinder des Zorns waren wie auch die übrigen". Der Herr selbst sagte zu Seinen Jüngern in der Nacht vor Seinem Leiden und Sterben; „Jetzt ist der Sohn des Menschen verherrlicht, und Gott ist verherrlicht in ihm." So ist es geschehen, das Werk ist vollbracht, und auf ewig sind seine Ergebnisse unser.

Kapitel 5, 12 — 21
Mit dem 12. Verse unseres Kapitels beginnt, wie wir schon in der Einleitung hervorgehoben, der zweite Hauptteil des ganzen Briefes. Der Apostel behandelt fortan nicht mehr die Frage der Schuld des Menschen und deren Vergebung, sondern redet von der Sünde als solcher und von der Befreiung des Gläubigen von ihrer Macht und Herr­schaft. So groß und herrlich die Vergebung auch sein mag, sie ist nicht alles. Das Licht Gottes zeigt dem erwachten Gewissen des Menschen nicht nur die vielen Sünden, die auf seinem Wege liegen, sondern auch die Quelle, aus welcher das schmutzige Wasser geflossen ist, den Baum, der die bösen Früchte getragen hat. Die Erkenntnis darüber, mit anderen Worten, die Entdeckung des unheilbaren, inne­ren Verderbens, unseres hoffnungslosen Zustandes von Natur, ist fast noch erschreckender als das Erwachen des Gewissens betreffs der Schuld; aber umso süßer ist dann auch die Botschaft von dem, was Gott in Christo getan hat, um uns aus diesen Tiefen des Verderbens herauszuführen. Je mehr man auf dem Wege schmerzlicher Erfahrung lernt, was das Fleisch ist, umso größer ist die Freude über die vollen Ergebnisse des Werkes Christi.

Jahrhunderte lang haben die Gläubigen kaum noch etwas verstanden von dem Gericht, das am Kreuz über den „alten Menschen" ergangen ist, und noch weniger von der neuen Stellung des Gläubigen in dem auferstandenen Christus. Man meinte, sich mit dem Vorhandensein der Sünde, so gut oder schlecht es ging, abfinden zu müssen, ohne mehr Hoff­nung und Kraft ihr gegenüber zu haben, als irgend ein Mensch, der zur Erkenntnis der Heiligkeit Gottes gekommen ist und sich nun aufrichtig, aber natürlich vergeblich, abmüht, ein besserer Mensch zu werden. Gott sei gepriesen, daß Er in Seiner großen Gnade Licht in das Dunkel hat fallen lassen!

Hören wir jetzt, wie der Apostel seine weitere Belehrung einleitet: „Darum, gleichwie durch einen Menschen die Sünde in die Welt gekommen, und durch die Sünde der Tod, und also der Tod zu allen Menschen durchgedrungen ist, weil sie alle gesündigt haben" (V. 12). Beachten wir zunächst, daß der hier ausgesprochene Gedanke erst im 18. Verse wieder aufgenommen wird mit den Worten: „Also nun, wie es durch eine Übertretung gegen alle Menschen zur Ver­dammnis gereichte, so auch . . . ." Die Verse 13—17 bilden einen Zwischensatz. Die Nichtbeachtung dieses Umstandes hat zu manchen verkehrten Auslegungen der Stelle Anlaß gegeben. Wenn man ihm Rechnung trägt, ist die Gedanken­verbindung klar und einfach.

„Darum." Weshalb „d a r u m"? Man ist unwillkürlich ver­sucht zu fragen: Wo ist die Verbindung mit dem Vorher­gehenden? Gehen wir fehl, wenn wir den Gedanken des Apostels also deuten: Da die Liebe Gottes als die Quelle, und der Tod und die Auferstehung Christi als das Mittel der Versöhnung mit ihren herrlichen Ergebnissen erwiesen sind, „darum" können wir jetzt zu einer anderen Seite dieses wunderbaren Gegenstandes übergehen? Zu der ErÖrter ung nämlich, wie durch den Ungehorsam eines Menschen (Adam), des gefallenen Hauptes der menschlichen Familie, diese selbst in Sünde und Tod gestürzt wurde, während wiederum e i n Mensch, der zweite Mensch (Christus), durch Seinen Gehorsam zum Haupt einer neuen Familie geworden ist, deren Glieder nun zwei Naturen besitzen, die eine ent­lehnt von Adam, die andere von Christo.

„Darum, gleichwie durch einen Menschen ..." In den weiteren Belehrungen unseres Briefes ist nicht länger die Rede von Juden und Heiden; der Schaden ist geschehen, die Sünde in die Welt gekommen, lang bevor es ein Volk Israel und ein Gesetz gab. Mag die Sünde auch durch das Gesetz „überströmend" geworden sein, indem der Mensch nunmehr als „Übertreter" der guten und heiligen Gebote Gottes da­stand, die Sünde als solche war vor dem Gesetz in der Welt. Sie ist durch den ersten Menschen in die Welt ge­kommen. Die Folgen treffen deshalb mit ihm seine ganze Nachkommenschaft. „Durch die Sünde kam der Tod, und der Tod ist zu a 11 e n Menschen (ob Juden oder Heiden) durch­gedrungen", er herrscht als König der Schrecken über die ganze Menschheit, „weil sie alle gesündigt haben". Es ist nicht bei der einen Sünde im Garten Eden geblieben — alle haben gesündigt. Und darum stirbt der Mensch nicht nur, weil er von einem gefallenen Menschenpaare abstammt und die sogenannte „Erbsünde" in ihm wohnt, sondern weil er sich selbst verschuldet hat. Als unter der Sünde geboren, ist er wohl fähig und g e n e i g t zu sündigen, aber er wird erst schuldig dadurch, daß er mit Bewußtsein die Sünde tut. Wenn Gott daher unmündigen Kindern oder Menschen, die nie ihren Verstand besaßen, also mit Unmündigen auf gleicher Linie stehen, in Gnaden das Werk Christi zurechnet — denn der Sohn des Menschen ist gekommen, das Verlorene zu erretten, und es ist n i c h t der Wille unseres Vaters im Himmel, daß eines dieser Kleinen ver­loren gehe (Matth. 18, 11. 14) — so ist das ein überaus tröstlicher Gedanke und zeigt uns die Größe der errettenden Gnade Gottes, aber es ändert nichts an der ernsten Tatsache, daß der Mensch dem Tode verfallen ist, weil e r gesündigt hat. Mag auch Adams Fall die erste Veranlassung zu dem furchtbaren Lose des ohne Gott sterbenden Menschen ge­wesen sein, so ist damit die Bedeutung und Tragweite der Sache doch keineswegs erschöpft. Neben Adams Sünde treten die gerechten Folgen persönlicher Schuld.

Wenn nun aber, wie Gottes Wort es uns immer wieder zeigt, eines Menschen Tun alle seine Nachkommen, ja, die ganze Schöpfung unter das Urteil des Todes gebracht hat, ist es dann ungereimt, oder steht es im Widerspruch mit dem Charakter Gottes, wenn Er durch einen Menschen eine Rechtfertigung des Lebens einführte, die gegen alle Menschen gerichtet ist? (V. 18.) Im Gegenteil! Doch ehe wir auf die ausführliche und interessante Behandlung dieser Frage durch den Apostel näher eingehen, müssen wir uns mit dem Inhalt des Zwischensatzes (V. 13—17) beschäftigen.

„Denn bis zu dem Gesetz war Sünde in der Welt; Sünde aber wird nicht zugerechnet, wenn kein Gesetz ist" (V. 13). Das Vorhandensein des Todes war der unwiderlegliche Be­weis, daß Sünde da war, denn der Tod ist der Sünde Sold. Eine Tat wird nicht erst dadurch zur Sünde, daß das Gesetz sie verbietet. Das Gesetz verändert allerdings den Charakter der Sünde, indem es sie zur Übertretung eines bestimmten Gebotes macht. Darum: „Wo kein Gesetz ist, da ist auch keine Übertretung" (Kap. 4, 15). Oder: „Die Sünde wird nicht zugerechnet, wenn kein Gesetz ist." Aber wenn auch das Gesetz im Anfang nicht da war, hatten die Menschen doch ein Gewissen und, wenn auch unklar, ein Pflichtgefühl dem unbekannten Gott gegenüber. „Bis zu dem Gesetz war Sünde in der Welt", und das Gewissen erhob seine an­klagende Stimme, wenngleich man nicht sagen kann, daß die Menschen einen gekannten Befehl Gottes übertreten hät­ten. Sobald ein Gesetz kommt, wird es anders. Gesetz rechnet die Sünde zu, trägt sie gleichsam in seine Schuldbücher ein und „macht die Übertretung überströmend".

„Sünde" ist ein viel allgemeinerer, weitergehender Be­griff als „Übertretung". Nicht jede Sünde ist, wie wir gesehen haben, Übertretung. Eine Zurechnung der Sünde als Über­tretung kann erst erfolgen, wenn man durch ein Gesetz weiß, daß das, was man tut, böse ist.

„Aber", fährt der Apostel fort, „der Tod herrschte von Adam bis auf Moses, selbst über die, welche nicht gesündigt hatten in der Gleichheit der Übertretung Adams, der ein Vorbild des Zukünftigen ist" (V. 14). Trotzdem also die Sünde bis auf Moses, den Gesetzgeber, nicht zugerechnet wurde, hat der Tod doch immer geherrscht, selbst über die, welche nicht in der gleichen Weise wie Adam gesündigt, d. h. kein bestimmtes Gebot übertreten hatten. Beachten wir den Unterschied: Adam hatte e i n Gebot, nämlich, nicht von dem Baum der Erkenntnis des Guten und Bösen zu essen, durch Moses wurde das Gesetz, die Gesamtheit der Gebote Gottes, gegeben. Adam übertrat das eine Gebot, Israel brach das ganze Gesetz; beide machten sich also in ähnlicher Weise schuldig. Nicht so die in der Zwischenzeit, vor und nach der großen Flut, lebenden Menschen. Sie besaßen weder ein einzelnes Gebot, noch das ganze Gesetz, aber sie sündigten, und deshalb herrschte der Tod vom Sündenfall an, bis das Gesetz kam.

Der Apostel denkt offenbar an eine Stelle in dem Propheten Hosea, wenn er von der Art der Sünde Adams spricht. Gott läßt dort Seinem irdischen Volke sagen, daß es treulos ge­handelt und „den Bund übertreten habe wie Adam" (Kap. 6, 7). Der Bund und die gegebenen Gebote waren in den beiden Fällen verschieden, aber grundsätzlich sündigten Adam und Israel in gleicher Weise. Anders war es, wie ge­sagt, in der Zeit von Adam bis auf Moses; es gab damals nicht Heiden oder Nationen und ein durch gesetzliche Ver­ordnungen von ihnen getrenntes Volk, sondern nur eine große menschliche Familie, und diese lag unterschiedslos unter Sünde und Tod.
Doch was will der Apostel sagen, wenn er Adam .ein Vorbild des Zukünftigen" nennt? Adam, das Haupt der ersten Schöpfung, wurde erst nach seinem Falle Vater von Söhnen und übertrug somit auf alle seine Nachkommen die Folgen seines Falles. Der Anfang des 1. Buches Mose gibt uns den Schlüssel zum Verständnis der ganzen Geschichte des Menschengeschlechts bis auf den heutigen Tag. Die Über­tretung des Einen (Adam) hat über die Vielen, d. h. über alle, die zu ihm gehören, den Tod gebracht, gleichviel ob sie in Übertretung bestimmter Gebote oder ohne Gebote gesündigt haben. Geradeso hat sich Gottes wunderbare Gna­dengabe durch einen Menschen (Christus) wiederum den Vielen, d. h. allen, die Gott Ihm gegeben und unter Ihm als Haupt zu einer Familie zusammengefügt hat, zuge­wandt. Das macht es uns verständlich, in welchem Sinne Adam ein Vorbild von Christo war. Der erste wie der zweite Mensch sind Häupter einer Familie, eines Geschlechts ge­worden, der eine als ein gefallenes Geschöpf in Sünde und Tod, der andere als der siegreich auferstandene Mensch in Gerechtigkeit und Leben.

„Ist nicht aber wie die Übertretung also auch die Gnaden­gabe? Denn wenn durch des Einen Übertretung die Vielen gestorben sind, so ist vielmehr die Gnade Gottes und die Gabe in Gnade, die durch einen Menschen, Jesum Chri­stum, ist, gegen die Vielen überströmend geworden" (V. 15). Die Beweisführung ist so einfach wie schlagend. Wenn es gerecht ist, und das konnte kein Jude, ja, kann kein Mensch bestreiten, daß die ganze Nachkommenschaft Adams die Folgen der Übertretung ihres Vaters tragen muß, dann ist es noch vielmehr gerecht, daß die Ergebnisse der in Christo geoffenbarten Gnade Gottes allen zuteil werden, die sich im Glauben Ihm anschließen. Was Adam (als Vorbild des Zukünftigen) im Bösen für alle seine Nachkommen wurde, das ist Christus in überströmender Fülle im G u t e n für alle geworden, die Ihm angehören. Könnte es anders sein angesichts der Quelle, aus welcher diese Gnade kam, und des Kanals, durch welchen sie uns zugeflossen ist? Nein, wenn durch die Übertretung des Einen „die Vielen gestorben sind", so ist durch den Einen, Jesum Christum, „die Gnade Gottes gegen die Vielen überströmend geworden".

Beachten wir hier und in den nächsten Versen den Ge­brauch des Wortes „die Vielen". Wir möchten vielleicht meinen, „alle" wäre einfacher und näherliegend gewesen. Aber abgesehen von der beabsichtigten Gegenüberstellung des Einen und der Vielen, ist der Ausdruck offenbar gewählt, um jeder Mißdeutung von vornherein zu begegnen. In Verbindung mit Adam schließt er ganz von selbst alle Menschen ein, weil Adam aller Vater ist und seine Natur ihnen allen mitgeteilt hat; in Verbindung mit Christo aber kann er sich nur auf alle die beziehen, welche zu Christo gekommen und so in Ihm, dem Auferstandenen, der neuen Natur teilhaftig geworden sind. Das Wort „alle" hätte in diesem Falle also zu einer ganz falschen Auslegung Anlaß geben können.

Indes gibt es nicht nur einen Unterschied in dem Maß des Geschehenen, sondern auch in der Art. Standen bisher zwei Parteien, also Personen, vor unseren Blicken, so werden wir jetzt zu den Dingen oder Handlungen geführt, auf welche der Unterschied gegründet ist. „Und ist nicht wie durch Einen, der gesündigt hat, so auch die Gabe? Denn das Urteil war von einem (d. h. von einer Sache oder Handlung) zur Verdammnis, die Gnadengabe aber von vielen Übertretungen zur Gerechtigkeit" (V. 16). Eine Übertretung des Hauptes des Menschengeschlechts hat zur Verdammnis gereicht, während die Gnadengabe Gottes die Glaubenden aus vielen Übertretungen heraus in eine Stellung der Ge­rechtigkeit führt.

Diesen Gedanken weiter begründend, fährt der Apostel dann fort: „Denn wenn durch die Übertretung des Einen der Tod durch den Einen geherrscht hat, so werden vielmehr die, welche die Überschwenglichkeit der Gnade und der Gabe der Gerechtigkeit empfangen, im Leben herrschen durch den Einen, Jesum Christum" (V. 17). Man sollte meinen, dem Vordersatz entsprechend müsse der Nachsatz lauten: „so wird vielmehr das Leben herrschen". Aber nein, wir lesen: „so werden vielmehr die, welche die Überschwenglichkeit der Gnade empfangen . . . im L e b e n herrschen". Wie trium­phierend, alle Hindernisse überwindend hat sich die Macht der Gnade erwiesen! In der Tat, sie hat die Sünde und ihre Folgen weit „überströmt". Alle, die an Jesum glauben, ob Sünder aus den Heiden oder Gesetzesübertreter, empfangen die freie, überschwengliche Gabe der Gnade, die nicht nur ihre Schuld und Sünde entfernt, sondern ihnen Leben gibt, ewiges Leben durch den Einen, Jesum Christum. Die Sünde des ersten Menschen hat das Kleid der Unschuld zerrissen und den Tod eingeführt; das Blut Jesu Christi schenkt den Glaubenden das Kleid göttlicher Gerechtigkeit, führt sie in eine ganz neue, unendlich herrlichere Stellung ein, als Adam sie vor dem Falle besaß, gibt ihnen ewiges Leben, ja, in diesem Leben einen gebietenden Platz. Sie können das Empfangene nicht nur nicht wieder verlieren, son­dern werden im Leben herrschen durch Jesum Christum.

Immer wieder sehen wir, wie unendlich weit die Wir­kungen der göttlichen Gnade, der Natur und Herrlichkeit Christi entsprechend, die Folgen der Sünde übersteigen, und wir können verstehen, daß der Apostel, weiter und weiter fortschreitend, schließlich in tiefem, heiligem Staunen in die Worte ausbricht: „Was sollen wir hierzu sagen?"

Wie bereits bemerkt, schließt mit dem 17. Verse der lange Zwischensatz, und der im 12. Verse unterbrochene Gedan­kengang wird, im Anschluß an die Belehrung der Verse 13—17, jetzt wieder aufgenommen. „Also nun, wie es durch eine Übertretung gegen alle Menschen zur Verdammnis gereichte, so auch durch eine Gerechtigkeit (oder Gerechtig­keitstat) gegen alle Menschen zur Rechtfertigung des Lebens." Beachten wir hier zunächst wiederum das Wort „alle Men­schen". In beiden Fällen richten sich die Wirkungen des Ge­schehenen gegen alle Menschen; nicht einer ist ausgeschlos­sen. Es handelt sich in diesem Verse ausschließlich um die ursprüngliche Richtung oder das Ziel der einen wie der ande­ren Tat. Die eine gereicht zur Verdammnis, die andere zur Rechtfertigung des Lebens, ganz abgesehen davon, ob Rich­tung und Ziel durch Gottes Gnade oder durch den Unglauben des Menschen verändert werden, oder mit anderen Worten, ob es solche gibt, die durch Glauben der Verdammnis ent­rinnen, und anderseits solche, die den Gnadenratschluß Gottes in bezug auf sich selbst wirkungslos machen.
Nachdem uns so die Reichweite der beiden Taten vorgestellt worden ist, kommen wir im 19. Verse zu den tat­sächlichen Ergebnissen der Stellung der Häupter der beiden Familien: „Denn gleichwie durch des einen Menschen (Adam) Ungehorsam die Vielen in die Stellung von Sündern gesetzt worden sind, so werden auch durch den Gehorsam des Einen (Christus) die Vielen in die Stellung von Gerechten gesetzt werden." Da nach den bestimmten, unzweideutigen Belehrungen der Schrift nicht „alle Men­schen" durch Glauben gerechtfertigt werden, mußte der Hei­lige Geist hier wieder den Ausdruck „die Vielen" wählen, d. h. die in beiden Fällen mit ihrem jeweiligen Haupte ver­bundene Menge von Menschen. Daß dies im ersten Falle (Adam) das ganze Menschengeschlecht (also alle Menschen, wie in Vers 18) umfaßt, ist selbstverständlich, denn alle be­finden sich von Natur auf dem Boden ihres Vaters, „in der Stellung von Sündern". Da ist kein Unterschied. Immer wieder wird die ernste Tatsache betont, daß die ganze menschliche Familie — alle, die des Adam sind — durch ihren Stammvater mit ihm in derselben Stellung ist: sündig, von Gott getrennt, ja, feindselig gegen Gott und ohne jedes Verlangen, zu Ihm umzukehren. In dem zweiten Falle handelt es sich ebenso um die Vielen, die mit dem „Einen" verbunden sind, d. h. um alle, „die des Christus sind", die durch den Glauben an Ihn in die Stellung von „Gerech­ten" gesetzt werden — „die Kinder, die Gott Ihm gegeben hat"; aber obwohl es durch eine Gerechtigkeit gegen alle Menschen zur Rechtfertigung des Lebens gereichte (V. 18), so daß der Evangelist in die ganze Welt gehen und die frohe Botschaft über Gottes Sohn aller Schöpfung verkündigen kann, ist die tatsächliche und endgültige Wirkung des er­rettenden Werkes doch nur auf die Menschen beschränkt, welche die Botschaft annehmen. Es sind gleichsam die be­kannten „Vielen", die in jedem Fall unter den Folgen des Tuns der einen bestimmten Person stehen: die eine Klasse „Sünder" durch den Ungehorsam Adams, die andere „Ge­rechte" durch den Gehorsam Christi.

Nach dieser eingehenden Behandlung der Lehre von den beiden Familien und ihren Häuptern bleibt dem Apostel noch übrig, ein Wort über einen Gegenstand zu sagen, den er schon wiederholt berührt hat, das Gesetz. Zu welchem Zweck ist das Gesetz überhaupt gegeben worden? Der reli­giöse Mensch möchte denken, um eine, wenn auch nur menschliche Gerechtigkeit vor Gott hervorzubringen. Ver­hieß es nicht dem, der es halten würde, Leben? Ach, wie ganz anders lautet die Antwort, die der Apostel hier gibt! Er sagt: „Das Gesetz aber kam daneben ein" — trat gleichsam wie eine nebenherlaufende Sache zwischen den ersten und den zweiten Menschen — „auf daß die Übertretung überströmend würde" (V. 20). Fürwahr, für den Stolz des Menschen könnte es kein demütigenderes und nieder­schmetternderes Ergebnis geben. Die Sünde als solche war da, ehe das Gesetz gegeben wurde, aber sie sollte sich durch das Gesetz in ihrer ganzen Furchtbarkeit offenbaren, d. h. als unmittelbare Empörung gegen Gottes heilige Gebote und als Verachtung Seiner göttlichen Autorität. Gott hätte unmöglich ein Gesetz geben können, damit dadurch die Sünde über­strömend würde. Wie könnte Er in irgend einer Weise der Urheber der Sünde sein? Wohl aber konnte Er eine voll­kommene Richtschnur für den Wandel des Menschen geben, um ihm dadurch zu zeigen, wie es wirklich um ihn stand. Das Gesetz kam daneben ein, auf daß die Übertretung über­strömend würde, oder, wie wir an anderer Stelle lesen, daß „die Sünde als Sünde erschiene", ja, daß sie „überaus sündig würde durch das Gebot" (Kap. 7, 13). Das Gesetz hat erst den Zustand des gefallenen Menschen völlig ans Licht gebracht, indem es seinen Eigenwillen und Hochmut samt den Leidenschaften der in ihm wohnenden Sünde zum Aufleben und zur schrankenlosesten Entfaltung brachte.

„Wo aber die Sünde überströmend geworden, ist die Gnade noch überschwenglicher geworden, auf daß, gleichwie die Sünde geherrscht hat im Tode, also auch die Gnade herrsche durch Gerechtigkeit zu ewigem Leben durch Jesum Christum, unseren Herrn" (V. 20. 21). Anbetungswürdige Antwort der Gnade Gottes auf die Schuld und Verderbtheit des Menschen! Sie handelt unumschränkt und feiert ihre herrlichsten Triumphe da, wo für den Menschen jede Hoffnung verloren ist und nur ein schonungsloses Gericht seiner wartet. Und sie feiert sie nicht etwa auf Kosten der Gerechtigkeit Got­tes, nein, die Gnade herrscht durch Gerechtigkeit, kraft des vollbrachten Werkes Jesu Christi, zu ewigem Leben. Ein gesetzestreuer Jude hätte im besten Falle — der aber niemals eintrat — Leben auf dieser Erde als Lohn seines Tuns erwarten können, aber der Gläubige empfängt heute ewiges Leben, weil Gott ihn auf Grund des Werkes Seines geliebten Sohnes in einer ganz neuen, Seinen ewigen Ratschlüssen ent­sprechenden Stellung vor sich sieht. Gerade darin hat sich ja Gottes Gerechtigkeit erwiesen, daß sie Seinem Sohne, der als Mensch Ihn vollkommen verherrlicht hat, einen" Platz zu Sei­ner Rechten gab, und sie offenbart sich heute darin, daß sie die, welche an Jesum glauben, nicht nur von allen ihren Sün­den rechtfertigt, sondern ihnen auch ein Leben schenkt, dessen Ziel die Herrlichkeit droben ist.

Gleichwie denn die Sünde geherrscht hat im Tode, so herrscht heute die Gnade in triumphierendem Leben. Es kommt einmal die Stunde, da die Gerechtigkeit herr­schen wird, aber wehe dann allen, welche die Zeit der Gnade versäumt haben l Gott ist gerecht und muß Seine Gerechtig­keit aufrecht halten. Unmöglich kann Er die Sünde für immer vor Seinem Auge dulden. Aber wie furchtbar muß die Ver­geltung sein, wenn die Zeit der errettenden und rechtferti­genden Gnade Gottes vorüber ist und Sein Gericht alle er­reicht, die Sein Heil vernachlässigt oder gar verachtet haben! Glückselig darum alle, die unter der Herrschaft der Gnade dem kommenden Zorn entrinnen!

Kapitel 6
In diesem Kapitel leitet der Heilige Geist den Apostel zu der Beantwortung einiger Einwürfe, die seitens des Fleisches oder des Unglaubens angesichts der soeben geschilderten Gnade Gottes erhoben werden konnten, und die uns wieder­um die Abgründe des menschlichen Herzens zeigen, zugleich aber auch den Schreiber zur Entwicklung neuer wunderbarer Gedanken führen.
Der erste Einwurf lautet: „Was sollen wir nun sagen? Sollten wir in der Sünde verharren, auf daß die Gnade über­ströme?" (V. l). Was? Ist das die Folgerung, die wir aus dem Evangelium Gottes ziehen sollen? Sollten wir Sünde auf Sünde häufen, damit die Gnade in deren Vergebung sich nur umso reicher entfalten könne? Wir antworten entrüstet mit dem Apostel: „Das sei ferne!" Was würden wir von einem Sohne sagen, der immer rücksichtsloser die Gebote seiner Eltern übertreten und ihre Herzen verwunden wollte, um ihnen dadurch Gelegenheit zu geben, ihm immer mehr zu vergeben! Welch eine Bosheit und Verhärtung würde das offenbaren! Doch die Frage des Apostels beweist, daß eine solche Entartung dem Menschenherzen nicht fremd ist. 0 wer könnte die Tiefen dieses Herzens kennen, wer seine Arglist verstehen!?

Indes gründet der Apostel die Beantwortung der Frage nicht auf die offenbare Gottlosigkeit eines solchen Grund­satzes; er führt uns vielmehr zu dem Ausgangspunkt des Weges eines jeden Menschen, der sich zu Christo bekennt, indem er die Gegenfrage stellt: „Wir, die wir der Sünde gestorben sind, wie sollen wir noch in derselben leben?" (V. 2). Der Christ, der einst in der Sünde lebte, hat in dem Tode Christi weit mehr gefunden, als nur die Vergebung seiner Sünden und Übertretungen. Er ist mit Christo gestorben und damit aus der alten Stellung, in welcher er sich befand, ein für allemal herausgenommen worden. Er ist „d e r Sünde gestorben" und steht fortan nicht mehr unter ihrer Herrschaft. Indem Christus am Kreuze für ihn zur Sünde gemacht wurde, ist mit dem alten Menschen, der sich als unveränderlich schlecht erwiesen hat, für immer ein Ende gemacht worden, und ein neuer Mensch, eine neue Schöp­fung, ist ans Licht getreten, ein völlig neues Leben ist ge­offenbart und dem Glaubenden geschenkt worden. Wie sollte, wie könnte er nun noch in der Sünde verharren, die ihn für ewig von Gott getrennt hätte, und die seinem Herrn und Heiland den Tod gebracht hat? Wie unfaßlich und jedem sittlichen Gefühl hohnsprechend wäre ein solches Tun!

Zudem hatten die Gläubigen zu Rom ja schon durch ihre Taufe bekannt, daß sie mit dem Tode Christi einsgemacht worden waren. „Oder wisset ihr nicht, — mit anderen Wor­ten: seid ihr so unbekannt mit der sinnbildlichen Bedeutung der Taufe? — daß wir, so viele auf Christum Jesum getauft worden, auf seinen Tod getauft worden sind?" (V. 3). Die Taufe, die am Anfang des Weges eines jeden Gläubigen liegt, ist nicht nur das Zeugnis von dem für uns erfolgten Tode Christi, sondern auch von unserem Gestorbensein mit Ihm. Indem der Täufling in das Wasser hinabgesenkt wird, ver­schwindet er (im Bilde) nach seiner alten Natur; er wird gleichsam begraben, um als ein neuer Mensch aus dem Wasser wieder heraufzusteigen. „So sind wir nun mit ihm begraben worden durch die Taufe auf den Tod, auf daß, gleichwie Christus aus den Toten auferweckt worden ist durch die Herrlichkeit des Vaters, also auch wir in Neuheit des Lebens wandeln" (V. 4). Der Christ ist nicht mit einem auf Erden lebenden Christus in Verbindung gebracht worden — eine solche Verbindung war infolge seines hoffnungslosen Zustandes unmöglich (vergl. Joh. 12, 24) — auch setzt er seine Hoffnung nicht, wie der Jude, auf einen kommenden, auf Erden regierenden Messias; er bekennt im Gegen­teil in der Taufe zugleich mit dem Tode Christi seinen eigenen Tod, das Ende seines hoffnungslosen Zustandes im Fleische, um fortan, gleichwie Christus nicht im Grabe ge­blieben, sondern aus den Toten auferweckt worden ist durch die Herrlichkeit des Vaters, als ein mit Ihm auferstandener Mensch in Neuheit des Lebens zu wandeln.

Wiederum müssen wir sagen: Die Belehrung des Apostels ist einfach und von unwiderstehlicher Beweiskraft, und doch, welch törichte Dinge sind im Laufe der Jahrhunderte in Verbindung mit der Taufe gelehrt worden l Wie bedeutungsvoll ist diese Handlung, und wie ernst die aus ihr hervorgehende Folgerung für alle, die sich einfältig durch den Geist Gottes belehren lassen! Der Christ ist nicht berufen, allmählich der Sünde abzusterben und so nach und nach in eine neue Stellung der Heiligkeit hineinzuwachsen; nein, der Ausgangspunkt seines Weges und Lebens ist die Tat­sache, daß er mit Christo gestorben ist und sich nun in Ihm, dem Auferstandenen, in einer ganz neuen Stellung vor Gott befindet. Und diese Tatsache wird in der Taufe bezeugt. Ein gestorbener .Christus ist das Ende des alten Ver­hältnisses; der alte Mensch ist für immer gerichtet, und ein auferstandener Christus ist jetzt das Leben und die Gerechtigkeit des Gläubigen vor Gott.

Ganz naturgemäß und folgerichtig ergibt sich daraus ein Wandel in Neuheit des Lebens. Der Apostel sagt nicht, daß wir in Neuheit des Lebens wandeln müssen oder sollen, mit anderen Worten, er stellt uns nicht wieder unter ein Gebot, sondern betont nur die völlig veränderte Sachlage: „auf daß wir in Neuheit des Lebens wandeln". Daß es in die­sem Wandel ein Wachstum, ein praktisches Fortschreiten gibt, entsprechend der Treue des einzelnen, braucht kaum betont zu werden. Aber von diesem Teil der Wahrheit wird hier nicht gesprochen. Andere Stellen be­lehren uns ausführlich darüber.

Der Ausdruck „durch die Herrlichkeit des Vaters" bedarf noch einer kurzen Erklärung. Er bedeutet wohl nicht einfach, daß Gott sich in der Auferweckung Jesu verherrlicht habe. Es ist der Vater, der als dem Sohne gegenüber han­delnd hier eingeführt wird. Der Vater war, in aller Ehrfurcht sei es gesagt, es Seiner eigenen Herrlichkeit schuldig, den Sohn, der Ihn in allem verherrlicht hatte, nach vollendetem Werke aus den Toten aufzuerwecken. Alle die Ratschlüsse des Vaterherzens standen und stehen ja in Verbindung mit diesem Werke, und so kam gleichsam alles, was in Ihm ist, in dieser Verherrlichung Seines Sohnes zur Auswirkung.

Beachten wir indes, daß der Römerbrief das Auferwecktsein des Gläubigen mit Christo nicht als eine vollendete Tatsache betrachtet, sondern aus dem Gestorbensein mit Ihm nur die entsprechende Folgerung zieht: „Denn wenn wir mit ihm einsgemacht worden sind in der Gleichheit seines Todes, so werden wir es auch in der seiner Auferstehung sein" (V. 5). Es findet dies wohl seine Erklärung darin, daß der Heilige Geist die Gläubigen in diesem Briefe als auf der Erde lebende Menschen betrachtet, nicht, wie z. B. im Epheserbrief, als in Christo in den Himmel mitversetzt. Nur der erste Teil der kostbaren Wahrheit von unserer Vereinigung mit Christo in Tod und Auferstehung wird hier entwickelt, der zweite nur gefolgert. Wenn wir teilhaben an dem Tode Christi, muß auch das daraus hervorgegangene Leben unser sein. Unser altes Ich ist tot, unser neues Ich ist Christus. Darum ist es nur folgerichtig für uns, in Neuheit des Lebens zu wandeln; als begraben mit Christo in der Taufe, geziemt es uns, nicht mehr uns selbst, sondern Gott zu leben, „in­dem wir dieses wissen4, daß unser alter Mensch mitge­kreuzigt worden ist, auf daß der Leib der Sünde — unser ganzer früherer Zustand — abgetan sei, daß wir der Sünde nicht mehr dienen" (V. 6).

Der natürliche Mensch dient der Sünde, das ist sein Wesen, seine Art; des Gläubigen Wesensart ist, der Sünde nicht zu dienen. „Denn wer gestorben ist, ist freigesprochen von der Sünde" (V. 7). Für einen Gestorbenen kann ein Sündigen nicht mehr in Frage kommen, er ist ja tot! Das ist die überaus wichtige Lehre, welche der Heilige Geist hier den Gläubigen gibt, eine Lehre allerdings — und das wird so wenig ver­standen — die genau so im Glauben erfaßt werden muß, wie die Wahrheit von der Errettung. Es handelt sich dabei um eine Tatsache, die sich außer uns vollzogen hat, um eine Befreiung, die dem Glaubenden von Gott ebenso bestimmt bezeugt wird wie die Vergebung seiner Sünden. Unsere praktischen Erfahrungen scheinen ihr freilich fort­während zu widersprechen, sie stimmt aber mit der Weisheit und Heiligkeit Gottes ebenso überein, wie sie den einstigen Sklaven der Sünde die Gnade darreicht, fortan den heiligen Willen Gottes zu tun.

Im 8. Verse wird die Schlußfolgerung, die wir bisher be­handelten, auf die Zukunft ausgedehnt. 

Auch unsere Leiber werden an der Auferstehung aus den Toten teilhaben. „Wenn wir aber mit Christo gestorben sind, so glauben wir, daß wir auch mit ihm leben werden, da wir wissen, daß Christus, aus den Toten auf erweckt, nicht mehr stirbt; der Tod herrscht nicht mehr über ihn." Indem wir auf Grund der innersten Überzeugung unserer Seelen wissen (vergl. die An­merkung auf Seite 81), daß Christus, einmal aus den Toten auferweckt, aus der Macht des Todes für immer herausge­treten ist, sie besiegt hat, haben wir die volle Glaubensge­wißheit, daß wir auch mit Ihm leben werden. Dieses Auf­erstehungsleben, das jetzt schon seinen Ausdruck findet in einem neuen Wandel, der sich — wenn auch selbstverständ­lich immer unvollkommen — dem Wandel Christi gemäß ge­staltet, wird erst vollendet sein in der Herrlichkeit, wenn wir »nach Leib, Seele und Geist tadellos" vor Gott stehen werden.

Einen Augenblick schien freilich der Tod unseren Herrn und Heiland in seiner Gewalt zu haben. Sollte Gott verherr­licht, die Sünde gerichtet, Satans Macht zerstört und unsere Befreiung zur Tatsache werden, so mußte Er in Tod und Grab hinabsteigen. Aber „was (nicht „daß") er gestorben ist, ist er ein für allemal der Sünde gestorben, was er aber lebt, lebt er Gott" (V. 10). Schien Satan auch für eine kurze Zeit zu triumphieren, der Sieg ist ein für allemal auf selten unseres Herrn. Aus den Toten auferweckt, stirbt Christus nicht mehr, der Tod herrscht nicht mehr über Ihn, und wir ernten die Frucht Seines Sieges.

Aber ach! was hat dieser Sieg Ihn gekostet! Wie er­schütternd ist der Gedanke, daß der vollkommen Sündlose und Heilige, indem Er unsere Sache in Seine Hand nahm, auch voll und ganz an unsere Stelle treten, zur Sünde gemacht werden mußte! Nicht daß Er persönlich je etwas anderes hätte werden können, als was Er war; aber indem Er sich freiwillig in Gnade für uns verantwortlich machte, mußte Er seitens des göttlichen Richters so behandelt werden, als wäre Er in demselben Zustand gewesen, in welchem wir von Natur uns befinden, als Sünde. Das war das Furchtbare, das in Gethsemane vor Seine heilige Seele trat: Er mußte als unser Stellvertreter der Sünde sterben, den Tod in seiner ganzen Schrecklichkeit als Sold der Sünde schmecken.

Gott sei gepriesen! das große Werk ist vollbracht. Der einmal um unsertwillen von Gott Verlassene thront jetzt ver­herrlicht zur Rechten Gottes. „W a s er aber lebt, lebt er Gott", und wir dürfen frohlockend sagen, daß wir mit Ihm teilhaben an diesem Leben. Auf Grund dessen kann der Apostel uns auch zurufen: „Also auch ihr, haltet euch der Sünde für tot, Gott aber lebend in Chri­sto Je s u" (V. 11). Wir würden, wenn ich mich so aus­drücken darf, ein schweres Unrecht an dem Tode und der Auferstehung unseres Herrn begehen, wenn wir uns nicht in Ihm der Sünde für tot, Gott aber in Ihm lebend betrachten würden. Wir sind nicht nur berechtigt, sondern auch berufen, das zu tun und in der gläubigen Verwirklichung dieser Wahrheit zu wandeln. Ach, wenn die Kinder Gottes diese Wahrheit nur mehr im Glauben erfassen und ihre befreiende Kraft im Leben und Wandel erfahren möchten! Wie würde es Gott verherrlichen, Seinen Sohn ehren und ihre eigenen Herzen mit Dank und Freude erfüllen! Wer diese Wahrheit wirklich verstanden hat und darin wandelt, ist ein glücklicher, befreiter Christ, der die nunmehr folgende Ermahnung des Apostels dankbar begrüßt und eine innige Befriedigung darin findet, sie in all seinem Denken und Tun zur praktischen Wirklichkeit werden zu lassen.

„So herrsche denn nicht die Sünde in eurem sterblichen Leibe, um seinen Lüsten zu gehorchen; stellet auch nicht eure Glieder der Sünde dar zu Werkzeugen der Ungerechtigkeit, sondern stellet euch selbst Gott dar als Lebende aus den Toten, und eure Glieder Gott zu Werkzeugen der Gerechtig­keit" (V. 12. 13).

Betonen wir noch einmal, daß der Christ nicht der Sünde noch sterben muß, sondern daß er ihr, als mit Christo gekreuzigt, gestorben i s t. Er ist nicht von einzelnen Sünden oder bösen Neigungen befreit, sondern der ganze alte Mensch ist beseitigt, am Kreuze gerichtet. Beachten wir aber zugleich, daß dieses Gestorbensein mit Christo nicht etwa die Entfernung der alten Natur, des alten Menschen, aus uns zur Folge hat. Die Sünde ist und bleibt in uns, so­lang wir in diesem Leibe wallen. „Wir haben diesen Schatz in irdenen Gefäßen, auf daß die Überschwenglichkeit der Kraft sei Gottes und nicht aus uns" (2. Kor. 4, 7). Wenn es anders wäre, brauchte uns nicht gesagt zu werden: „H a 1-
t et euch der Sünde für tot", oder: „So herrsche denn nicht die Sünde in eurem sterblichen Leibe". Aber obwohl die Sünde noch in uns ist, sind wir nicht mehr ihrer Herrschaft unterworfen, ihre Kraft ist gebrochen. Ein Christ kann sündigen, aber er m u ß nicht sündigen; er ist nicht gezwungen, auch nur einen unreinen Gedanken zu haben. Er wird sündigen, wenn er nicht wachsam ist, wenn aber das neue Leben und die Kraft des Heiligen Geistes in ihm wirken, braucht er der alten Natur in keiner Weise mehr zu dienen, nicht einmal, wie gesagt, in Gedanken.

Welch eine Befreiung! Aber erinnern wir uns noch ein­mal daran, daß sie nur im Glauben erfaßt und i n h e i l i g e r Furcht verwirklicht werden kann. Doch wie gut: derselbe Mensch, der einst das Licht haßte, liebt es jetzt! Von seinem alten Herrn befreit, ist der Christ nicht nur fähig, sondern auch frei, sich einem neuen Herrn zu widmen. Und wen wird er wählen, wem sich widmen? Er sagt: „Die ver­gangene Zeit ist mir genug, den Willen des Fleisches ge­tan zu haben." (Vergl. 1. Petr. 4, 3.) An Satans Stelle ist Gott getreten, an die Stelle der Sünde die Gerechtig­keit. Früher ein Sklave Satans, ein williger Diener der Lüste seines sterblichen Leibes, kann er jetzt sich selbst Gott darstellen als ein aus den Toten Lebendiggemachter, und seine Glieder: Auge, Ohr, Zunge, Hand, Fuß usw., die er früher als Werkzeuge der Ungerechtigkeit benutzte, darf er jetzt als Werkzeuge der Gerechtigkeit mit Freuden in Gottes Dienst stellen. Wunderbarer Wechsel! Wir verstehen freilich, daß geradeso wie nur die Macht der Gnade ihn herbeiführen konnte, auch nur die Gnade uns praktisch in der Verwirk­lichung der neuen Stellung erhalten und wachsen lassen kann. Aber diese Gnade ist für uns da, und wir dürfen täglich, stündlich aus ihrer Fülle nehmen.

Beachten wir indes, daß die hier (wie bei vielen anderen ähnlichen Ermahnungen) gebrauchte griechische Zeitform des Wortes „stellet dar" im zweiten Falle nicht ein gegen­wärtiges, gewohnheitliches Tun, sondern eine geschehene, aber in ihrer Wirkung fortdauernde Tatsache andeutet. Das will sagen: es handelt sich nicht, wie man im allgemeinen so gern meint, um eine allmählich fortschreitende Verbesserung oder Veredlung der menschlichen Natur, sondern darum, daß wir in einer einmaligen, aber in ihrer Bedeutung stets fest­ gehaltenen Handlung uns selbst Gott übergeben haben als Lebende aus den Toten, und unsere Glieder Gott zu Werk­zeugen der Gerechtigkeit. Mit anderen Worten; Jene Tat­sache ist der Boden, auf den wir in Christo gebracht sind, und den wir unausgesetzt im Glauben einzunehmen und zu be­wahren haben. „Denn", fährt der Apostel fort, „die Sünde wird nicht über euch herrschen, denn ihr seid nicht unter Gesetz, sondern unter Gnade" (V. 14). Gott sei Dank für die­ses Wort, besonders am Schluß eines Abschnittes, der so ernst vor einem Mißbrauch der Güte Gottes und der Freiheit des Christen warnt!

Unserem menschlichen Denken und Empfinden würde es freilich mehr entsprechen, wenn der Apostel an dieser Stelle von dem ganzen Ernst der heiligen Gebote Gottes reden würde. Aber nein, so wie Gnade allein errettet, so gibt auch Gnade allein Kraft zu einem Gottes würdigen Wandel. Das Gesetz gibt weder Leben noch Kraft. In 1. Korinther 15, 56 wird es gar „die Kraft der Sünde" genannt, weil es be­kanntlich gerade durch seine Verbote die Lüste und Leiden­schaften des Fleisches anreizt. Wären wir unter Gesetz ge­stellt, so würde die Sünde nach wie vor ihre Herrschaft über uns ausüben; aber Gott sei gepriesen! wir sind unter Gnade. Darum kann uns zugerufen werden: „So herrsche denn nicht die Sünde in eurem sterblichen Leibe", und das herr­liche Trostwort folgen: „Die Sünde w i r d n i c h t über euch herrschen." Dieselbe Gnade, die uns von der Sünde freige­macht hat, gibt uns Kraft, nicht mehr den Lüsten des Fleisches zu dienen, sondern fortan in Neuheit des Lebens zu wandeln. Der Christ ist frei, sich Gott hinzugeben und Ihm zu dienen. Das ist die einfache und kostbare, aber vielfach leider so wenig verstandene und beachtete Belehrung des Wortes an dieser Stelle.

Doch man wendet ein; „Was nun? sollten wir sündigen, weil wir nicht unter Gesetz, sondern unter Gnade sind?" (V. 15). Der Apostel antwortet wieder zunächst mit seinem entschiedenen „Das sei ferne!" Aber dann widerlegt er den Einwurf, nicht, wie bei der ersten Frage (V. l), durch den Hinweis auf unser Gestorbensein mit Christo, sondern da­durch, daß er zeigt, welch eine böse, niedrige Gesinnung eine solche Handlungsweise verraten würde. „Wisset ihr nicht,
daß, wem ihr euch darstellet als Sklaven zum Gehorsam, ihr dessen Sklaven seid, dem ihr gehorchet? entweder der Sünde zum Tode, oder des Gehorsams zur Gerechtigkeit?" (V. 16). Es gibt für den Christen nur ein ernstes Entweder oder, keinen Vergleich, keinen Mittelweg. Einst ein Sklave der Sünde, ist er jetzt berufen, festzustehen in der Freiheit, zu welcher Christus ihn berufen, dem Beispiel zu folgen, das sein Herr ihm hinterlassen hat. Ein dankbares Herz begrüßt das auch mit Freuden, die Liebe wünscht es nicht anders. Aus der Sklaverei der Sünde, die zum Tode führte, befreit, nennt der Christ sich jetzt mit Lust einen Sklaven Jesu Christi, oder, wie der Apostel es hier ausdrückt, „des Gehorsams zur Ge­rechtigkeit". Welch ein Leben, welch ein Ertrag desselben! Es ist genau das, was wir in Vollkommenheit bei unserem geliebten Herrn, dem wahren und einzig vollkommenen Die­ner, erblicken. So unvollkommen alles bei uns bleiben mag, Seinem Vorbilde folgend gehorchen wir, damit praktische Gerechtigkeit, ein Wandel dem Willen Gottes entsprechend, daraus hervorkomme.

Freudig stimmen wir deshalb ein in den Ausruf: „Gott aber sei Dank, daß ihr Sklaven der Sünde wäret, aber von Herzen gehorsam geworden seid dem Bilde der Lehre, welchem ihr übergeben worden seid!" (V. 17). Wir sind in unserer neuen Stellung nicht auf uns selbst ange­wiesen. Als Geschöpfe können wir niemals unabhängig sein, uns nicht selbst genügen; wir bedürfen eines Gegenstandes, nach dem wir uns bilden, eines Vorbildes, dem wir nach­eifern können. Dieser Gegenstand, dieses Vorbild ist Chri­stus, so wie Gott sich in Ihm geoffenbart hat, samt allem, was uns in Ihm geschenkt ist. Der Heilige Geist, durch den wir mittelst des Wortes wiedergezeugt sind, ist allezeit be­müht, Christum vor unsere Blicke zu stellen, indem Er uns zugleich die Dinge genießen läßt, die Er uns im Worte mit­geteilt hat. So Christum anschauend und das Begehren im Herzen tragend, dem Bilde der christlichen Lehre, dem wir übergeben worden sind, zu gehorchen, wird Geist und Ge­sinnung, der ganze Mensch, diesem im Worte uns gegebenen Bilde gemäß umgewandelt und gestaltet.

„Freigemacht aber von der Sünde, seid ihr Sklaven der Gerechtigkeit geworden. Ich rede menschlich wegen, der Schwachheit eures Fleisches" (V. 18. 19). Der Herr sagt: „Nie­mand kann zwei Herren dienen." So ist es auch in diesem Falle. Von dem ersten Herrn freigemacht, sind wir mit dem zweiten in ein nie wieder zu lösendes Verhältnis getreten. Was das Gesetz, wie schon so oft betont, nicht zu tun ver­mochte, das tut die Gnade, indem sie in dem praktischen Leben des Christen das hervorbringt, was in Christo in Voll­kommenheit gesehen wird. Obwohl völlig frei, ist der Gläu­bige doch ein williger Knecht Christi, ein gleichsam mit Leib und Seele der Gerechtigkeit verschriebener Mensch. Anstatt die Freiheit, zu der er gebracht ist, zu mißbrauchen, benutzt er sie, um gerade das (und mehr) zu tun, was das Gesetz mit allen seinen Drohungen und Verheißungen nicht hervorzu­bringen vermochte.

Hat er einst seine Glieder dargestellt zur Sklaverei der Unreinigkeit und Gesetzlosigkeit zur Gesetzlosigkeit, so stellt er sie jetzt dar zur Sklaverei der Gerechtigkeit zur Heiligkeit. (V. 19.) Der Apostel redet menschlich oder nach Menschenweise, wenn er so spricht, um des schwachen geist­lichen Zustandes und Verständnisses der Römer willen. Wür­den sie vielleicht doch noch falsche Schlüsse aus seinen Be­lehrungen gezogen haben, wenn er sie nicht so eindringlich an ihre heilige und unverbrüchliche Verpflichtung zu einem heiligen Wandel erinnert hätte? Sie waren Freie und doch Gebundene, freigemacht von der Sünde, nicht aber um jetzt zu tun, was ihnen beliebte, sondern in heiliger Unterwürfigkeit und Furcht der Gerechtigkeit zu dienen. In beiden Zuständen gibt es ein Ziel, ein Wachstum. Das Ziel des einen war stets zunehmende Gesetzlosigkeit, Trennung von Gott in Hochmut und Eigenwille; das des anderen ist wachsende Heiligkeit, Absonderung für Gott in Demut und Gehorsam. Der natür­liche Mensch liebt das Böse und haßt das Licht, der geistliche haßt das Böse und liebt das Licht.

„Denn als ihr Sklaven der Sünde wäret, da wäret ihr Freie von der Gerechtigkeit. Welche Frucht hattet ihr denn damals von den Dingen, deren ihr euch jetzt schämet? denn das Ende derselben ist der Tod" (V. 20. 21). Die Sklaverei, in welcher die Gläubigen sich einst befanden, hatte jeden Dienst der Gerechtigkeit, ja, jegliche Beziehung zu ihr völlig ausge­schlossen. Und welche Frucht hatten sie damals von ihrem Tun gehabt? Was hatten die Dinge, die sie getrieben hatten, ihnen eingetragen? Nichts als Beschämung und Trauer. Und das Ende derselben war der T o d !

Fürwahr, wenn es Beweggründe zu einem Wandel in Hei­ligkeit gibt, dann sind sie hier mit bewunderungswürdiger Kraft und Weisheit zusammengestellt. Konnten die Gläubigen in Rom sich ihnen entziehen? Wollten sie, nachdem die Gnade sie um einen so hohen Preis aus ihrem früheren Zustande befreit hatte, wieder zu dem alten Leben mit seinen beschä­menden Begleiterscheinungen und seinem furchtbaren Ende zurückkehren, sich wieder unter die Herrschaft der Sünde begeben? Unmöglich! Nein, „von der Sünde freigemacht und Gottes Sklaven geworden", hatten sie jetzt ihre „Frucht zur Heiligkeit, als das Ende aber e w i g e s L e b e n" (V. 22).

„Gottes Sklaven geworden", damit erreicht der Apostel wohl den Höhepunkt seiner Belehrung an dieser Stelle. Wir sind nicht nur dahin gebracht, die Gerechtigkeit zu lieben und ihr nachzustreben, sondern sind zu Gott selbst in die nächsten Beziehungen getreten. Ihm dürfen und sollen wir unverkürzt alle Kräfte des Leibes und der Seele weihen. Nicht eine Reihe von Geboten ist uns als Richtschnur für unser Handeln gegeben, nein, wir sind Ihm selbst unterwor­fen, wie Er sich in Seinem ganzen Worte geoffenbart hat, Ihm, dessen wohlgefälligen Willen wir durch Seinen Geist immer klarer zu verstehen und durch die Gnade zu tun lernen. So ist der Bereich, in welchem wir unseren Gehorsam offen­baren können, ohne Schranken und Grenzen, und indem wir in ihm wandeln, haben wir „unsere Frucht zur Heiligkeit, als das Ende aber ewiges Leben".

Seliger Wechsel! Einst kennzeichneten uns die finsteren Werke des Fleisches, heute dürfen wir die Frucht des Geistes bringen, lauter liebliche Dinge, wider die es kein Gesetz gibt. (Lies Gal. 5, 19—23.) Früher hatten wir k e i n e Frucht, nur böse Gedanken, Worte und Werke, jetzt Frucht zur Ehre Gottes und zum Wachstum in der Heiligkeit. Als aus Gott geboren, sind wir unserer Stellung nach geheiligt durch das Opfer Jesu Christi, durch das Wort Gottes und durch die Inwohnung des Heiligen Geistes. Wir können des­halb „Heilige und Geliebte" genannt werden. Aber wir be­dürfen praktischerweise der Heiligung. Sie geschieht dadurch, daß wir unsere Herzen von Ihm erfüllen lassen, der das ganze Herz des Vaters ausfüllt, weil Er allezeit, bis zum Tode am Kreuze, das vor Gott Wohlgefällige tat.

„Gottes Sklaven !" 0 möchten wir das Wort immer besser verstehen und verwirklichen lernen, damit unsere Frucht wachse, und daß wir auf dem Wege zur Herrlichkeit mehr und mehr in das Bild Dessen verwandelt werden, der selbst einst hienieden gewandelt und den Vater verherrlicht hat, und den wir mit aufgedecktem Angesicht jetzt droben anschauen in Seiner Herrlichkeit! (2. Kor. 3, 18.)

„Als das Ende aber ewiges Leben." Das kostbare Ziel eines so gesegneten Pfades, die Krone, die unser wartet, ist diese Herrlichkeit selbst. Bald wird auch unser Leib, das „irdene Gefäß", Seinem Leibe der Herrlichkeit gleichge­staltet werden, und wir werden dann voll und ganz, von Ewigkeit zu Ewigkeit, das Bild Dessen tragen, der uns geliebt und das ewige Leben für uns erworben hat. (Kap. 8, 29.)

„Denn der Lohn der Sünde ist der Tod, die Gnadengabe Gottes aber ewiges Leben in Christo Jesu, unserem Herrn" (V. 23). Damit schließt der Schreiber seine wunderbaren Ge­dankengänge. Mit einem Wort stellt er noch einmal die Ergebnisse auf des Menschen und auf Gottes Seite vor unsere Blicke. Wir hatten den Tod verdient, als traurigen Lohn für traurige Arbeit; die Gnade hat uns das ewige Leben, Gottes freie, unverdiente Gabe, durch Jesum Christum, unseren Herrn, geschenkt. Wir besitzen es heute schon „im Sohne". In Ihm war Leben, und das Leben war das Licht der Menschen, und wer den Sohn hat, hat das Leben. An­ders wären wir völlig unfähig, mit Gott Gemeinschaft zu haben. Aber ewiges Leben bedeutet im Ratschluß Gottes noch mehr als das. Es ist vollkommene Gleichheit mit dem droben verherrlichten Menschensohne. Dort wird dieses Leben bald in Herrlichkeit völlig geoffenbart werden.

Das also liegt vor uns! „Die Gnadengabe Gottes ist ewiges Leben in Christo Jesu, unserem Herrn."

Kapitel 7
Kapitel 7, 1—11
Nachdem der Apostel in dem Vorhergehenden die beiden großen Fragen der Rechtfertigung und der Befrei­ung behandelt und die Wirkung des Todes und der Aufer­stehung Jesu hinsichtlich beider entwickelt hat, kommt er jetzt zu einem neuen Gegenstand von größter Wichtigkeit. Gott hatte einst Seine Gebote dem Menschen gegeben. Sie waren unverbrüchlich und fanden ihre Anwendung — ich rede natürlich nur von dem Sitten-, nicht von dem Zeremonial-Gesetz — auf alle Menschen ohne Unterschied. Wenn auch zunächst nur für das Volk Israel bestimmt, enthielten sie doch die gerechten Forderungen Gottes an Sein Geschöpf, an den Menschen in seinem natürlichen Zustande. Jeder Mensch, der mit ihnen bekannt wurde, war verpflichtet, ihnen zu gehorchen, und sie bestehen heute noch für den Menschen als solchen in ihrer vollen Kraft. (Vergl. 1. Tim. 1. 8. 9.) Der heilige Gott kann Seine Forderungen nicht mildem, Seine Ansprüche nicht verringern.

Nun aber hatte der Apostel kurz vorher gesagt, daß die Gläubigen „nicht unter Gesetz, sondern unter Gnade" seien. Wie war dieser scheinbar unlösliche Widerspruch auf­zuklären? Daß sie nicht „gesetz l o s" geworden waren, d. 1. nicht ihrem eigenen Willen, ihren Neigungen und Lüsten folgen durften, hatte er schon aufs deutlichste bewiesen. Wie waren sie nun von den Flüchen des Gesetzes befreit worden, wie seiner Botmäßigkeit entronnen? Die Antwort ist kurz und einfach. Sie lautet, wie im 5. und 6. Kapitel: durch den Tod.

„Oder wisset ihr nicht, Brüder, (denn ich rede zu denen, die Gesetz kennen,) daß das Gesetz über den Menschen herrscht, s o l a n g e e r l e b t ?" (V. l). Wenn ein zum Tode verurteilter Mörder hingerichtet ist, so hat er mit dem Ge­setz, das ihn zum Tode verurteilt hat, nichts mehr zu tun; die Forderung desselben ist befriedigt, sein Recht erfüllt. Was könnte das Gesetz überhaupt noch mit einem toten Menschen anfangen? So ist auch der Gläubige gestorben, und zwar i n und m i t Dem gestorben, der am Kreuze für ihn zur Sünde gemacht wurde und den Fluch eines gebrochenen Gesetzes für ihn trug. Er ist also tot, dem Gesetz gestorben, und an die Stelle des Gesetzes ist Christus getreten. In Ihm, dem Auferstandenen, besitzt der Gestorbene ein neues Leben, in welchem er durch den Glauben das stets zur Sünde neigende Fleisch für gerichtet und sich selbst der Sünde für tot halten darf.

Ehe wir indes weitergehen, müssen wir uns einen Augen­blick mit dem Wort „Gesetz" beschäftigen. Wir begegnen ihm in unserem Kapitel in verschiedenartiger Bedeutung. Im 2. Verse lesen wir z. B. vom „Gesetz des Mannes", oder dem Ehegesetz, im 21. und 23 Verse von einem „ande­ren Gesetz", dem „Gesetz der Sünde", das dem „Gesetz des Sinnes" in den Wiedergeborenen widerstreitet. Ferner sagt der Apostel im 1. Verse: „Ich rede zu denen, die Ge­setz kennen." Er spricht nicht von dem Gesetz (vom Sinai), sondern von „Gesetz" in allgemeinem Sinne. Er sagt mit anderen Worten: „Ich rede zu Leuten, die da wissen, was das Wort Gesetz bedeutet." „Gesetz" in diesem allgemeinen Sinne ist eine unveränderliche Regel, ein feststehender Grundsatz, dem Dinge oder Menschen unterstellt sind. Der Ausdruck „Naturgesetze" ist uns allen geläufig, aber es gibt auch mancherlei andere Gesetze, die zu dem Menschen als solchem in Beziehung stehen, Gesetze, die ihm Verpflichtun­gen auferlegen oder Forderungen an ihn stellen, denen er sich nicht entziehen kann.

Nun, wer da weiß, was „Gesetz" ist, der weiß auch, daß ein toter Mensch außerhalb des Bereichs aller Gesetze steht. Auch das Gesetz (das Gesetz vom Sinai) kann nur über den Menschen herrschen, solang er lebt. Der Tod hebt jede Verbindung, jede Verpflichtung ihm gegenüber auf. Der Apostel erklärt das noch näher durch das Beispiel von dem Ehegesetz, indem er sagt: „Denn das verheiratete Weib ist durchs Gesetz an den Mann gebunden, solang er lebt; wenn aber der Mann gestorben ist, ist sie losgemacht von dem Gesetz des Mannes. So wird sie denn, während der Mann lebt, eine Ehebrecherin geheißen, wenn sie eines anderen Mannes wird; wenn aber der Mann gestorben ist, ist sie frei von dem Gesetz, so daß sie nicht eine Ehebrecherin ist, wenn sie eines anderen Mannes wird" (V. 2. 3).

Der Gedanke ist so verständlich und einfach, daß er keiner­lei Erklärung bedarf. Man fragt sich unwillkürlich: Wie war und ist es möglich, daß man trotzdem immer wieder versucht hat, schon zur Zeit der Apostel, den Christen unter das Gesetz zu stellen, oder Christum und das Gesetz mitein­ander zu verbinden, d. h. also neben der Rechtfertigung durch Christum noch eine solche durch Gesetz zu fordern? Zwei Männer zu gleicher Zeit haben, ist Ehebruch. Irgend eine andere Verbindung neben Christo eingehen, heißt Ihm untreu werden. War das Gesetz einst mein Ehemann, so ist das jetzt für mich als Christ nicht mehr der Fall. Der Eintritt des Todes hat die alte Verbindung für immer gelöst, so daß ich einem anderen Manne angehören darf, und dieser Mann ist Christus. So elend und arm ich mich unter der alten Verbindung gefühlt habe, — denn je mehr ich versuchte, mein Möglichstes zu tun, umsomehr verurteilte und strafte mich der erste Ehemann, — so wohl und reich fühle ich mich in dem neuen Verhältnis, unter Christo, dem zweiten Ehe­mann. Diese neue Verbindung wird im achten Kapitel durch zwei kostbare Dinge gekennzeichnet: in ihr gibt es „keine Verdammnis mehr" (V. l), und jede ,,Scheidung" ist unmög­lich. (V. 35 — 39.)

„Also seid auch ihr, meine Brüder, dem Gesetz getötet worden durch den Leib des Christus, um eines anderen zu werden, des aus den Toten Auferweckten, auf daß wir Gott Frucht brächten" (V. 4). Die Gnade nimmt also den Christen, selbst wenn er ehedem ein Jude war, aus dem alten Ver­hältnis heraus und bringt ihn in eine ganz neue Verbindung, die auf den Tod Christi gegründet ist, und in welcher er Gott Frucht bringen kann, was vorher ganz ausgeschlossen war.
Beachten wir indes, daß der Apostel bei der Anwendung das Bild umkehrt: nicht der alte Ehemann, das Gesetz, ist gestorben, was ganz unmöglich wäre, sondern w i r sind als solche, die einst ihr Leben im Fleische hatten, durch den Leib des Christus, d. h. in Seinem Tode, dem Gesetz getötet worden. Als gestorben mit Ihm sind wir von unserer alten Verpflichtung gelöst, um nun Ihm allein anzugehören, und zwar nicht wieder in irgend einem gesetzlichen Geiste, viel­leicht unter einer anderen Form, sondern in alleiniger Unter­werfung unter Christum, Ihm gleichsam angetraut, auf Ihn schauend, von Ihm lernend. Der Christ kann und darf in keiner Weise zwei Herren dienen, weder Christo und der Sünde (Kap. 6), noch Christo und dem Gesetz. (Kap. 7.) Zu leben ist für ihn Christus. (Phil. 1. 21.) Nur so kann er wirklich fruchtbar sein für Gott; ja, indem er nicht nach dem Fleische, sondern nach dem Geiste wandelt, tut er mehr, als was das Gesetz fordert. (Vergl. Kap. 8, 4.)

Wird aber, so könnten wir wieder fragen (vergl. das zu Kap. 3, 27 Gesagte), auf diesem Wege das Ansehen des Gesetzes nicht geschwächt, seine Autorität geradezu ver­nichtet? Keineswegs. Den Ansprüchen des Gesetzes ist voll und ganz Genüge geschehen, denn die Sünde wurde in Christo am Kreuze bestraft, und ich, der Schuldige, bin in Seinem Tode mitgetötet worden. Das Urteil des Gesetzes ist also zur Vollziehung gekommen. Der Gläubige ist, wie der Apostel es in Galater 2, 19 ausdrückt, „durchs Gesetz dem Gesetz gestorben". Gott selbst hat diesen rechtmäßi­gen Weg der Befreiung vom Gesetz bereitet, einen Weg, der uns völlig und auf immerdar außer seinen Bereich stellt. Das Gesetz bleibt selbstverständlich nach wie vor in seiner unan­tastbaren Heiligkeit und Gerechtigkeit bestehen, aber w i r sind nicht mehr für dasselbe vorhanden.

Das ist die Lehre bezüglich der Stellung, in welche der Gläubige gebracht ist. Was aber sagt unsere Erfahrung dazu? Nun, anstatt das Gesagte umzustoßen, bestätigt sie vielmehr den wichtigen Grundsatz unseres Gestorbenseins mit Christo und der aus ihm hervorgegangenen Befreiung der Seele von dem Gesetz. „Denn als wir im Fleische waren, wirkten die Leidenschaften der Sünden, die durch das Gesetz sind, in unseren Gliedern, um dem Tode Frucht zu bringen. Jetzt aber sind wir von dem Gesetz losgemacht, da wir dem gestorben sind, in welchem wir festgehalten wurden, so daß wir dienen in dem Neuen des Geistes und nicht in dem Alten des Buchstabens" (V. 5. 6).

„Als wir im Fleische waren." Was will der Ausdruck „im Fleische sein" sagen? Wir werden ihm noch wiederholt be­gegnen. „Im Fleische sein" heißt: auf dem Boden oder in der Stellung des ersten Adam vor Gott stehen und Ihm dieser Stellung gemäß verantwortlich sein. Es handelt sich dabei nicht um das geringere oder größere Maß der persönlichen Schuld, sondern um den sündigen Zustand, in welchem wir uns von Natur ausnahmslos befinden, um das Joch der Sünde, unter dem wir alle stehen. Wir waren einst (um in der Sprache des Bildes zu reden) ehelich mit dem Gesetz verbunden; aber wie uns sattsam bekannt, ver­bietet das Gesetz wohl die Sünde und rechnet sie dem Übertreter zu, aber es gibt keine Kraft zum Halten seiner Gebote; im Gegenteil, es gibt der Sünde Anlaß, in mir wirk­sam zu werden. Indem es uns sagt; „Laß dich nicht gelüsten", bringt es gerade „die Leidenschaften der Sünden" in uns zum Aufwachen und Wirken. So verstehen wir es, wenn der Apostel sagt, daß diese Leidenschaften „durch das Ge­setz" sind. Doch übersehen wir nicht: Die Quelle jener Leidenschaften ist nicht etwa das Gesetz; die Quelle liegt in uns, aber das Gesetz wirkt auf sie und setzt sie in Tätigkeit. Wenn ein Lehrer seinen Schülern verbietet, die Wände des Schulzimmers zu bekritzeln, so wird in vielen, die früher vielleicht nie an so etwas gedacht haben, die Lust erwachen, das Verbotene zu tun. Oder wenn ich etwas in einer Schublade verschließe und sage; „Niemand darf wissen, was in dieser Schublade ist", so wird groß und klein die Lust verspüren, die Schublade zu öffnen.

Das also war unser Zustand, unsere traurige Lage. Aber Gott sei gepriesen! wir „waren einst im Fleische", sind es aber nicht mehr. Wir sind vielmehr, wie wir später be­lehrt werden, „im Geiste". (Kap. 8, 9.) Das ist unsere neue Stellung vor Gott. Wohl ist das Fleisch noch „in uns", und deshalb können wir dem Fleische noch Raum geben, ja, selbst „fleischlich" sein (1. Kor. 3, 1. 3), aber wir sind nicht mehr „im Fleische". Und obwohl das Fleisch noch in uns ist, stehen wir nicht mehr unter seiner Herrschaft, noch stellt das Fleisch, wie früher, unsere Stellung vor Gott dar.

Damals wirkten die Leidenschaften der Sünden, die durch das Gesetz sind, in unseren Gliedern, und die Frucht, die wir brachten, galt dem Tode; das Gesetz kann einmal nicht anders, es wird sich immer als „ein Dienst des Todes und der Verdammnis" erweisen. Nachdem wir aber dem gestorben sind, in welchem wir festgehalten wurden, dienen wir nicht mehr „in dem Alten des Buchstabens, sondern in dem Neuen des Geistes". Auch hier gilt das kostbare Wort des Apostels in 2. Korinther 5, 17: „Wenn jemand in Christo ist, da ist eine neue Schöpfung; das Alte ist vergangen, siehe, alles ist neu geworden." Unser Dienst besteht nicht mehr in der Erfüllung buchstäblicher gesetzlicher Forderun­gen in eigener Kraft, sondern in der Nachfolge Christi in der Kraft des Heiligen Geistes. Als solche, die der göttlichen Natur und des Lebens Christi teilhaftig geworden sind, ver­mögen wir, durch den Geist geleitet und gestärkt, in alledem zu wandeln, was Gott wohlgefällig ist.

Wenn aber das Gesetz eine so verhängnisvolle Wirkung hat, daß unter ihm nur dem Tode Frucht gebracht werden kann, und man völlig von ihm losgemacht sein muß, um in Christo Jesu Gott dienen zu können, was soll man dann sagen? Ist dann das Gesetz nicht etwa selbst Sünde? (V. 7.) Der Gedanke liegt nahe, aber der Apostel beweist in den folgenden Versen, daß das nicht nur nicht der Fall ist, sondern daß gerade das Gesetz die Tatsache ans Licht gebracht hat, daß Sünde in uns wohnt; zugleich hat es uns gezeigt, was Sünde ist. Ein natürlich aufrichtiges Gewissen weiß, daß Fluchen, Lügen, Stehlen usw. böse ist, und verurteilt diese Dinge; aber die Sünde als solche, die böse Quelle in unserem Innern, unseren sündigen Zustand, hätte niemand von uns erkannt, wenn nicht das Gesetz gesagt hätte: .Laß dich nicht gelüsten!" So hat sich denn auf diesem Wege einerseits der wahre Charakter des Gesetzes geoffenbart, andererseits die Sünde in ihrer ganzen Häßlichkeit gezeigt.

Der vorliegende Abschnitt hat indes Anlaß zu den wider­sprechendsten Erklärungen gegeben, da die Ausleger, die wahre Stellung des Christen nicht kennend, mit seiner Be­freiung von Sünde und Gesetz nichts anzufangen wußten. Die Hauptschwierigkeit liegt aber wohl darin, daß die eine Klasse der Erklärer von dem Standpunkt ausgeht, daß der Apostel von einem aufrichtigen, aber noch nicht be­kehrten Menschen rede, die andere, daß er die Erfah­rungen eines Christen beschreibe. Noch andere meinen, er berichte über seine eigenen Erfahrungen vor und nach seiner Bekehrung.

Es mag vielleicht anmaßend klingen, wenn ich der Meinung Ausdruck gebe, daß alle drei Erklärungsweisen irrig sind; aber wenn meine Leser ohne Voreingenommenheit die Worte des Apostels auf sich einwirken lassen wollen, so glaube ich, daß sie mir recht geben werden. Daß der Apostel zunächst nicht von sich selbst redet, geht klar aus dem 9. Verse hervor. Wie könnte er, der einstige Pharisäer und glühende Verteidiger der Ansprüche des Gesetzes, von sich sagen: „Ich aber lebte einst ohne Gesetz"? Weiter beweist eine Vergleichung des 14. Verses unseres Kapitels mit Kapi­tel 6, 14 und 18, sowie des 19. Verses mit dem ganzen 6. Kapitel und Kapitel 8, 4 unwiderleglich, daß er unmöglich die regelrechten Erfahrungen eines Christen beschreiben kann. Daß er selbst für eine Weile ähnliches erlebt hat, dürfen wir annehmen, da wohl nur der, welcher selbst in dem beschriebenen Zustand gewesen ist, ihn so schildern wird, wie der Apostel es tut. Jedenfalls aber beschreibt er nicht Erfahrungen, die er in seinem späteren Leben gemacht hat, und die deshalb als Regel für den Christen dienen könnten oder sollten. Von einem natürlichen Menschen kann er schließlich auch nicht reden, denn ein solcher kann unmöglich sagen: „Ich habe Wohlgefallen an dem Ge­setz Gottes nach dem inneren Menschen" (V. 22). Wohl mögen wir ähnlich klingenden Ausdrücken in mensch­lichen Schriften, ja, selbst schon bei heidnischen Philosophen begegnen, aber eine unbekehrte Seele, deren Sinn und Wille noch nicht erneuert sind, weiß nichts von einem inneren Menschen, der Lust hat an den Geboten des Herrn.
Von wem spricht der Apostel denn? Er redet von einer wiedergeborenen oder (im Sinne der Schrift) bekehrten Seele, die Leben aus Gott besitzt, aber die im Evangelium geoffen­barte Gerechtigkeit Gottes und die kostbaren Folgen des Werkes Christi noch nicht erkannt und im Glauben ergriffen hat, deshalb auch noch nicht durch den Heiligen Geist ver­siegelt ist — von einem Menschen, dessen Gewissen ins Licht Gottes gebracht ist, und der nun für Gottes gerechte und heilige Ansprüche eifert, aber keine Kraft hat, ihnen gerecht zu werden.

Vielleicht wird man einwenden: Aber einen solchen Men­schen kann man doch nicht bekehrt nennen! Nein, in dem Sinne, wie w i r von einem Bekehrten zu reden gewohnt sind, nicht. Wenn wir sagen: „Der und der ist bekehrt", so meinen wir damit: er ist ein Mensch, der errettet und sich seiner Errettung und Gotteskindschaft bewußt ist. Aber die Schrift redet nicht so: Bekehrung ist nach der Schrift Um­kehr, aber noch nicht bewußte Errettung. Der verlorene Sohn war bekehrt, als er sich aufmachte, um zu seinem Vater zu gehen und zu ihm zu sagen: „Ich habe gesündigt gegen den Himmel und vor dir, ich bin nicht mehr würdig usw.". Aber er wollte ein „Tagelöhner" werden. Daß der Vater f ü r i h n war, trotz des hinter ihm liegenden traurigen Lebens, und, wenn er ihn aufnahm, ihn nur als „Sohn" ins Haus führen konnte, davon hatte er keine Ahnung. Das Bewußtsein der Annahme und der Vergebung seiner Sün­den kam ihm erst, als er in den Armen des Vaters lag. So liegt zwischen der Bekehrung oder der Erweckung, wie wir sie zu nennen pflegen, und der Erlangung der Ge­wißheit des Heils meist (nicht immer) eine kürzere oder längere Übergangszeit. Von dieser Zeit oder richtiger von einem diese Zeit durchlebenden, wahrhaft oder gött­lich erweckten, d. h. nicht nur in seinen Gefühlen angefaß­ten, sondern von seinem bisherigen Wege umgekehr­ten Menschen redet der Apostel. Sobald man das verstanden hat, lösen sich die Hauptschwierigkeiten unseres Kapitels ganz von selbst.

Doch wieder wird man einwenden: Haben denn nicht viele wahre Christen, jüngere und ältere, die ihrer Erret­tung und Gotteskindschaft völlig gewiß waren, Erfahrungen durchgemacht, wie Römer 7 sie beschreibt? Ist es nicht selbst den meisten von uns so ergangen? Die Frage muß bejaht werden, aber nur aus dem einfachen Grunde, weil infolge der fast unausrottbaren gesetzlichen Neigung unserer Herzen die meisten von uns sich nur auf diesem schmerzlichen Wege belehren lassen. Man weiß und bekennt, daß man in und mit Christo gestorben ist, ist aber trotz alledem nicht befreit, sondern tut, als lebe man noch in dem alten Zu­stande, und als wäre noch irgend etwas Gutes von dem Fleische zu erwarten. Zugleich lassen sich viele durch die Erwägung leiten, daß so wie Römer 7 auf 5 und 6 folge, so auch die im 7. Kapitel beschriebenen Erfahrungen auf die Rechtfertigung (Kap. 5) und die Befreiung (Kap. 6) folgen müßten. Sie halten das für die in diesen Kapiteln festgelegte und darum göttliche Reihenfolge. Aber diese Folgerung ist falsch. Mit dem 7. Kapitel ist es ähnlich wie mit dem Gesetz selbst, das „daneben einkam", um einen gewissen Zweck zu erfüllen. Jene Folgerung bringt manche aufrichtige, aber
noch nicht in der Wahrheit befestigte Seelen in Verlegenheit. Indem sie nicht so wandeln, wie sie gern möchten und wie Gott es auch mit Recht von ihnen erwartet, fangen sie an zu zweifeln und zu fragen, ob sie nicht Heuchler sind, ob sie sich nicht getäuscht haben und wohl noch gar nicht bekehrt sind. In dem ernsten Verlangen, daß es anders werden möchte, nicht selten auch von anderer Seite belehrt, daß dies der richtige Weg sei, verlassen sie unbewußt den Boden der Gnade und betreten den des Gesetzes, und machen nun alles abhängig von ihrem Tun und von dem, was sie i n sich selbst vor Gott sind. Wer die Lehre von Römer 5 und 6 wirklich verstanden hat, wird nicht leicht in die Gefahr kommen, in nutzlosen Anstrengungen sich abzumühen, um aus eigener Kraft eine Gerechtigkeit vor Gott zu erlangen. Ein solcher weiß, daß der Leib der Sünde abgetan ist, daß die Gnade jetzt herrscht durch Jesum Christum und ihn von dem freigemacht hat, in welchem er einst festgehalten wurde.

Doch noch eins: wir sagten uns schon, daß nur ein Mensch, der in dem schmerzlichen Zustande von Römer 7 w a r, aber sich nun außerhalb desselben befindet, ihn so, wie es hier geschieht, beschreiben wird. Es ist schon von anderer Seite darauf hingewiesen worden, daß jemand, der noch im Sumpfe steckt, unmöglich mit solcher Ruhe erzählen kann, wie es ihm dabei zumute ist. In dem furchtbaren Gefühl, daß er rettungslos versinkt, kann er nur um Hilfe schreien. Jede Mühe ist umsonst, jede Bewegung verschlimmert seine Lage. Hebt er einen Fuß auf, um auf festen Boden zu gelangen, so sinkt er mit dem anderen nur umso tiefer ein. Sein verzweiflungsvoller Schrei: »Ich elender Mensch ! wer wird mich retten?" ist darum mehr als verständlich.

Beachten wir hier auch, daß in diesem ganzen Kapitel weder von Gnade die Rede ist, noch von Christo, noch endlich von dem Heiligen Geist, sondern nur von dem Gesetz, von der Kraft der Sünde, von der Ohn­macht und Verderbtheit des Fleisches und von den vergeblichen Anstrengungen, aus der jam­mervollen Stellung, in der man sich befindet, herauszukom­men. Christus wird erst im Schlußverse, nachdem der Verzweiflungsschrei ertönt ist, als die alleinige Zuflucht und Rettung des von dem Gesetz der Sünde und des Todes hoffnungslos Gefangenen eingeführt. Er ist die einzige, aber auch die völlig genügende Antwort auf die Frage: „Wer wird mich retten?"

Kapitel 7, 12—25
Doch wir sind dem Gang unseres Kapitels vorausgeeilt. Kehren wir zu den Versen 7—11 zurück: An die ernste Ab­lehnung des Gedankens, daß das Gesetz Sünde sei, knüpft der Apostel die Worte: „Aber die Sünde hätte ich nicht er­kannt, als nur durch Gesetz. Denn auch von der Lust hätte ich nichts gewußt, wenn nicht das Gesetz gesagt hätte: „Laß dich nicht gelüsten"." So ist gerade die Vortrefflichkeit des Gesetzes verhängnisvoll für den Sünder. Schon im 3. Kapitel hatte der Apostel gesagt: „Durch Gesetz kommt Erkenntnis der Sünde" (V. 20). Hier: Die Sünde hätte ich nicht erkannt, von der Lust nichts gewußt, wenn nicht das Gesetz mir die Augen darüber geöffnet hätte. Durch das Gesetz werden Sünde und Lust in ihrem wahren Charakter erwiesen und erkannt.

Die Sünde wird hier gleichsam personifiziert. Sie er­scheint als eine im Fleische wohnende Macht, die Gott und Seinem Gesetz feindlich gegenübersteht. Sie wirkt, und zwar gerade das, was das Gesetz verbietet und weil es das­selbe verbietet. Die Lust ist die im Fleische aufsteigende Neigung oder Begierde. Da es sich hier nicht darum handelt, die Schuld des Menschen festzustellen, sondern seine böse, widerspenstige Natur ans Licht zu bringen, wählt wohl der Heilige Geist das letzte Gebot: „Du sollst nicht begeh­ren", oder: „Laß dich nicht gelüsten" als das am meisten ge­eignete, um das Vorhandensein jenes bösen Grundsatzes, der Sünde im Menschen, zu beweisen. Denn „ohne Gesetz ist die Sünde tot", aber „durch das Gebot Anlaß nehmend, bewirkte sie jede Lust in mir" (V. 8).

Das Gesetz hat nicht nur die bleibenden Pflichten des Menschen Gott und seinem Nächsten gegenüber festgestellt, sondern ihm auch durch die Forderung: „Laß dich nicht ge­lüsten" einen untrüglichen Prüfstein für seinen Zustand in die Hand gegeben. Vor dem Gesetz war die Sünde da, aber sie war tot. Solang ein Mensch nichts tat, was sein natürliches Gewissen ihm verbot, hatte er kein Bewußtsein von ihr, kannte auch den Urteilsspruch des Todes nicht. Ebensowenig wußte er etwas von dem Vorhandensein der Lust in seinem Innern. Erst durch Gesetz lernte er ihr Vor­handensein und das Verdammliche der Begierden seines Herzens kennen; zugleich aber erfuhr er auch, daß gerade das Gebot das leidenschaftliche Begehren in ihm weckte, das Verbotene zu tun, mit anderen Worten, daß seine Natur böse und eine Quelle des Bösen ist.

Wir verstehen jetzt auch die weiteren Worte des Apo­stels: „Ich aber — d. 1. der Mensch in seinem natürlichen Zustande — lebte einst ohne Gesetz; als aber das Gebot kam, lebte die Sünde auf" (V. 9). Anstatt dem Menschen Kraft zu geben, die Lust zu unterdrücken, das Fleisch zu verbessern, deckte das Gesetz nur sein völliges Verderben auf. Was der Mensch bedarf, ist eine neue Natur und ein ihn völlig umwandelnder Gegenstand, aber das Ge­setz gibt weder die eine, noch offenbart sie den anderen. Die Gnade tut beides in Christo.

„Ich aber starb. Und das Gebot, das zum Leben gegeben, dasselbe erwies sich mir zum Tode" (V. 10). Das Gesetz sagte: „Wer diese Dinge getan hat, wird durch sie leben." (Vergl. Gal. 3, 12.) Da ich sie nicht getan habe, im Gegenteil, das Gebot erst recht die Lust in mir geweckt hat, den Be­gierden meines Fleisches zu folgen, so hat sich das Gesetz für mich als ein Werkzeug des Todes erwiesen. Es hat ge­rechterweise Tod und Verdammnis über mich gebracht, und mein aufgewachtes Gewissen kann sein Urteil nur bestäti­gen. „Ich aber starb."

Welch ein Ergebnis! Wer trägt die Schuld daran? Das Gesetz? Nein, sondern „die Sünde, durch das Gebot An­laß nehmend, täuschte mich und tötete mich durch dasselbe" (V. 11). So ist das Gesetz wohl, wie vorhin ge­sagt, ein Werkzeug des Todes für mich geworden, aber die U r s a c h  e von allem ist die in mir wohnende Sünde. Sie brachte mir durch das Gesetz den Tod.

Diesen Gedanken führt der Apostel vom 12. Verse bis zum Schluß des Kapitels noch weiter aus, indem er an den praktischen Erfahrungen eines wohl bekehrten, aber noch nicht befreiten Menschen, der das Gute will und das Böse haßt, in ergreifender Weise zeigt, wie das Gesetz sich in Wirklichkeit dem Menschen zum Tode erweist, aber auch wie Gottes Gnade ihm Erlösung und Befreiung bringt.

„So ist also das Gesetz heilig und das Gebot heilig und gerecht und gut" (V. 12). Das Gesetz steht völlig gerecht­fertigt da, alle seine Gebote sind heilig und gut. Nicht an ihm liegt es, wenn es nichts zur Vollendung bringen kann, sondern an der Natur des Menschen, an die es sich wendet.

„Gereichte nun das Gute mir zum Tode? Das sei ferne! sondern die Sünde, auf daß sie als Sünde erschiene, indem sie durch das Gute mir den Tod bewirkte, auf daß die Sünde überaus sündig würde durch das Gebot" (V. 13). Immer wie­der erhebt die Torheit des Menschen ihre Fragen. Nein, der Zweck des Gesetzes war nicht, mich zu töten, so gerecht sein Urteilsspruch über mich lauten mag. Es bezweckte etwas ganz anderes. Wir hörten schon in Kapitel 5, 20, daß es „daneben einkam, auf daß die Übertretung überströmend würde", hier:
auf daß die Sünde in ihrem vollen Charakter offenbar würde, daß sie „als Sünde" erschiene, ja, „überaus sündig würde" durch das Gebot; denn an und für sich böse, wird sie durch das Tun des Verbotenen zu unmittelbarem Ungehorsam: überaus sündig. Beachten wir immer wieder, daß es sich hier nicht handelt um Tatsünden, sondern um die Sünde als sol­che, die als ein feststehender Grundsatz in uns wirkt.

Die schmerzliche Wahrheit des Gesagten beweist der Apostel an den vom 14. Verse an beschriebenen praktischen Erfahrungen eines erneuerten Menschen, die ihn zu der niederschmetternden Erkenntnis führen, daß in ihm, d. 1. in seinem Fleische, „nichts Gutes wohnt" (V. 18). Er beschreibt diese Erfahrungen so, wie sie sich ihm darstellen als einem Manne, der, selbst völlig frei, mit Ruhe die Kämpfe einer unter Gesetz stehenden Seele betrachtet, und der diese Kämpfe richtig beurteilen kann, weil er, von Gott belehrt, weiß, was „Gesetz", „Sünde" und „Fleisch" ist. Er beginnt mit den Worten: „Denn wir wissen, daß das Gesetz geist­lich ist, ich aber bin fleischlich, unter die Sünde verkauft" (V. 14).

Von vornherein sei hier auf den großen Unterschied zwi­schen den Ausdrücken: „Wir wissen" und „ich bin" hinge­wiesen. Das erste ist, kurz gesagt, allgemeine christ­liche Erkenntnis, das zweite persönliche Er­fahrung. Wir, d. 1. alle Christen, wissen mit Paulus, daß das Gesetz geistlich ist. Aber was sagt die Erfahrung des einzelnen dazu? Es heißt in unserer Stelle nicht; „Wir wissen, daß das Gesetz geistlich ist, und daß wir fleischlich sind", oder: „w i r aber sind fleischlich", sondern: „i c h bin fleischlich, unter die Sünde verkauft". Die einzelne Seele, die sich unter das Gesetz stellt, und zwar nicht nur unter seine unmittelbaren Gebote, sondern auch unter seine Verurteilung der Quellen des Bösen im Herzen, eine solche Seele wird zu der bitteren Erkenntnis geführt, daß sie, obwohl sie die Sünde haßt und Gottes Gesetz liebt, gleich einem Sklaven „unter die Sünde verkauft ist". Das Gesetz ist geistlich, ich aber bin fleischlich; das Gesetz fordert mich auf: „Laß dich nicht gelüsten!" und ich liege in solch einer Sklaverei der Sünde, daß das Gebot nur die böse Lust in mir weckt. Welch unversöhnliche Gegensätze! Die Seele erkennt sie rückhaltlos an. Was sie dahin bringt, sind die Erfahrungen, die sie auf dem in den Versen 15—23 be­schriebenen Wege macht.

„Denn was ich vollbringe, erkenne ich nicht; denn nicht was ich will, das tue ich, sondern was ich hasse, das übe ich aus" (V. 15). Die Enttäuschung ist groß. Anstatt nach der erfolgten Umkehr Erleichterung, Frieden und Freude zu fin­den, muß der Arme entdecken, daß in ihm eine Macht wirkt, von der er sich nicht befreien kann, und die ihn hindert, das Gute, das er tun möchte, zu vollbringen. Er stimmt „dem Gesetz bei, daß es recht ist" (V. 16), indem es das Gute fordert und den verurteilt, der das Böse tut. Aber was nützt ihm diese Erkenntnis, was hilft's, daß er dem Guten bei­stimmt, wenn er das Gegenteil tut? Sein Wille ist zwar erneuert, er liebt das Gute und macht die größten Anstren­gungen, es zu tun, aber er muß erfahren, daß er keine Kraft dazu hat, daß vielmehr die Sünde über ihn herrscht. Er möchte auch die Forderungen des Gesetzes keineswegs schwächen oder einschränken, sie sind ja gerecht, heilig und gut, aber er steht ihnen kraftlos gegenüber. Der Fehler liegt nicht in dem Gesetz, sondern in der Sünde des Menschen.

Nun ist es freilich wahr: wenn ich nach meinem neuen Menschen das Gute tun möchte und doch das Böse tue, so „vollbringe nicht mehr ich dasselbe, sondern die in mir wohnende Sünde" (V. 17); aber was für ein Trost liegt für mich darin? Diese Erkenntnis beweist ja gerade die Größe der Sklaverei, in welcher ich mich befinde: wenn ich selbst auch das Böse nicht mehr ausübe, sondern die in mir wohnende Sünde, so lasse ich mich doch gegen meinen Willen von ihr gebrauchen und vermag mich nicht von ihrer Gewalt frei­zumachen. Obwohl ich erkenne und bekenne, daß die Sünde überaus böse und häßlich ist, bin ich ihr doch völlig unter­worfen. Ich möchte gern Gott dienen und setze alle meine Kräfte ein, um dieses Ziel zu erreichen; aber alle meine guten Vorsätze und Bemühungen scheitern an der unwiderstehli­chen Macht der Sünde, die mich in ihren Banden hält. Je auf­richtiger ich es meine, und je ernster meine Anstrengungen sind, umso klarer tritt mein trostloser Zustand ans Licht, umso greller zeigt sich die Häßlichkeit der Sünde und mein hoffnungsloses Verkauftsein unter ihre Macht.

So komme ich auf Grund meiner Erfahrungen zu einem klaren, aber erschreckenden Bewußtsein: „Ich weiß, daß in mir, das ist in meinem Fleische (als von Adam stammend), nichts Gutes wohnt." Denn obwohl ein ernstes, auf­richtiges Wollen bei mir vorhanden ist, „finde ich das Voll­bringen dessen, was recht ist, nicht". Der Wille ist, wie schon mehrfach gesagt, da, aber die Kraft fehlt. „Denn das Gute, das ich will, übe ich nicht aus, sondern das Böse, das ich nicht will, dieses tue ich" (V. 18. 19). Wenn das aber so ist, „wenn ich dieses, was i c h nicht will, ausübe, so vollbringe nicht mehr i c h dasselbe, sondern die in mir wohnende Sünde" (V. 20). Das im 17. Verse bereits Ge­sagte hat seine volle Bestätigung gefunden. Der Gläubige hat auf dem Wege der Erfahrung, außer der Wahrheit, daß nichts Gutes in ihm wohnt, und daß er ohne Kraft ist, das Gute zu tun, gelernt, daß er unterscheiden muß zwischen sich als dem erneuerten Menschen, der das Gute will, und der in ihm wohnenden Sünde; mit anderen Worten, daß es zwei Naturen in ihm gibt, zwei „Ich". Zunächst ist da ein fleischliches „Ich", das unter die Sünde verkauft ist, und dann ein zweites „Ich", das nicht sein Fleisch ist, sondern der erneuerte innere Mensch, der die Sünde haßt. Damit ist er zugleich zu der Erkenntnis gekommen, daß nicht dieses zweite „Ich" das Böse tut, sondern die in ihm wohnende Sünde5. 
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Die kostbare Wahrheit, daß er mit Christo gestorben, daß das erste „Ich" am Kreuze unter das Urteil des Todes ge­bracht worden ist, nicht kennend oder doch nicht verstehend, hat der Gläubige, in der Hoffnung, doch noch irgend etwas Gutes in seinem Fleische zu finden, nur an Gesetz und an sich selbst gedacht. Die Wörtlein „ich, mir, mich" kommen in den Versen 7—24 etwa vierzigmal vor, während der Name Christi im 25. Verse zum erstenmal genannt wird.

Es ist eine große Sache, so schmerzlich es anderseits ist, zu lernen, was das eigene Ich ist, was es heißt, als ein Mensch, der gar keine Kraft besitzt, unter Gesetz zu stehen, und so endlich dahin zu kommen, von dem elenden alten Ich abzublicken, alle eigenen Anstrengungen aufzugeben und das Auge allein auf Christum zu richten. Das ist der geseg­nete Prozeß, durch den in der letzten Hälfte unseres Kapi­tels der Gläubige geführt wird, in welchem aber leider, leider so viele teure Kinder Gottes Zeit ihres Lebens stecken bleiben und deshalb nie zu wahrer Freiheit und ungestÖrtern Frieden gelangen. Frieden zu finden auf dem Wege eines allmählichen Fortschritts, so daß man schließlich mit sich selbst zufrieden sein kann, ist unmöglich. Nein, nicht Zufriedenheit mit sich selbst, sondern die Entdeckung, daß man der Befreiung durch das Werk eines anderen bedarf, ist das Ergebnis des Prozesses. Glücklich die Seele, die sich dahin führen läßt! An die Stelle der größten Not, ja, einer hoffnungslosen Verzweiflung tritt selige Ruhe, Freude und jubelnder Dank.

Doch wir müssen uns noch ein wenig eingehender mit dem Inhalt der Verse 21 — 23 beschäftigen. „Also finde ich das Gesetz für mich, der ich das Rechte ausüben will, daß das Böse bei mir vorhanden ist. Denn ich habe Wohlgefallen an dem Gesetz Gottes nach dem inneren Menschen; aber ich sehe ein anderes Gesetz (ein Gesetz von anderer Art) in meinen Gliedern." über die verschiedene Bedeutung oder Anwendung des Wortes „Gesetz" haben wir im Anfang unse­res Kapitels schon ausführlich geredet, so daß wir wohl nicht noch einmal darauf zurückzukommen brauchen. Der Gläubige ist also auf dem Wege der Erfahrung zu der Erkenntnis ge­langt, daß er unter einem Grundsatz, einer Regel oder Norm steht, die unausweichbar bestimmend für ihn ist, der nämlich, daß bei ihm, der das Gute tun will, das Böse vorhanden ist, dem er trotz aller Kraftanstrengung nicht entrinnen kann.

Er hat Wohlgefallen an dem Gesetz Gottes und an Seinen heiligen Geboten, ist auch fest entschlossen, sie zu tun, aber er sieht in seinen Gliedern ein anderes Gesetz, das dem Gesetz seines (erneuerten) Sinnes widerstreitet und ihn in Gefangenschaft bringt unter das Gesetz der Sünde, das in seinen Gliedern ist. (V. 23.)

Immer wieder finden wir bestätigt, daß unser Kapitel nicht von der Schuld frage redet, sondern von der Sünde als Grundsatz oder Macht, sowie von dem völligen Mangel an Kraft, ihr zu widerstehen. Zugleich aber auch, daß wir nicht einen Menschen in der Finsternis seines natürlichen Zustandes vor uns haben, sondern eine erneuerte Seele, die mit aller Kraft kämpft, um den Sieg über das Böse zu er­ringen, aber sehen muß, daß alles in hilfloser „Gefangen­schaft" für sie endet. (V. 23.) Sie muß erkennen, daß in den Gliedern des Menschen, trotzdem er wiedergeboren ist, eine Macht wirkt, der er nicht zu widerstehen vermag, so sehr er sie haßt und sich von ihren Einflüssen freizumachen sucht. Trotzdem macht die Seele Fortschritte, wenn auch die Finsternis um sie her immer dichter zu werden scheint. Mit dem Heißerwerden des Kampfes wächst die innere Erkennt­nis, und das Licht dämmert. Aber wie immer, so geht auch hier dem Anbruch des Tages das tiefste Dunkel voraus.

Völlig zu Boden geworfen, keinen Ausweg mehr sehend, macht der Mensch seiner Seelenqual endlich Luft in dem Schrei: „Ich elender Mensch! wer wird mich ret­ten von diesem Leibe des Todes?" (V. 24). Die Wortstellung im Grundtext gibt hier dem Worte „Mensch" besonderen Nachdruck. Der elende Zustand des Menschen ist der Seele zum Bewußtsein gekommen. Trotz der Erneuerung seines Willens und der Erkenntnis dessen, was er nach dem Gesetz sein sollte, ist der Gläubige doch nur ein Mensch, das ist ein gefallenes Wesen, mit bösen Lüsten und Begier­den, unter die Sünde verkauft und ohne jegliche Kraft, das Böse zu überwinden! Der Ausdruck: „dieser Leib des Todes" kennzeichnet treffend den hilf- und hoffnungslosen Zustand, in welchem er sich befindet. Aber wenn die Gnade — denn sie ist es, die sich mit dem Armen hier beschäftigt, ohne daß er es ahnt — ihn zu der klaren Erkenntnis dessen ge­bracht hat, was er ist, überläßt sie ihn nicht sich selbst, sondern vollendet ihr Werk, indem sie seinen Blick von
seiner Person ab auf Gott richtet und ihm den Retter zeigt, nach welchem er verzweiflungsvoll ausschaut.

„ Ich danke Gott durch Jesum Christum, unseren Herrn l" So kommt es mit einemmale über die Lippen des eben noch mit Angst und Schrecken Erfüllten. Wie ist diese wunderbare Wandlung bewirkt worden? Durch die einfache, aber so wichtige Tatsache, daß der Mensch nicht mehr auf das blickt, was er für Gott ist, und darin Befriedigung sucht, sondern daß sein Auge sich auf das richtet, was Gott f ü r i h n i s t, und zwar was Er für ihn ist durch Jesum Christum! Wie durch einen Schlag ist alles verändert. Nicht daß der Gläubige jetzt wäre, was er gern sein möchte, oder daß fortan jeder Kampf für ihn aufhörte. Keineswegs! Aber anstatt, wie bisher, mit sich selbst beschäftigt zu sein, beschäftigt er sich mit Gott und — dankt!

Wir möchten noch einmal sagen: Welch eine Wandlung! Und wie unmittelbar ist sie erfolgt! Das Herz ist auf die göttliche Liebe hingelenkt, die den eingeborenen Sohn für solch elende Wesen dahingab und die Quelle der Befreiung für sie wurde, der Blick auf das Werk gerichtet, welches die Befreiung vollbracht hat, und damit auf Ihn, den Befreier selbst. Hat der Mensch früher gefragt: Wie kann ich mich bessern? Was kann ich tun, um Gott zu befriedigen und Ruhe für meine Seele zu finden?, so lautet jetzt seine Frage:

Wer wird mich, den Elenden, Kraftlosen, retten? Wer mich befreien von diesem Leibe des Todes? Zusammen­brechend unter der furchtbaren Last der Entdeckung, daß trotz alles Seufzens, Betens, Flehens und Ringens nur Fehler über Fehler, Enttäuschung über Enttäuschung sein Teil waren, gibt er endlich sich selbst als hoffnungslos böse auf und erkennt in Christo Den, der nicht nur seine Schuld ge­tragen hat, sondern auch sein Erretter geworden ist aus dem furchtbaren Todeszustand, in welchem er lag.

Es ist in der Tat eine Rettung, Dessen würdig, der sie vollbracht hat. Aber ist mit ihr das Fleisch in dem Gläubigen verändert oder gar aus ihm entfernt? Trägt er die beiden Naturen, von denen wir hörten, nicht mehr in sich? Es wäre eine verhängnisvolle Täuschung, so etwas zu denken, und der Geist Gottes hat Sorge getragen, uns vor ihr zu be­wahren, indem Er den Apostel sogleich die Worte hinzufügen läßt: „Also nun diene ich selbst mit dem Sinne Gottes Gesetz, mit dem Fleische aber der Sünde Gesetz" (V. 25). Das will selbstverständlich nicht sagen, daß diese beiden Dienste bei dem Gläubigen nun stets nebeneinander herlaufen sollten, daß das sein regelrechter Zustand wäre, sondern vielmehr daß die beiden Naturen mit ihren entsprechenden charakte­ristischen Neigungen nach wie vor bei ihm vorhanden sind und in ihm bleiben werden bis ans Ende. Im Himmel werden wir die alte Natur (das Fleisch) nicht mehr an uns tragen, wir werden auf immer und ewig von ihr befreit sein; aber solang wir noch in diesem Leibe sind, geht sie mit uns, und so oft wir ihr zu wirken erlauben, „dienen wir mit dem Fleische der Sünde Gesetz." Gott sei gepriesen, daß wir in Christo heute schon von ihrer Macht befreit sind und als gestorben mit Ihm nicht länger unter Gesetz stehen! Ja, daß wir mit Petrus sagen können: „Die vergangene Zeit ist uns genug, den Willen der Nationen vollbracht zu haben"; was wir wünschen, ist, die im Fleische noch übrige Zeit dem Willen Gottes zu leben. (Vergl. 1. Petr. 4, 1—3.)

Da wo göttliches Leben wirkt, kann es nicht anders sein. Das Verlangen der neuen Natur, ihr sehnliches Begehren geht dahin, Gottes Gesetz zu dienen, Seinen Willen zu tun. Und wie schön: das ist es, was der Gläubige jetzt als sein eigentliches Ich anerkennt und anerkennen darf! „Also nun diene ich selbst mit dem Sinne Gottes Gesetz." Frei­lich, der Kampf hört nicht auf. Es wird immer wahr bleiben, daß „das Fleisch wider den Geist gelüstet, und der Geist wider das Fleisch, und daß diese einander entgegengesetzt sind"; wenn wir aber im Geiste wandeln, werden wir die Erfahrung machen dürfen, daß wir die Lust des Fleisches nicht vollbringen. Statt der traurigen Werke des Fleisches wird die liebliche Frucht des Geistes hervorkommen zur Ehre Gottes. Denn „wenn ihr durch den Geist geleitet werdet, s o seid ihr nicht unter Gesetz", d. h. nicht in dem traurigen Zustand, der in Römer 7 beschrieben wird; und: „die des Christus sind, haben das Fleisch gekreuzigt samt den Leidenschaften und Lüsten". (Vergl. Gal. 5, 16—25.)

Von der Kraft, die den Gläubigen nunmehr befähigt, mit seinem Sinne Gottes Gesetz zu dienen, ist in dem Schluß­verse unseres Kapitels indes keine Rede. Er macht uns nur mit der Befreiung der Seele aus dem Zustande, in welchem sie lag, bekannt, und beschreibt den völlig veränderten
Boden, auf welchen sie durch die Gnade gekommen ist, sowie den Charakter und die Gesinnung der neuen Natur in ihr.

Rufen wir uns zum Schluß noch einmal kurz die Wahr­heiten ins Gedächtnis, die wir in diesem interessanten 7. Kapitel gelernt haben:
1. Die Befreiung vom Gesetz durch den Tod. (V. l—6.)
2. Die Erkenntnis der Sünde durch das Gesetz. (V. 7—13.)
3. Den Zustand und die Erfahrungen einer erneuerten, aber noch nicht befreiten Seele unter Gesetz auf ihrem Wege zur Befreiung.

In Verbindung mit Punkt drei haben wir dann noch drei andere wichtige Dinge gelernt:
1. Daß in unserem Fleische nichts Gutes wohnt; 2. daß wir unterscheiden müssen zwischen uns selbst, die wir das Gute wollen, und der in uns wohnenden Sünde; 3. daß es in uns, solang wir die Befreiung in Christo nicht im Glauben erfaßt haben, keine Kraft gibt, um die Sünde im Fleische zu überwinden, daß wir vielmehr immer wieder durch sie überwunden werden.

Wir könnten als viertes, obwohl es eigentlich schon in der letztgenannten Wahrheit enthalten ist, noch hinzufügen, daß wir selbst uns nicht aus diesem elenden Zustand befreien konnten, sondern durch einen anderen befreit werden mußten.

Kapitel 8
Kapitel 8, 1—11
„Also ist jetzt keine Verdammnis für die, welche in Christo Jesu sind" (V. l). Mit diesen triumphierenden Worten be­ginnt der Apostel das 8. Kapitel seines Briefes. Es ist gleich­sam der Schlußstrich, den er jubelnden Herzens unter seine Ausführungen setzt, das herrliche Ergebnis aus den Beleh­rungen der drei vorhergehenden Kapitel. Keine Ver­dammnis mehr für alle, die i n Christo Jesu sind! Welch ein Wort! Der Apostel redet nicht von etwas, das erst nach und nach erlangt werden kann, von einer Sache, auf die nur treue oder gereiftere Christen Anspruch machen dürfen, son­dern von einer Tatsache, die sich auf alle erstreckt, die an diesen Platz der Annahme „in Christo Jesu" gebracht sind. Sie ist in ihrer unbedingten Form einigen Abschreibern der neutestamentlichen Handschriften so unfaßlich erschienen, daß einer den Schluß des 4. Verses; „die nicht nach dem Fleische, sondern nach dem Geiste wandeln", zunächst wohl nur als eine vermeintlich heilsame Einschränkung heraus­genommen und neben den Text geschrieben hat, während spätere Abschreiber ihn dann in den Text selbst eingeschoben haben. (Vergl. die Übersetzung von M. Luther.) Aber Gott sei gepriesen! Sein Heil ist bedingungslos, die Befreiung von jedem Verdammungsurteil steht fest für alle, die „in Christo Jesu sind". Ich brauche kaum hinzuzufügen, daß dadurch die Pflicht eines jeden Gläubigen, in unermüdlicher Wachsamkeit und ernstem Selbstgericht zu wandeln, in keiner Weise berührt wird; aber es ist ein verhängnisvoller Fehler, ja, im Grunde eine große Anmaßung, wenn man die Sicherheit dieser Stellung in Christo von dem Wandel und der Gesinnung des Gläubigen abhängig macht.

Wie diese kostbare Stellung erreicht wurde, ist uns be­kannt. Die Sünde im Fleische, die uns unter das Urteil des Todes und der Verdammnis brachte, ist in Christo ein für allemal gerichtet worden. Alle, die in Christo Jesu sind, wurden am Kreuze „mit ihm einsgemacht in der Gleichheit seines Todes" (Kap. 6, 5), sind mit Ihm gekreuzigt, mit Ihm gestorben; darum kann es keine Verdammnis mehr für sie geben. Was an Christo geschehen ist, ist an ihnen geschehen. So unmöglich es für den auferstandenen Christus eine Ver­dammnis geben kann, so unmöglich auch für die, welche in Ihm sind. Immer wieder begegnen wir derselben großen Wahrheit, daß am Kreuze neben der Tilgung aller Sünden der Gläubigen auch die Sünde im Fleische, die ihnen so viel Not und Qual bereitet, gerichtet wurde. Sie sind nicht mehr Menschen in dem ersten Adam, sondern stehen jetzt vor Gott als „Menschen in Christo"; sie sind, wie wir gleich nachher hören werden, „im Geiste", nicht mehr „im Fleische". Das ist der Platz, welchen die Gnade ihnen gegeben hat, eine Stellung, die wohl ernste, heilige Pflichten für sie mit sich bringt, aber in keiner Weise von dem Grade ihrer Er­kenntnis oder der Höhe ihres Wandels abhängt. Der Gläu­bige wandelt treu, nicht um diese Stellung zu er­langen, sondern weil er in ihr steht.

„Denn", so lesen wir weiter, „das Gesetz des Geistes des Lebens in Christo Jesu hat mich freigemacht von dem Gesetz der Sünde und des Todes" (V. 2). Wieder begegnen wir dem Worte „Gesetz" in dem uns aus dem 7. Kapitel bereits be­kannten Sinne, als einem Grundsatz, der unabänderlich in der gleichen Weise wirkt und seinem Ziele zustrebt. (Vergl. auch die Ausdrücke „Gesetz der Werke" und „Gesetz des Glaubens" in Kapitel 3, 27.) Der Ausdruck „Gesetz des Geistes des Lebens in Christo Jesu" weist wohl hin auf das immer gleiche, mächtige Wirken des Geistes des Lebens in unserem geliebten Herrn, der nach vollendetem Werke als Sieger über Tod und Grab in der Mitte Seiner Jünger er­schien, um ihnen dieses Leben und den Geist als Quelle und Kraft desselben — „Leben in Überfluß" (Joh. 10, 10) — mitzuteilen.

Ähnlich nun wie in Christo dieses Gesetz gewirkt hat, bildete in uns „das Gesetz der Sünde und des Todes" den alles beherrschenden Grundsatz, dem wir nicht zu entrinnen vermochten. Das vorige Kapitel hat uns den armseligen Zu­stand und die völlige Hilflosigkeit, worin wir waren, zur Genüge gezeigt. Erst als der Mensch, von dem wir dort lesen, aufhörte, die in ihm wohnende Sünde durch gesetzliche An­strengungen zu besiegen, und sich rückhaltlos der Gerechtig­keit Gottes unterwarf, trat die Befreiung ein. Doch beachten wir, daß dieser Wahrheit hier nicht in einer alle Gläubigen umfassenden Form, als einer für alle in gleicher Weise gültigen Regel, Ausdruck gegeben wird, sondern daß der Apo­stel noch einmal, und zwar zum letztenmal in dieser Ab­handlung, sich der persönlichen Form bedient. Nach dem Inhalt des 1. Verses würden wir hier statt des „mich" ein „sie" oder ein „uns" erwarten, wie im 4. Verse. Aber ob­wohl das „Keine Verdammnis mehr" allen Christen gemein­sam gehört, heißt es im 2. Verse: „Denn das Gesetz des Geistes . . . hat mich freigemacht von dem Gesetz usw."; das will sagen: obwohl der 2. Vers unlöslich mit dem Inhalt des ersten verbunden ist, handelt es sich hier doch um eine Sache der persönlichen Erfahrung, zu der wohl für alle die Grundlage gelegt ist, die allen bekannt sein sollte, die aber vielfach nicht verstanden und infolge dieses mangelhaften Verständnisses, leider auch oft infolge Un­treue, nicht praktisch verwirklicht wird.

Es ist in der Tat etwas unsagbar Großes, dem Apostel nachsprechen zu können: „Denn das Gesetz des Geistes des Lebens in Christo Jesu hat mich freigemacht" — nicht „wird midi freimachen", sondern „hat mich freige­macht", um fortan nicht mehr „dem Gesetz der Sünde und des Todes" unterworfen zu sein, sondern in der glückseligen Freiheit eines aus schweren Banden Erlösten dem Herrn zu dienen in der Kraft des Heiligen Geistes, als ein Mensch „in Christo". Unwillkürlich möchte der Schreiber für sich und alle seine gläubigen Leser dem Wunsche Ausdruck geben, daß wir den Inhalt unseres Verses nicht nur als eine Sache kennen, die in Christo für uns alle zur Wahrheit geworden ist, sondern daß wir auch in praktischer Verwirklichung der­selben das Fleisch in uns im Tode halten und so beweisen, daß wir wirklich von seiner Herrschaft freigemacht sind.

Die Grundlage von allem ist, wie schon so oft betont, der Tod und die Auferstehung Jesu Christi. Dieses herrliche Erlösungswerk wird im 3. Verse noch einmal der ganzen Kraftlosigkeit des Gesetzes vom Sinai gegenübergestellt. „Denn das dem Gesetz Unmögliche, weil es durch das Fleisch kraftlos war, tat Gott, indem er, seinen eigenen Sohn in Gleichgestalt des Fleisches der Sünde und für die Sünde sendend, die Sünde im Fleische verurteilte." Die völlige Un­zulänglichkeit des Gesetzes, helfen zu können, ist uns im 7. Kapitel in erschreckender Deutlichkeit vor die Augen ge­treten. Das Gesetz konnte fordern, verurteilen, verfluchen, aber nicht retten. Nun, was das Gesetz nicht zu tun vermochte, das hat Gott getan. Er ist ins Mittel getreten, indem Er Seinen eingeborenen Sohn sandte, um die Frage der Sünde zu ordnen. Um das aber tun zu können, mußte Christus als ein wahrhaftiger Mensch, nicht nur einem Men­schen ähnlich, nein, als ein Mensch in Fleisch und Blut, vom Weibe geboren, selbst ohne Sünde, rein und heilig, aber in Gleichgestalt des sündigen Fleisches, auf dieser Erde er­scheinen. Und das ist geschehen. „Das Wort ward Fleisch." „Die Gnade und die Wahrheit ist durch Jesum Christum geworden."

Und nicht nur mußte Christus so erscheinen und auf Seinem ganzen Wege hinsichtlich Seiner Vollkommenheit als Mensch erprobt werden — die Frage der Sünde konnte nur im Tode entschieden, die Sünde selbst nur durch ein heiliges Sündopfer entfernt werden. Das sündlose, heilige Leben unseres Herrn konnte uns nicht retten; es zeigte ,uns nur die ganze Größe unseres traurigen, hoffnungslosen "^Zustandes. Das Weizenkorn mußte in die Erde fallen und sterben; anders wäre es auf ewig allein geblieben. (Joh. 12, 24.) So lesen wir denn auch in Hebräer 9, 26, daß Er einmal in der Vollendung der Zeitalter geoffenbart worden ist zur Abschaffung der Sünde durch Sein Opfer. Einen anderen Weg, die Sünde hinwegzutun, gab es nicht. Aber diesen Weg hat Gott betreten und so die anders unlösliche Frage zu Seiner eigenen ewigen Verherrli­chung gelöst. Die Sünde im Fleische ist nach Wurzel und Zweig gerichtet, mit dem alten Zustand ist für immer ein Ende gemacht worden, und der Gläubige, von der Macht und Herrschaft der in ihm wohnenden Sünde freigemacht, ist nun nicht mehr gezwungen, „nach dem Fleische" zu leben, sondern darf und soll „nach dem Geiste wandeln" (V. 4). Die Sünde ist freilich noch i n ihm, aber sie kann kein Ge­richt mehr über ihn bringen, weil sie in Christo bereits ge­richtet ist; zugleich bezeugt der Gläubige dadurch, daß er selbst sie in sich richtet, daß er mit Gott und nicht mit ihr eins ist. Das Vorhandensein der Sünde in ihm an und für sich kann ihn also nicht beunruhigen, noch ihn verhindern, mit Gott in innigster Verbindung zu sein; erst wenn er der Sünde zu w i r k e n erlaubt und nach dem Fleische zu w a n d e l n beginnt, wird die praktische Gemeinschaft mit dem heiligen Gott unterbrochen und bleibt es so lang, bis er seine Sünde aufrichtig bekennt, und der Vater ihm nach Seiner Treue und Gerechtigkeit wieder vergibt und ihn von aller Ungerechtigkeit reinigt, (1. Joh. 1. 9.)

Die Möglichkeit zu fehlen hat also nichts mit der Stel­lung des Gläubigen vor Gott zu tun. So schmerzlich und demütigend es ist, wenn ein Christ sündigt, und so ernst die daraus hervorgehenden Folgen sein mögen, beides berührt nicht die Frage seiner Erlösung. Er ist „in Christo", und weil er i n Ihm ist, kann es ebensowenig eine Verdammnis, ein Gericht für ihn geben, wie für Christum selbst; in dem Auferstandenen befindet er sich jenseits der Macht Satans, jenseits der Stätte, wo das Fleisch für den Glauben im Ge­richt beseitigt worden ist und der alte Mensch sein Ende gefunden hat. Als mit Christo gekreuzigt, lebt nicht mehr er, sondern Christus lebt in ihm. (Gal. 2, 20.)

Es ist höchst interessant, die Beziehung zu sehen, in wel­cher die drei ersten Verse unseres Kapitels zu den drei vorhergehenden Kapiteln des Briefes stehen. Belehrte uns die erste Hälfte des 5. Kapitels über die Tatsache, daß wir als aus Glauben Gerechtfertigte Vergebung der Sünden, Frieden mit Gott usw. haben, hörten wir in der zweiten Hälfte von dem sündigen Zustand, in welchem wir uns als Nach­kommen des ersten Adam befanden, und von der „Stellung von Gerechten", in die wir durch den Gehorsam des letzten Adam gebracht sind, so sagt uns der erste Vers des 8. Kapi­tels, daß wir jetzt „in Christo Jesu" sind und als solche nicht nur keinen Zorn mehr zu fürchten haben, sondern daß es überhaupt keine Verdammnis mehr für uns gibt. Unter­wies uns dann das 6. Kapitel über die Herrschaft der Sünde, unter der wir lagen, und wie diese Herrschaft in dem Tode Christi gebrochen worden ist, so lesen wir hier im 2. Verse, daß „das Gesetz des Geistes des Lebens in Christo Jesu mich freigemacht hat von dem Gesetz der Sünde und des Todes". Machte uns endlich das 7. Kapitel mit den Erfahrungen eines Menschen bekannt, der, die Gerechtigkeit Gottes nicht ken­nend, eine gesetzliche Gerechtigkeit aufzurichten trachtet, so weist uns der 3. Vers unseres Kapitels auf die Tatsache hin, daß Gott das dem Gesetz Unmögliche durch die Sendung Seines geliebten Sohnes vollbracht hat, indem der Hoch­gelobte sich nicht nur mit den Früchten des faulen Baumes beschäftigte, um es uns dann zu überlassen, mit dem Baume selbst vor Gott fertig zu werden, sondern indem Er für den ganzen Zustand eintrat, in welchem wir uns von Natur befanden: der Baum ist gerichtet, die Sünde im Fleische ist verurteilt und für den Glaubenden auf immer­dar aus Gottes Auge entfernt.

Fürwahr, der Gläubige darf jetzt getrost sein Haupt er­heben, aber er darf und soll auch den Trieben und Wirkungen der in ihn gepflanzten neuen Natur, des Geistes des Lebens in Christo Jesu, durch Gottes Gnade folgen. Der 4. Vers leitet zu diesem praktischen Ergebnis über. Indem der Christ weiß und im Glauben verwirklicht, daß er in einer neuen Natur vor Gott steht, ist das neue „Ich" in ihm frei (mag auch das alte Ich immer wieder seine feindlichen Einflüsse geltend machen wollen), nach dem Geiste und nicht mehr nach dem Fleische zu wandeln. Und in demselben Maße, wie er das tut und die Ergebnisse des Todes und der Auferstehung Jesu Christi in seinem Leben zur Darstellung kommen läßt, wird das Recht (d. h. die gerechte Forderung) des Gesetzes in ihm erfüllt. (V. 4.) Solang ein Mensch praktisch unter Gesetz steht und sich abmüht, das Fleisch zu bessern und die von ihm als gerecht anerkannten Forderungen des Gesetzes zu erfüllen, erlebt er nur bittere Enttäuschungen. Wenn aber die Seele die Fülle der Gnade erkannt hat, die ihr in dem ge­storbenen und auferstandenen Heiland erschlossen ist, und ihr Blick nun von dem armen alten Ich ab auf Christum sich richtet, so erfüllt sie in der Kraft des Heiligen Geistes nicht nur die Forderungen des Gesetzes Gott und dem Nächsten gegenüber, sondern sie geht noch über dieselben hinaus: der Gläubige vermag sich Gott darzustellen als ein Leben­der aus den Toten, seine Feinde zu lieben, die ihm f l u c h e n zu segnen usw. Der Charakter Gottes, wenn auch selbstverständlich immer nur ganz unvollkommen, kommt durch die Gnade in ihm zur Darstellung. Gott selbst wird gesehen, oder, mit anderen Worten, nicht nur das, was ein Mensch sein sollte, sondern was Christus, der Mensch Gottes, hienieden war. Sein Bild wird, wenn auch schwach und mangelhaft, in ihm gestaltet.

Im Anschluß an die letzten Worte des 4. Verses entwickeln die nächsten vier Verse (5 — 8) noch näher den Gegensatz zwischen den Menschen, die nach dem Fleische, und denen, die nach dem Geiste wandeln. In beiden Fällen ist eine Natur wirksam, die ihre besonderen Neigungen und Ziele hat. „Denn die, welche nach dem Fleische sind, sinnen auf das, was des Fleisches ist; die aber, welche nach dem Geiste sind, auf das, was des Geistes ist" (V. 5). Es handelt sich hier nicht um ein größeres oder kleineres Maß von Früch­ten, sondern um die grundsätzliche Gesinnung der beiden Naturen: jede sinnt auf das, was ihr eigen ist, was sie (Fleisch oder Geist) kennzeichnet, und liebt und haßt dementsprechend. Die neuen Grundsätze und Kräfte, die in den Christen wirken, werden denen aller anderen Menschen gegenübergestellt. Der natürliche Mensch, die von Gott ab­gefallene und Ihm entfremdete Natur, ist „nach dem Fleische" und folgt dessen bösen Regungen und Lüsten; der Christ oder die ihm geschenkte neue Natur ist „nach dem Geiste", unter dessen Einflüssen er steht, ja, der in ihm wohnt. Eine völlig neue Gesinnung ist in dem Gläubigen geweckt, die Gesinnung einer Natur, die aus dem Geiste geboren ist und das sucht, was des Geistes ist — eine heilige Natur, die das Heilige liebt und, vom Joche der Sünde befreit, alledem nachstrebt, was „geistlich" ist.

„Denn die Gesinnung des Fleisches ist der Tod, die Ge­sinnung des Geistes aber Leben und Frieden; weil die Ge­sinnung des Fleisches Feindschaft ist gegen Gott, denn sie ist dem Gesetz Gottes nicht Untertan, denn sie vermag es auch nicht" (V. 6. 7). Fleisch und Geist sind und bleiben einander entgegengesetzt. Fleisch kann niemals Geist und Geist nie­mals Fleisch werden. Die Gesinnung des Fleisches ist auf das Sichtbare gerichtet, bringt den Tod, sowohl jetzt als auch ewiglich. „Kein Friede den Gesetzlosen! spricht Jehova." Die Gesinnung des Geistes aber ist Leben und Frieden, eine Quelle in uns, die ins ewige Leben quillt und die Seele mit Friede und Freude erfüllt. In Christo war es vollkommen so, bei dem Christen ist die Verwirklichung, wie schon oft be­tont, unvollkommen; aber davon redet der Apostel hier nicht, er entwickelt nur Grundsätze.

Die Gesinnung des Fleisches ist aber nicht nur der Tod, sie lehnt sich auch gegen Gott auf, erkennt Seine Ober­hoheit nicht an, ist mit einem Wort „Feindschaft gegen Gott". Dem Gesetz, dem der Mensch naturgemäß unterstellt ist, weil es die Richtschnur der Verantwortlichkeit des Geschöpfes Gott gegenüber bildet, unterwirft sie sich nicht. Sie ist „dem Gesetz Gottes nicht Untertan, denn sie vermag es auch nicht". Welch ein niederschmetterndes Urteil von selten Dessen, der recht richtet! „Sie vermag es nicht", so ver­derbt ist sie. Sobald Gott ein Gebot gibt, regt sich in ihr der Geist der Empörung. Der eigene böse Wille ist ihre Richtschnur; sie will unabhängig sein und haßt alles, was Gott gefällt. Darum bedarf eben der Mensch einer völlig neuen Natur, welche Gott und die himmlischen Dinge liebt. „Was aus dem Fleische geboren ist, ist Fleisch, und was aus dem Geiste geboren ist, ist Geist" (Joh. 3, 6).

„Die aber, welche im Fleische sind, vermögen Gott nicht zu gefallen" (V. 8). Wie wäre es möglich, daß Gott mit Wohl­gefallen auf Leute herabschauen könnte, wie wir sie soeben beschreiben hörten? Menschen „im Fleische" oder „aus dem Fleische geboren", d. h. Menschen, die als Nachkommen des gefallenen Adam sich in dessen Stellung vor Gott befinden und in seinen Spuren, „nach dem Fleische", wandeln. „Im Fleische sein" bedeutet also nichts anderes als hoffnungs­loses Verderben, verbunden mit Auflehnung und Feindschaft gegen Gott. Gott sei deshalb ewig dafür gepriesen, daß der Gläubige sich nicht mehr in dieser Stellung befindet!

„Ihr aber seid nicht im Fleische, sondern im Geiste, wenn anders Gottes Geist in euch wohnt" (V. 9). Die Inwohnung des Heiligen Geistes in dem Gläubigen ist der unwiderlegliche Beweis, daß er nicht mehr „im Fleische", sondern „im Geiste" ist. Schon in Kapitel 7, 5 lasen wir: „Denn als wir im Fleische waren usw.", und das ganze 6. Kapitel hat uns Menschen gezeigt, die, von der Herrschaft der Sünde be­freit, Gott leben und Ihm ihre Glieder zu Werkzeugen der Gerechtigkeit darstellen können. Der in der zweiten Hälfte des 7. Kapitels beschriebene Mensch vermag das noch nicht. Er ist zwar, wie der verlorene Sohn, umgekehrt und auf dem rechten Wege, aber er hat noch nicht im Glauben erkannt, was der Vater ist, und wie Er sich in Christo Jesu geoffen­bart hat. Das persönliche Bewußtsein der völligen Vergebung und der Annahme bei dem Vater ist in der Seele noch nicht vorhanden.

Dieses klare Bewußtsein kann nur in einem Menschen leben, in welchem der Heilige Geist Wohnung gemacht hat. Erst wenn man in den Armen des Vaters geruht hat und sich mit dem besten Kleide bekleidet sieht, hört man auf, sich selbst zu betrachten, von sich zu reden, sich mit sich ab­zumühen; der Vater und das, was Er ist und tut, füllt dann den ganzen Gesichtskreis der Seele aus. Sie „dankt Gott durch Jesum Christum," indem sie sich selbst völlig vergißt und in dem ruht, was Jesus für sie getan hat; und nun ist sie passend für das Vaterhaus und seine Freu­den. Nicht so, als ob sie fernerhin nicht verantwortlich wäre; sie bleibt das selbstverständlich — aber ihre Verantwortlich­keit trägt einen ganz neuen Charakter, ist von ganz neuer Art. Wir wollen es uns immer wieder sagen: Der Gläubige ist ein Mensch „in Christo" und ein Mensch „im Geiste", der nicht unter Gesetz steht, aber auch nicht gesetzlos ist, sondern dem die Gnade alles Nötige darreicht, um dieser seiner neuen Stellung gemäß zu wandeln.

Auch dies sei noch einmal wiederholt: es handelt sich in der vorliegenden Stelle nicht um einen veränderlichen Zu­stand, um ein Zu- und Abnehmen, ein Auf- und Niedergehen je nach der geistlichen Gesinnung und Treue des einzelnen Christen, sondern um eine Sache, die jedem wahren Gläu­bigen gehört, die nicht nur wahr ist von einigen besonders bevorzugten Seelen, sondern von jedem, der des Glaubens an Jesum ist, und zwar nicht nur zeitweilig wahr, sondern auf seinem ganzen Wege bis ans Ziel. Er w a r einst in der einen Stellung, „im Fleische", und er i s t jetzt in der anderen, „im Geiste". Das findet eine weitere Bestätigung in dem Schluß unseres Verses: „ Wenn aber jemand Christi Geist nicht hat, der ist nicht Sein", oder „der ist kein Christ", wenigstens nicht in des Wortes wahrer Bedeutung. Wohl kann eine Seele schon Leben aus Gott haben, ohne durch den Geist versiegelt zu sein, wie der Mensch im 7. Kapitel; aber als Regel gilt, daß Gott den Geist einem jeden gibt, der das Wort der Wahr­heit im Glauben aufnimmt. Wer heute das Evangelium des Heils hört und daran glaubt, wird nach Epheser 1. 13 versiegelt mit dem Heiligen Geiste der Verheißung. In einer nur erweckten Seele ist das göttliche Werk noch nicht vollendet, sie glaubt noch nicht wirklich.

Warum aber spricht der Apostel hier von Christi Geist? Gibt es einen Geist Gottes und einen anderen Geist Christi? Nein, der Geist ist nur einer, aber doch ist der Wechsel im Ausdruck gewiß nicht bedeutungslos, und wir dürfen nach der Ursache desselben forschen. Liegt sie nicht darin, daß der Geist Gottes sich in Christo in einem Leben geoffenbart hat, das bis zum letzten Atemzuge Gott vollkommen geweiht war, so daß wir in Ihm sehen und be­urteilen können, was ein solches Leben ist? Und wer nun die Spuren dieses Lebens nicht offenbart, keine Beweise gibt, daß derselbe Geist in ihm wirkt, der einst in Christo war, der ist, trotzdem er das schönste äußere Bekenntnis haben mag, nicht wirklich „Sein", ist kein Christ.

„Wenn aber Christus in euch ist, so ist der Leib zwar tot der Sünde wegen, der Geist aber Leben der Gerechtigkeit wegen" (V. 10). Im ersten Verse hörten wir, daß wir als Gläubige „in Christo" sind, hier, daß „Christus in uns" ist, und aus dieser Tatsache wird die Folgerung gezogen, daß der Leib zwar tot ist der Sünde wegen, der Geist aber Leben der Gerechtigkeit wegen. Der Leib ist das irdene Gefäß, in welchem die Sünde wohnt und wirkt. Lasse ich ihm seinen Willen, so wird nichts als Sünde hervorkommen. Was habe ich nun zu tun als ein Mensch, in welchem Christus ist, in dem Er lebt? Ich bin berufen, das Todesurteil, das in Christo über mich ergangen ist, stets auf mich anzuwenden, „nicht den Lüsten meines sterblichen Leibes zu gehorchen", sondern „die Handlungen des Leibes zu töten". (Vergl. Kapi­tel 6, 12; 8, 13.) In demselben Maße, wie ich das tue, wird die Sünde ihre Kraft über mich verlieren, und der Geist ungehindert in mir wirken können in einem Leben, das die Früchte der Gerechtigkeit hervorbringt. Wenn Christus in mir ist, so erhebt sich die Frage: Soll fortan mein Wille gelten oder der Wille Christi? Das neue „Ich" antwortet ohne Zögern: der Wille Christi. Gut, das kann aber nur ge­schehen, wenn ich meinem Leibe nicht erlaube, sich als lebend zu offenbaren, sondern indem ich dem nachstrebe, was des Geistes Gottes ist, was Ihm gefällt. Vergessen wir nicht, daß die Früchte praktischer Gerechtigkeit nur da wachsen können, wo man sich selbst für tot hält, Gott aber lebt in der Kraft des Heiligen Geistes.

Ist aber ein solches Leben nicht ein knechtisches Leben? Im Gegenteil, es ist ein Leben der Freiheit, des Nichtmehrgebundenseins an den Leib und seine Lüste, ein Leben der beglückenden Nachfolge Christi, unter der Leitung Seines Geistes. Möchte es Schreiber und Leser mehr ge­schenkt sein, also zu wandeln, bis wir diesen Leib der Niedrigkeit mit dem Leibe der Herrlichkeit vertauschen dür­fen, in welchem die Sünde nicht mehr wohnt! Auch von dieser dritten und letzten Art der Befreiung redet der Apostel in dieser wunderbaren Stelle.

„Wenn aber der Geist dessen, der Jesum aus den Toten auferweckt hat, in euch wohnt, so wird er, der Christum aus den Toten auferweckt hat, auch eure sterblichen Leiber leben­dig machen wegen seines in euch wohnenden Geistes" (V. 11). Die Wirkung des Todes und der Auferstehung Christi erstreckt sich also auch auf unsere sterblichen Leiber. Nicht nur gibt es keine Verdammnis mehr für mich, nicht nur darf sich meine Seele der kostbaren Befreiung von der Herrschaft der Sünde und des Todes erfreuen, nein, auch mein armer Leib, dem die Sterblichkeit anhaftet, der den Keim des Todes in sich trägt, wird einmal die mächtigen Folgen des Erlösungswerkes Christi erfahren. Er wird, wenn er ins Grab hinab­sinken sollte, wieder auferstehen. Jetzt schon ein Tempel des Heiligen Geistes, wird er wieder hervorgerufen, wieder lebendig gemacht werden, um dann der befreiten Seele zur ewigen, herrlichen Wohnstätte zu dienen. Beachten wir also wohl: es wird nicht, wie man oft sagen hört, ein neuer Leib geschaffen und uns gegeben, sondern der alte wird auferweckt, verwandelt. „Wir werden zwar nicht alle entschlafen, wir werden aber alle verwandelt werden" (1. Kor. 15, 51). Der Heilige Geist, der ihn jetzt schon be­wohnt, weil der Gläubige in Christo des ewigen Lebens teil­haftig geworden ist, wird Seine Ansprüche an diesen Leib niemals fahren lassen. So gewiß Gott Jesum aus den Toten auferweckt hat und der Geist Gottes infolge dessen in uns wohnt, so gewiß werden auch unsere sterblichen Leiber auf­erweckt werden. Satan hat keine Ansprüche mehr an sie; auch sie sind um einen Preis erkauft und gehören Christo. So wird unsere Befreiung eine vollständige werden. Die Frei­heit der Gnade ist durch den Heiligen Geist heute schon unser Teil in der Stellung, die wir in Christo haben; die Frei­heit der Herrlichkeit ist noch zukünftig, aber sie ist uns völlig gewiß, weil der Heilige Geist in uns wohnt. Wie Er das Unterpfand unseres Erbes ist (Eph. 1. 14), so ver­bürgt Er uns auch die Auferstehung unseres Leibes.

Im Vorbeigehen sei auf den Wechsel des Namens unseres Herrn im 11. Verse aufmerksam gemacht. Zuerst wird Sein persönlicher Name als Sohn des Menschen genannt: Jesus; nachher Sein amtlicher Titel als der Gesalbte Gottes: Chri­stus, und zwar in Verbindung mit dem in uns wohnenden Geiste. Der Heilige Geist kann gleichsam nicht von Christo getrennt werden. Da wo die Ergebnisse des Erlösungswerkes gefunden werden, da muß auch der Geist sein, um die Herr­lichkeit Christi zu verbürgen.

Indem wir jetzt zu der Betrachtung des nächsten Ab­schnittes übergehen, wollen wir uns noch einmal der drei verschiedenen Gesichtspunkte oder Charaktere erinnern, unter denen der Geist in dieser Stelle vor uns tritt. Er ist zunächst der Geist Gottes, der in uns wohnt und die kraft­volle Quelle alles Guten in uns ist, der uns ermuntert, zu­rechtweist, mahnt, warnt usw. Dann ist Er der Geist Christi, der sich in dem Leben und Wandel Christi hienieden geoffenbart hat und nun unser Leben und unseren Wandel kennzeichnen soll. Und drittens ist Er der Geist „dessen, der Jesum aus den Toten auferweckt hat" und nun dafür bürgt, daß dieselbe Macht, die sich in der Auferstehung Christi erwiesen hat, auch unsere sterblichen Leiber „umgestalten wird zur Gleich­förmigkeit mit seinem Leibe der Herrlichkeit" (Phil. 3, 21).

Kapitel 8, 12 — 30 
Der Apostel zieht in den folgenden Versen die praktische Folgerung aus dem bisher Gesagten: „So denn, Brüder, sind wir Schuldner, nicht dem Fleische, um nach dem Fleische zu leben, denn wenn ihr nach dem Fleische lebet, so werdet ihr sterben, wenn ihr aber durch den Geist die Handlungen des Leibes tötet, so werdet ihr leben" (V. 12. 13). Als solche, die sich nicht mehr „im Fleische" befinden, haben wir keinerlei bindende Beziehungen mehr zu dem Fleische, können es vielmehr durch den Geist überwinden, indem wir es als ge­richtet kennen und für tot halten.

„Wir sind Schuldner, nicht dem Fleische, um nach dem Fleische zu leben." Unwillkürlich hat man das Gefühl, es fehle etwas an dem Satze. Man erwartet einen mit „sondern" eingeleiteten Nachsatz. Aber das Wort Gottes ist immer richtig und vollkommen. Der Nachsatz würde nach unserer Meinung etwa so lauten müssen: „sondern wir sind Schuld­ner dem Geiste, um nach dem Geiste zu leben". Ein solches Wort stände auch durchaus im Einklang mit den gesetzlichen Neigungen unserer Herzen. Aber der inspirierte Schreiber spricht nicht so. Es würde uns ja die kostbare Freiheit, in die wir durch unseren Erlöser gebracht sind, wieder rauben und uns, wenn auch in veränderter Form, von neuem unter ein Gesetz stellen, dessen Erfüllung uns genau so unmöglich wäre wie die des alten.

Aber gehen nicht aus unserer neuen Stellung ernste Ver­pflichtungen hervor? Ist nicht eine heilige Verantwortlichkeit mit ihr verbunden? Immer wieder antworten wir; Ja, ganz gewiß! Aber diese Verpflichtungen lasten nicht wie ein Ge­setz auf uns, sondern ergeben sich ganz von selbst aus dem neuen Leben, das uns geschenkt ist, stehen in Übereinstim­mung mit den Neigungen unserer neuen Natur und werden in der Kraft des Geistes erfüllt. Jakobus redet in dieser Be­ziehung von dem vollkommenen Gesetz, dem der Freiheit, weil der Wille des neuen Menschen in jeder Beziehung im Einklang steht mit dem Willen Gottes. (Jak. 1. 25.) Es ist die L u s t des neuen Menschen, diesen Willen zu tun. Tatsächlich bleibt der schroffe Gegensatz zwischen den beiden in uns wirkenden Grundsätzen, Fleisch und Geist, stets bestehen; darum fügt der Apostel auch hinzu: „wenn ihr nach dem Fleische lebet, so werdet ihr s t e r b e n, wenn ihr aber durch den Geist die Handlungen des Leibes tötet, so werdet ihr leben."

In beiden Fällen ist das Ergebnis sicher, im ersten als eine naturgemäße und notwendige Folge, im zweiten als etwas von Gott selbst Verbürgtes. Im ersten Falle ist der Tod, im zweiten Leben und Herrlichkeit unser Los. Im Geiste höre ich hier den Leser einwenden: „Dann kann ein Kind Gottes also doch noch verloren gehen!" Ich antworte: Um diesen Punkt handelt es sich hier gar nicht. Wir haben es hier nicht mit der göttlichen, sondern mit der menschlichen Seite der Frage zu tun. Gott hat uns ein neues Leben geschenkt, und dieses Leben lebt nicht nach dem Fleische, kann gar nicht danach leben. Wenn ich also trotzdem nach dem Fleische lebe, so trete ich dadurch auf den Boden der alten Natur, des Fleisches, zurück, und, soweit es an mir liegt, werde ich sterben, denn die Frucht, der gerechte Lohn eines Lebens nach dem Fleische ist der Tod. Unmöglich könnte Gott mir sagen, daß ein solcher Weg im Leben ende. Wenn ich aber durch den Geist die Handlungen des Leibes töte, so werde ich leben, für immer leben vor und mit dem Gott, der mir das Leben gegeben hat, und dessen Geist in mir wohnt und in diesem Leben wirkt.

Die bedingungslose Errettung des Gläubigen auf Grund des Werkes Christi ist eine Wahrheit, seine Verantwort­lichkeit, den Weg der Nachfolge Christi bis ans Ende treu zu gehen, eine andere. Lassen wir jede da, wo Gott sie hingestellt hat, so ist alles einfach und klar; vermengen wir sie, wie man es leider so oft tut, so ist Verwirrung die un­ausbleibliche Folge.

„Denn so viele durch Gottes Geist geleitet werden, diese sind Söhne Gottes" (V. 14). Damit kommen wir zu dem wun­derbaren Verhältnis, in welches wir als solche gebracht sind, die nicht mehr durch das Fleisch geleitet werden, die aber auch nicht, wie einst Israel, in der Stellung von Knechten oder Sklaven stehen. Wir werden heute durch den in uns wohnenden Geist Gottes nicht in knechtischer Furcht, sondern in Frieden geleitet. Wenn das aber so ist, dann ist der Beweis erbracht, daß wir Söhne Gottes sind. Der Geist, den wir empfangen haben, ist eben nicht „ein Geist der Knechtschaft, wiederum zur Furcht", sondern „ein Geist der Sohnschaft, in welchem wir rufen; A b b a, V a t e r!" (V. 15). Wo dieser Geist ist, da ist Freiheit. Unter dem Gesetz gab es nur Knechtschaft und Furcht. Obwohl der Heilige Geist in den Gläubigen des Alten Testaments wirkte und sie als Zeugen und Boten der Wahrheit benutzte, konnte Er doch in keinem von ihnen wohnen. Selbst die Jünger konnten vor der Auferstehung und Himmelfahrt ihres Herrn das bestimmte Bewußtsein, Söhne Gottes zu sein, nicht haben, obwohl Er ihnen den Vaternamen geoffenbart hatte. Dieses Bewußtsein ist jetzt aber unser kostbares Teil, nachdem der Heilige Geist in Person herniedergekommen ist und als der Geist der . Sohnschaft Wohnung in uns gemacht hat. Ähnlich schreibt

Paulus an die Galater: „Weil ihr Söhne seid, so hat Gott den Geist seines Sohnes in unsere Herzen gesandt, der da ruft: Abba, Vater!" (Gal. 4, 6). Wir stehen nicht unter einem Zucht­meister, sind nicht Unmündige, die den Geboten eines Vor­mundes oder Verwalters zu folgen haben, sondern werden als Söhne Gottes, die sich dieses Verhältnisses bewußt sind, durch den Geist geleitet.

Welch ein Verhältnis, welche Beziehungen für solche, wie wir einst waren! Und nun lesen wir weiter: „Der Geist selbst zeugt mit unserem Geiste, daß wir Kinder Gottes sind. Wenn aber Kinder, so auch Erben — Erben Gottes und Mit­erben Christi, wenn wir anders mitleiden, auf daß wir auch mitverherrlicht werden" (V. 16. 17). Aus dem Verhältnis, in das wir gebracht sind, entspringen wunderbare Segnungen. Nicht nur hat der Geist uns neues Leben mitgeteilt und die Gefühle und Zuneigungen von Kindern in uns geweckt, son­dern Er zeugt auch mit unserem Geiste (eben diesem neuen, in uns gewirkten Leben), daß wir Kinder Gottes s i n d, daß wir zu der Familie Gottes gehören und darum an alledem teilhaben, was diesem Verhältnis eigen ist. Es handelt sich hier also nicht um das von außen an uns ergehende Zeugnis Gottes bezüglich unserer Errettung durch den Glauben an Christum, sondern um ein Zeugnis i n u n s, um das klare Bewußtsein der Seele, ein Kind Gottes zu sein. Und ich möchte fragen: Haben wir dieses Zeugnis, dieses Bewußtsein nicht? Rufen wir nicht mit Kindeszuversicht: „Abba, Vater"? Und warum können wir so rufen? Weil der Geist selbst mit unserem Geiste zeugt, daß wir Kinder Gottes sind. Wir würden so nicht rufen können, wenn das Zeugnis nicht in uns wäre.

Ehe wir weitergehen, noch ein kurzes Wort über die Titel „Söhne" und „Kinder". Erinnert der Titel „Söhne" mehr an unsere Stellung und an die mit ihr verbundenen Vor­rechte, im Gegensatz zu „Knechten" oder „Sklaven", so weist der Name „Kinder" auf die innige Beziehung hin, in welcher wir, als aus Gott geboren, zum Vater stehen. Wir sind nicht nur als Söhne angenommen, in die Stel­lung von Söhnen versetzt, sondern sind auch als Kinder in die Familie Gottes hineingeboren, um so jetzt schon die Freuden dieses Verhältnisses zu genießen und bald mit Christo in den Besitz alles dessen eingeführt zu werden, was Gott selbst gehört. Wir sind Kinder Gottes mit all den wunderbaren und ewigen Segnungen, die aus diesem Verhältnis hervorgehen.

„Wenn aber Kinder, so auch Erben — Erben Gottes und Miterben Christi." Israel war einst das Erbteil Jehovas — ein gesegneter Platz! Aber unendlich höher und herrlicher ist der unsrige: wir sind Erben Gottes, Sein Besitz ist u n s e r Besitz. Wie das möglich geworden ist, zeigt uns der zweite Titel: „Mit erben Christi". Mit Ihm nur können und sollen wir alles teilen, mit Ihm, der als der Erstgeborene aller Schöpfung und der Erstgeborene aus den Toten, als Schöpfer und Erlöser ein unbestrittenes Recht auf alle Dinge hat und uns nun in wunderbarer Gnade an diesem Recht teilnehmen läßt. Selbstverständlich gebührt Ihm als Mensch immer und „in allem der Vorrang" (Kol. 1. 18), und wenn wir an Ihn als Gott denken, so ist es klar, daß wir an Seiner Gottheit niemals teilhaben können, wiewohl wir als Kinder der gött­lichen Natur und als Söhne der ganzen Segensfülle teilhaftig geworden sind, die mit diesen Titeln in Verbindung steht.

Der Weg zu dem herrlichen Ziele, das vor uns liegt, führt indes durch Leiden. Kein Christ kann ihnen entgehen; darum der Nachsatz: „wenn wir anders mitleiden, auf daß wir auch mitverherrlicht werden." Diese Bedingung hat schon manchen Leser stutzig gemacht, aber wohl nur deshalb, weil man nicht genau genug gelesen hat. Es geht uns oft so mit dem Worte Gottes: wir lesen zu schnell oder zu oberflächlich, tragen auch gern unsere Gedanken in das Wort hinein, anstatt ohne Voreingenommenheit und unter Gebet nach Gottes Gedanken zu forschen.

So ist es gekommen, daß man, obwohl ganz deutlich da­steht: „wenn wir anders mit- (also mit Christo) leiden", an Leiden für Christum gedacht hat. Daß Leiden für Chri­stum, Leiden um des Namens unseres Herrn willen, ein Vorrecht sind, das nicht jedem Christen geschenkt wird, wissen wir aus Philipper 1. 29 und auf Grund unserer Er­fahrung. Aber den Leiden mit Christo kann kein wahrer Christ entgehen. Unser Herr und Heiland war in der Welt, auch bevor Er zum Kreuze schritt, „ein Mann der Schmerzen und mit Leiden vertraut". Eine Welt der Sünde und des Todes, der Leiden und der Tränen, wo die Gesinnung und die Grundsätze des Fleisches herrschen, konnte für Seine heilige Natur und für Sein liebendes Herz nur eine stete Quelle des Schmerzes und der Trauer sein. Ganz allein, als ein einsamer Fremdling, den selbst die Jünger so oft nicht verstanden und durch Eigenliebe, Unglaube, Unverstand und ähnliche Dinge in Seinen innersten Gefühlen verwundeten, schritt Er einher. Was Er sah und hörte beleidigte Sein Auge und Ohr, verwundete Sein Herz und erweckte zugleich Sein inniges Mitgefühl. Dabei fand Er für sich selbst kein Ver­stehen, kein Mitgefühl, keinen Tröster. Für Seine Liebe erntete Er Haß, für Seine Hilfe Undank, für Seine Güte Hohn und Spott.

So fühlt auch der geistliche Mensch auf seinem Gange durch die Welt die Dinge, wie Christus sie fühlte, wenn auch selbstverständlich nicht in der gleichen Kraft. Auch seine Natur steht im Gegensatz zu allem, was ihn umgibt, und so kann es nicht anders sein: er leidet da, wo Christus ge­litten hat; er ist beschwert, er leidet mit Christo. Seine Liebe zu Gott und Menschen, seine Gefühle für Reinheit und Heiligkeit, seine Ehrerbietung vor dem Namen und den Rechten Gottes und Seines Gesalbten, ja, alles, was in ihm als einem Teilhaber der göttlichen Natur wohnt, wird zu einer Quelle der Leiden für ihn. Die Folgen der Sünde um ihn her, verbunden mit dem Unglauben, der Gleichgültigkeit und Halsstarrigkeit der Menschen, bereiten ihm Schmerz, jede Verunehrung Christi, jedes häßliche, unreine oder lästernde Wort tut ihm weh. Selbst der Räuber am Kreuz verwies seinem Genossen die Schmähung des Herrn; sie schmerzte ihn. Aber Gott sei gepriesen! es wird nicht so bleiben. Gerade dieses Teilnehmen an den Leiden Christi verbürgt uns die Teilnahme an Seiner Herrlichkeit droben. Bald werden alle, die hier mitleiden, dort m i t - verherrlicht werden. Wer nicht in irgend einem Maße, und sei es auch nur für Tage oder selbst Stunden (wie der Räuber) m i t leidet, beweist, daß er nicht aus Gott geboren, daß er nicht ein Christ ist. Denn wie könnte der Geist Christi erneuernd in einem Herzen wirken, ohne die Gesinnung hervorzurufen, die in Christo selbst war?

Doch obwohl wir Kinder Gottes und darum auch Erben Gottes und Miterben Christi sind, besitzen wir die Erbschaft doch noch nicht, und zwar nicht nur aus dem Grunde, weil wir noch in diesem Leibe sind, sondern auch weil die Erbschaft selbst noch verunreinigt und dem Verderben unter­worfen ist. So wie die Schöpfung jetzt ist, paßt sie nicht für die Erben, weder für den Herrn noch für die Seinigen. Darum sitzt E r noch wartend zur Rechten Gottes, und wir warten, bis die Stunde für die Offenbarung der zukünftigen Herrlich­keit gekommen ist. Im Blick auf diese Herrlichkeit konnte der Apostel, der mehr als irgend einer von uns mit Leiden vertraut war, den Römern schreiben: „Denn ich halte dafür, daß die Leiden der Jetztzeit nicht wert sind, verglichen zu werden mit der zukünftigen Herr­lichkeit, die an uns geoffenbart werden soll. Denn das sehn­süchtige Harren der Schöpfung wartet auf die Offenbarung der Söhne Gottes" (V. 18. 19). Der Geist Gottes, der unseren Mut beleben und uns zum Ausharren ermuntern möchte, lenkt unseren Blick auf diese Herrlichkeit und sucht die Über­zeugung in uns zu wecken, daß die Leiden, durch welche wir. heute gehen, so drückend sie sein mögen, nicht wert sind, irgendwie in Vergleich gestellt zu werden mit der Herr­lichkeit, die vor uns liegt. Inwieweit es Ihm gelingt, Sein Ziel bei der einzelnen Seele zu erreichen, ist ja eine zweite Präge, die mit der persönlichen Herzensstellung zusammen­hängt. Der Apostel konnte im Blick auf sich selbst sagen: »Ich halte dafür." Er wußte nicht nur, sondern war der vollen Überzeugung, er hielt dafür, daß die Leiden der Jetztzeit nicht wert sind usw. In Vers 22 und 28, wo es sich um ein allen Gläubigen gemeinsames Teil handelt, sagt er: „Wir wissen."

Unser Leben ist jetzt mit dem Christus verborgen in Gott. Wenn aber der Christus, unser Leben, geoffenbart wird, dann werden auch wir mit Ihm geoffenbart werden in Herr­lichkeit. (Vergl. Kol. 3, 3. 4.) Auf diese Offenbarung der Söhne Gottes wartet die ganze Schöpfung mit sehnsüchtigem Harren. Sie leidet und seufzt, denn „sie ist der Nichtigkeit unterworfen worden, (nicht mit Willen — sie hat ja keinen Willen —, sondern um deswillen, der sie unterworfen hat — des ersten Adam) auf Hoffnung, daß auch selbst die Schöp­fung freigemacht werden wird von der Knechtschaft des Verderbnisses zu der Freiheit der Herrlichkeit der Kinder Got­tes. Denn wir wissen, daß die ganze Schöpfung zusammen seufzt und zusammen in Geburtswehen liegt bis jetzt" (V. 20—22).

Die Schöpfung seufzt unter den Folgen des Sündenfalles, der sie unter die Knechtschaft des Verderbnisses oder der Vergänglichkeit gebracht hat. Als der Mensch, das Haupt der niederen Schöpfung, fiel, teilte die Schöpfung sein Los. W i e herrlich sie vor dem Falle war, wissen wir nicht. Wir wissen aber, daß nach dem Urteil Gottes „alles sehr gut war" (1. Mose 1. 31). Die Sünde des Menschen hat alles verdorben. Aber wie köstlich ist der Gedanke, daß die Schöpfung, die durch unsere Schuld der Knechtschaft des Verderbnisses verfallen ist, nun auch auf unsere Verherrlichung wartet, um von dieser Knechtschaft wieder befreit zu werden! Und wie wunderbar sind die Wege und Ratschlüsse Gottes l In Seiner unergründlichen Gnade beschäftigt Er sich zunächst mit den Schuldigen, mit denen, die durch ihren Abfall von Ihm all den Jammer herbeigeführt haben, und erwählt sie zu solchen, an denen E r den ganzen Reichtum Seiner Liebe und Barmherzigkeit groß machen will, um dann auch die durch sie (ohne eigene Schuld) ins Verderben geratene Schöpfung in den kommenden Zeitaltern an der Herrlichkeit teilnehmen zu lassen! Von dieser „Wiederherstellung a 11 e r Dinge", der „Wiedergeburt", wie der Herr sie in Mat­thäus 19, 28 nennt, hat Gott durch die Propheten von jeher geredet. (Vergl. Apstgsch. 3, 19—21.)

Auf dem Wege zur Offenbarung dieser Herrlichkeit bil­den wir, die wir durch unseren Leib noch zu dieser Schöp­fung gehören, gleichsam den Mund derselben. Wir geben durch unser Seufzen dem Seufzen der leidenden Schöpfung in Gott wohlgefälliger Weise Ausdruck, und wir tun das umsomehr, je mehr wir erkennen, was die Sünde ist, und praktisch abgesondert von ihr wandeln. Weil unser geliebter Herr völlig frei war von der Sünde, die alle diese Leiden veranlaßt hat, war Sein Mitgefühl mit den Folgen derselben auch vollkommen. Er seufzte tief im Geiste, und Er erschütterte sich, als Er auf dem Wege zum Grabe des Lazarus die Maria und die sie begleitenden Juden weinen sah. Die Juden meinten, Er vergieße Tränen, weil Er den Verstorbenen so lieb gehabt habe. Ach! sie ahnten nicht, worin Seine Erschütterung ihre wahre Ursache hatte.

Der Apostel vergleicht die Schöpfung mit einem gebären­den Weibe, das sehnsüchtig auf die durch die Wehen ange­kündigte Geburt ihres Kindleins wartet. Sie kann sie nicht beschleunigen, sie kann nur seufzen und harren. So die Schöpfung. Sie seufzt und harrt auf die Offenbarung der Söhne Gottes. Noch unterscheiden diese sich äußerlich nicht von den übrigen Menschen, sie sind schwach, vielleicht arm oder gar körperlich mißgestaltet, leiden und sterben wie sie. Aber so wird es nicht bleiben. Bald werden sie, aus den Toten auferweckt oder als Lebende verwandelt, als Miterben Christi mit Ihm in Herrlichkeit erscheinen, und dann wird auch die Schöpfung freigemacht werden zu der Freiheit der Herrlichkeit der Kinder Gottes. Ihre Befreiung von der Knechtschaft des Verderbnisses hängt ab von dieser Offenbarung der Herrlichkeit, wenn Gott alles unter ein Haupt zusammenbringen wird in Christo. (Eph. 1. 10.)

Heute ist Gnadenzeit, und niemand kann in die Freiheit der Gnade eintreten, es sei denn durch Glauben. Auf diesem Boden kann es darum keine Verbindung zwischen der Schöpfung und uns geben, einmal weil die Schöpfung nur körperlich ist und keinerlei Einsicht besitzt, dann aber auch weil sie nicht durch ihre Schuld in ihren gegenwärtigen Zustand gekommen ist, also auch nicht der Vergebung bedarf. Wenn aber die Freiheit der Herrlichkeit der Kinder Gottes erscheinen wird, dann werden die gesegneten Folgen des Erlösungswerkes Christi auch an der Schöpfung offenbar werden. War es doch das Wohlgefallen der ganzen in Christo wohnenden Fülle, „durch ihn alle Dinge mit sich zu versöhnen, indem er Frieden gemacht hat durch das Blut seines Kreuzes" (Kol. 1. 20). Die Dinge sind heute noch nicht versöhnt, aber das Sühnungsblut Christi, auf Grund dessen sie der Versöhnung teilhaftig werden sollen, ist geflossen, das dafür nötige Werk ist vollbracht.

Aber nicht nur seufzt die Schöpfung noch, „auch wir selbst, die wir die Erstlinge des Geistes haben, auch wir selbst seufzen in uns selbst, erwartend die Sohnschaft; die Erlösung unseres Leibes" (V. 23). Wir seufzen nicht etwa, weil das Schwinden und Vergehen der zeitlichen Dinge uns drückt, sondern weil wir durch den Geist den Gegensatz zwischen unserem gegenwärtigen Zustand und der vor uns liegenden Herrlichkeit fühlen und durch unseren noch nicht erlösten Leib fortwährend daran erinnert werden. Denn „die Sohn­schaft" in der vollen Bedeutung des Wortes — dazu ge­hört auch ein verherrlichter Leib, der die Kraft Christi an sich erfahren hat — ist uns noch nicht zuteil geworden. Wir „besitzen diesen Schatz in irdenen Gefäßen" und „sehnen uns, mit unserer Behausung, die aus dem Himmel ist, überkleidet zu werden" (2. Kor. 4 u. 5). Indem wir mit der Hoffnung der Herrlichkeit erfüllt sind, werden wir durch das Anschauen der Dinge um uns her zu jenem Seufzen gebracht, das der Kanal des Seufzens der Schöpfung genannt werden kann. Dieses Seufzen ist, wie bereits gesagt, nicht die Frucht von Unzufriedenheit oder Ungeduld, sondern die Wirkung des in uns wohnenden Heiligen Geistes, dessen „Erstlinge"6 wir haben. Das Seufzen des Christen geschieht also im Geist der Liebe, und je mehr er die in sein Herz ausgegossene Liebe Gottes durch den Geist in sich wirken läßt, je mehr er fühlt, wie alles um ihn her Gott entgegen ist, umso tiefer und inniger wird sein Seufzen werden.

„Denn in Hoffnung sind wir errettet worden. Eine Hoffnung aber, die gesehen wird, ist keine Hoffnung; denn was einer sieht, was hofft er es auch? Wenn wir aber das hoffen, was wir nicht sehen, so warten wir mit Ausharren" (V. 24. 25). In seinem Gewissen vollkommen gemacht und durch die Kraft des Heiligen Geistes geleitet, verwirklicht der Christ das vor ihm Liegende, noch nicht zu Sehende in einer „Hoffnung, die nicht beschämt". Er weiß zwar nicht, wann das Schauen kommen wird, aber er weiß gewiß, d a ß es kommt, und so wartet er mit freudigem Ausharren, indem die Hoffnung ihn das Zukünftige gleichsam als schon gegenwärtig genießen läßt. Auf Dinge, die man sieht, braucht man nicht mehr zu hoffen, sie sind da.

„Desgleichen aber nimmt auch der Geist sich unserer Schwachheit an; denn wir wissen nicht, was wir bitten sollen, wie sich's gebührt, aber der Geist selbst verwendet sich für uns in unaussprechlichen Seufzern" (V. 26). Welch eine wun­derbare Gnade! Wir haben früher gehört, daß der Geist in uns wohnt, uns leitet und mit unserem Geiste Zeugnis gibt, daß wir Kinder Gottes sind; hier wird uns gesagt, daß Er sich dazu herabläßt, sich mit den Gläubigen in ihrem gegenwärtigen Zustande der Schwachheit einszumachen. Wir sind Menschen von Fleisch und Blut, schwach, kurzsichtig, unter­liegen gern den Einflüssen, die von innen und außen her auf uns wirken, sind von Natur vielleicht ängstlich und zag­haft, ermatten leicht und lassen dann mutlos die Flügel sinken. Nun, während wir so durch die Welt gehen und in Liebe derer gedenken, die gleiche Erfahrungen machen wie wir, dürfen wir uns einerseits des innigen Mitgefühls unseres Hohenpriesters droben erfreuen, der einst in allem versucht worden ist wie wir, Er freilich ohne Sünde, und haben ander­seits in uns den erhabenen göttlichen Gast, der sich allezeit für uns verwendet in unaussprechlichen Seufzern.

In den Dingen, die mit dieser Schöpfung zusammenhängen, in den Versuchungen, Krankheiten, Schwierigkeiten usw., die uns und unseren Geschwistern auf dem Gange durch diese Welt begegnen, ja, selbst im Blick auf die ganze Lage der Dinge um uns her wissen wir sehr oft nicht, was wir bitten sollen, wie sich's gebührt. Wir kennen weder ein Heil­mittel für sie, noch den Willen oder die Absicht Gottes in ihnen. Wir können dann nur seufzen, aber der Geist, der dieses Seufzen selbst in uns bewirkt, verbindet sich darin mit uns in Seufzern, die sich in Worte nicht kleiden lassen, und unser Gott und Vater droben, der uns sieht und hört, „weiß, was der Sinn des Geistes ist, denn er verwendet sich für Heilige Gott gemäß" (V. 27). Welch eine Gnade, daß wir überzeugt sein dürfen, daß der Gott, „der die Herzen erforscht" —' ein wichtiger Zusatz! — in unserem Seufzen die Gesinnung des Geistes entdeckt. Denn wenn unsere Herzen aufrichtig sind vor Gott, dann ist es der Geist, der unseren Gefühlen als Menschen, die noch dieser seufzenden Schöpfung angehören und an ihren Leiden teilnehmen, Aus­druck verleiht, und Gott versteht Ihn.

Aber nicht nur das. Wir wissen zu gleicher Zeit, „daß denen, die Gott lieben, alle Dinge zum Guten mitwirken, denen, die nach Vorsatz berufen sind" (V. 28). Wir wissen aus Mangel an Erkenntnis nicht immer, wie wir ge­bührend beten sollen (denken wir z. B. an den Apostel Paulus selbst in 2. Korinther 12), aber das eine wissen wir, daß denen, die Gott lieben, alle Dinge zum Guten mit­wirken. Fürwahr, ein kostbarer Trost! Beachten wir indes den Ausdruck: „denen, die Gott lieben". Es heißt nicht, „die Gott liebt", obwohl das selbstverständlich immer wahr ist. Es handelt sich um Menschen in einer von Gott entfrem­deten Welt, auf denen Sein Auge mit Wohlgefallen ruht, denen Er „das bereitet hat, was kein Auge gesehen und kein Ohr gehört hat und in keines Menschen Herz gekommen ist" (1. Kor. 2, 9; vergl. Jak. 1. 12; 2, 5), um Menschen, die Er nach Seinem göttlichen Vorsatz aus der Welt berufen und Seinem geliebten Sohne geschenkt hat, die nun ihr Verhältnis als Kinder zum Vater kennen. Mit anderen Worten, wenn Gottes Auge auf diese Erde herabschaut, erblickt Er inmitten der Kinder dieser Welt, deren Gesinnung Feindschaft ist wider Ihn, solche, die Ihn lieben, so schwach es sein mag. Daß sie das nur deshalb zu tun vermögen, weil Er sie zu­erst geliebt hat, und daß ihre Liebe immer nur schwach und gering bleiben wird, ändert nichts an der Tatsache, daß sie die Gegenstände des liebenden Interesses Gottes sind, zu deren Bestem Er alles, das Kleinste wie das Größte, mit­wirken läßt. Zu diesem kostbaren Bewußtsein kommt noch hinzu, daß die Gläubigen schon vor Grundlegung der Welt Gegenstände des Vorsatzes Gottes waren, daß Er sie zuvorerkannt hat, ja, „zuvorbestimmt, dem Bilde seines Sohnes gleichförmig zu sein" (V. 29). Wunderbare Mitteilungen! Sie leiten hinüber zu der in dem letzten Teil unseres Kapitels ganz bestimmt ausgesprochenen Behaup­tung, daß Gott für uns ist, und daß deshalb keine Macht in der Höhe oder in der Tiefe uns von Seiner Liebe zu scheiden vermag.

„Denn welche er zuvorerkannt hat, die hat er auch zuvor­bestimmt, dem Bilde seines Sohnes gleichförmig zu sein, damit er der Erstgeborene sei unter vielen Brüdern. Welche er aber zuvorbestimmt hat, diese hat er auch berufen; und welche er berufen hat, diese hat er auch gerechtfertigt; welche er aber gerechtfertigt hat, diese hat er auch verherrlicht" (V. 29. 30). In dieser herrlichen Kette von Gedanken und Wegen Gottes, die, von Ewigkeit zu Ewigkeit reichend, den göttlichen Vorsatz mit unserer Verherrlichung im Vater­hause verbindet, erstrahlt die Gnade Gottes in unvergleich­lichem Glänze. Es ist die einzige Stelle in unserem Briefe, die von dem Ratschluß Gottes vor den Zeiten der Zeitalter redet, aber sie ist überwältigend in ihrer Wirkung, und wir verstehen jetzt voll und ganz den Ausruf des Schreibers: „Was sollen wir nun hierzu sagen?"

Der Inhalt der beiden letztgenannten Verse (29 und 30) zeigt uns, daß Gottes Wirken hinsichtlich der von Ihm Be­rufenen nimmer aufhört. Es beginnt in der Ewigkeit und schließt mit der Ewigkeit. Welche Er zuvorbestimmt hat, diese hat Er auch berufen, und welche Er berufen hat, diese hat Er auch gerechtfertigt und . . . bestimmt, dem Bilde Seines Sohnes gleichförmig zu sein — diese, keine anderen, aber diese auch ausnahmslos. Seine Gnade wird nicht ruhen, bis Seine Liebesabsicht erreicht ist, bis Er alle diese Berufenen verherrlicht vor sich stehen sieht, „dem Bilde seines Sohnes gleichförmig".

Gottes Auge ruht mit Wonne auf dem Manne Seiner Rechten, auf dem in Auferstehungs-Herrlichkeit droben thronenden Menschensohne, und zu der nämlichen Herrlich­keit hat Er uns zuvor bestimmt. Nichts Geringeres als das sollen diejenigen besitzen, die Er Ihm aus der Welt gegeben hat. Schon hier auf Erden gibt es in geistlichem Sinne, und je nach der Treue des einzelnen, eine mehr oder minder große Gleichförmigkeit mit Christo; aber als Söhne der Auf­erstehung und Söhne Gottes sollen wir vor des Vaters Auge stehen in Leibern, die dem Herrlichkeitsleibe des geliebten Sohnes gleichgestaltet sind. Doch trotz der innig­sten Verbindung mit Ihm werden wir stets anbetend zu Ihm emporschauen und mit tiefer Freude Ihn Herr nennen, der allein würdig ist, Ehre und Herrlichkeit und Segnung zu empfangen. Obschon Er, der Heiligende, und wir, die Ge­heiligten, alle „von einem" sind, so daß Er sich heute schon nicht schämt, uns Brüder zu nennen (Hebr. 2, 11), wird Er doch, zur Freude des Vaters und in Erfüllung Seines Ratschlusses, in alle Ewigkeit als „der Erstgeborene unter vielen Brüdern" den strahlenden Mittelpunkt jener seligen Scharen bilden, die, in Sein Bild verwandelt, Ihn sehen werden, wie Er ist. (1. Joh. 3, 2.) Und s i e? Jubelnd werden sie niederfallen und ihre Kronen vor dem Throne Dessen niederwerfen, der sie geliebt und Sich Selbst für sie hingegeben hat.

Kapitel 8, 31—39
Es bleibt uns noch übrig, einen Blick auf den Schluß unseres wunderbaren Kapitels zu werfen. Die eben betrachteten Aus­führungen des Apostels leiten ihn, in Verbindung mit der ganzen Lehre des Briefes, zu der schon erwähnten Folgerung, die er im Namen aller Gläubigen zieht, daß Gott nicht nur durch Seinen Geist i n uns wohnt, sondern daß Er auch für uns ist, d. h., daß Er Seine ganze Liebe uns zugewandt hat. Und ein Gott, der so liebt, „ein solcher Gott versagt nichts mehr". So lesen wir denn: „Er, der doch seines eigenen Sohnes nicht geschont, sondern ihn für uns alle hingegeben hat: wie wird er uns mit ihm nicht auch alles schenken?" Die Dahingabe des Sohnes ist eine Tatsache, und die größte Gabe schließt alle kleineren von selbst mit ein. Wenn Gott um unseretwillen Den nicht verschont hat, der Seines Herzens Freude und Wonne, der der Mittelpunkt aller Seiner Gedanken war, wenn Er Ihn für uns dahingab, als wir noch Gottlose und Feinde waren, wie könnte Er, nachdem wir Heilige und Geliebte geworden sind, uns je etwas Gutes vorenthalten?

Und weiter, wenn Gott für uns ist, wer wider uns? Wer will dem ewigen Gott entgegentreten, wer uns Seinen allmächtigen Händen entreißen? Wer oder was könnte uns Seine Gunst rauben oder Seine Liebesabsicht mit uns durch­kreuzen? Glückselig darum alle, die in kindlichem Glauben sagen können: Gott ist für mich!

Abgesehen von dem schon früher Gesagten gibt uns der Apostel hier drei Beweise für die Tatsache, daß Gott wirk­lich für uns ist. Der erste ist eben die Dahingabe Seines Sohnes, der zweite, daß Gott selbst uns rechtfertigt, der dritte, daß nichts uns von Seiner Liebe zu scheiden ver­mag. In dem ersten Beweis tritt uns vor allem die Liebe Gottes entgegen. Sie ist die Quelle von allem übrigen. Nicht alle Gläubigen verstehen das. Viele sehen in Gott vor­nehmlich den gerechten Richter, dessen Zorn durch das Werk Christi zwar abgewendet ist, der aber doch stets wie ein kalter, strenger Richter auf Seinem Richterstuhl sitzt. Daß Gott Liebe und darum Ursprung und Grundlage unseres Heiles ist, kommt ihnen nie klar zum Bewußtsein; sie sehen nur die Heiligkeit in Gott und die Liebe in Christo. So war es fast allgemein in den Tagen der Reformation, wie herrlich diese auch anderseits waren, und so ist es vielfach noch in unserer Zeit. Aber Gott sei gepriesen! nicht Gerechtig­keit herrscht heute — sie wird einmal herrschen, wenn der Tag des Gerichts gekommen ist, und wehe dann allen, die ihr begegnen müssen! — nein, Gnade herrscht durch Gerechtigkeit. (Kap. 5, 21.) Es ist von überaus großer Wich­tigkeit für den Frieden unserer Herzen, diesen Punkt klar zu verstehen und so die richtigen Gedanken über Gott zu haben. Es ist freilich wahr, daß Christus alles getan hat, um die Gerechtigkeit Gottes zu befriedigen, aber es ist ebenso wahr, daß die Liebe Gottes das „Lamm" zuvorbe­stimmt hat, um für uns in den Riß zu treten. Wir bedurften der Gerechtigkeit Gottes, um vor Ihm stehen zu können, aber Seine Liebe war in Christo tätig, um sie uns zu er­werben. „G o t t war in Christo, die Welt mit sich selbst versöhnend, ihnen ihre Übertretungen nicht zurechnend." Und indem E r Christum für uns zur Sünde machte, sind wir Seine Gerechtigkeit geworden in Ihm. (2. Kor. 5, 19. 21.) Unser Glaube und unsere Hoffnung gründen sich also auf Gott selbst. (Vergl. 1. Petr. 1. 21.) Auf Grund der ewigen, unver­änderlichen Gerechtigkeit Gottes wissen wir, daß Er nach Seiner unendlichen Liebe für uns ist. Und nun dürfen wir mit aller Zuversicht darauf rechnen, daß Er uns mit Christo auf unserem Wege auch alles Gute und am Ende die Herr­lichkeit selbst schenken wird.

Bleibt aber Gott nicht stets der Heilige und Gerechte? Ganz gewiß. W i r mögen uns verändern und dem, was wir zu sein bekennen, untreu werden. E r aber bleibt treu, immer sich selbst gleich, Er kann sich nicht verleugnen. (2. Tim. 2, 13.) Das ist gewiß eine ernste Wahrheit, aber sind wir nicht Gottes Auserwählte,7 die Er mit dem kostbaren Blute Seines fehl- und fleckenlosen Lammes so teuer erkauft hat? Und wenn das so ist, wer wird dann „wider Gottes Auser­wählte Anklage erheben? Gott ist es, welcher rechtfertigt; wer ist, der verdamme? Christus ist es, der gestorben, ja noch mehr, der auch auferweckt, der auch zur Rechten Gottes ist, der sich auch für uns verwendet" (V. 33. 34).

Wenn Gott selbst für uns eintritt, so dürfen wir wahrlich getrost sein. Und warum k a n n Er für uns eintreten und den Mund jedes Anklägers verschließen? Die Antwort ist Chri­stus, der gestorbene und auferstandene und jetzt zur Rechten Gottes sitzende Menschensohn.

Vor dem Lamm auf Gottes Thron Geht der Kläger stumm davon. Satan wird der Verkläger der Brüder genannt (Offbg. 12, 10), aber was kann er tun, wenn der Richter selbst recht­fertigt? Er hätte seiner Zeit besser getan, den Hohenpriester Josua, den Vertreter der sündigen Stadt Jerusalem, nicht zu verklagen. (Sach. 3.) Sein Angriff endete für ihn in einer völligen Niederlage und schlug aus zur Verherrlichung der Gnade und Gerechtigkeit Gottes. So wird es immer sein. Hatte Jehova Jerusalem nicht erwählt? Und war Josua nicht wie ein Brandscheit aus dem Feuer gerettet? Was wollte Satan darauf erwidern, was sagen, als der Engel befahl, Josua die schmutzigen Kleider auszuziehen, ihm Feier­kleider anzulegen und einen reinen Kopfbund auf sein Haupt zu setzen? Dabei ist jener wunderbare Vorgang nur ein schwaches Vorbild von der heutigen Wirklichkeit. Viel näher und inniger ist unsere Beziehung zu Gott, als Israel sie je kennen wird, und viel klarer und deutlicher treten Gottes Gnade und Gerechtigkeit in unserem Falle ans Licht, nachdem Christus gestorben und auferstanden ist und Seinen Platz zur Rechten Gottes eingenommen hat.

Noch einmal denn: Gott selbst erscheint hier als der Rechtfertigende, wir sind nicht nur durch Glauben vor Ihm gerechtfertigt. Das was durch den Geist der Prophe­zeiung von Christo selbst gesagt wird: „Nahe ist der mich rechtfertigt: Wer will mit mir rechten? . . . Siehe, der Herr, Jehova, wird mir helfen; wer ist es, der mich für schuldig erklären könnte?" (Jes. 50, 8. 9) — wird hier durch den Apostel den Gläubigen in den Mund gelegt. Welch eine wunderbare, gesegnete Einsmachung!

Aber mehr noch. Nicht nur rechtfertigt uns Gott auf Grund des Werkes Seines Sohnes, dieser Sohn selbst verwendet sich als der Auferstandene und verherrlichte Mensch allezeit für uns, solang wir in diesem Leibe sind. Könnte es einen mächtigeren Trost geben? Hienieden verwendet sich der Heilige Geist für uns, und droben tut es der Sohn Gottes! In der Erkenntnis dieser beiden Tatsachen verstehen wir gut, daß auch die Schwierigkeiten des We­ges das starke Band, das uns mit Christo und durch Ihn mit Gott verbindet, nimmermehr zu zerreißen vermögen.

„W er wird uns scheiden von der Liebe Christi? Drangsal oder Angst oder Verfolgung oder Hungersnot oder Blöße oder Gefahr oder Schwert?" (V. 35). Nicht daß diese Dinge nicht vorhanden wären. Sie sind da und werden in ihrer ganzen Schwere von uns gefühlt. Aber der Sohn Gottes selbst hat als Mensch alle diese Prüfungen und Leiden durch­lebt, hat alles das erfahren, wodurch der Feind den Menschen Gottes auf seinem Wege der Absonderung und des Gehor­sams zu Fall zu bringen sucht. Es gibt keine Leiden, keine Schmerzen, keine Glaubensprüfungen, die Er selbst nicht durchgemacht hätte — und Er fühlte sie alle unendlich tiefer, als wir es je vermögen — aber aus allen ging Er siegreich als Überwinder hervor. Darum, mochte der Apostel und mögen andere die Wahrheit des Wortes erfahren haben:

„Um deinetwillen werden wir getötet den ganzen Tag; wie Schlachtschafe sind wir gerechnet worden", mochten und mögen alle die Schwierigkeiten und Leiden, die im 35. Vers aufgezählt werden, auf dem Wege gelegen haben oder liegen, der Glaube konnte und kann todesmutig sagen: „Aber in diesem allem sind wir mehr als Überwinder durch den, der uns geliebt hat" (V. 36. 37).

Die letzten Worte sind an dieser Stelle von besonderer Kraft und Lieblichkeit. Was war es, das unseren Herrn den schweren Weg durch diese Welt gehen ließ? Warum hat Er neben den Leiden um unserer Sünden willen auch alle diese Drangsale und Leiden auf sich genommen? War es nicht wunderbare, unvergleichliche Liebe, die Ihn trieb? Liebe zu uns, den Armen und Hassenswürdigen? Es ist also nicht nur Seine bewährte Kraft, die in uns Schwachen mächtig ist und uns durch alles hindurchbringt, es ist vor allem Seine Liebe, die uns trägt, ermuntert, aufrichtet und unse­ren Blick auf die Herrlichkeit richtet, deren Unterpfand ge­rade diese Leiden sind. (Vergl. 2. Kor. 4, 17. 18.) Ja, wer wird uns scheiden von dieser Liebe?!

Angesichts derselben schließt der Apostel mit dem trium­phierenden Jubelruf: „Denn ich bin überzeugt, daß weder Tod noch Leben, weder Engel noch Fürstentümer, weder Gegenwärtiges noch Zukünftiges, noch Gewalten, weder Höhe noch Tiefe, noch irgend ein anderes Geschöpf uns zu scheiden vermögen wird von der Liebe Gottes, die in Christo Jesu ist, unserem Herrn" (V. 38. 39). Bisher handelte es sich um Schwierigkeiten und Feinde in dieser irdischen, sicht­baren Welt; nunmehr zählt der Apostel alle jene unsichtbaren Mächte und Gewalten auf, die geeignet erscheinen könnten, uns von der Liebe zu trennen, die uns zur Herrlichkeit führen will. Aber mag man sie alle der Reihe nach aufzählen, Tod oder Leben, gegenwärtige oder zukünftige Dinge, Gewalten in der Höhe oder in der Tiefe, was sind sie alle? Nichts anderes als geschaffene Dinge, ein Nichts vor dem allmächtigen Schöpfer und gegenüber Seiner nie endenden, alles überwindenden Liebe.

Hörten wir in Verbindung mit den sichtbaren Dingen von der Liebe Christi, hier, wo es sich um die u n s i c h t b a r e n handelt, wird unser Blick gelenkt auf die Liebe G o t t e s, die in Christo Jesu ist, unserem Herrn. „Eine jede ist", wie ein anderer Schreiber gesagt hat, „genau an ihrem Platze. Die Liebe Christi hat sich darin geoffenbart, daß sie hienieden bis zum äußersten für uns gelitten hat, und sie entfaltet sich heute droben in Seiner Verwendung für uns, die jetzt noch da leiden, wo Er gelitten hat; die Liebe Gottes, die uns zwar weniger sichtbar entgegentritt, aber von der­selben Unermeßlichkeit und Unveränderlichkeit ist wie jene, hat alles für uns zuvorverordnet, hat uns alles gegeben, alles in Gnaden vergeben, erhält und umgibt uns auf dem Wege und wird uns trotz aller feindlichen Mächte, die sich ihr entgegenstellen mögen, zu jener Fülle von Liebe, Freude und Herrlichkeit bringen, die allein einen solchen Gott be­friedigen und dem Erlösungswerke eines solchen Heilandes entsprechen kann."

In der wenn auch schwachen Erkenntnis dieser Liebe, mit diesem Schatz von unerschöpflichen Reichtümern im Herzen, mögen wir wohl in die Siegesrufe des Apostels einstimmen, mit denen er dieses Kapitel beginnt und schließt. Keine Ver­dammnis für die, welche in Christo Jesu sind — kein Feind, keine Gewalt, die uns von der Liebe Christi und von der Liebe Gottes zu scheiden vermag! Mag auch alles um uns her in Staub zerfallen, mag alles den Stempel der Sünde und der Entfremdung von Gott tragen, der Glaube schaut über alles hinweg auf die unsichtbaren Dinge, ruht in der Liebe Gottes und steht fest in Kampf und Leid. Durch die Nebel, welche ihm die Aussicht versperren wollen, blickt er hin auf Den, der, nach vollendetem Werke mit Ehre und Majestät gekrönt, sich gesetzt hat zur Rechten Gottes und nun die Seinigen dort erwartet, um sie an Seiner Freude und Herrlichkeit teilnehmen zu lassen mit Frohlocken. 0 das wunderbare Wort: Gott ist für uns!

Kapitel 9-11
Wir sind an einem Wendepunkt in unserem Briefe an­gelangt. Der Apostel hat uns bisher von den finsteren Tiefen des menschlichen Verderbens bis zu den lichten Höhen der göttlichen Gnade geführt. Das 8. Kapitel, das in ergreifender Zusammenfassung die ganze christliche Stellung, das Ergebnis des wunderbaren Wirkens Gottes in Liebe und Gnade, uns noch einmal vor Augen malte, schloß mit der Aufzählung all der Segnungen, die dem Glaubenden heute in Christo zuteil geworden sind. Gott hat Seines Eingeborenen nicht geschont, um uns mit Ihm alles schenken zu können.

Die nächsten drei Kapitel (9—11) leiten uns nun auf ein neues Gebiet, auf dem wir nicht länger mit Dingen beschäftigt werden, die uns zu unserem Frieden und ewigen Heil zu wissen nottun, sondern wo der Geist uns in göttliche Ge­danken und Ratschlüsse einführt. Wir betreten jetzt den Pfad der „Weisheit" und der „Erkenntnis", und so klingt denn auch. dieser Abschnitt nicht aus in einem Lobgesang zum Preise der Liebe Gottes, sondern schließt mit den Worten: „O Tiefe des Reichtums, sowohl der Weisheit als auch der Erkenntnis Gottes! Wie unausforschlich sind seine Gerichte und unausspürbar seine Wege! Denn wer hat des Herrn Sinn erkannt, und wer ist sein Mit­berater gewesen?" (Kap. 11, 33. 34). Der Glaube blickt triumphierend zurück auf die wunderbaren Wege Gottes, über welche die Mitteilungen des Geistes ihn belehrt haben. Ja, Gott will nicht nur, daß Seine Kinder in dem vollen Heil ruhen, das ihnen in Seinem Geliebten geschenkt ist, Er will sie auch zu Mitwissern Seiner Gedanken machen, sie Seinen Sinn erkennen lassen. Wunderbare Gnade!

Die Belehrungen des Apostels in der ersten Hälfte seines Briefes, die in dem unterschiedslosen Verderben von Juden und Heiden, aber auch in dem unterschiedslosen Gnaden­ruf an beide gipfeln, mußten unwillkürlich zu der Frage führen: Wenn Gott Juden und Heiden in sittlicher Beziehung auf einen Boden stellt und nun in der Macht Seiner Liebe und dem Reichtum Seiner Gnade alle Glaubenden errettet und „in Christo" zur Sohnschaft bringt, was wird dann aus den bedingungslosen Verheißungen, die Er Seinem auser­wählten Volke gegeben hat? Wie sind diese mit der unter­schiedslosen Berufung von Heiden und Juden zu den neutestamentlichen Segnungen in Einklang zu bringen? Wenn Israel unter dem Gesetz auch alle Ansprüche an die Segnun­gen, die mit der Erfüllung des Gesetzes verbunden waren, verloren hatte, waren jene Verheißungen doch vor dem Gesetz und ohne Bedingung gegeben worden. (Vergl. 1. Mose 15. 17. 18.) Hatte Gott sie ganz vergessen? Hatte Er Sein Volk für immer verstoßen?

Die Beantwortung dieser Fragen unter der Leitung des Heiligen Geistes erfüllt das Herz des Schreibers selbst mit solcher Bewunderung, daß er am Ende des 11. Kapitels ganz hingerissen in die Worte ausbricht, die wir bereits angeführt haben. Auch wir werden bei näherer Betrachtung überwälti­gende Eindrücke empfangen, einerseits von der Gerechtigkeit und dem heiligen Ernst der Wege Gottes, anderseits aber auch von Seiner unwandelbaren Treue und der unerschütter­lichen Wahrheit Seines Wortes. Laßt uns denn an der Hand des Geistes, der „alles erforscht, auch die Tiefen Gottes" (1. Kor. 2, 10), mit Ehrfurcht diesen neuen Weg betreten!

Kapitel 9
Ehe der Apostel in die eigentliche Behandlung seines Ge­genstandes eintritt, gibt er „seinen Verwandten nach dem Fleische" einen ebenso rührenden wie ergreifenden Beweis von seiner durch nichts auszulöschenden Liebe zu Israel. Man warf ihm, dem Apostel der Nationen, vor, daß er ein Abtrünniger sei, der aus unedlen Beweggründen seine Be­ziehungen zu Israel abgebrochen habe und nun, Gottes Ge­danken in Verbindung mit dem „Samen Abrahams" ver­gessend, sein eigenes Fleisch und Blut verachte.

0 wie wenig kannten die Menschen, die also dachten und redeten, das Herz dieses wunderbaren Mannes! Dieses Herz, das im Anschauen des Zustandes seines geliebten Volkes und der göttlichen Gerichte, die seines Unglaubens und seiner Halsstarrigkeit wegen über Israel gekommen waren, wie aus tausend Wunden blutete! Mit Ausdrücken, wie sie stärker nicht gedacht werden können: „Ich sage die Wahr­heit in Christo, ich lüge nicht, indem mein Gewissen mit mir Zeugnis gibt in dem Heiligen Geiste" — versichert er seine Volksgenossen seiner unveränderten glühenden Zuneigun­gen zu ihnen, und zwar nicht etwa aus der Zeit, da er noch als eifriger, gesetzestreuer Pharisäer in ihrer Mitte gelebt und gewirkt hatte, sondern aus den Tagen nach seiner Berufung zum Apostel Jesu Christi. Anstatt seine „Brüder" zu verachten oder gar zu hassen, anstatt die ihnen von Gott geschenkten Vorrechte aus dem Auge zu verlieren, war sein Herz im Blick auf sie mit „großer Traurigkeit und unauf­hörlichem Schmerz" erfüllt. (V. 2.)

Ja, er hatte, ähnlich wie einst Mose gelegentlich der Aufstellung des goldenen Kalbes Gott gebeten hatte, seinen Namen aus Seinem Buche auszulöschen, gewünscht, für seine Brüder, „durch einen Fluch von Christo entfernt zu sein". Jene große Traurigkeit und jener unaufhörliche Schmerz hatten ihn einmal so überwältigt, daß er einem Wunsche Ausdruck gegeben hatte, der gar nicht erfüllt werden konnte, dessen Erfüllung seinem Volke auch nichts hätte nützen können (genau wie bei Mose), der aber bewies, wie tief und innig er seine Verwandten nach dem Fleische liebte. Es war göttliche Liebe, die sich selbst aufopfernde Liebe Christi, die in ihm, wie einst in Mose, wirkte und beide Männer bereit machte, a l l e s, selbst das Unmögliche, zu tun, um ihren Gegenständen zu dienen.

Dieselbe Liebe läßt den Apostel dann alles aufzählen, was er zum Vorteil seiner Volksgenossen sagen konnte. Wer andere haßt, benutzt jede Gelegenheit, um sie herabzu­setzen und das Gute, das sie besitzen mögen, zu verkleinern; die Liebe tut das Gegenteil. Zunächst waren die „Brüder" des Apostels Israeliten, also Nachkommen jenes Mannes, der mit Gott und Menschen gerungen und obgesiegt hatte. (1. Mose 32, 28.) Ihnen gehörte (selbstverständlich nicht in dem heutigen christlichen Sinne) die Sohnschaft, denn Jehova hatte dem Pharao entbieten lassen: „Mein Sohn, mein erstgeborener, ist Israel", und: „Laß meinen Sohn ziehen!" Ferner die Herrlichkeit (vergl. 2. Mose 29, 43) und die Bündnisse und die Gesetzgebung (wo war ein Volk gleich ihm, das Gott „aus allen Geschlechtern der Erde erkannt", und dem Er solch gute, gerechte Satzungen gegeben hätte?) und der Dienst (zunächst in der Stiftshütte und später im Tempel) und die Verheißungen und die V ä t e r l Und schließlich, als herrliche Krone des Ganzen: aus Israel war, „dem Fleische nach, der Christus (der Messias), welcher über allem ist, Gott, gepriesen in Ewigkeit"!

Mit welch einer Wucht mußten solche Worte auf die Her­zen und Gewissen derer fallen, die dem Apostel solch bitteres Unrecht taten! In der Tat, wenn es einen Mann gab, der das irdische Volk Gottes liebte, so war er es. Er war der letzte, dem man vorwerfen konnte, daß er die Vorrechte Israels unterschätze. Viel eher stand es i h m zu, einen solchen Vor­wurf zu erheben, denn wer von seinen ungläubigen Ver­wandten nach dem Fleische kannte und erkannte das höchste aller ihrer Vorrechte, nämlich daß Christus Jesus, „Gott, ge­offenbart im Fleische", „aus Israel" war? Wer von ihnen trug solches Leid über die Verwerfung Israels, wie Paulus es tat?

Deshalb war er auch der Mann, der Israel darüber belehren konnte, daß Gott Sein Volk nicht „verstoßen" habe, wenn es auch unter den Schlägen Seiner Gerichte so schwer litt und heute noch leidet: weiter aber auch, daß nur die unum­schränkte Gnade Gottes die Grundlage zu ihrer Wieder­herstellung bilden könne, dieselbe Gnade, die den Heiden zuteil geworden war, und die sich ihnen zuwenden wollte, um eine viel herrlichere Erfüllung der ihnen gewordenen Verheißungen herbeizuführen, als sie es je hätten erwarten können. In ihrem Streben, eine eigene Gerechtigkeit aufzurichten, hatten sie die Gerechtigkeit, die aus Glauben ist, nicht erlangt, sondern waren zu einem ungehorsamen und widersprechenden Volke geworden, nach welchem Gott Seine Hände umsonst ausstreckte. (Kap. 10, 3. 21.)

Was konnte ihnen Hilfe bringen? Wir sagten es schon: allein die Unumschränktheit Gottes, die trotz allem in Gnaden handeln und einen „Überrest nach Wahl der Gnade" er­retten konnte. Mochte auch das Volk als Ganzes, statt zu erlangen was es suchte, dem gerechten Zorn anheimfallen, nach Gottes Vorsatz gab es doch noch eine „Auswahl", die das Heil erlangte, während die übrigen verstockt wurden. (Kap. 11, 3—7.)

Im weiteren Verlauf unseres Kapitels besteht dann der Apostel immer wieder auf der Unumschränktheit Gottes und beweist den Juden aus ihrer eigenen Geschichte, daß Gott von jeher nach dieser Unumschränktheit gehandelt hatte. Und wie gut für sie, daß es so gewesen war, und daß Er es immer noch tat! Nur so gab es noch eine Hoffnung für sie; anders wären sie rettungslos verloren gewesen. War aber Sein Wort nicht dadurch „hinfällig geworden" (V. 6), daß Er den Heiden die Gnadentür öffnete? War Er Seinen Verheißungen an die Väter nicht untreu geworden? Nein, Gottes Wort hat noch stets seine Kraft behalten und sich als zuverlässig und treu erwiesen, nur der Mensch, und vor allem der Jude, hat sich als unzuverlässig erwiesen.
Ähnlich wie man es heute macht, suchten die Juden aus den Verheißungen, die Abraham empfangen hatte, eine „Ver­pflichtung" für Gott herzuleiten, die ganze natürliche Nach­kommenschaft des Patriarchen zu segnen (der Ausschluß der Heiden war dabei selbstverständlich). Aber, sagt der Apostel, „nicht alle, die aus Israel sind", sind deshalb Israel, auch sind nicht alle deshalb Kinder, weil sie „Abrahams Same" sind. (V. 6. 7.) Schon hatte der Herr selbst (vergl. Job. 8, 37—39) die Juden auf diesen ernsten Unterschied zwischen Abrahams „Same" und Abrahams „Kindern" aufmerksam ge­macht. Die natürliche Abstammung von Abraham gab niemand ein Anrecht auf die Verheißungen. Und wenn die Juden dies dennoch festhalten wollten, dann mußten sie auch die Wüstensöhne Arabiens, die Beduinen, als gleichberechtigt anerkennen, denn sie waren Söhne Ismaels, des Sohnes Abrahams. Und mit noch größerem Recht die E d o m i t e r, waren sie doch die Nachkommen Esaus, des Zwillingsbruders Jakobs! Das aber wollten sie natürlich nicht. Wie hätte ein Jude mit unreinen Heiden, mit „Hunden", gemeinsame Segnungen haben mögen? Das war völlig aus­geschlossen. Die Verheißungen gehörten nur der Linie Isaaks bzw. Jakobs: „In Isaak wird dir ein Same genannt wer­den" (V. 7).

Wenn das aber so war, dann hatte die natürliche Ab­stammung gar wenig Wert. Was zunächst Ismael angeht, so war er wohl ein wirklicher Sohn Abrahams, aber er war, „nach dem Fleische geboren" (Gal. 4, 23), und das Fleisch nützt vor Gott nichts. „Nicht die Kinder des Fleisches, diese sind Kinder Gottes, sondern die Kinder der Verhei­ßung werden als Same gerechnet" (V. 8). Ähnlich hatte der Apostel schon am Ende des 2. Kapitels gesagt; „Nicht der ist ein Jude, der es äußerlich ist, noch die äußerliche Be­schneidung im Fleische Beschneidung." Nein, die Entschei­dung steht Gott allein zu, und es hat Ihm gefallen, Isaak zu berufen, nicht Ismael. Die Berufung gründete sich auf einen freien Entschluß, auf den „V o r s a t z" Gottes, und war „nach Auswahl" geschehen. „Denn dieses Wort ist ein Verheißungswort: „Um diese Zeit will ich kommen, und Sara wird einen Sohn haben"." (V. 9).

Der Kraft dieser Beweisführung konnte sich kein Jude entziehen, er hätte denn, wie gesagt, die Nachkommen Ismaels und Esaus als gleichberechtigt mit Israel anerkennen müssen. Aber eine andere Einwendung konnte gemacht wer­den. Die Mutter Ismaels war eine ägyptische Magd, eine Sklavin, Isaak aber war von Sara, dem rechtmäßigen Weibe Abrahams, geboren. Doch wie stand es mit Rebekka? Sie war nicht nur keine Magd, sondern entstammte der Familie Abrahams, und sie gebar ihrem Manne Zwillingssöhne. Man könnte sich keinen Fall denken, der für die Beweisführung des Apostels passender gewesen wäre. Esau und Jakob waren Söhne eines Vaters, von derselben Mutter zu der­selben Zeit geboren — und doch sagt Gott zu Rebekka, noch ehe die Kinder geboren waren und weder Gutes noch Böses getan hatten, was einen Unterschied zwischen beiden hätte errichten können: „Der Größere wird dem Kleineren dienen", oder mit anderen Worten; das Erstgeburtsrecht des älteren wird auf den jüngeren übergehen. Warum? Weil Gott es so beschlossen hatte. Es war Sein Vor­satz, Sein unumschränkter Wille bezüglich des kleineren oder jüngeren, „auf daß", wie der Apostel ausdrücklich her­vorhebt, „der Vorsatz Gottes nach Auswahl bestände, nicht aus Werken, sondern aus dem Berufenden" (V. 11). Die Werke der beiden Kinder hatten gar nichts mit der Be­rufung zu tun; noch ehe sie geboren waren, also bevor sie irgend etwas getan hatten, was vielleicht den einen für den Empfang der Segnungen passend, den anderen unpassend hätte erscheinen lassen können, traf Gott Seine Wahl.

Aber, könnte man einwenden, lesen wir nicht gleich nach­her, daß Gott den Jakob geliebt, den Esau aber gehaßt habe? Ja, so steht geschrieben, und es steht uns nicht zu, dieses Wort im geringsten abzuschwächen. Es liegt aber auch kein Grund dafür vor. Beachten wir zunächst, daß Gott jene 10 Worte nicht (wie die anderen) ausgesprochen hat, ehe die Kinder da waren, sondern daß sie sich bei Maleachi, dem letzten aller alttestamentlichen Propheten, finden, der etwa 1400 Jahre nach der Geburt des Zwillingspaares lebte, zu einer Zeit also, als Esau längst seine böse, „ungöttliche" Ge­sinnung, und seine Nachkommen, die Edomiter, ihre un­versöhnliche Feindschaft gegen Israel geoffenbart hatten. Wenn Gott also sagt, daß Er den Jakob geliebt, den Esau aber gehaßt habe, so fand die Liebe ihre Quelle in Seinem Herzen — sie war frei und unverdient —, während der Haß seine Grundlage in dem sittlichen Verhalten Esaus hatte. Beide Kinder waren in Sünde geboren und sind auch zweifel­los beide in Sünden aufgewachsen; aber an dem einen erfüll­ten sich die Gnadenratschlüsse Gottes, während der andere die gerechte Strafe für seine bösen Wege fand.

Da der Ausspruch des Propheten Maleachi gerade in der hier vorliegenden Verbindung manchem Leser Schwierig­keiten bereitet und schon oft zu falschen Auslegungen ge­führt hat, möchte ich nochmals ausdrücklich betonen, daß er erst lange nach dem Tode der beiden Söhne Isaaks gefallen ist. In 1. Mose 25 finden wir nichts davon. Es kann also aus ihm nicht der Schluß gezogen werden, daß Gott i m v o r a u s den einen Sohn geliebt, den anderen gehaßt und so das ewige Los beider von vornherein bestimmt habe; auch nicht, daß Er in Seiner göttlichen Kenntnis vorausblickend so ge­redet habe. Beides ist falsch; aber der Mensch schließt so gern aus der Auswahl des einen die Verwerfung des anderen. Nein, die Sache liegt so: wenn Gott von zwei Menschen, die beide keinerlei Ansprüche an Ihn machen können, den einen, wie es hier geschieht, zu einem bevorzugteren Platz erwählt als den anderen, so ist das Sein unumschränkter Wille, und wer kann zu Ihm sagen: „Warum tust du also?" Wenn es Ihm gefällt, sich in Seiner Gnade an einem Menschen zu ver­herrlichen, wer hat ein Recht, Ihm einen Vorwurf daraus zu machen? — Zugleich bedingt die Erwählung des einen keines­wegs die Verdammnis des anderen.
Aber nun wird ein zweiter Einwurf laut: „Was sollen wir nun sagen? Ist etwa Ungerech­tigkeit bei Gott? Das sei ferne!" (V. 14).

Der Mensch, die fleischliche Vernunft, fragt allerdings: Wenn Gott von zwei gleich sündigen Menschen den einen errettet, den anderen verloren gehen läßt, handelt Er dann nicht ungerecht? Die Frage an und für sich beweist schon die Überhebung des menschlichen Herzens, indem sie für den Menschen das Recht in Anspruch nimmt, Gott be­urteilen und richten zu können, anstatt sich von Ihm be­urteilen zu lassen und sich Seinem Gericht zu unterwerfen. Es kann nicht anders sein: sobald ich die Unumschränktheit Gottes in Frage ziehe, werfe ich mich zum Beurteiler und Richter Gottes auf. Nicht Er richtet, sondern ich richte. Die natürliche Gesinnung des Menschen empört sich allerdings gegen eine Wahrheit, die gerade der göttlichen Natur ent­springt, sich auf sie gründet. Ist Gott Gott, so m u ß Er souve­rän sein in all Seinem Tun. Jede Lehre, die Gottes unum­schränkte Majestät leugnet, oder Ihn als gleichgültig der Sünde und dem Elend des Menschen gegenüber hinstellen will, ist der Wahrheit entgegen und Gottes unwürdig. Gott ist Licht, und das Licht kann sich unmöglich mit der Finster­nis im menschlichen Herzen vereinigen; Gott ist Liebe, und die Liebe ist frei, in Heiligkeit ihrer Natur nach zu handeln.

Der Mensch, unwissend über sich selbst und Gott, leugnet freilich sein völliges Verderben, lehnt sich auf gegen Gottes Wort und kritisiert Seine Wege. Aber indem er das tut und sich Gott gegenüber sogar auf den Boden der „Gerechtigkeit" zu stellen wagt, spricht er sich selbst das Urteil und recht­fertigt Gott, wie wir es in dem vorliegenden Falle in der Geschichte Israels sogleich sehen werden. Auf die Frage der Juden: »Ist etwa Ungerechtigkeit bei Gott?" und das „das sei ferne l" des Apostels, folgt unmittelbar das Wort: „Denn er sagt zu Moses: „Ich werde begnadigen, wen ich begnadige, und werde mich erbarmen, wessen ich mich erbarme"."

Auf den ersten Blick möchte uns diese Anführung seltsam erscheinen, aber wenn wir uns ins Gedächtnis rufen, bei welcher Gelegenheit die Worte gesprochen wurden, werden wir (wie so oft bei der Betrachtung des Wortes) die Ent­deckung machen, daß gerade das vermeintliche Nichtangebrachtsein sich ins Gegenteil verwandelt. Der scheinbare Mißklang wird zum herrlichsten Wohlklang. Je näher wir die Umstände ins Auge fassen, die zu jenem Ausspruch führten, desto klarer erkennen wir die schlagende Beweis­kraft der Antwort des Apostels. Wir erkennen, daß in der ganzen Bibel sich keine Stelle findet, die in diesem Falle mehr angebracht gewesen wäre, als gerade diese.

Israel hatte am Berge Sinai, bis wohin Gottes Gnade sie auf Adlers Flügeln getragen hatte, auf die von Gott gestellte Bedingung: „Wenn ihr fleißig auf meine Stimme hören und meinen Bund halten werdet", geantwortet: „Alles, was Jehova geredet hat, wollen wir tun." Anstatt sich auch weiter­hin jener Gnade anzuvertrauen, maßten sie sich an, trotz all der beschämenden Erfahrungen, die sie bereits gemacht hatten, in eigener Kraft die Gebote Gottes zu erfüllen.

Die Folge war das Bündnis des Gesetzes, die Mitteilung der gerechten und heiligen Forderungen Gottes an den Men­schen im Fleische. Damit begann die eigentliche Geschichte Israels als Volk. Mose stieg auf den Berg, um die Gebote Gottes entgegenzunehmen. Als er verzog, wurde das Volk ungeduldig und veranlaßte Aaron zur Anfertigung und Aufstellung des goldenen Kalbes. Indem Israel so das erste und größte Gebot gröblich brach, blieb nichts anderes als ein unmittelbares, vernichtendes Gericht für sie übrig. Kaum hatte seine Geschichte als Volk begonnen, so büßte es schon mit einem Schlage alles ein, worauf es unter der Bedingung eines willigen Gehorsams Anspruch hatte. Der Gott, der die Verheißungen gegeben hatte und sie allein erfüllen konnte, war aufs schwerste beleidigt worden. Sein Bund war gebrochen. Was blieb für Israel übrig? Wenn Gott mit Seinem Volke in Gerechtigkeit handeln wollte, und auf dem Boden des Gesetzes konnte Er nicht anders, so mußten alle getötet werden. Ein Entrinnen war unmöglich.

Alle Juden, die die Geschichte jener Tage kannten, mußten die Richtigkeit der Beweisführung zugeben. Wollten sie also auf „Gerechtigkeit" Gott gegenüber bestehen, so wäre das Los Israels damals für immer entschieden gewesen, wie Gott denn auch zu Mose sprach: „Ich habe dieses Volk gesehen, und siehe, es ist ein hartnäckiges Volk; und nun laß mich, daß mein Zorn wider sie entbrenne und ich sie ver­nichte" (2. Mose 32, 9. 10). Wahrlich, nicht „um ihrer Ge­rechtigkeit willen" hatte Gott ihnen das gute Land gegeben (5. Mose 9, 6), sondern weil Er der Fürbitte Moses (eines Vorbildes von Christo) Gehör schenkte und sich auf den Boden Seiner unumschränkten Gnade zurückzog:

„Ich werde alle meine Güte vor deinem Angesicht vorübergehen lassen . . . und ich werde begnadigen, wen ich begnadigen werde usw." (2. Mose 33, 19). Nur so konnte Er sich des Übels gereuen lassen, das Er geredet hatte (Kap. 32, 14), nur so die Missetat vergeben. Ja, mehr noch; gerade in der Hartnäckigkeit des Volkes, die auf dem Boden der Ge­rechtigkeit das Gericht herbeiführte, konnte die Gnade einen Beweggrund für Gott finden, in der Mitte des Volkes hinauf­zuziehen: „Wenn ich doch Gnade gefunden habe in deinen Augen, Herr", so betete Mose in Kapitel 34, 9, „so ziehe doch der Herr in unserer Mitte; denn es ist ein hart­näckiges Volk".

Wie wunderbar ist das alles! Wenn der Mensch hoffnungs­los verloren ist auf Grund seines Tuns, wenn die Gerechtig­keit Gottes nur Zorn und Gericht über ihn bringen kann wegen seines Ungehorsams und seiner Sünde, wenn das Gesetz ihn verfluchen und zum Tode verurteilen muß, hat Gott doch noch Hilfsquellen in sich, zu denen Er Zuflucht nehmen kann. Vorausblickend auf den kommenden großen Mittler, der hier in Mose ein so liebliches Vorbild findet, konnte Gott Gnade und Erbarmen üben, und zwar, beachten wir es wohl, an wem Er wollte, nach dem Vorsatz Seiner freien, bedingungslosen Gnade.

„Also nun liegt es nicht an dem Wollenden noch an dem Laufenden, sondern an dem begnadigenden Gott" (V. 16). Doch wenn Gott begnadigen will, wie groß sind dann die Sünden eines Menschen, der sich diesem Begnadigungswillen widersetzt und Gottes Absichten zu durchkreuzen sucht! Auch diese Seite muß hervorgehoben, und es muß gezeigt werden, wie Gott mit einem solchen Menschen handelt. Gott muß auf der ganzen Erde bekannt werden als der Gott, der sich nicht ungestraft spotten läßt. Unter diesem Gesichtspunkt betrach­tet, verstehen wir gut das nun folgende Wort: „Denn die Schrift sagt zum Pharao: „Eben hierzu habe ich dich erweckt, damit ich meine Macht an dir erzeige, und damit mein Name verkündigt werde auf der ganzen Erde." So denn, wen er will begnadigt er, und wen er will verhärtet er" (V. 17. 18).

Der Pharao sollte für alle Zeiten als ein Beispiel dafür dastehen, was Jehova, der Gott Israels, mit einem Menschen zu tun vermag, der auf Sein Gebot: „Laß mein Volk Israel ziehen, daß sie mir ein Fest halten in der Wüste", in maß­loser Überhebung zu sagen wagte; „Wer ist Jehova, auf dessen Stimme ich. hören soll? . . . Ich kenne Jehova nicht, und ich werde Israel nicht ziehen lassen", und der im Anschluß an diese lästerlichen Worte befahl, den ohnehin schon so harten Dienst der Israeliten noch zu er­schweren und Unmögliches von ihnen zu fordern. (2. Mose 5, 1 ff.) In dem an und für sich schon hochmütigen und grau­samen Menschen rief Gottes Botschaft nur den Entschluß wach, sich dem Willen Gottes zu widersetzen und Seine Pläne zunichte zu machen. Beachten wir zugleich, daß sein Zustand immer böser wurde, je länger Gott mit ihm redete. Siebenmal lesen wir: „Das Herz des Pharao verhärtete (oder verstockte) sich", oder: „Der Pharao verstockte sein Herz"; schließlich erst, nachdem die schwersten Plagen über ihn ge­kommen waren, und sogar seine eigenen Weisen und Zauber­künstler hatten eingestehen müssen: „Das ist Gottes Finger!" wird gesagt: „Und Jehova verhärtete das Herz des Pha­rao." Und als er endlich seine Zustimmung zum Auszug Israels gegeben hatte, offenbarte sich die unverbesserliche Bosheit seines Herzens wiederum darin, daß er wutschnau­bend mit einem gewaltigen Heere dem Volke nachzog, immer noch wähnend, Jehovas erhobenem Arm widerstehen zu können. Ist's ein Wunder, daß Gott ihn endlich in richter­licher Weise verhärtete und für alle Zeiten als ein warnendes Beispiel hinstellte? Gott bestimmt nie einen Menschen zur Verhärtung, Er macht nie einen Menschen böse, nein, der Mensch, durch seinen Fall unter die Gewalt der Sünde gekommen, schreitet von Bösem zu immer Böserem.

Was hat also Gott in dem Falle des Pharao getan? Er hat diesen Mann zu der gewaltigen Höhe, auf der er stand, emporsteigen lassen, damit sein kläglicher Untergang im Schilfmeere für alle Zeiten kundtue, was es ist, seinen Nacken gegen Gott zu verhärten. Seine Geschichte redet heute noch zu den Gewissen der Menschen.

Ganz ähnlich wie dem Pharao ist es dem Volke Israel ergangen, nur mit dem Unterschied, daß dieses Volk hier und so oft in späteren Tagen der Gegenstand der errettenden oder wiederherstellenden Gnade Gottes gewesen ist. Diese Tatsache macht seine Verantwortlichkeit umso größer und seinen Fall umso tiefer. Anstatt auf die ernsten Mahnungen Gottes zu hören, empörten sie sich gegen Ihn, warfen Sein Gesetz hinter ihren Rücken und verübten große Schmähun­gen. Ja, sie „verspotteten die Boten Gottes und verachteten seine Worte und äfften seine Propheten (geradeso wie der Pharao), bis der Grimm Jehovas gegen sein Volk stieg, daß keine Heilung mehr war". (Vergl. Neh. 9, 26—29; 2. Chron. 36, 14—16.) Wieder möchten wir fragen: Ist es ein Wunder, wenn Gott endlich Seinem Propheten Jesajas die Worte zu­ruft: „Mache das Herz dieses Volkes fett, und mache seine Ohren schwer, und verklebe seine Augen: damit es mit seinen Augen nicht sehe und mit seinen Ohren nicht höre und sein Herz nicht verstehe und es nicht umkehre und geheilt werde"? Geistliche Verblendung und Verhärtung kam von seilen Gottes über ihre bösen, widerspenstigen Herzen, und als der Herr Jesus später in ihre Mitte trat, da „glaubten sie nicht an ihn", ja, sie „konnten nicht glauben, weil Jesajas gesagt hat: „Er hat ihre Augen verblendet usw."." (Jes. 6, 8—l0; Joh. 12, 37—40). In ähnlicher Weise schreibt der Apostel Petrus von den „Ungehorsamen" unserer Tage, daß sie gesetzt worden sind, sich an dem Worte zu stoßen. (1. Petr. 2, 7. 8.) Gott hat diese hochmütigen Menschen, gleich dem Pharao vor alters, gesetzt, um als warnende Bei­spiele für andere zu dienen. Er hat sie nicht ungehorsam gemacht, aber Er hat sie, vielleicht nach zahlreichen ver­geblichen Mahnungen, der Härte ihrer Herzen hingegeben.

So liegt denn in beiden Fällen, ob Gott den Menschen begnadigt oder verhärtet, die Ungerechtigkeit nicht auf Got­tes, sondern auf des Menschen Seite, der, soweit es ihn be­trifft, unverbesserlich böse und verderbt ist; und in beiden Fällen, sei es in Gnade oder in Gericht, handelt Gott zur Verherrlichung Seines großen Namens. Alle, die auf Gottes Wort achten und geistliches Verständnis haben, werden hier­in auch kaum eine Schwierigkeit finden; nur die menschliche Vernunft zieht immer wieder ihre verkehrten Schlüsse. In­dem der Apostel, durch den Geist Gottes geleitet, diese Schlüsse einen nach dem anderen aufzählt, begegnet er ihnen zugleich in einer Weise, die unsere ungeteilte Bewunderung wachruft. Wir kommen jetzt zu dem letzten derselben:

„Du wirst nun zu mir sagen: Warum tadelt er noch? Denn wer hat seinem Willen widerstanden?" (V. 19). Mit anderen Worten: Wenn Gott begnadigt, wen Er will, was kann ich dann dazu beitragen? und wenn Er verhärtet, w e n E r will, was kann ich dagegen tun? Ist Er der unumschränkte Gott, so bleibt mir nichts anderes übrig, als mich Seinem Willen zu unterwerfen.
Der Einwand scheint begründet zu sein. Warum tadelt Gott noch? Wenn alles sich schließlich Seinem Willen und Ratschluß unterwerfen muß, so kann der Mensch für das Endergebnis doch nicht verantwortlich gemacht werden! Der Ausgang des Weges seines Lebens steht ja bei Gott! Das erinnert uns unwillkürlich an die Entschuldigungen des ersten Menschenpaares nach dem Sündenfall. Auch damals suchten Adam und Eva die Verantwortlichkeit für das Geschehene Gott zuzuschieben. Warum hatte Er der Schlange den Zu­gang zu dem Garten Eden gestattet? Warum dem Manne das Weib gegeben, das ihn betrügen sollte? — In Römer 9 lauten die Fragen ja anders, aber der Grundsatz ist derselbe: Gott ist schuldig, nicht der Mensch. Warum errettet Er den einen und verwirft den anderen? Was kann der Mensch dazu, wenn Gott ihn verhärtet?

Noch einmal sei es gesagt, daß alle diese Fragen und Schlußfolgerungen einerseits die Herrlichkeit Gottes außer acht lassen und andererseits die Verantwortlichkeit des Ge­schöpfes vergessen. Gottes unumschränkter Vorsatz — und wie wäre Er Gott, wenn Er nicht unumschränkt wäre? — hebt die Verantwortlichkeit des Menschen nicht auf. Nehmen wir als erläuterndes Beispiel das Kreuz. Der bestimmte Ratschluß, daß der Geliebte Gottes leiden sollte, war schon vor Grund­legung der Welt gefaßt; Gott hatte Jesum nach Seiner Vor­kenntnis zuvorbestimmt, das Lamm zu werden, das die Sünde der Welt wegnimmt. Aber verminderte das irgendwie die Schuld des Menschen? Nicht im geringsten! Juden und Heiden fanden sich an jenem Tage zusammen und wurden Freunde in ihrer gemeinsamen Feindschaft gegen Gott und Seinen Gesalbten; und obwohl ihr Tun die Stimme der Propheten erfüllte und Gott Gelegenheit gab, Sein heiliges Urteil über die Sünde zu vollziehen und das wunderbare Werk Seiner Gnade auszuführen, waren und blieben sie doch schuldig der Verwerfung und Ermordung des Sohnes Gottes. (Vergl. Apstgsch. 2, 22. 23.) Beide Dinge gingen nebeneinander her.

Die Schlußfolgerung, aus welcher die Frage: „Warum tadelt Er noch?" herauswächst, ist also durchaus trüglich. Wenn Gott in der Größe Seiner Weisheit und dem Reichtum Seines Erbarmens das böse Tun des Menschen zur Erfüllung Seiner Ratschlüsse ausschlagen läßt, so ist das eben Sein unum­schränktes Walten, läßt aber den Willen des Menschen immer als das bestehen, was er ist: böse und unentschuldbar. Freilich, wenn es wahr wäre, was die streng calvinistische Theologie lehrt, daß Gott die, welche verloren gehen, zur Verdammnis zuvorbestimmt habe, so läge der Fall schwierig. Aber Gott sei gepriesen! Es ist nicht wahr. Die Schrift redet niemals so, wenngleich es einige Stellen geben mag, die jene Meinung zu stützen scheinen.

Wie liegen denn die Dinge? Ehe der Apostel dazu über­geht, die gestellte Frage zu beantworten, betont er, wie schon wiederholt bemerkt, die Unumschränktheit Gottes, das erste Seiner Rechte, und zeigt dem Fragenden die Verkehrt­heit seines Herzens. Würde wohl ein Mensch, dessen Ge­wissen irgendwie wach und tätig ist, so reden können, wie es hier geschieht? Nimmermehr wird eine bußfertige Seele Gott Ungerechtigkeit zuschreiben oder Ihn beschuldigen, Er sei verantwortlich für das Verlorengehen eines Menschen. Wer eine solch böse Sprache führt, beweist damit nur die natürliche Blindheit und den Hochmut seines Herzens. „Ja, freilich, o Mensch, wer bist du, der du das Wort nimmst wider Gott? Wird etwa das Geformte zu dem Former sagen: Warum hast du mich also gemacht? Oder hat der Töpfer nicht Macht über den Ton, aus derselben Masse ein Gefäß zur Ehre und ein anderes zur Unehre zu machen?" (V. 20. 21). Wenn aber das Geschöpf schon solche Macht hat — und wer will das bestreiten? — wieviel mehr dann der Schöpfer!

„Warum hast du mich also gemacht?" Diese Frage im Munde eines Menschen Gott gegenüber, sagt letzten Endes nichts anderes als dies: Gott hat kein Recht, das Böse zu richten, und wenn Er nicht alle begnadigen und retten will, so darf Er wenigstens niemand bestrafen. Jede gerechte Regierung und Vergeltung ist damit beseitigt, und Gott ist gezwungen, das Böse in einer Weise zu dulden, wie es kein ehrbarer Mensch in seinem Hause oder in seiner Umgebung dulden würde. Daß Gott den Menschen gut und aufrichtig geschaffen und ihn ernst und eindringlich vor der Sünde und ihren Folgen gewarnt hat, daß aber der Mensch der Versuchung unterlegen ist und nachher Sünde auf Sünde, Gewalttat auf Gewalttat gehäuft hat — alles das wird ab­sichtlich übersehen oder entschuldigt.

Aber man könnte fragen: Liegt in den Worten des Apo­stels, daß der Töpfer nach seinem Belieben aus demselben Ton ein Gefäß zur Ehre und ein anderes zur Unehre zu machen vermag, nicht doch eine Bestätigung dessen, was man Gott zum Vorwurf macht? Tatsächlich ist die Sprache des Apostels kühn, und selbst verständige Männer und einsichts­volle Ausleger des Wortes Gottes sind an dieser Stelle irre geworden, indem sie vergaßen, daß dem Schreiber zunächst nur daran lag, die Unumschränktheit Gottes in ihrer ganzen Unverletzlichkeit aufrecht zu halten, und es weiter über­sahen, daß Gott von Seinem Rechte gar nicht in der Weise Gebrauch gemacht hat, wie man es nach dem Bilde von dem Töpfer erwarten sollte. Die beiden nächsten Verse werden uns darüber belehren, wie Gott gehandelt hat; aber es war Gott gegenüber geziemend und für den Menschen nützlich, vorher die unumschränkten Rechte Gottes festzustellen. Wie selten denken gerade solche, die immer wieder von „Rechten" reden, daran, daß Gott auch Rechte hat! Ja, wenn es über­haupt Rechte gibt, so müssen die Seinigen als Schöpfer die höchsten, ja, unumschränkt sein, vor allem wenn wir uns daran erinnern, daß wir nicht nur Geschöpfe, sondern g e f a 11 e n e Geschöpfe, Sünder, sind, die notwendigerweise die Früchte ihres bösen Tuns ernten müssen.

Doch hören wir, wie der Apostel die schwierige Frage be­antwortet: „Wenn aber Gott, willens, seinen Zorn zu er­zeigen und seine Macht kundzutun, mit vieler Langmut er­tragen hat die Gefäße des Zornes, die zubereitet sind zum Verderben, — und auf daß er kundtäte den Reichtum seiner Herrlichkeit an den Gefäßen der Begnadigung, die er zur Herrlichkeit zuvorbereitet hat . . . ? uns, die er auch berufen hat, nicht allein aus den Juden, sondern auch aus den Nationen" (V. 22—24).

Wir haben weiter oben schon darauf aufmerksam gemacht, daß Gott notwendigerweise einmal Seinen Zorn über all das Böse, das in dieser Welt geschehen ist und geschieht, er­weisen und an den hochmütigen, eigenwilligen Menschen Seine Macht kundtun muß, wenn Er anders Seinen Charakter als der heilige Gott aufrecht halten will. Wie nun, wenn Er bis heute diesen Zorn und diese Macht nicht kundgetan, sondern statt dessen, „mit vieler Langmut" die Gefäße des Zorns ertragen hat — kann man Ihm dann mit irgend­welchem Recht den Vorwurf der Unbarmherzigkeit oder der Ungerechtigkeit machen? Könnte der dreimal heilige Gott dem Bösen gegenüber gleichgültig bleiben oder gar Gemein­schaft mit ihm haben? Unmöglich! Und doch hat Er, trotzdem der Mensch, solang seine Geschichte währt, nicht aufgehört hat, Ihn durch die Verachtung aller Seiner Rechte zu reizen und Ihn durch seinen unglaublichen Hochmut, durch Sitten-losigkeit, Götzendienst, Fluchen und Lästern herauszufor­dern, bis heute gezögert, das tausendfach verdiente Gericht auszuführen. Wie gnädig und langmütig ist Er also gewesen! Er hat „die Gefäße des Zorns", d. h. die Menschen, an denen Er Seinen Zorn erzeigen will, in wunderbarer Güte und Nach­sicht getragen, ja, hat ihnen nichts als Gnade erwiesen, indem Er immer wieder zu ihnen redete, „früh sich aufmachend", wie einst bei Israel. Aber was haben sie demgegenüber ge­tan? Sie haben all Seinen Rat verworfen und Seine Zucht nicht gewollt! Tut Er recht, wenn Er sie essen läßt von der Frucht ihres Weges und sie sich sättigen läßt von ihren Ratschlägen? (Vergl. Spr. 1. 24—33.)

Der Apostel nennt diese Menschen, im Anschluß an das Bild von dem Töpfer, „Gefäße des Zornes", wie er auf der anderen Seite diejenigen, welche sich Gott unterwerfen und Seinem Worte glauben, als „Gefäße der Begnadigung" be­zeichnet. Beide sind auf dem Wege zu ihrem endlichen Ziele, zum Verderben oder zur Herrlichkeit. Beide sind dazu „be­reitet". Aber übersehen wir nicht den großen Unterschied in der Art der Zubereitung! Viele haben ihn übersehen und dadurch den Sinn oder doch die Kraft der Beweisführung des Apostels nicht erfaßt. Von den Gefäßen des Zornes sagt er nur: „zubereitet zum Verderben", von den Gefäßen der Be­gnadigung aber: „die e r (Gott) zur Herrlichkeit zuvor be­reitet hat". Von den Gefäßen des Zornes wird weder hier noch an irgend einer anderen Stelle gesagt, daß Gott sie zum Verderben zubereitet habe; nein, sie selbst haben es getan durch ihre Sünden und vor allem durch ihren Un­glauben und ihre Auflehnung gegen Gott. Die Gefäße der Begnadigung aber hat Gott bereitet, und zwar z u v o r-bereitet und zur Herrlichkeit bestimmt. S i e haben nichts dazu beigetragen, alles ist G o 11 e s Werk, ausgeführt „nach seinem eigenen Vorsatz und der Gnade, die uns in Christo Jesu vor den Zeiten der Zeitalter gegeben worden ist" (2. Tim. 1. 9).

So ist denn wiederum das Böse nur auf des Menschen, nicht auf Gottes Seite, und anderseits kommt das Gute nur von Gott, nicht von uns. Ferner bestätigt sich wieder, daß der Vorsatz Gottes nach Auswahl besteht, nicht aus Werken, sondern aus dem Berufenden. (V. 11.) Die Gefäße der Be­gnadigung sind nicht etwa zur Herrlichkeit bestimmt, weil sie sich vor anderen durch besondere Vorzüge oder geistliche Tugenden ausgezeichnet haben, sondern Gott hat sie nach Seiner unumschränkten Auswahl, „nach Wahl der Gnade", bedingungslos zur Herrlichkeit zuvorbereitet. Daß sie im Laufe der Zeit berufen, gerechtfertigt usw. werden mußten (vergl. Kap. 8, 29. 30), und daß Gott das eine Gefäß mit mehr geistlichen Kräften und Gnadengaben füllt, als das andere, ist gewiß so, aber alle sind von Ihm zuvorbereitet worden, ehe eines von ihnen da war, und zwar bereitet für Seine eigene Herrlichkeit. Darum, wie wir schon wiederholt betonten, werden sie alle dereinst nur Gottes unergründ­liche, nie fehlende Gnade rühmen. Voll und ganz wird das Wort in Erfüllung gehen: „Wer sich rühmt, der rühme sich des Herrn!"

Wenn diese Fülle der Gnade vor die Seele des Apostels tritt, kann er nicht anders, als auf ihre herrlichste Darstellung hindeuten, wie sie sich in der Berufung der Gläubigen „nicht allein aus den Juden, sondern auch aus den Nationen" (V. 24) erwiesen hat. Hat die Erprobung des meistbegünstigten Vol­kes dieser Erde nur in hoffnungsloser Verschuldung und unheilbarem Verfall geendet, so daß nichts anderes als Zorn und Gericht übrigblieb, so haben sich die Schleusen der göttlichen Barmherzigkeit geöffnet, um aus Judenund Heiden ein Volk für die himmlische Herrlichkeit zu be­rufen. Je größer die Not, je tiefer das Verderben, desto weiter öffnet sich das Feld für Gott, um die Herrlichkeit Seiner Gnade zu offenbaren.

Der Apostel führt jetzt zwei Stellen aus dem Propheten Hosea an, Kapitel 1. 10 und 2, 23, um zu zeigen, daß Gott schon in jenen alten Tagen durch Seinen Geist auf diese Dinge hingewiesen hatte. Petrus, der ausschließlich an Gläubige aus Israel schreibt, beschränkt sich auf die Anführung der zweiten Stelle, (1. Petr. 2, 10.) In Verbindung mit dem Gedanken an die Einführung der Heiden, nennt der Apostel der Nationen beide. Im 25. Verse betont er zunächst, daß Gott Seines Ratschlusses im Blick auf Israel gedenken und das Volk, das jetzt den Namen „Nicht-mein-Volk" trägt, am Ende der Tage wieder „Mein Volk" und „die Nicht-Geliebte Geliebte" nennen wird. Im 26. Verse lenkt er dann unsere Aufmerksamkeit auf die Tatsache, daß die zweite ange­führte Stelle eine Anspielung auf die Heiden enthält: „Und es wird geschehen, an dem Orte, da zu ihnen gesagt wurde: Ihr seid nicht mein Volk, daselbst werden sie Söhne des lebendigen Gottes genannt werden." Dieser Titel ist das besondere Vorrecht der Gläubigen aus den Nationen, nicht der Juden als des irdischen Eigentums­volkes Gottes.

Die Beweisführung des Apostels ist also einfach und klar. Die im 23. Verse ausgesprochene Gnadenberufung Gottes aus Juden und Heiden war nicht ein neuer, dem Alten Testament völlig fremder Gedanke, sondern stimmte mit dessen Belehrungen durchaus überein. Schon durch Hosea hatte Gott davon gesprochen, daß Er sich Seiner unum­schränkten Gnade zu Gunsten von Juden und Heiden be­dienen wolle.

Aber auch andere Propheten hatten ähnliches bezeugt. So hatte Jesajas mit der Ankündigung der ernsten Gerichte, die über Israel kommen sollten, den Ruf verbunden, daß ein Überrest errettet werden würde. Denn Gott würde eine abgekürzte Sache auf Erden tun und die Sache vollenden in Gerechtigkeit. Ja, schon in Kapitel 1. 9 hatte Jesajas geweis­sagt: „Wenn nicht der Herr Zebaoth uns Samen übriggelassen hätte, so wären wir wie Sodom geworden und Gomorra gleich geworden." Auf Grund Seiner Gerechtigkeit hätte Gott das ganze Volk vernichten müssen, aber hinblickend auf Seine bedingungslose Verheißung konnte und kann Er in Gnaden mit ihm handeln und ihm „einen Samen übriglas­sen". Die Barmherzigkeit rühmt sich wider das Gericht.

Ach, wenn Israel nur auf diese mit der Androhung ver­nichtender Gerichte verbundenen Hinweise auf Gottes Han­deln in Gnade gehört hätte! Aber sie hatten ihre Ohren ver­schlossen und ihre Herzen verhärtet und taten es immer noch.

„Was sollen wir nun sagen?" Oder: Zu welchem Ergebnis sind wir gelangt? Zu dem, „daß die von den Nationen, die nicht nach Gerechtigkeit strebten, Gerechtigkeit erlangt haben, eine Gerechtigkeit aber, die aus Glauben ist; Israel aber, einem Gesetz der Gerechtigkeit nachstrebend, nicht zu diesem Gesetz gelangt ist" (V. 30. 31). Die vergangene Ge­schichte Israels und die Lage des Volkes in jenen Tagen bewiesen deutlich, wie wahr die Propheten geredet hatten. Warum war Israel nach Assyrien und Babel weggeführt wor­den? Weshalb standen sie zur Zeit unter der Herrschaft eines heidnischen Tyrannen? Und mehr noch: was war in sittlicher Beziehung aus ihnen geworden? Auf dem Boden des Ge­setzes stehend, hatten sie nach einer äußeren, gesetzlichen Gerechtigkeit gestrebt und keine Gerechtigkeit erlangt. Da­gegen war auf gerechter Grundlage die Gnade Gottes gegen solche überströmend geworden, die fern von Gott in der Finsternis ihrer Herzen dahingingen. Heiden, die „ohne Hoffnung" in der Welt standen und der Gerechtigkeit nicht nachstrebten, hatten umsonst Gerechtigkeit erlangt, und zwar eine Gerechtigkeit aus Glauben, erreichbar also für alle, die ohne Gesetz lebten, aber auch für alle aus Israel, die in der Erkenntnis ihres traurigen Zustandes bereit waren, zu der Gnade ihre Zuflucht zu nehmen.

Und warum waren die Juden nicht zur Gerechtigkeit gelangt? Eben weil sie ihr „nicht aus Glauben, sondern als aus Werken" nachgestrebt hatten. (V. 32.) In ihrem Hoch­mut wähnend, den heiligen Gott mit ihren gesetzlichen Wer­ken befriedigen zu können, ja, stolz auf ihre nationalen Vor­züge und ihre vermeintliche Gerechtigkeit, hatten sie sich an Christo, dem Stein, den Gott in Gnaden in Zion gelegt hat, gestoßen. Hätten sie nicht einen solchen Heiland dankbar begrüßen sollen? Statt dessen war Er ein „Stein des An­stoßes" für sie geworden. Anstatt an Ihn zu glauben und so Seiner „Kostbarkeit" teilhaftig zu werden, hatten sie sich an Ihm geärgert, wie geschrieben steht: „Siehe, ich lege in Zion einen Stein des Anstoßes und einen Fels des Ärgernis­ses, und wer an ihn glaubt, wird nicht zuschanden werden."

Es ist interessant zu sehen, wie der Heilige Geist durch den Apostel die beiden Aussprüche des Propheten Jesajas in Kapitel 8, 14 und 28, 16 hier miteinander verbindet.

Kapitel 10
Der Apostel setzt in diesem Kapitel die Behandlung der angeregten Frage fort. Wenn die Masse des jüdischen Volkes dem Gericht verfallen war und nur ein Überrest mit den Gläubigen aus den Nationen gesegnet werden sollte, lag dann vielleicht eine endgültige Verwerfung Israels in Gottes Gedanken? Hatte Er gar Sein Volk verstoßen? Indem er die eingehende Antwort dieser Frage erst im nächsten Kapitel bringt, betont der Apostel hier, wie im Anfang des 9. Kapitels, zunächst seine eigene Stellung zu diesem Volke. Die ernsten Wege Gottes mit Israel hatten nicht etwa seine Gefühle für seine Brüder erstickt, sie hatten im Gegenteil dazu gedient, in seinem Herzen ein heißes, dringendes Flehen für sie wachzurufen, „ein Flehen zu Gott um ihre Errettung". Die Liebe läßt sich nicht erbittern. Sie sucht nach Grün­den, um das Tun des anderen im mildesten Licht darzustellen, und handelt so in Übereinstimmung mit Gott, der „den gan­zen Tag seine Hände ausbreitet zu einem widerspenstigen Volke" (Jes. 65, 2).

„Brüder! das Wohlgefallen meines Herzens und mein Flehen für sie zu Gott ist, daß sie errettet werden. Denn ich gebe ihnen Zeugnis, daß sie Eifer für Gott haben, aber nicht nach Erkenntnis" (V. 1. 2). Danach waren also nicht Un­glaube und Bosheit die Ursache ihres traurigen Zustandes, nein, die Liebe erkennt in ihrem Tun einen Eifer für Gott, der allerdings nicht mit Erkenntnis verbunden war. Und gerade dieser Eifer verdoppelte die Gefühle des Apostels für sie und vertiefte seine um sie sorgende Liebe. „Denn da sie Gottes Gerechtigkeit nicht erkannten und ihre eigene Ge­rechtigkeit aufzurichten trachteten, haben sie sich der Ge­rechtigkeit Gottes nicht unterworfen" (V. 3). Wie wunderbar sind doch die Wege, welche die Liebe findeti Wie zart ist sie bei aller Treue und Wahrheit!

Doch der Apostel geht hier einen Schritt weiter als am Ende des vorigen Kapitels. Hörten wir dort, daß Israel ver­geblich nach Gerechtigkeit gestrebt habe, so wird uns hier gesagt, daß sie Gottes Gerechtigkeit nicht erkannt und sich ihr nicht unterworfen hätten. Wir haben uns in den früheren Kapiteln mit der Gerechtigkeit Gottes, dem großen Thema unseres Briefes, schon so eingehend beschäftigt, daß ich hier wohl nur kurz zu wiederholen brauche: diese Ge­rechtigkeit hat sich darin geoffenbart und erwiesen, daß Gott Christum, nachdem Er am Kreuze zur Sünde gemacht war, und Gott im Blick auf Seine eigene Person, auf die Sünde und das Verhältnis des sündigen Menschen zu Ihm völlig ver­herrlicht worden ist, aus den Toten auferweckt, mit Herrlich­keit und Ehre gekrönt und uns Ihm geschenkt hat als Frucht der Mühsal Seiner Seele. Wir erinnern uns auch an das Wort:

„Den, der Sünde nicht kannte, hat er für uns zur Sünde ge­macht, auf daß wir Gottes Gerechtigkeit würden in ihm" (2. Kor. 5, 21). Indem die Juden nun eine eigene, menschliche Ge­rechtigkeit aufzurichten trachteten, hatten sie bewiesen, daß sie mit der Gerechtigkeit Gottes völlig unbekannt waren und sich nicht vor ihr gebeugt hatten. Sich stützend auf eine Religion des Fleisches, auf äußere Vorzüge als Gottes irdi­sches Volk, gründeten sie ihre Hoffnungen auf eigenes Ver­dienst und verwarfen damit den einzigen Weg, auf welchem Gott gerecht sein und sich doch als der errettende und recht­fertigende Gott dem verlorenen Sünder gegenüber offenbaren kann. Der törichte, ruhmsüchtige Mensch gefällt sich darin, einer eigenen Gerechtigkeit nachzustreben, sich mit selbstverfertigten Lumpen zu behängen, anstatt das ihm von Gott umsonst angebotene Kleid der göttlichen Gerech­tigkeit anzunehmen und sich so S e i n e r Gerechtigkeit dank­bar zu unterwerfen.

„Denn Christus ist des Gesetzes Ende, jedem Glaubenden zur Gerechtigkeit" (V. 4). Christus hat mit dem Gesetz als einem Mittel, Gerechtigkeit zu erlangen, ein für allemal ein Ende gemacht. Dem Glaubenden wird sein Glaube zur Gerechtigkeit gerechnet. Bis „der Sohn" (Christus) kam und das ganz neue, auf den rechtfertigenden Glauben an Ihn gegründete Verhältnis zu Gott einführte, war der „Zucht­meister" oder „Vormund" durchaus am Platze für alle, die seiner Sorge anvertraut waren. (Vergl. Gal. 3 u. 4.) Nachdem nun aber Christus an die Stelle des Gesetzes getreten ist und die Ansprüche Gottes, das was Sein Gesetz gerechter­weise über uns bringen mußte, Tod und Verdammnis, auf sich genommen hat, ist Er zugleich für jeden, der von Herzen an Ihn glaubt, „Gerechtigkeit und Heiligkeit und Erlösung" geworden. Welch ein Wechsel! Gerechtigkeit hat den Platz des Gesetzes eingenommen, „Gerechtigkeit aus Glauben an Christum". Der Grundsatz der Verantwortlichkeit des Men­schen im Fleische Gott gegenüber hat im Tode Christi sein Ende gefunden. Obwohl das Gesetz als solches seine Gültig­keit nicht verloren hat, nicht verlieren kann, konnte es doch nicht länger als Regel und Maßstab der Gerechtigkeit für den Menschen festgehalten werden.

Naturgemäß weiß das Gesetz von Glauben nichts. Moses beschreibt vielmehr die Gerechtigkeit, die aus dem Gesetz ist, also: „Der Mensch, der diese Dinge getan hat, wird durch sie leben" (V. 5). Das Gesetz kennt nur ein Tun, ein Erfüllen seiner Gebote. Und es ist recht so; denn „das Gesetz ist heilig, und das Gebot heilig, gerecht und gut" (Kap. 7, 12). Jeder Mensch ist verpflichtet, die Gebote des Gesetzes zu halten, und wer eines von ihnen übertritt, macht sich der Übertretung des ganzen Gesetzes und damit des Todes schuldig.

Wie ganz anders aber spricht die Gerechtigkeit, die aus Glauben ist! Indem der Apostel das näher ausführt, bezieht er sich auf eine Stelle im 5. Buche Mose, mit der wir uns ein wenig näher beschäftigen müssen. In den Kapiteln 28 und 29 dieses Buches kündigt Moses dem Volke Israel an, welch reiche Segnungen Jehova über sie kommen lassen wolle, wenn sie fleißig Seiner Stimme gehorchen würden, aber auch welch ernste Gerichte sie treffen müßten, wenn sie nicht darauf achten würden, alle Seine Gebote und Satzungen zu tun. Die Geschichte Israels ist uns bekannt. Das Volk hat der Stimme seines Gottes nicht gehorcht, hat infolge seines Ungehorsams sein Land verloren und ist unter die Völker der Erde zerstreut worden. Und nun beschreibt Moses im 30. Kapitel in prophetischem Vorausblick das, was Gottes Barmherzigkeit tun würde, wenn einmal die Gnade sie zur Umkehr und Buße geleitet hätte. Die Erfüllung des Gesetzes ist für Israel in einem fremden Lande nicht möglich, aber deshalb sind die Hilfsquellen der Gnade nicht erschöpft. Wenn das Volk mit seinem ganzen Herzen und seiner ganzen Seele zu Jehova umkehren würde (V. 10), so sollten ihm Vergebung und Segen zuteil werden, nicht auf Grund seines Tuns, sondern auf dem Boden des Glaubens. Die damals noch verborgenen Wege der Gnade Gottes (Kap. 29, 29) sollten sich an ihnen erfüllen, „Jehova würde sich wieder über sie freuen zum Guten". „Denn dieses Gebot, das ich dir heute gebiete, ist nicht zu wunderbar für dich und ist nicht fern. Es ist nicht im Himmel, daß du sagen könntest: Wer wird für uns in den Himmel steigen und es uns holen und es uns hören lassen, daß wir es tun? Und es ist nicht jenseit des Meeres, daß du sagen könntest: Wer wird für uns jenseit des Meeres hinüberfahren und es uns holen und es uns hören lassen, daß wir es tun? sondern sehr nahe ist dir das Wort, in deinem Munde und in deinem Herzen, um es zu tun" (5. Mose 30, 11—14).

Israel mag noch so weit von Gott entfernt sein, es darf wieder zu Ihm zurückkehren. Das Gebot ist nicht zu wunder­bar, nicht zu fern von ihm. Sie brauchen es nicht aus dem Himmel herabzuholen oder es jenseit des Meeres zu suchen, es ist ihnen sehr nahe, in ihrem Mund und ihrem Herzen. Auf dem Boden des Gesetzes ist freilich nur Gericht ihr Teil, aber auf dem Boden der Gnade gibt es mittelst des Glaubens noch Hoffnung für sie. Trotz ihrer Untreue, trotz des ge­brochenen Gesetzes will Gottes Güte sich ihnen zuwenden, sobald ihr Herz aufrichtig zu Ihm umkehrt. Doch wie kann Gott so handeln? Weil Sein Auge allzeit auf Christum blickt, dessen Person auch hier unter den Schatten des Gesetzes ver­borgen liegt. In Ihm, dem Gerechten, ist Hoffnung für Israel, auch wenn es, fern von seinem Lande, fern von Tempel und Altar, die Frucht seiner Sünde erntet.

Das Wort nun, das dem Überrest aus Israel am Ende der Tage so nahe sein wird, war, wie der Apostel im 8. Verse sagt, das Wort des Glaubens, das er predigte; und anknüp­fend an die Mitteilungen Gottes in den Tagen Moses" und dem „Buchstaben" seine wahre geistliche Bedeutung gebend (vergl. 2. Kor. 3, 6), schreibt er: „Die Gerechtigeit aus Glau­ben aber sagt also: Sprich nicht in deinem Herzen: „Wer wird in den Himmel hinaufsteigen?" das ist, um Christum herabzuführen; oder; „Wer wird in den Abgrund hinab­steigen?" das ist, um Christum aus den Toten heraufzufüh­ren" (V. 6. 7). Dem Menschen ist beides unmöglich. Und wenn er es tun könnte, würde es doch weder die Gerechtigkeit Gottes befriedigen, noch seinen eigenen Bedürfnissen ent­sprechen. Nein, hier konnte nur die Fülle der Gnade helfen. Der Vater mußte den Sohn herabsenden, und die Herrlich­keit des Vaters mußte Ihn aus den Toten auferwecken. Beides ist, Gott sei gepriesen! geschehen, und die Kunde davon wird uns in dem Evangelium nahe gebracht. Denn was sagt die Gerechtigkeit aus Glauben weiter? „Das Wort ist dir nahe, in deinem Munde und in deinem Herzen; das ist das Wort des Glaubens, welches wir predigen, daß, wenn du mit deinem Munde Jesum als Herrn bekennen und in deinem Herzen glauben wirst, daß Gott ihn aus den Toten auferweckt hat, du errettet werden wirst" (V. 8. 9). „Errettet" — nicht nur der Vergebung teilhaftig, nein, für immer und ewig errettet. (Vergl. Kap. 5, 10.)

Es bedarf keiner großen Anstrengungen oder umfassenden Vorkehrungen, nicht mühsamer Reisen und dergleichen, um Christum zu finden. Das Wort vom Kreuz wird allen umsonst gepredigt, wird uns sozusagen ins Haus gebracht, und es fragt sich nur, ob wir es gläubig aufnehmen wollen oder nicht. Irgendwie Rühmenswertes kommt dabei für den Menschen allerdings nicht heraus. Es bedarf keines großen Verstandes oder Wissens, keiner hervorragenden Eigenschaften oder Fähigkeiten, um mit dem Munde Jesum als Herrn zu be­kennen und im Herzen zu glauben, daß Gott Ihn aus den Toten auferweckt hat. Das vermag selbst der Einfältigste und Schwächste, ja, ihm wird es meist leichter als dem Begabten und Geistesstärkeren. Aber um errettet zu werden, gibt es für alle nur den einen Weg, den Gottes Liebe bereitet hat. „Ich bin der Weg", sagt Jesus; nicht einer von vielen, sondern der eine, der einzige! Glücklich ein jeder, der diesen Weg betreten hat!

Beachten wir die beiden hier genannten notwendigen Stücke: Bekenntnis und G l a u b e! Im 9. Verse wird das Bekenntnis zuerst genannt, nicht weil es das Wichtigste wäre, sondern wohl deshalb, weil es für die Verherrlichung des    , Herrn Jesus zunächst in Betracht kommt. Ein bloßes Lippen-    l bekenntnis ohne wahren Herzensglauben ist selbstverständ­lich für den Menschen weniger als wertlos, denn es vermehrt nur seine Verantwortlichkeit; darum fügt der Apostel, die beiden Dinge umstellend, im 10. Verse sogleich hinzu: „Denn   ] mit dem Herzen wird geglaubt zur Gerechtigkeit, und mit   ^ dem Munde wird bekannt zum Heil." Der Glaube des Herzens   ), muß dem Bekenntnis des Mundes vorangehen. Der Mensch muß aus seinem Todesschlafe aufgeweckt werden, das wirk-   j same Wort Gottes muß unter der Wirkung des Heiligen   { Geistes sein überführendes und reinigendes Werk in der Seele tun, ehe sie in Wahrheit zu Gott schreit. Aber dann wird ihr Blick auf das Kreuz gelenkt; sie hört und ergreift im Glauben die erlösende Botschaft, nicht nur daß Jesus für sie in den Tod gegangen, sondern auch, daß Er durch die Herrlichkeit des Vaters aus den Toten auferweckt worden ist. Und indem sie nun „mit dem Herzen" zur Gerechtigkeit glaubt, lernt sie Christum kennen als Den, der im Tode war, aber nun lebt zur Rechten Gottes, Ihn, „des Gesetzes Ende, jedem Glaubenden zur Gerechtigkeit".

Jetzt darf sie Ihn dankbar und freudig mit ihrem Munde bekennen „zum Heil". Inwiefern „zum Heil"? Ist es nicht so, daß jedes Bekenntnis Seines Namens, wenn es auf den Glau­ben im Herzen gegründet ist, die innere Freudigkeit, das Glück des Herzens, bewirkt und vermehrt? Der Glaube offen­bart sich in einem solchen Bekenntnis, beweist dadurch seine Aufrichtigkeit und wird wiederum selbst belebt und gestärkt. Solang eine Seele sich scheut, Christum als ihren Herrn zu bekennen, solang sie zögert, sich auf Seine Seite zu stellen, bleibt sie ängstlich und verzagt. Schon mancher Gläubige hat die Erfahrung machen müssen, daß erst mit dem offenen Be­kenntnis des Namens Jesu wahre Freudigkeit und Heilsge­wißheit in sein Herz einzogen.

Damit nun aber niemand mit der Frage sich beschäftige, ob er auch wohl den rechten Glauben oder Glauben genug habe, wie wir es so gern tun, indem wir in u n s, in unseren Gefühlen, in unserer Liebe usw. eine Heilsgrundlage suchen, fügt der Apostel hinzu: „Denn die Schrift sagt:  Jeder, der an ihn glaubt, wird nicht zu Schanden werden." Darum darf jeder, der im Lichte Gottes sein natürliches Verder­ben erkannt und seine Zuflucht zu Jesu genommen hat, seiner Errettung gewiß sein. Sie gründet sich nicht auf irgend etwas i n oder von ihm, sondern einzig und allein auf das Werk Christi und auf das Zeugnis Gottes, und wahrlich, da ruht sie auf sicherer Grundlage.

Wenn das aber so ist, wenn diese wunderbare Segnung einem jeden gehört, der an Jesum glaubt, dann muß sie auch für alle Menschen, ob Juden oder Heiden, da sein. Und so ist es in der Tat: „Denn es ist kein Unterschied zwischen Jude und Grieche, denn derselbe Herr von allen ist reich für alle, die ihn anrufen" (V. 12). Tat der Apostel nun unrecht, wie die Juden ihn beschuldigten, wenn er die frohe Botschaft von Jesu aller Welt verkündigte? Nein, schon die Schriften des Alten Testaments rechtfertigten ja, wie wir gesehen haben, seinen Dienst, wieviel mehr das Zeugnis des Herrn selbst! Schön ist es, hier demselben Worte zu begegnen, das im 3. Kapitel gebraucht wird, um das Verlorensein aller Menschen zu bezeugen. „Es ist kein Unterschied", lasen wir dort, „denn alle haben gesündigt und erreichen nicht die Herrlichkeit Gottes." Hier heißt es: „Es ist kein Unterschied zwischen Jude und Grieche, denn derselbe Herr von allen ist reich für alle, die ihn anrufen." So ernst und niederdrückend die Ur­sache des „kein Unterschied" in dem ersten Falle ist, so herrlich und erhebend ist sie in dem zweiten. Der in dem Evangelium geoffenbarte Reichtum der Gnade ergießt sich, alle Folgen der Sünde überströmend, unterschiedslos zu allen hin, die sich zu Jesu, dem reichen Herrn, wenden. Eine An­führung aus dem Propheten Joel bezüglich der Tage, in wel­chen ganz Israel errettet werden wird, beschließt dann trium­phierend das Ganze. „Denn jeder, der irgend den Na­men des Herrn anrufen wird, wird errettet werden" (V. 13).

Als die glücklichen Gefäße dieser reichen Gnade werden in jenen Tagen die Bewohner Jerusalems samt den über die ganze Erde hin zerstreut wohnenden gläubigen Israeliten die gute Botschaft des Friedens überallhin tragen, und das Wort des Propheten Jesajas wird sich erfüllen: „Wie lieblich sind die Füße derer, welche das Evangelium des Friedens ver­kündigen, welche das Evangelium des Guten verkündigen!" (V. 15). Aber glücklicherweise sollen nicht erst dann diese Segensströme fließen, der Heilige Geist wendet die Stelle aus Jesaja 52 (indem Er den Schluß: „der zu Zion spricht: Dein Gott herrscht als König!" wegläßt) schon auf unsere Tage an, auf die Zwischenzeit, in welcher die Ge­meinde, das Weib des Lammes, aus allen Völkern der Erde gesammelt wird. Alle, die zu dieser bevorzugten Schar ge­hören, müssen auch durch die Verkündigung des Evangeliums dahin gebracht werden, den Herrn anzurufen. Denn „wie wer­den sie den anrufen, an welchen sie nicht geglaubt haben? Wie aber werden sie an den glauben, von welchem sie nicht gehört haben? Wie aber werden sie hören ohne einen Predi­ger? Wie aber werden sie predigen, wenn sie nicht gesandt sind?" (V. 14. 15).

Unter dem Gesetz, „der Handschrift in Satzungen, die wider uns war" (Kol. 2, 14), konnten unmöglich solche Friedens­boten zu den Völkern der Erde ausgehen. Israel wird erst dann ein Missionsvolk werden, wenn es für sich selbst die heilbringende Gnade Gottes in Dem kennen lernt, den es ans Kreuz geschlagen hat. Hat aber einmal das Licht der Gnade in diese finsteren Herzen hineingeleuchtet, so werden die Sendboten aus Israel, die „Brüder" des Herrn (Matth. 25, 40), einen Eifer in der Verkündigung des Evangeliums ent­falten, wie er nie vorher gesehen worden ist. Was die christ­liche Kirche während ihres Jahrtausende alten Bestehens nicht zu tun vermocht hat, wird in verhältnismäßig kurzer Zeit durch diese „Geringsten" zur Ausführung kommen: „Das Evangelium des Reiches wird gepredigt werden auf dem ganzen Erdkreis, allen Nationen zum Zeugnis" (Matth. 24, 14). Die ganze Erde wird so voll werden von der Er­kenntnis des Herrn, daß nicht ein Fleckchen unberührt und ungesegnet bleiben wird. (Vergl. Jes. 11, 9; Hab. 2, 14.)

Der Gnadenratschluß Gottes hat also schon für unsere Tage die Verkündigung der guten Botschaft vorgesehen, und zwar nicht des Evangeliums „des Reiches", sondern des Evange­liums „der Gnade Gottes" und „der Herrlichkeit des Christus" (Apstgsch, 20, 24; 2. Kor. 4, 4). Und wie die Träger der Heils­botschaft am Ende der Tage, so werden auch heute die wahren Prediger des Evangeliums von dem Herrn selbst ausgesandt. „Wie werden sie predigen, wenn sie nicht gesandt sind?" fragt der Apostel. Mögen auch in bester Meinung und guter Absicht überall Missionsgesellschaften für das In- und Aus­land errichtet werden, so liegt doch in ihnen allen letzten Endes eine Einmischung des Menschen in die unumschränkten Rechte des Herrn, der allein Evangelisten, Hirten und Lehrer zu geben vermag und zu geben verheißen hat. (Eph. 4,11—14.) Ihn, den Herrn der Ernte, sollen wir bitten, Arbeiter in Seine Ernte auszusenden; wir sollen aber nicht selbst Hand anlegen, um solche für ihren Dienst vorzubereiten, auszu­rüsten und schließlich auch zu bevollmächtigen. Das Wort und der Wille des Herrn sind in dieser wie in jeder anderen Beziehung klar genug; was wir bedürfen, ist ein einfältiges Auge und ein unterwürfiges Herz. Daß Menschen die Boten des Evangeliums sein sollen, ist offenbar, aber es ist nicht unsere Sache, sie auszuwählen, ebensowenig wie es in unserer Macht steht, ihnen die nötigen Fähigkeiten dazu darzureichen.

Wenn nun aber Gott in Seiner Gnade Seine gute Botschaft verkündigen läßt, so ist jeder, der sie hört, verantwortlich, sie aufzunehmen und dem Evangelium zu gehorchen. Aber geschieht das? Hat vor allem Israel es getan? Ach nein! schon Jesajas ruft klagend: „Herr, wer hat unserer Ver­kündigung geglaubt?" — „Also ist der Glaube aus der Ver­kündigung, die Verkündigung aber durch Gottes Wort" (V. 16. 17). Und diese Verkündigung war an Israel ergangen. Die Juden hatten das Wort Gottes gehört, aber nicht ange­nommen; sie waren also ohne Entschuldigung.

„Aber ich sage: Haben sie etwa nicht gehört? Ja freilich. „Ihr Schall ist ausgegangen zu der ganzen Erde, und ihre Reden zu den Grenzen des Erdkreises" " (V. 18). Wieder ent­nimmt der Apostel den Beweis für seine Behauptung den eigenen Schriften der Juden, auf die sie so stolz waren. Der 19. Psalm, in welchem die angeführten Worte sich finden, redet von zwei Zeugnissen Gottes, von Seiner Schöpfung und von Seinem Wort; das eine äußerlich und allgemein, das andere innerlich und für die bestimmt, welche das Wort, die Gebote Jehovas, besaßen. Israel hatte beide Zeugnisse nicht angenommen. Indes ist das nicht der Hauptpunkt, den Paulus hier hervorheben will. Die Heiden besaßen das Wort Gottes nicht, aber das Zeugnis Gottes in der Schöpfung ist auch für sie bestimmt. Der Himmel, der die Herrlichkeit Gottes erzählt, wölbte sich nicht nur über Kanaan; Sonne, Mond und Sterne samt den anderen Wundern der Schöpfung waren nicht nur für e i n Volk bestimmt. Das in der Schöpfung und durch sie abgelegte Zeugnis war ganz allgemein, galt Juden und Heiden. (Vergl. Kap. 1. 20; Apstgsch. 14, 17.) Mochte Israel auch die heidnischen Völker verachten, Gott hatte von jeher bewiesen, daß Er in Seinem Erbarmen auch ihrer gedenken und von ihnen erkannt werden wollte.

„Aber ich sage: Hat Israel es etwa nicht erkannt?" Wahr­lich, sie hätten es erkennen können, es hätte kein Geheimnis für sie zu sein brauchen. Denn Gott hatte, wie der Apostel weiter zeigt, noch viel deutlicher zu ihnen geredet, als durch den 19. Psalm. „Zuerst spricht Moses: „Ich will euch zur Eifersucht reizen über ein Nicht-Volk, über eine unverstän­dige Nation will ich euch erbittern" " (V. 19). Ihr hochge­achteter Gesetzgeber hatte also schon von der Absicht Gottes geredet, durch Seine Gnadenwege mit einem „Nicht-Volk" und „einer unverständigen Nation" — nicht mißzuver­stehende Anspielungen auf die Heiden — Sein Volk Israel zur Eifersucht zu reizen. Aber noch mehr. Jesajas, der größte ihrer Propheten, hatte sich sogar erkühnt zu sagen, daß Gott sich finden lassen wolle von denen, die Ihn nicht suchten, und sich offenbaren wolle denen, die n i c h t nach Ihm frag­ten, während er von Israel gesagt hatte: „Den ganzen Tag habe ich meine Hände ausgestreckt zu einem ungehorsamen und widersprechenden Volke" (V. 20. 21). So war denn aus dem Gesetz, aus den Psalmen und den Propheten, den drei großen Teilen des Alten Testaments, der Beweis erbracht, daß Israel sich verhärten würde, und daß Gott von jeher be­schlossen hatte, den Heiden gnädig zu sein. Der Beweis war unwiderieglidi. Kein aufrichtiger Jude konnte sich der Kraft desselben entziehen.

Was aber folgte daraus? Hatte Gott sich von Seinem Volke endgültig abgewandt? Die ausführliche Beantwortung dieser Frage bringt uns das 11. Kapitel.

Kapitel 11
„Ich sage nun: Hat Gott etwa sein Volk verstoßen? Das sei ferne! Denn auch ich bin ein Israelit aus dem Samen Abrahams, vom Stamme Benjamin. Gott hat sein Volk nicht verstoßen, das er zuvor erkannt hat" (V. 1. 2). Wie in den ersten Versen der beiden vorhergehenden Kapitel, so weht uns auch hier wieder der warme Hauch der Liebe des Apostels zu seinen Volksgenossen wohltuend entgegen. War Israel trotz all seines Unglaubens nicht das von Gott zuvorerkannte Volk? Gehörten ihm nicht die Verheißungen, die Abraham, ihrem Vater, im Anfang gemacht worden waren? Und als Gott Israel „zuvorerkannte", waren Ihm da nicht alle die bösen Wege, die das Volk gehen würde, all seine Hals­starrigkeit und Bosheit bekannt gewesen? Gewiß! Trotzdem hatte Er es erkannt und berufen und wohl oft und ernst ge­züchtigt, aber nie verworfen. Sollte Er es nun jetzt ver­stoßen haben?

Unmöglich! Für diese Unmöglichkeit führt der Apo­stel drei Beweise an. Der erste war er selbst. Denn auch er war „ein Israelit aus dem Samen Abrahams, aus dem Stamme Benjamin". In vermeintlichem Eifer für Gott hatte er sogar die Versammlungen verfolgt und die Gläubigen gezwungen, zu lästern. Und doch hatte Gott den ganzen Reichtum Seiner Gnade und Langmut an ihm erwiesen und ihn, „den Lästerer und Verfolger und Gewalttäter", den bittersten Feind des Namens Jesu, errettet und in Seinen Dienst gestellt. Hätte Gott Sein irdisches Volk verstoßen, so hätte dieses Ge­richt zuallererst ihn treffen müssen.

Aber Paulus war nicht das einzige Denkmal der göttlichen Gnade. Schon in früheren Zeiten hatte Gott ähnlich gehan­delt. „Oder wisset ihr nicht, was die Schrift in der Geschichte des Elias sagt? wie er vor Gott auftritt wider Israel: „Herr, sie haben deine Propheten getötet, deine Altäre niederge­rissen, und ich allein bin übriggeblieben, und sie trachten nach meinem Leben." Aber was sagt ihm die göttliche Ant­wort? „Ich habe mir übrigbleiben lassen siebentausend Mann, welche dem Baal das Knie nicht gebeugt haben" " (V.2—4). Der entmutigte Prophet hatte damals auch gemeint, Gott habe Sein Volk dahingegeben, und er sei als der einzige und des­halb bis zum Tode verfolgte Anbeter Jehovas übriggeblie­ben. Aber wie rührend war die göttliche Antwort! Gerade das Zeugnis des Propheten gegen das Volk rief das Zeugnis Gottes für Israel wach. Noch sieben tausend Mann, eine vollkommene Zahl, hatte Gott übrigbleiben lassen, die ihre Knie vor den Götzen nicht gebeugt hatten. Seine Liebe und unumschränkte Gnade hatten diesen vollzähligen Überrest bewahrt.

Und so wie es in den Tagen einer Isebel gewesen, so war es heute: „Also ist nun auch in der jetzigen Zeit ein Überrest n a c h W a h l d e r G n a d e" (V. 5). Mochte der allgemeine Zustand des Volkes heute wie damals der der Verhärtung und Verblendung sein, dennoch gab es einen Überrest, „die Auswahl", wie der Apostel ihn im 7. Verse nennt. Israel als solches hatte das, was es suchte, nicht erlangt (vergl. Kap. 9, 31), die Masse des Volkes war verstockt, aber ein von Gott erwählter Überrest hatte es erlangt; freilich nicht auf dem Boden eigenen Tuns, gesetzlichen Wirkens — der Apostel benutzt jede Gelegenheit, um den Gegensatz zwischen Gesetz und Gnade zu betonen — sondern auf dem Grunde freier, bedingungsloser Gnade. „Wenn aber durch Gnade, so nicht mehr aus Werken; sonst ist die Gnade nicht mehr Gnade" (V. 6).

Von dem Gericht der Verhärtung, das über Israel als Volk kommen sollte, hatte Moses schon am Ende der Wüsten­wanderung gezeugt. Der Apostel verbindet hier anscheinend ein Wort des Propheten Jesajas (Kap. 29, 10) mit 5. Mose 29, 4, wenn er sagt: „wie geschrieben steht: „Gott hat ihnen einen Geist der Schlafsucht gegeben, Augen, um nicht zu sehen, und Ohren, um nicht zu hören, bis auf den heutigen Tag"," und fügt dann in den beiden nächsten Versen noch einen überaus ernsten Ausspruch Davids über die Gottlosen in Israel hinzu. Es ist beachtenswert, daß wir so wiederum ein dreifaches göttliches Zeugnis (aus dem Gesetz, den Psal­men und den Propheten) über Israels traurigen Zustand vor uns haben, umso beachtenswerter, als der Apostel im Begriff steht, in dem Folgenden die unausspürbaren Wege Gottes mit Seinem irdischen Volke zu beschreiben.

Doch bevor er dazu übergeht, macht er uns mit dem zwei­ten der oben erwähnten Beweise bekannt. „Ich sage nun: Haben sie etwa gestrauchelt, auf daß sie fallen sollten? Das sei ferne! sondern durch ihren Fall ist den Nationen das Heil geworden, um sie zur Eifersucht zu reizen" (V. 11). Während der ganzen Dauer der Geschichte des Volkes Israel wechsel­ten lange dunkle Zeiten mit kurzen Wiederbelebungen, ernste Züchtigungen mit Gnadenerweisungen ab, bis endlich Gott Seinen geliebten Sohn sandte. Aber ach! Der, den Er als einen kostbaren Eckstein in Zion legen wollte, wurde zu einem Stein des Anstoßes und zu einem Fels des S t r a u c h e l n s für die beiden Häuser Israels. Die prophetische Ankündigung, daß viele unter ihnen straucheln würden, war in Erfüllung gegangen. Aber war dieses Straucheln etwa des­halb erfolgt, damit sie fallen sollten, um nicht wieder auf­zustehen? War das die Absicht Gottes im Blick auf sie ge­wesen? Nein, Gott hatte auf diesem Wege andere Gnaden­ratschlüsse ans Licht gebracht. Der Fall Israels war zum Anlaß geworden, den Heiden das Heil zuzuwenden. Wiederum aber sollte diese Begnadigung der Nationen die Juden zur Eifer­sucht reizen (Vergl. 5. Mose 32, 15—21.) Der Gedanke an den Verlust des bevorzugten Platzes, den sie einst eingenommen und nun an die Nationen verloren hatten, sollte das eifersüchtige Verlangen in ihnen wecken, diesen Platz wieder zu erlangen.

Wird das denn geschehen? Wird Israel je wieder „das Haupt" und die Nationen „der Schwanz" sein? Ja, „der Über­rest wird umkehren", und dann „wird ganz Israel errettet werden". Wenn nun aber ihr Fall (Fehltritt) zum Reichtum der Welt und ihr Verlust zum Reichtum der ohne Gott und ohne Hoffnung in der Welt lebenden Nationen ausge­schlagen ist, was wird dann erst ihre Vollzahl be­wirken! (V. 12.) Was wird geschehen, wenn Gott einmal Sein Antlitz Israel wieder zuwenden und Seine Herrlichkeit über Zion aufgehen lassen wird! Dann werden „alle Enden der Erde Jehova fürchten", und „alles Fleisch wird kom­men, um vor ihm anzubeten". „Denn wenn ihre Verwer­fung die Versöhnung der Welt ist, was wird die Annah­me anders sein, als Leben aus den Toten?" (V. 15).

So groß und herrlich heute, infolge der Verwerfung des Messias durch Israel, die Gnade Gottes sich erweist in der Anbietung des Heils an die ganze Welt, an alle Menschen ohne Ausnahme, noch reichere Segensströme werden fließen, wenn „die Wiederherstellung aller Dinge" kommen, wenn Israel unter dem Zepter seines Friedensfürsten wieder im Lande wohnen und „die ganze Erde" auffordern wird, „Jehova mit Freuden zu dienen, vor sein Angesicht zu kom­men mit Jauchzen, in seine Tore mit Lob, in seine Vorhöfe mit Lobgesang"! (Vergl. ps. 100.) Ja, dann wird „nichts anders als Leben aus den Toten" gesehen werden, wie der Apostel in bewunderndem Vorausblick sich ausdrückt.

Da Paulus an die Gläubigen in Rom schrieb, die der Mehr­zahl nach aus den Heiden gesammelt worden waren, fügt er, gewissermaßen zu seiner Rechtfertigung, daß er sich so weit über die Wege Gottes mit Israel verbreitet hat, die Worte hinzu: „Denn ich sage euch, den Nationen: Insofern ich nun der Nationen Apostel bin, ehre ich meinen Dienst, ob ich auf irgend eine Weise sie, die mein Fleisch sind, zur Eifer­sucht reizen und etliche aus ihnen erretten möge" (V. 13. 14). Paulus war als der Apostel der Nationen vom Herrn unmittel­bar zu diesen gesandt worden, um ihre Augen aufzutun, auf daß sie sich bekehrten von der Finsternis zum Licht usw. (Vergl. Apstgsch. 26, 17. 18.) Ehrte er nun seinen Dienst nicht gerade dadurch, daß er durch die Bekehrung so vieler Heiden sie, die sein Fleisch waren — wie hätte er das je ver­gessen können? — zur Eifersucht zu reizen suchte, damit auch etliche aus ihnen errettet werden möchten?

Geleitet durch den Geist und in Verfolgung der bisher be­handelten Gedanken bedient sich der Apostel in der zweiten Hälfte unseres Kapitels des Bildes eines Ölbaumes, der „Zweige" hat, und zwar Zweige, die auf Grund ihrer natür­lichen Verbindung mit der „Wurzel" der Fettigkeit des gan­zen Baumes teilhaftig waren, aber infolge ihres Unglaubens ausgebrochen worden sind, um anderen Zweigen Platz zu machen, die von Natur gar keine Verbindung mit dem Ölbaum hatten, aber aus Gnaden eingepfropft werden. Von vornherein sei darauf hingewiesen, daß wir es hier nicht mit Gottes ewigen Ratschlüssen bezüglich der Versamm­lung, des Leibes Christi, zu tun haben, sondern mit Seinen Regierungswegen in Verbindung mit Seinem Zeug­nis auf dieser Erde. Der Ölbaum, ein Bild der Fettigkeit, ist der Baum der Verheißungen Gottes, die einst dem Abraham, dem „Erstling" der Masse oder der „Wurzel" dieses Baumes, geschenkt wurden. In dem Leibe Christi kann es nie Glieder geben, die entfernt werden, um für andere Raum zu machen. In ihm gibt es auch keinen Unterschied zwischen Jude und Heide — alle sind einer in Christo.

Ebensowenig wie um den Leib Christi, handelt es sich hier um die Wege der errettenden Gnade, um den Besitz des Lebens oder um die Frage der Echtheit des persönlichen Be­kenntnisses. Indem man diese und ähnliche Fragen in dieses Kapitel einzuführen suchte, hat man die ganze Belehrung des Apostels verwirrt, der nur die Stellung von Juden und Heiden hinsichtlich der Linie der Verheißung und des Zeugnisses Gottes in dieser Welt darstellen will. Doch dies bedarf noch einer näheren Erläuterung. In den Tagen nach der großen Flut, als die Menschen in­folge ihres vermessenen Hochmuts über die ganze Erde hin zerstreut worden waren und sich nun, Gott immer mehr ver­gessend, dem schändlichsten Götzendienst hingaben, berief Gott den Abraham von jenseits des Euphrat, wo auch er mit seinen Vätern anderen Göttern diente, und brachte ihn in das Land, das Er ihm und seinem Samen geben wollte. In Kanaan angelangt, wurde Abraham der Vater einer Familie, welcher dem Fleische nach die Verheißungen Gottes ge­hörten, die später in besonderer Weise durch die in Christo geoffenbarte Gnade dem ganzen Samen zugewandt wer­den sollten. War Adam der Vater des sündigen Menschen­geschlechtes gewesen, so wurde Abraham der Vater des Samens Gottes in der Welt, d. h. zunächst Israels und dann, im weiteren Sinne, aller in und mit ihm Gesegneten. In Abraham ließ Gott zum erstenmal die kostbaren Wahrheiten von der Auserwählung, Verheißung und Berufung oder Ab­sonderung ans Licht treten, zunächst in ihm persönlich, aber dann auch in ihm als Erstling der späteren „Masse", als Wurzel des Baumes der Verheißungen. Abraham war, wie schon gesagt, beides: Erstling und Wurzel. Der Stamm des Baumes, oder „die natürlichen Zweige", wie der Apostel sie nennt, war Israel. Von diesen Zweigen mögen nun wohl einige ausgebrochen und andere an ihre Stelle eingepfropft werden, aber der Baum als solcher, die ursprüng­liche Stätte der dem Abraham gegebenen Verheißungen, erleidet keine Veränderung; er b l e i b t, und mit ihm seine Fettigkeit. Wenn daher Paulus auch hier von einem „Ge­heimnis" spricht (V. 25), so ist das nicht etwa „das Geheimnis des Christus, das in anderen Geschlechtern den Söhnen der Menschen nicht kundgetan worden ist". (Vergl. Eph. 3 u. a. St.) Dieses, den Aposteln und Propheten des Neuen Testa­ments geoffenbarte und der besonderen Verwaltung des Apostels Paulus anvertraute Geheimnis muß bestimmt und klar von dem hier entworfenen Bilde des Ölbaumes unter­schieden werden, anders ist Verwirrung unausbleiblich.

Betrachten wir jetzt die Einzelheiten des Bildes ein wenig näher. „Wenn aber der Erstling heilig ist, so auch die Masse; und wenn die Wurzel heilig ist, so auch die Zweige" (V. 16). Abraham wurde, wie wir bereits gehört haben, von Gott berufen und abgesondert, um fortan als Sein Zeuge und als der Träger Seiner Verheißungen hienieden zu wandeln Abraham hat das getan. Der Erstling, die Wurzel war heilig man hätte deshalb erwarten können, daß auch die „Masse" von welcher der Erstling abgehoben war,8 die „Zweige" die der Wurzel entsproßten, heilig gewesen wären. Die Fortsetzung hätte dem Anfang entsprechen sollen. Aber ach, was war geschehen! Unglaube und hartnäckige Bosheit hatten Israel gekennzeichnet und in der Verwerfung des Messias ihren Gipfelpunkt erreicht, und so hatte Gott in ernster Vergeltung einige der Zweige ausgebrochen. Mit anderen Worten, das in Abraham gesegnete, aber ungläubige Israel war beiseite gesetzt worden, und „ein wilder Olbaum", die Nationen oder Heiden, war an seiner Stelle in „den edlen Olbaum" eingepfropft und der Wurzel und Fettigkeit desselben mitteilhaftig geworden. (V. 17). Sie, die bis dahin „wild", fern von jeder Verbindung mit dem Baum der Ver­heißung, gewachsen waren, genossen jetzt die Segnungen dieses Baumes. Der Segen Abrahams war in Christo Jesu zu den Nationen gekommen. (Gal. 3, 14.) 

Hatten diese deshalb Ursache, „sich wider die Zweige zu rühmen"? In keiner Weise. Die Juden, die Nachkommen Abrahams dem Fleische nach, befanden sich auf Grund ihrer Geburt in dem Baume der Verheißung und hatten diesen Platz durch den Un­glauben verloren. Als ihnen die Erfüllung der Verheißun­gen in Christo angeboten wurde, wiesen sie dieselbe zurück und verachteten, gestützt auf ihre vermeintliche eigene Ge­rechtigkeit, die Güte Gottes. Daraufhin hatte Gott die Heiden an ihren Platz gestellt. Sollten diese sich nun besser dünken als die ausgebrochenen Zweige und sich wider sie rühmen? Nein, zunächst sollten sie bedenken, daß die Wurzel s i e trug, nicht etwa sie die W u r z e l (V. 18), mit anderen Wor­ten, daß nur Gottes bedingungslose Gnade sie an diesen Platz geführt hatte. Wohl konnten sie dagegen einwenden, daß die natürlichen Zweige ausgebrochen worden seien, um sie einpfropfen zu können; aber lag darin ein Verdienst für sie? Diese Einpfropfung war doch nicht geschehen auf Grund irgendwelchen Tuns ihrerseits, sondern einzig und allein auf Grund ihres Glaubens an den von Israel verworfenen Chri­stus. Nur der unumschränkten Güte Gottes hatten sie diesen neuen Platz zu verdanken, sie standen durch den Glauben. Von einem Anlaß, sich zu rühmen, konnte also gar keine Rede sein. Darum schließt der Apostel diesen Abschnitt mit den Worten; „Sei nicht hochmütig, sondern fürchte dich; denn wenn Gott der natürlichen Zweige nicht geschont hat, daß er auch deiner etwa nicht schonen werde" (V. 20. 21). Nicht törichte Ruhmrederei, sondern Furcht, heilige Furcht geziemte sich für sie, damit es ihnen nicht ähnlich erginge, wie es Israel ergangen war. Denn würde Gott etwa ihrer, der nachträglich eingepfropften Zweige, schonen, nachdem Er der natürlichen nicht geschont hatte?

„Sieh nun die Güte und die Strenge Gottes: gegen die, welche gefallen sind, Strenge; gegen dich aber Güte Gottes, wenn du an der Güte bleibst; sonst wirst auch du ausge­schnitten werden. Und auch jene, wenn sie nicht im Un­glauben bleiben, werden eingepfropft werden; denn Gott vermag sie wiederum einzupfropfen" (V. 22. 23). Wie ein­dringlich redeten diese Worte zu den Herzen der Gläubigen aus den Nationen! Die Güte und die Strenge Gottes stand vor ihnen. Güte hatten sie erfahren, Strenge war Israel zuteil geworden. Jetzt galt es für sie, an der Güte zu bleiben, damit nicht auch sie das Los Israels teilten.

Ist die ernste Ermahnung beachtet worden? Sind die heid­nischen Pfropfreiser an der Güte Gottes geblieben? Die Blät­ter der Kirchengeschichte beantworten diese Frage in er­schütternder Weise. Was wird nun das Ende sein? Auch s i e werden ausgeschnitten werden, genau so wie es mit den Juden geschehen ist.
Aber obwohl der Ölbaum so im Laufe der Zeit seine äußere Gestalt, sein Aussehen ändern mag, er selbst bleibt, was er ist, und „auch jene — die natürlichen Zweige — wenn sie nicht im Unglauben bleiben, werden eingepfropft werden; denn Gott vermag sie wiederum einzupfropfen" (V. 23). Got­tes Ratschlüsse werden durch die Untreue des Menschen nicht beeinflußt oder gar aufgehoben. Seine Gnadengaben und Seine Berufung sind unbereubar. (V. 29). Israel wird auf völlig neuer Grundlage wieder an seinen alten Platz zurück­geführt werden — ich betone noch einmal, an seinen alten Platz, nicht etwa in die christliche Kirche eingefügt, denn da waren die Juden nie. Die Bildung der Versammlung (Ge­meinde) war im Gegenteil gleichbedeutend mit dem Abbruch der Beziehungen Israels zu Gott. „Denn wenn du aus dem von Natur wilden Ölbaum ausgeschnitten und wider die Natur in den edlen Ölbaum eingepfropft worden bist, wievielmehr werden diese, die natürlichen Zweige, in ihren eigenen Ölbaum eingepfropft werden l" (V. 24). Das Gericht über die heidnischen Zweige, um mich kurz auszudrücken, wird der Wiedereinpfropfung der Juden in den Ölbaum Bahn machen; denn sie werden nicht im Unglauben bleiben, und der Baum ist und bleibt, was so vielfach von den Erklärern übersehen wird, „ihr eigener Ölbaum". So wie einst das jüdische System, zu seinem gerichtlichen Abschluß gekommen ist, um die Heiden zuzulassen, so wird auch das heidnische System, die Christenheit, auf gerichtlichem Wege zu seinem Ende kommen, um dem Volke Israel die Rückkehr zu dem verlorenen Platz der Verheißung und des Segens zu er­möglichen.

„Denn ich will nicht, Brüder, daß euch dieses Geheimnis unbekannt sei, auf daß ihr nicht euch selbst klug dünket: daß Verstockung Israel zum Teil widerfahren ist, bis die Vollzahl der Nationen eingegangen sein wird; und also wird ganz Israel errettet werden, wie geschrieben steht: „Es wird aus Zion der Erretter kommen, er wird die Gottlosigkeiten von Jakob abwenden; und dies ist für sie der Bund von mir, wenn ich ihre Sünden wegnehmen werde"." (V. 25—27.)
Damit sind wir zu dem dritten und wohl schlagendsten Beweise von der Tatsache gekommen, daß Gott Sein sündiges Volk nicht verstoßen hat, sondern es in Seinem Erbarmen am Ende der Tage zu sich zurückrufen und ihm tiefe Buße und wahre Herzensumkehr zu dem einst verworfenen Mes­sias schenken wird. Auch das hier Gesagte gehört zu den vielen im Neuen Testament geoffenbarten „Geheimnissen". Israel ist zum Teil Verstockung von selten Gottes wider­fahren als Gericht über seine Sünde und Treulosigkeit, aber diese Verstockung soll nicht immerdar währen. Wenn einmal „die Vollzahl der Nationen", d. h. alle, die aus den Völkern der Erde durch das Evangelium in wahre, lebendige Verbin­dung mit Christo kommen sollen, eingegangen sein wird, mit anderen Worten, wenn das letzte Glied der Versammlung oder Gemeinde, die vor der über den ganzen Erdkreis kom­menden Stunde der Versuchung in den Himmel entrückt wer­den soll, hinzugefügt ist, dann wird ganz Israel, d. h. Israel als Volk, das dann freilich nur aus einem Überrest besteht, errettet werden. Solang die Geschichte der wahren Kirche hienieden fortdauert, solang der Leib Christi, in welchem es weder Jude noch Grieche gibt, gesammelt wird, kann so etwas selbstverständlich nicht geschehen. Ja, selbst nach der Entrückung der wahren Gläubigen wird Gottes Langmut noch eine Zeitlang zusehen, bis die bekennende Christenheit voll und ganz bewiesen hat, daß sie nicht an der Güte ge­blieben ist, und daß nichts anderes für sie übrigbleibt als ein erbarmungsloses Gericht, d. h. die endgültige Entfernung des ganzen verderbten Systems von dem Platze der Segnung und des Zeugnisses, den es so viele Jahrhunderte einge­nommen hat.

Wieder sehen wir deutlich, daß es sich in unserem Kapitel nicht handelt um Gottes Gnadenwege mit Seinem himmli­schen Volke, sondern um Seine irdischen Regierungs­wege mit denen, die nacheinander an den Platz der Ver­heißung und Segnung geführt werden — zunächst Israel, dann die Nationen und schließlich wieder Israel. Alle, welche — ganz abgesehen von der Frage der persönlichen Errettung oder des Besitzes des Lebens aus Gott — diesen Platz ein­nehmen, sind verantwortlich für das, was sie zu besitzen be­kennen. Bleiben sie an der Güte Gottes, gut; wenn nicht, so werden sie abgeschnitten werden.

Auch die Masse des jüdischen Volkes wird in den Gerichten am Ende der Tage umkommen, aber „ein Überrest nach Wahl der Gnade" wird dastehen, und für ihn wird der Erretter aus Zion kommen, nicht aus dem Himmel, um ihn (wie die Gläu­bigen der Jetztzeit) in den Himmel zu versetzen, sondern aus Zion, um die Gottlosigkeiten von Jakob abzuwenden und das um der Väter willen geliebte Volk in die Segnungen des Reiches einzuführen. Denn der Bund Gottes, um Israels Sün­den wegzunehmen, ruht auf sicherer Grundlage, auf der be­dingungslosen Gnade, die sich in dem „Erretter aus Zion" offenbaren wird. Ihn, den ihre Väter einst ans Kreuz ge­schlagen haben, wird der Überrest kommen sehen, und zwar mit den Wundenmalen in Seinen Händen, die ihnen Frieden und Vergebung verkündigen. Und so wird ganz Israel errettet werden und die unbereubaren Gnadengaben Gottes genießen; denn Israel als Volk ist für immer Gottes Eigentum auf Grund Seiner Berufung und der den Vätern gegebenen Verheißungen.

„Hinsichtlich des Evangeliums" hatten die Juden sich frei­lich als Feinde erwiesen. Sie hatten die frohe Botschaft feindselig zurückgewiesen und damit den Heiden eine Tür der Begnadigung geöffnet. „Hinsichtlich der Auswahl aber waren sie Geliebte um der Väter willen" (V. 28). Als Same Abrahams blieben sie Gegenstände der unveränderlichen Liebe Gottes, nicht etwa auf Grund des Bundes am Sinai — auf diesem Boden war alles für sie verloren —, sondern in Ver­bindung mit ihren Vätern, Abraham, Isaak und Jakob. Diese hatte Gott einst aus Gnaden berufen, ihnen hatte Er bedingungslose Verheißungen gegeben. Diese Berufung und die damit verbundenen Gnadengaben sind deshalb unbereubar. (V. 29.) Am Ende der Tage wird Er sich ihrer erinnern, und die in der Auswahl der Väter kundgegebene Liebe wird sich den Söhnen gegenüber als treu erweisen. In­dem Er das steinerne Herz aus ihrem Innern wegnimmt und ihnen ein fleischernes Herz gibt, wird Er sie für den Empfang Seiner unumschränkten Gnade zubereiten.

In diesem allen offenbart sich neben der unwandelbaren Treue Gottes auch Seine unergründliche Weisheit, und diese entfaltet der Apostel in den nächsten Versen. Israel besaß Verheißungen, wenn sie ihm auch aus Gnaden geschenkt worden waren; wäre das Volk nun auf Grund dieser Ver­heißungen wieder zu den Segnungen zugelassen worden, so hätte man gewissermaßen von einem berechtigten Anspruch seinerseits reden können. Doch was war inzwischen gesche­hen? Die Juden hatten Den, in welchem die Verheißungen allein Ja und Amen für sie werden konnten, verworfen und waren damit auf einen Boden gekommen, auf welchem ihnen nur noch Gnade helfen konnte, also genau dahin, wo auch die Nationen standen. Es gab keinen Unterschied mehr zwi­schen ihnen und den Nationen. „Denn gleichwie auch i h r (Nationen) einst Gott nicht geglaubt habt, jetzt aber unter die Begnadigung gekommen seid durch den Unglauben die­ser, also haben auch jetzt diese an eure Begnadigung nicht geglaubt, auf daß auch sie unter die Begnadigung kommen. Denn Gott hat alle zusammen in den Unglauben eingeschlossen, auf daß er alle begnadige" (V. 30—32).

Die Heiden hatten einst in Finsternis, fern von Gott gelebt. Sie hatten Gott nicht geglaubt, waren aber jetzt durch den Unglauben der Juden unter die Begnadigung gekommen. Eine Gnade, auf welche sie keinerlei Anspruch hatten, war ihnen zuteil geworden. Ähnlich stand es mit den Juden: ungläubig wie die Heiden, hatten sie selbst die Gnade verwor­fen und wiesen auch den Gedanken, daß sie sich jetzt den Heiden zugewandt habe, mit Abscheu zurück. Infolgedessen hatten sie alle Ansprüche an die Erfüllung der Verheißungen verloren, und gleich den Heiden konnte auch sie nur eine bedingungslose Gnade retten. Für beide blieb nur noch das freie Erbarmen Gottes übrig. Jeder Ruhm, jedes Ver­trauen auf eigenes Tun war ausgeschlossen. Alle (Juden wie Heiden) standen auf demselben Boden, alle zusammen waren von Gott in den Unglauben eingeschlossen, und Gott hatte das getan, auf daß Er allen (Juden wie Heiden) Seine Gnade zuwende.

Fürwahr, es ist mehr als verständlich, wenn der Apostel am Ende seiner Behandlung der wunderbaren Wege Gottes in Gnade und Gericht, angesichts der unwandelbaren Treue, Weisheit und Heiligkeit Gottes, die sich in ihnen kundgeben, den Gefühlen seines Herzens in der ergreifenden Lobpreisung Ausdruck gibt, mit welcher unser Kapitel schließt. „O Tiefe des Reichtums, sowohl der Weisheit als auch der Erkenntnis Gottes! Wie unausforschlich sind seine Gerichte und unausspürbar seine Wege l Denn wer hat des Herrn Sinn erkannt, oder wer ist sein Mitberater gewesen? Oder wer hat ihm zuvorgegeben, und es wird ihm vergolten werden?" Ja, wo ist ein Gott wie unser Gott? Wie unausspürbar sind Seine Wege! Wer hat Ihm beratend zur Seite gestanden, als Er sie in Seinem Herzen erwog und feststellte? Wege, auf wel­chen Er die Treue Seiner Verheißungen denen gegenüber aufrecht halten konnte, die alle Ansprüche an dieselben ver­loren hatten und nun mit anderen, die solche Ansprüche nicht besaßen, auf dem gleichen Boden der Reichtümer Seiner Gnade gesegnet werden. Ja, wer hätte des Herrn Sinn er­kannt? Und doch sind schwache, sterbliche Wesen, wie wir sind, eingeführt in das Erkennen dieses Sinnes und der unausspürbaren Wege Dessen, von dem und durch den und für den alle Dinge sind. 0 Tiefe des Reichtums, sowohl der Weisheit als auch der Erkenntnis Gottes! Ihm sei die Herrlichkeit in EwigkeitI Amen.

Kapitel 12-15
Mit Kapitel 11 schließt der belehrende Teil unseres Briefes. Es folgen Ermahnungen, die sich auf das bisher Gesagte stützen und den Gläubigen durch die Erbarmungen Gottes zu einem Wandel in hingebender Treue Gott und Menschen gegenüber auffordern. Demut und Liebe, verbunden mit einer Gnade, die sich in praktischer Gerechtigkeit offenbart, sollen ihn kennzeichnen. Der Christ ist ein Mensch unter Menschen, aber, entsprechend dem Charakter des Briefes, ein erlöster, befreiter, von der Welt abgesonderter Mensch, der sich als solcher nach Gesinnung und Wandel offenbaren soll in den verschiedenen Beziehungen, in denen er gefunden werden mag, sei es im Hause Gottes oder in der Welt. Was ihm ge­ziemt ist Einfalt, eine friedliebende Gesinnung, die dem ande­ren entgegenkommt, nie sich selbst sucht oder gar rächt, son­dern das Böse mit dem Guten zu überwinden trachtet.

Während das 12. Kapitel den Gläubigen mehr in seiner Stellung als Glied des Leibes, als Kind im Innern des Hauses betrachtet, zeigt uns das 13. Kapitel ihn gleichsam außerhalb des Hauses, in seiner Beziehung zu den Regierungen dieser Welt, zu den obrigkeitlichen Gewalten, die von Gott ver­ordnet sind. Worin sie auch bestehen oder welche Form sie annehmen mögen, der Christ soll sich ihnen nicht wider­setzen, sondern ihnen Untertan sein und einem jeden die Ehre geben, die ihm gebührt; und das umsomehr, weil die Nacht weit vorgerückt und der Tag nahe ist, in dessen Licht er wandeln soll, und der einmal alles ans Licht bringen wird.

Im 14. Kapitel folgen dann Ermahnungen zu brüder­licher Geduld und Tragsamkeit, die für die Empfänger des Briefes von besonderer Bedeutung waren, da in Rom sich stets viele Christen aus Juden und Heiden zusammenfanden, und Fragen über Speisen und Getränke, Halten von Tagen und dergleichen wohl immer wieder auftauchten. Das Ge­wissen des einzelnen mußte berücksichtigt werden, und der „Starke" sollte nicht den „Schwachen" verachten, noch umgekehrt der „Schwache" den „Starken" richten. Diese im An­fang des 15 Kapitels (V. l—7) noch weitergeführten Er­mahnungen schließen mit dem Hinweis auf Ihn, der nie sich selbst gefallen, sondern die Schmähungen derer, die Ihn schmähten, auf sich genommen hat. In den Versen 8—12 desselben Kapitels faßt der Apostel dann die Wege Gottes im Evangelium, die durch Anführungen aus dem Alten Testa­ment gerechtfertigt werden, noch einmal kurz zusammen. Schließlich, in der letzten Hälfte des Kapitels, redet er von seinem Dienst unter den Nationen, sowie von einigen Reisen in den Westen, die er, nach einem Besuch in Jerusalem, noch hoffte ausführen zu können.

Kapitel 12
„Ich ermahne euch nun, Brüder, durch die Erbarmungen Gottes, eure Leiber darzustellen als ein lebendiges, heiliges, Gott wohlgefälliges Schlachtopfer, welches euer vernünftiger Dienst ist" (V. l). Unwillkürlich erinnern uns diese Worte an das 6. Kapitel unseres Briefes, wo wir aufgefordert werden, uns selbst Gott darzustellen als Lebende aus den Toten und unsere Glieder Gott zu Werkzeugen der Gerechtigkeit. (V. 13.) Dort hörten wir zum erstenmal davon, daß wir als mit Christo Gestorbene nun auch in Neuheit des Lebens wandeln sollten. In den späteren Kapiteln sind wir dann mit den Tiefen und Höhen der Erbarmungen Gottes bekannt gemacht worden. Auf Grund derselben ermahnt uns nunmehr der Apostel, unsere Leiber als ein lebendiges, heiliges, Gott wohlgefälliges Schlachtopfer Gott darzustellen. Er nennt das unseren „vernünftigen" (logischen) oder einsichtsvollen, den Belehrungen des Heiligen Geistes entsprechenden „Dienst" (Gottesdienst). Nicht nur unsere Seele ist erlöst und gehört Gott an, auch unser Leib ist teuer erkauft, und wenn wir seine „tatsächliche" Erlösung auch noch erwarten (Kap. 8, 23), so ist doch schon jetzt „unser ganzer Geist und Seele und Leib" Gott zur tadellosen Bewahrung anvertraut, (1. Thessalonicher 5, 23.)

Nicht gesetzliche Gebote oder Forderungen sind also der Boden, auf den wir gestellt sind. Auf ihm würde heute wie immer ein völliges Mißlingen das Endergebnis sein. Nur Gnade und göttliches Erbarmen sind imstande, den Gläubigen innerlich und äußerlich umzugestalten; nur durch sie ver­mag er seinen Leib mit Herzensentschluß Gott darzustellen, heute, morgen, ja, bis an das Ende seines Lebens. Der Apostel nennt diese Darstellung ein lebendiges, heiliges, Gott wohl­gefälliges Schlachtopfer — lebendig im Gegensatz zu den Schlachtopfern im Alten Bunde, die getötet wurden, h e i l ig im Vergleich mit dem weltlichen und gesetzlichen Charakter jener Opfer, und Gott wohlgefällig, weil Gott Seinen wahren Platz darin empfängt und auch der Mensch den seinigen nach Gottes Gedanken einnimmt. Daß ein solcher Gottesdienst, der mit allen Übungen einer menschlichen Reli­gion, der Beobachtung fleischlicher Satzungen und Gebräu­che für immer abgeschlossen hat, unser vernünftiger (folge­richtiger) Dienst genannt wird, ist verständlich.

„Und seid nicht gleichförmig dieser Welt, sondern werdet verwandelt durch die Erneuerung eures Sinnes, daß ihr prüfen möget, was der gute und wohlgefällige und voll­kommene Wille Gottes ist" (V. 2). In diesen Worten fügt der Apostel der persönlichen Weihung für Gott noch ein zweites Element hinzu, ein Sichbewahren vor den bösen Einflüssen der Welt, des gewaltigen Systems, das Satan aufgerichtet hat, und das wir durchschreiten müssen. Es genügt nicht, äußerlich von der Welt getrennt zu wandeln, wir bedürfen der fortwährenden Erneuerung unseres Sinnes (vergl. Eph. 4, 23), indem wir uns unbefleckt erhalten von dem Geist unserer Tage, von den Gewohnheiten und herr­schenden Meinungen der Menschen, die Gott nicht kennen und in der Finsternis ihrer Herzen dahinleben. Nur so können wir in die Erkenntnis des „guten und wohlgefälligen und vollkommenen Willens Gottes" hineinwachsen, wie sie uns im Christentum dargeboten ist. Abgesehen von der Steige­rung, die offenbar in den drei Worten liegt, erkennen wir in ihnen sogleich den großen Unterschied zwischen der Stellung eines Christen und der eines religiösen Menschen, sei er Jude oder Namenchrist. Wie in allen anderen, so ist auch hier unser hochgelobter Herr unser vollkommenes Vorbild. Er kam in diese Welt, um den Willen Gottes zu tun, und in all den Widerwärtigkeiten und Prüfungen Seines mühe­vollen Pfades tat Er allezeit „das dem Vater Wohlge­fällige", indem Er in dem, was Er litt, den Gehorsam lernte. So sind auch wir berufen, in einer Welt, in welcher alles Gott entgegen ist, den Willen Gottes zu tun, und indem unser geistliches Verständnis in der steten Erneuerung unse­res Sinnes wächst, prüfen wir, was der gute und wohlge­fällige und vollkommene Wille Gottes ist. Das Ergebnis dieser geistlichen Energie ist eine stets sich vertiefende Ab­sonderung von den Grundsätzen der Welt. Wir machen Fort­schritte. Indem das eigene Ich immer klarer erkannt und gerichtet wird, tritt der vollkommene Weg des himmlischen Menschen auf Erden immer deutlicher vor unser Auge, und wir vernehmen Seinen Ruf: „Komm, folge mir nach!"

In dieser Nachfolge, die eine stete Selbstverleugnung unserseits in sich schließt, kommt eine hohe Meinung von der eigenen Person nicht auf. Zufrieden mit dem Platz, den Gott zuteilt, mit dem Wege, den Er anweist, bemüht man sich, „nicht höher von sich zu denken, als zu denken sich gebührt, sondern so zu denken . . ., wie Gott einem jeden das Maß des Glaubens zugeteilt hat" (V. 3). Der Unglaube trachtet immer nach hohen oder großen Dingen und übersieht dabei gerade das, was am Wege liegt und was Gott anweist. Das Bewußtsein, von Gott selbst einen Auftrag empfangen zu haben, verleiht dem Herzen Festigkeit und weckt das Gefühl der Verantwortlichkeit, diesen Auftrag nun auch nach bestem Vermögen auszuführen. Obwohl man den Bru­der und das ihm Anvertraute freudig anerkennt, sucht man den selbst empfangenen Dienst zu tun in dem süßen Bewußt­sein, darin Gottes Willen zu folgen.

Dies leitet den Apostel dahin, zum ersten und einzigen Male in diesem Briefe von dem „Leibe" zu reden, einem Ge­genstand, der uns aus dem 1. Korintherbrief und aus den Briefen an die Epheser und Kolosser so gut bekannt ist. Er tut es hier auch nur unter einem praktischen Gesichtspunkt, um die Wichtigkeit des Verhaltens der verschiedenen Glieder zueinander zu beleuchten. „Denn", so beginnt er, „gleichwie wir in einem Leibe viele Glieder haben, aber die Glieder nicht alle dieselbe Verrichtung haben, also sind wir, die Vielen, e i n Leib in Christo, einzeln aber Glieder vonein­ander" (V. 4. 5).

Das ist alles, was er an dieser Stelle als Lehre von Christo, dem Haupte, und Seinen Gliedern sagt. Er geht dann unmittelbar zu den Pflichten über, die auf den ein­zelnen Gliedern des Leibes als solchen ruhen. Wir sind nicht nur Gläubige, die da, wo Gott einem jeden persönlich seinen Platz in dieser Welt angewiesen hat, als Lebende aus den Toten Ihm dienen, sondern wir, die Vielen, gehören auch zusammen, bilden in Christo einen Leib, ja, sind „einzeln Glieder voneinander". Es würde etwas fehlen in unse­rem Briefe, wenn nicht auch von diesem Verhältnis und von der Verantwortlichkeit geredet wäre, die wir als Ganzes, als e i n Leib, im Zeugnis auch der Welt gegenüber tragen; denn der Leib ist in dieser Welt.

„Da wir aber verschiedene Gnadengaben haben" — betreffs der Frage, w i e diese Gaben uns mitgeteilt worden sind, müssen wir andere Stellen zu Rate ziehen — „nach der uns verliehenen Gnade: es sei Weissagung, so laßt uns weis­sagen nach dem Maße des Glaubens" (V. 6). Dem letzten Ausdruck begegneten wir schon einmal im 3. Verse. A 11 e s ist „verliehene Gnade", nichts ist aus uns, alle Gaben sind „Gnaden gaben", und doch liegt uns die Gefahr so nahe, mehr von uns zu halten, als recht ist, und über das zugeteilte Maß des Glaubens hinauszugehen. Vor allem ist dies bei dem Dienst am Worte der Fall. Weissagung war nach 1. Korinther 14, 1 die begehrenswerteste aller Gaben zur Erbauung, denn sie war es, die den Hörer am unmittel­barsten mit Gott in Berührung brachte. Aber was wurde daraus, wenn der Redende über das hinausging, was Gott ihm gegeben hatte, wenn er die Leitung des Geistes nicht beachtete? Und was wird heute daraus, wenn der Mensch auf den Schauplatz tritt? —

Doch es gibt verschiedene Gnadengaben, und alle sind nötig. Kein Glied kann zu dem anderen sagen: „Ich bedarf deiner nicht." Da hat einer die Gabe des Dienstes, ein zweiter die der Lehre, ein dritter die der Ermah­nung. (V. 7. 8.) Alle sind nötig „für das Wachstum des Leibes, zu seiner Selbstauferbauung in Liebe", alle sind nützlich und den Gliedern dazu gegeben, sich gegenseitig damit zu dienen. Der Apostel redet selbst von einer Gabe des Mitteilen s, des Vorstehens (vergl. 1. Thess. 5, 12; 1. Tim. 5, 17), ja, des Übens von Barmherzigkeit. (V. 8.) Der da mitteilt wird ermahnt zur Einfalt, der da vor­steht zum Fleiß, der Barmherzigkeit übt zur Freudigkeit. Die Ermahnungen sind so einfach, daß sie keiner Erklärung bedürfen; was uns not tut ist uns zu prüfen, inwieweit wir ihnen nachkommen, ein jeder an seinem Teile und Platze. Wie zeigt uns diese Stelle auch wiederum die Torheit des schon so bald aufgekommenen und in seinen Auswirkungen so verhängnisvollen Priester- und Laientums!

In den jetzt folgenden Ermahnungen betritt der Apostel einen breiteren Boden, indem er alle Arten von christlichen Verpflichtungen berührt, und das nicht nur im Blick auf das uns darin geziemende äußere Verhalten, sondern auch auf den Geist und die Gesinnung, die uns dabei beseelen. Zwei können dasselbe tun, und doch ist es nicht dasselbe. Die Art des einen wirkt wohltuend, die des anderen abstoßend.

Den ersten Platz, allen anderen voran, hat die Ermahnung: „Die Liebe sei ungeheuchelt." Die Liebe ist aus Gott, darum sollte sie stets echt und ungeheuchelt sein. Wer aus Gott geboren ist, ist der göttlichen Natur teilhaftig geworden und kann als solcher ermahnt werden, ein „Nachahmer Gottes" zu sein. Liebe ist, wie schon oft gesagt wurde, die Tätigkeit der göttlichen Natur in Güte, und sie soll in den aus Gott Geborenen in dieser Welt zur Darstellung gebracht werden. Ohne Liebe haben die schönsten Gaben wenig Wert.

Aber welch eine Aufgabe! Ach, wie leicht kann ein schöner, täuschender Schein als Wirklichkeit erscheinen wollen! Wie nötig ist da 'Aufrichtigkeit, verbunden mit einem steten Selbstgericht!

Und siehe da, als zweite Ermahnung folgt deshalb unmittel­bar: „Verabscheuet das Böse, haltet fest am Guten." Gott ist Liebe, aber die erste Botschaft, die Er uns hören läßt, lautet, „daß er Licht ist und gar keine Finsternis in ihm ist" (1. Joh. 1. 5). Wie reden solche Worte besonders ernst zu uns in Tagen des allgemeinen Sichgehenlassens, laodicäischer Sattheit und Lauheit! Freilich, da wo ein Herz in wahrer Liebe für Gott schlägt, wird auch diese entschie­dene Absonderung von allem Unreinen, dieses Verab­scheuen alles Bösen gefunden werden. Eine solche Seele wandelt im Licht, gleichwie Gott im Licht ist. Mit geringerem kann sie sich nicht zufrieden geben.

„In der Bruderliebe seid herzlich gegeneinander, in Ehrer­bietung einer dem anderen vorangehend; im Fleiße nicht säumig, inbrünstig im Geist; dem Herrn dienend. In Hoffnung freuet euch; in Trübsal harret aus; im Gebet haltet an; an den Bedürfnissen der Heiligen nehmet teil; nach Gastfreundschaft trachtet" (V. 10—13). Bruderliebe ist nicht dasselbe wie Liebe. (Vergl. 2. Petr. 1. 7.) Man kann sagen, daß sie in der Liebe ihre Quelle hat. Aber der Kreis oder Bereich ihrer Ausübung ist enger gezogen; es ist die Familie Gottes oder die Versammlung. Nichts könnte lieblicher sein als innige Bruderliebe; aber sie kann erkalten, kann an Herzlich­keit verlieren, nicht nur weil wir schwach sind, sondern auch weil es in unseren Geschwistern das eine und andere gibt, das unsere Liebe auf ermüdende Proben stellen kann. Darum: „In der Bruderliebe seid herzlich gegeneinander!" Petrus spricht von einer ungeheuchelten Bruder­liebe. (1. Petr. 1. 22.)

Aber nicht nur das, geht in der Demut, die den anderen höher achtet als sich selbst, einander voran, gebt den übrigen ein gutes Vorbild, indem ihr allen Fleiß beweiset und, geleitet durch den Geist, dem Herrn dienet in Treue und Ausharren!

Das erinnert den Schreiber an die herrliche Zukunft, die vor dem Gläubigen liegt: „in 'Hoffnung freuet euch", sowie an die auf dem Wege dahin liegenden Beschwerden: „in Trübsal harret aus", und schließlich an das große, nie ver­sagende Hilfsmittel: „im Gebet haltet an". Dabei werden wir niemals, wie der Apostel selbst es nicht tat, an anderer Not gefühllos vorübergehen, sondern mit offener Hand „an den Bedürfnissen der Heiligen teilnehmen", auch etwa bei uns einkehrende Gäste nicht nur „ohne Murren" bewirten, son­dern „nach Gastfreundschaft trachten" — Damit schließt dieser Teil der Ermahnungen, und unser Blick wird darauf gelenkt, wie Christus selbst hienieden gehandelt hat: „Segnet die euch verfolgen, segnet und fluchet nicht. Freuet euch mit den sich Freuenden, weinet mit den Weinenden" (V. 14. 15). Ein welch vollkommenes Beispiel hat unser hochgelob­ter Herr uns in diesem allen gegeben! Er vergoß Tränen tiefsten Mitgefühls über die Stadt voller Mörder, betete für Seine Feinde, und Seine Liebe war groß genug, um Ihn an den Freuden und Leiden der Menschen um Ihn her innig Anteil nehmen zu lassen. Machen wir es auch so, entgegen unserer so leicht erregbaren und selbstsüchtigen Natur!

„Seid gleichgesinnt gegeneinander; sinnet nicht auf hohe Dinge, sondern haltet euch zu den niedrigen; seid nicht klug bei euch selbst" (V. 16). Auch alle diese Dinge stehen in unmittelbarem Gegensatz zu unserer natürlichen, hochmütigen Gesinnung, die so leicht böse Unterschiede macht. Wie sehen wir sie wiederum in solch herrlicher Entfaltung auf dem Pfade des Hohen und Erhabenen, der sich herabließ zu den Ärmsten dieser Welt, ja, der selbst der Ärmste und Niedrigste unter ihnen wurde! Und wenn Sein Knecht Paulus später an die Philipper schreibt: „Diese Gesinnung sei in euch, die auch in Christo Jesu war", so dürfen wir gewiß sein, daß er selbst als Vorbild für alle in dieser Gesinnung wandelte. Nur so konnte er sagen: „Seid meine Nachahmer, gleichwie auch ich Christi" (1. Kor. 11, l; vergl. Phil. 3, 17). Gott schenke uns, ihm nachzueifern! Er bewahre uns auch in Gnaden vor allem Vertrauen auf Klugheit und Verstand! Wie manchem ist es ergangen wie einst der stolzen Stadt der Chaldäer, die da sprach: „Ich b i n's, und gar keine sonst", und deren „Weisheit und Wissen sie irregeführt hat!" (Jes. 47, 10).

Der Schluß unseres Kapitels zeigt uns noch einmal in ergreifenden Zügen das Bild des zweiten Menschen und die Gesinnung, die sich für uns, Seine Jünger, geziemt. Nie ver­galt Er Böses mit Bösem, nie wurde Trug in Seinem Munde erfunden; gescholten, schalt Er nicht wieder, leidend, drohte Er nicht, sondern übergab sich Dem, der recht richtet, (1. Petr. 2, 22. 23.) Das ist auch der Weg Seiner Jünger, indem sie zugleich vorsorglich sind für alles, was ehrbar ist vor den Menschen, oder, wie Paulus an die Philipper schreibt, alles erwägen, was rein und lieblich ist, was wohllautet und irgendwie eine Tugend oder ein Lob genannt werden kann. So wandelnd werden sie, soviel an ihnen ist, mit allen Menschen in Frieden leben, indem sie nicht das Ihrige suchen, sondern das, was der anderen ist. (V. 17. 18.)

Vor allem geziemt es sich für die Geliebten Gottes, nie sich selbst zu rächen, denn Zorn und Rache gehören Gott. Zu Seiner Zeit wird Er vergelten. Unsere Sache ist es, wenn der Zorn der Menschen sich wider uns erhebt, ihm Raum zu ge­ben, d. h. seinen Ausbrüchen nicht die Stirn zu bieten, son­dern still den Sturm über uns ergehen zu lassen und alles Gott anheimzustellen. „Denn es steht geschrieben: „Mein ist die Rache; ich will vergelten, spricht der Herr" " (V.19). Was Gott von uns erwartet, ist, nicht nur allen Menschen unsere Gelindigkeit kundwerden zu lassen, sondern auch, von Christo lernend, unseren Feinden Liebe zu beweisen, den Hungrigen zu speisen, den Durstigen zu tränken. Vielleicht gelingt es uns auf diesem Wege, sein Herz und Gewissen zu erreichen: „denn wenn du dieses tust, wirst du feurige Kohlen auf sein Haupt sammeln" (V. 20). Läßt er sich nicht beschämen, umso schlimmer für ihn! In jedem Falle soll der Christ, seiner neuen Natur folgend, sich nicht von dem Bösen überwinden lassen, sondern sich befleißigen, das Böse mit dem Guten zu überwinden. (V. 21.) So erweist er sich als ein Nachahmer des Gottes, der in Christo all das Böse in uns mit tausendfachem Guten überwunden hat, und dessen Freude es ist, solang die Zeit der Gnade noch währt, unauf­hörlich nach diesem Grundsatz zu handeln.

Wie groß die Freude ist, auf solchem Wege einen Feind zu überwinden und vielleicht eine Seele vom Tode zu er­retten, das vermag nur der zu fühlen, dem es vergönnt ist, einen derartigen Sieg zu erringen. Freilich, es kostet etwas, sich geduldig übervorteilen, schmähen, niedertreten, als „Auskehricht" behandeln zu lassen, aber der Lohn ist umso süßer, je teurer er errungen wird.

Kapitel 13
Von der Ermahnung, nicht sich selbst zu rächen, sondern das Böse mit dem Guten zu überwinden, wendet sich der Apostel in dem vorliegenden Kapitel zu einer Verpflichtung allgemeinerer Art, die auf jedem Menschen, in besonderer Weise aber auf dem Christen ruht: „Jede Seele unterwerfe sich den obrigkeitlichen Gewalten; denn es ist keine Obrig­keit, außer von Gott, und diese, welche sind, sind von Gott verordnet" (V. l.).

„Jede Seele" — beachten wir den Ausdruck; er ist um­fassender als „jeder von euch" oder „jeder Christ", und ist wohl mit Absicht so gewählt. (Vergl. Kap. 2, 9.) Der ganze Hausstand des Gläubigen, Kinder, Angehörige, Gesinde, alles ist miteingeschlossen. Der Christ ist zwar nicht von der Welt, aber noch i n der Welt, gleich seinen Mitmenschen, und so ist er verpflichtet, den obrigkeitlichen Gewalten zu gehorchen, und zwar aus Gründen, die für ihn von der höch­sten Bedeutung sind. Zunächst ist die Obrigkeit „von Gott verordnet", dann ist sie „Gottes Dienerin", und schließlich sind die von ihr angestellten Personen „Gottes Beamte" (V. 4. 6). Es könnten kaum ernstere Gründe für unsere Verpflichtungen der Obrigkeit gegenüber aufgeführt werden. Ganz ähnlich ermahnt der Apostel Petrus in seinem ersten Briefe die Gläubigen aus der Beschneidung, sich um des Herrn willen aller menschlichen Einrichtung zu unterwerfen. (Kap. 2, 13. 14.)

Allerdings möchte hier die Vernunft, wie sie es so gern tut, ihre Stimme erheben und dem einfachen Gebot Gottes die Einwendung entgegenstellen: „Ja, aber wenn die Obrigkeit selbst ihre Abhängigkeit von Gott nicht anerkennt? wenn sie nach Willkür schaltet und waltet, harte, ungerechte Verfügungen trifft usw.? Was dann? Soll ich mich ihr dann auch noch bedingungslos unterwerfen?" Selbstver­ständlich bleibt das bekannte, dem Synedrium gegenüber ausgesprochene Wort der Apostel: „Man muß Gott mehr gehorchen als Menschen", allezeit zu Recht bestehen. Stellt eine obrigkeitliche Gewalt eine Forderung an uns, die dem klar ausgesprochenen Willen Gottes zuwiderläuft, deren Erfüllung also unser Gewissen belasten würde, dann muß dieser Wille von uns beachtet und der obrigkeitlichen For­derung übergeordnet werden. Aber auch nur in diesem Falle. In allen anderen habe ich mich einfach zu unterwerfen, ganz gleich, welchen politischen Charakter die Obrigkeit trägt, ob sie monarchisch, republikanisch oder was irgend sonst ist, ob sie ihren Verpflichtungen nachkommt oder nicht. Denn es gibt keine Obrigkeit oder Gewalt außer von Gott. Wie einfach macht das den Weg für den Christen!

Zur Zeit der Abfassung unseres Briefes war es wahrlich nicht leicht, diesem Gebot nachzukommen, denn die obrig­keitlichen Gewalten waren durchweg heidnisch und götzen­dienerisch. Sie erblickten deshalb in den Gläubigen, die der Staatsreligion den Rücken gewandt hatten und sich stand­haft weigerten, den Göttern zu räuchern, ihre natürlichen Feinde, bedrückten und verfolgten sie. Trotz allem aber blieb es wahr, daß die Regenten von Gott gesetzt sind, um dem Bösen zu steuern, das Gute zu fördern und zu belohnen. (V. 3.) Die Obrigkeit war und ist heute, wie bereits gesagt, „Gottes Dienerin". Zweimal hebt der Apostel das im 4. Verse ausdrucksvoll hervor: „Sie ist Gottes Dienerin, dir zum Guten . . . Sie trägt das Schwert nicht umsonst; denn sie ist Gottes Dienerin, eine Rächerin zur Strafe für den, der Böses tut." Darum, wer sich ihr widersetzt, „widersteht der Anordnung Gottes i die aber widerstehen, werden ein Urteil (Gericht) über sich bringen" (V. 2). Mit anderen Worten: wo irgend eine Obrigkeit ist, da ist sie von Gott; der Gläu­bige sieht Gott in ihr und gehorcht ihr deshalb willig. Er würde ja Gott ungehorsam sein, wenn er es nicht täte.

Möglicherweise bringt dieser Gehorsam dem Christen Un­annehmlichkeiten mancherlei Art, hat vielleicht gar emp­findliche Verluste und Leiden für ihn im Gefolge. Aber das darf sein Verhalten nicht bestimmen. Hat er in dieser Welt der Ungerechtigkeit überhaupt etwas anderes zu erwarten? Er ist ein Fremdling und Pilgrim in ihr, sein Bürgerrecht ist in den Himmeln. Durch den Glauben in die innigste Ver­bindung mit Gott gebracht, schaut er seinen Platz und sein Erbteil droben. Er ist gesegnet mit jeder geistlichen Seg­nung in den himmlischen Ortern. Auf seiner Reise zur himmlischen Heimat ist er nicht berufen, sein Recht in dieser Welt zu suchen, noch weniger auf ihre soziale oder politische Gestaltung tätig einzuwirken oder gar eine herrschende Stellung in ihr einzunehmen. Er wird einmal mit Christo herrschen, wenn die Zeit dafür gekommen ist; aber sein gegenwärtiges Teil ist, zu leiden und, soviel an ihm ist, mit allen Menschen in Frieden zu leben, ihr Wohl zu suchen und „durch Gutestun die Unwissenheit der unverständigen Men­schen zum Schweigen zu bringen" (1. Petr. 2, 15).

Haben wir das einmal verstanden, so wird unsere Stellung und unser Verhalten der Obrigkeit gegenüber sehr einfach. Indem wir Gott in ihr erblicken, verschwinden die Schwierig­keiten, und die meisten Fragen lösen sich von selbst. Wir erkennen dann auch die Notwendigkeit, ihr „ untertan zu sein, nicht allein der Strafe wegen — die uns im Falle eines Ungehorsams treffen würde —, sondern auch des Gewissens wegen" (V. 5). Aus dem gleichen Grunde können wir, wie bereits betont, etwaigen Befehlen nicht gehorchen, die mit dem bestimmten Willen Gottes und unse­rem Charakter als Christen in Widerspruch stehen. Es liegt uns aber niemals ob, die Frage zu entscheiden, wie die augenblicklich regierende Obrigkeit entstanden ist, wer die Gewalt ausübt und wie das geschieht. Wo ein Christ leben und in welcher irdischen Stellung er sich befinden mag, er hat der Obrigkeit zu gehorchen, der er unterstellt ist und die heute regiert; kommt morgen, vielleicht selbst infolge einer gewaltsamen Umwälzung, eine andere, so hat er sich d e r zu unterwerfen, ganz gleich, ob sie ihm gefällt oder nicht. Auch hat er nicht zu untersuchen, ob die Verordnungen, welche die jeweilige Obrigkeit trifft, die Gesetze, die sie gibt, richtig oder unrichtig sind, ob sie ihm und anderen Nutzen oder Schaden bringen; seine Sache ist, für die Obrig­keit zu beten, daß Gott sie richtig leiten und ihr Einsicht und Weisheit schenken möge, zum Wohle des Landes und Volkes zu regieren, und — ihr ohne Murren zu gehorchen, soweit das mit seinem Gewissen verträglich ist. Wenn er verwirklicht, daß seine Interessen nicht mit dieser Erde, sondern mit dem Himmel verbunden sind, wird ihm das auch nicht schwer werden.

Wir erinnern uns hier unwillkürlich an die eindringliche und, heute wie immer, zeitgemäße Ermahnung des Apostels in 1. Timotheus 2: „Flehen, Gebete, Fürbitten, Danksagungen für alle Menschen zu tun, für Könige und alle, die in Hoheit sind, auf daß wir ein ruhiges und stilles Leben führen mögen in aller Gottseligkeit und würdigem Ernst" (V. 1. 2). Anstatt über die Obrigkeit zu reden, uns über sie und ihre Maßnahmen zu ereifern, vielleicht gar lästernde Urteile über sie zu fällen (vergl. Tit. 3, 1. 2), wie es hier und da geschehen sein mag, ist es unser Vorrecht und unsere Pflicht, fürbittend für sie einzutreten, Fürbitten und Danksagungen für sie zu Gott emporzusenden. Paulus ermahnt vor allen Dingen, das zu tun. Wird eine treue Beachtung dieser Ermahnung seitens der Gläubigen nicht mehr Erfolg haben, als alle die vielleicht gutgemeinten Bemühungen, selbst helfend und gestaltend in den Lauf der Dinge einzugreifen?

Niemals gibt das fehlerhafte Verhalten einer höheren oder niedrigen Gewalt, eines der Beamten Gottes, dem Christen ein Recht, seinerseits nun auch seinen Verpflichtungen nicht treu nachzukommen. Fehlt die Obrigkeit in ihrem Auftrag als Gottes Dienerin, so hat sie es mit Gott zu tun; der Christ aber ist gehalten, unter allen Umständen „das Gute zu üben", auch allen zu geben, was ihnen gebührt, „die Steuer, dem die Steuer, den Zoll, dem der Zoll, die Furcht, dem die Furcht, die Ehre, dem die Ehre gebührt" (V. 7). Auch das ist ein Kapitel, ir welchem es manches zu lernen gibt; aber das Lernen würde uns bedeutend erleichtert und manchem Kla­gen und Seufzen der Boden entzogen werden, wenn wir wiederum stets im Auge behielten, daß wir nur Fremdlinge und Beisassen hienieden sind, und daß auch all unser irdi­scher Besitz, unser Verdienst usw. nicht eigentlich uns ge­hört, sondern daß wir nur als „Verwalter" darüber bestellt sind. Eins ist gewiß; wenn wir nicht nach hohen Dingen trachten, sondern uns zu den niedrigen halten (Kap. 12, 16), so werden wir gern und willig allen das ihnen Gebührende oder von ihnen Erwartete geben, umsomehr als wir Gott in allem sehen und Ihm auch in diesen äußeren Dingen zu dienen wünschen.

Im 8. Verse geht der Apostel dann noch einen Schritt weiter, indem er sagt: „Seid niemand irgend etwas schuldig, als nur einander zu lieben; denn wer den anderen liebt, hat das Gesetz erfüllt." Daß er bei dieser Ermahnung zunächst an die eben besprochenen Verpflichtungen denkt, ist kaum zu bezweifeln, aber wir dürfen gewiß auch eine Warnung vor leichtfertigem Schuldenmachen darin erkennen, wie solches leider immer wieder auch unter Christen vorkommt. Es ist und bleibt demütigend für einen Gläubigen, aus irgend einer Ursache in Schulden geraten zu sein, und es sollte den auf­richtigen Eifer in ihm wecken, sie so bald wie möglich und soweit es in seinen Kräften steht abzutragen. Von dieser allgemeinen Regel ist nur e i n Ding ausgeschlossen, und das ist die Liebe. Diese Schuld ist berechtigt und bringt auf niemand eine Unehre, weder vor Gott noch vor Men­schen. Sie jemals abzutragen ist auch unmöglich. Gott selbst hat uns darin durch Seine Liebe zu bleibenden Schuldnern gemacht.

Zugleich ist die Liebe die Erfüllung des Gesetzes. Alle die Gebote, welche die Pflichten des Menschen seinen Mitmen­schen gegenüber zum Ausdruck bringen, finden sich in dem einen zusammengefaßt: „Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst" (V. 9). Dieses Gebot war von alters her da, aber niemand war imstande, es zu halten. Die Gnade allein, die uns in Christo die ganze Vollkommenheit und Fülle der Liebe geoffenbart hat, vermag das Herz umzugestalten und uns zu befähigen, nicht mehr nach dem Fleische, sondern nach dem Geiste zu wandeln; und wenn wir das tun, so wird „die gerechte Forderung des Gesetzes in uns erfüllt". (Vergl. Kap. 8, 3. 4.) „Die Liebe tut dem Nächsten nichts Böses." Sie würde ja ihrer Natur unmittelbar zuwider handeln müssen. „So ist nun die Liebe die Summe des Gesetzes", oder wie der Apostel den Galatern zuruft: „Das ganze Gesetz ist in einem Worte erfüllt, in dem: „Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst" " (Gal. 5, 14).

Doch es gibt noch einen anderen Beweggrund für den Christen, treu und wachsam zu sein, und diesen nennt der Apostel jetzt. „Und dieses noch, da wir die Zeit erkennen, daß die Stunde schon da ist, daß wir aus dem Schlaf auf­wachen sollen; denn jetzt ist unsere Errettung näher, als da wir geglaubt haben: Die Nacht ist weit vorgerückt, und der Tag ist nahe" (V. 11. 12). Solang „die Sonne der Gerechtig­keit" nicht aufgegangen ist, währt die Nacht dieser Welt. Die Menschen mögen in Geschäftigkeit und Vergnügungs­sucht ein Vergessen suchen und vielleicht für Augenblicke es finden, aber für jeden, der geistliches Verständnis hat und Christum kennt, ist es Nacht, finstere Nacht. Die Schatten werden umso tiefer, je weiter die Nacht vorrückt. Aber in dem Herzen des Gläubigen ist es hell, er ist aus dem Schlaf aufgewacht, in seinem Herzen ist der Morgenstern bereits aufgegangen. Die Nacht ist weit vorgerückt, und während die Welt trotz aller Warnungen fortfährt zu schlafen, schaut er frohlockend die Dämmerung des Tages. Sein Herr verzieht nicht zu kommen, mögen auch etliche es für einen Verzug achten. Jeder Tag bringt ihn dem Ziele näher, und so steht er da gleich einem Knechte, der mit gegürteten Lenden und brennender Lampe auf den Hausherrn wartet.

„Die da schlafen, schlafen des Nachts, und die da trunken sind, sind des Nachts trunken", lesen wir in 1. Thessalonicher 5, 7. Was kann man von solchen Leuten anders erwarten, als unfruchtbare „Werke der Finsternis", schändliche Dinge, deren Namen man nicht einmal in den Mund nehmen möchte? (V. 12. 13; vergl. Eph. 5, 11. 12.) Der Christ dagegen wandelt „anständig, wie am Tage". Werke der Finsternis sind un­vereinbar mit einem Menschen, der aus der Gewalt des Fürsten der Finsternis errettet und berufen ist, nunmehr als ein „Kind des Lichts" zu wandeln. Es ist ihm „genug, die vergangene Zeit den Willen der Nationen vollbracht und den Lüsten der Menschen gelebt zu haben". Gern folgt er der Ermahnung, „die Werke der Finsternis abzulegen und die Waffen des Lichtes anzuziehen". Ohne Kampf geht das freilich nicht ab, denn wir befinden uns in dem Reiche Satans, des Fürsten der Finsternis, und Mächte der Bosheit stehen uns entgegen. Aber wenn das Licht, in welchem wir wandeln, unsere Waffenrüstung ausmacht, wenn die Macht des Lichts, der Wahrheit und Gottseligkeit, die jenem Tage angehört, in unseren Herzen wohnt, werden die Anläufe und Listen des Feindes von uns entdeckt werden, sie werden keinen Eingang in unsere Seele finden, keine Gewalt über uns gewinnen. Indem wir der Ermahnung folgen, „den Herrn Jesus Christus anzuziehen", d. h. in all unserem Denken, Reden und äußeren Tun den Charakter und Wandel unseres hochgelobten Herrn, des wahren Lichtes des Tages, zur Dar­stellung zu bringen, werden wir nicht nur „nicht Vorsorge treiben für das Fleisch zur Erfüllung seiner Lüste" (V. 14), nicht Dingen nachgehen, in welchen diese Lüste ihre Nahrung finden, sondern „so wandeln, wie er gewandelt hat".

Noch einmal denn: Die Zeit unserer Errettung ist jetzt näher, als da wir geglaubt haben. Die Stunde ist schon da, daß wir aus dem Schlafe aufwachen sollten. „Deshalb sagt er: Wache auf, der du schläfst, und stehe auf aus den Toten, undderChristuswirddirleuchten!" (Eph. 5.14).

Kapitel 14
Das Vorhandensein so vieler Gläubiger aus den Juden in der Versammlung zu Rom gab, wie wir schon früher sahen, Anlaß zu mancherlei Schwierigkeiten. Es ist ja verständlich, daß der Gegensatz zwischen den jüdischen und heidnischen Elementen leicht zu Reibungen führte. Die aus dem Juden­tum Gekommenen, von Jugend auf an die strenge, zeremo­nielle Beobachtung von Tagen, Enthaltung von Speisen und dergleichen gewöhnt, konnten nur schwer von diesen Dingen loskommen; für die Christen aus den Heiden bestand diese Schwierigkeit nicht. Es gab anscheinend viele in Rom, die sich in ihrem Gewissen noch gebunden fühlten, die eine oder andere mosaische Verordnung zu beobachten, während andere, die in Christo des Gesetzes Ende erkannt und in Seinem Tode Befreiung von aller gesetzlichen Knechtschaft gefunden hatten, in der Freiheit wandelten, für die Christus sie freigemacht hatte. Der Apostel nennt die einen „Schwa­che", die anderen „Starke".

Wir dürfen uns unter den „Schwachen" also keineswegs Gläubige vorstellen, die zu Nachlässigkeit oder gar Untreue im Wandel neigten; sie waren viel eher von einer über­triebenen Gewissenhaftigkeit und bemühten sich ängstlich, durch die Beobachtung der alten jüdischen Satzungen Gott wohlzugefallen und so Ruhe zu finden für ihre Seelen. In dem Bewußtsein, daß „das Alte" von Gott angeordnet war, waren sie schwach im Ergreifen der neuen Stellung des Gläubigen in Christo, dem Auferstandenen. Die dem Heiden­tum entronnenen Gläubigen hatten das ganze götzendiene­rische System, von dem sie befreit worden waren, als ein böses Werk des Feindes erkannt, und darum war die Ge­fahr, an einzelnen heidnischen Gebräuchen festzuhalten, für sie nicht groß.

Wie sollten nun solche „Schwache im Glauben" behandelt werden? Sollte man jene äußerlichen Dinge zu einem Gegen­stand des Disputierens machen, oder gar die Schwachen ge­ringschätzen und zurückweisen? Nein; die menschliche Natur ist zwar heute wie damals geneigt, das eine oder das andere zu tun, aber die Liebe handelt nicht so. Wir sagen „heute wie damals", denn die Gefahr, die dem christlichen Zeugnis in jenen ersten Tagen drohte, besteht zu allen Zeiten. Auch heute noch kann man dem: „Berühre nicht, koste nicht, be­taste nicht!" häufig genug in der einen oder anderen Form begegnen; viele Gläubige tun, als „lebten sie noch in der Welt" und wären noch allerlei Satzungen und Verordnungen unterworfen. Die wahre „Freiheit", die den Gläubigen in den Stand setzt, das zu suchen und auf das zu sinnen, „was droben ist", ist für viele eine unbekannte Sache.

Mit den Worten: „Den Schwachen im Glauben aber nehmet auf, doch nicht zur Entscheidung zweifelhafter Fragen", beginnt der Apostel seine Belehrung. Er benimmt dadurch der nicht leicht zu behandelnden Frage von vorn­herein den scharfen Stachel. „Nehmet auf", nicht: „Weiset zurecht, verurteilet". Die Liebe hat immer ihre besondere Art, die Dinge anzufassen. Indem sie in Gnade handelt und alles zu ertragen vermag, weist sie nicht kühl zurecht, son­dern spricht; „Deshalb nehmet einander auf, gleichwie auch der Christus euch aufgenommen hat, zu Gottes Herrlich­keit" (Kap. 15, 7). Christus ist ihr Vorbild, Sein Tun ihr Muster.

Freilich zur Entscheidung zweifelhafter Fragen, in Fällen, wo die Schrift keine bestimmte Anweisung gibt, sondern die Beantwortung dem geistlichen Verständnis des einzelnen überläßt, sollte der Schwache nicht herangezogen werden. Dazu war er nicht geschickt. „Einer glaubt, er dürfe alles essen, der Schwache aber ißt Gemüse" (V. 2). Der Schwache bewies die Schwachheit seines Glaubens darin, daß er sich ein Gewissen daraus machte, Fleisch zu essen. Indem er nicht in dem Licht und der Kraft der neuen Schöpfung lebte, fiel es ihm schwer, „die Elemente der Welt" als hinfällig und kraftlos zu erkennen.

Aus dieser Sachlage ergaben sich zwei Gefahren für die Gläubigen in Rom. Die einen, die Starken, die da glaubten, alles essen zu dürfen, konnten leicht dahin kommen, ge­ringschätzend oder gar verächtlich auf ihre schwächeren Brüder herabzuschauen; die anderen waren in Gefahr, ihre Brüder zu richten, weil diese etwas taten, was ihr Gewissen ihnen verbot, wovon sie freilich ein stärkerer Glaube befreit haben würde. Nun, „wer ißt, verachte den nicht, der nicht ißt, und wer nicht ißt, richte den nicht, der ißt, denn Gott hat ihn aufgenommen" (V. 3). Damit stellt der Apostel die ganze Frage auf einen Boden, der für den einen wie für den anderen bindend und verpflichtend war. Ob ein Gläu­biger aus Israel oder aus den Heiden, ob ein Schwacher oder ein Starker — Gott hatte ihn aufgenommen. Ohne Zweifel dachte der, welcher glaubte, alles essen zu dürfen, richtiger als sein Bruder, der aus Gewissensbedenken nur Gemüse aß. Aber so begehrenswert und gut Erkenntnis ist, Liebe, wahre Liebe ist besser. Sie bewahrt den Starken vor dem Verachten des schwächeren Bruders, und den Schwachen vor dem Richten des stärkeren.

In der weiteren Verfolgung des letzten Gedankens sagt der Apostel: „Wer bist du, der du den Hausknecht eines Anderen richtest? Er steht oder fällt seinem eigenen Herrn. Er wird aber aufrecht gehalten werden, denn der Herr ver­mag ihn aufrecht zu halten" (V. 4). Wer gibt dir das Recht, den Hausknecht eines anderen zu richten? Ist er dir, oder ist er seinem Herrn verantwortlich? Steht oder fällt er dir, oder ihm? Wird nicht sein Herr, dem er zu dienen begehrt, ihn aufrecht halten? Wahrlich, Er vermag es, wenngleich wir in unserer Torheit vielleicht anders denken möchten. Aller­dings müssen wir uns immer wieder ins Gedächtnis rufen, daß in unserem Kapitel von Gewissensfragen die Rede ist, die der eine so, der andere so entscheidet, nicht etwa von bösen Handlungen. Sünde soll ich niemals auf meinem Bruder dulden, aber um Sünde handelt es sich hier nicht. Und wenn wir ermahnt werden, selbst dann einander in Liebe zu ertragen und einander zu vergeben, wenn einer Klage hat wider den anderen (Kol. 3, 13), wieviel mehr sollten wir dann bei solchen Gewissensfragen zur Duldsam­keit bereit sein! Der Apostel erklärt die Sache denn auch folgendermaßen:

Der eine, der einen Tag höher hält als den anderen, tut das um des Herrn willen — „er achtet ihn dem Herrn", und der andere hält aus dem gleichen Grunde jeden Tag gleich. Femer: Der Essende ißt dem Herrn, indem er Gott für die Speise, die er genießt, dankt, und der Nichtessende „ißt dem Herrn nicht", und auch er „danksagt Gott". Wer darf nun den einen oder anderen für das, was er tut oder nicht tut, verachten oder richten? Wünschen nicht beide dem Herrn zu dienen und zu gefallen, wenn auch, nach dem Maße ihres geistlichen Verständnisses, in verschiedener Weise? Und sind sie nicht Ihm allein verantwortlich? Weiter, woher hat der Starke, wenn er wirklich so genannt werden kann, seine Stärke? Muß die Gnade ihn nicht genau so gut aufrecht halten wie den Schwachen? Nur eines darf dabei nicht übersehen werden: „Ein jeder aber sei in seinem eigenen Sinne v ö l l i g ü b e r z e u g t !" (V. 5. 6). Nur so kann er mit glücklichem Herzen seinen Weg gehen. Aber wieviel Unverstand mag der Herr wohl auch heute noch in dieser Beziehung bei den Seinigen zu ertragen haben!

Es ist bei dieser Gelegenheit wohl kaum nötig zu bemer­ken, daß „der erste Tag der Woche" nicht zu den Tagen gehört, die man halten oder nicht halten kann. Er wird in Offenbarung 1. 10 ausdrücklich „des Herrn Tag" ge­nannt, ein Tag, der in besonderer Weise Ihm gehört. Er ist geweiht durch die Auferstehung unseres Herrn und Heilan­des in der Frühe dieses Tages und durch Sein Erscheinen am Abend in der Mitte Seiner versammelten Jünger. (Joh. 20; vergl. auch Apstgsch. 20, 7; 1. Kor. 16, 2.) Für den Christen, der sich mit Christo gestorben und auferweckt weiß, gibt es keinen Tag, der mit dem Auferstehungstage seines Herrn verglichen werden könnte. Er liebt und ehrt ihn, nicht auf Grund eines gesetzlichen Gebots, sondern weil er das liebliche, charakteristische Kennzeichen des gegenwärtigen Zeit­alters der Gnade ist, der Tag, an welchem er sich mit seinen Mitgläubigen dankbar versammelt, um seines abwesenden Herrn zu gedenken und Seinen Tod zu verkündigen.

Kehren wir nach dieser kurzen Abschweifung zu unserem Gegenstand zurück. Wir haben uns also davor zu hüten, zu verachten oder zu richten. „Denn keiner von uns lebt sich selbst, und keiner stirbt sich selbst" (V. 7). Diese Tatsache, die in einem Sinne von allen Menschen wahr ist, wird hier vornehmlich auf die Gläubigen angewandt. „Denn sei es, daß wir leben, wir leben dem Herrn; sei es, daß wir sterben, wir sterben dem Herrn. Sei es nun, daß wir leben, sei es, daß wir sterben, wir sind des Herrn" (V. 8). Kostbare Tatsache! Wir gehören nicht uns selbst an, weder im Leben noch im Sterben, wir sind unseres Herrn. Keiner von uns lebt, keiner stirbt sich selbst. Der Apostel gründet diese Tatsache auf den Tod und die Auferstehung Christi. Dadurch hat Er als Mensch Seine Anrechte an uns, ja, Seinen Anspruch, über Lebendige und Tote zu herrschen, erworben. „Hierzu ist Christus gestorben und wieder lebendig geworden" (V. 9). In Ihm, dem Todesüberwinder, sind wir für ewig geborgen. Er ist unser Herr, dem wir alles verdanken, der uns teuer erworben hat, und dem wir als Knechte und Mägde Rechen­schaft über unser Tun und Lassen schuldig sind, in dessen Rechte wir uns aber auch nicht ungestraft einmischen dürfen.

Darum: „Du aber, was richtest du deinen Bruder? Oder auch du, was verachtest du deinen Bruder?" Ihr beide, ob schwach oder stark, bekennt, diesem hohen, gewaltigen Herrn, der über Lebendige und Tote zu herrschen berufen ist, nach Leib und Seele anzugehören, und ihr wollt einander richten oder verachten? Wie töricht und ungeziemend ist euer Tun! Wißt ihr nicht, daß wir alle einmal vor dem Richterstuhl Gottes stehen werden? (V. 10.) „Denn es steht geschrieben:

„So wahr ich lebe, spricht der Herr, mir soll sich jedes Knie beugen, und jede Zunge soll Gott bekennen." Also wird nun ein jeder von uns für sich selbst Gott Rechenschaft geben" (V. 11. 12). Wenn aber jedes Knie (von Gläubigen und Ungläubigen) sich vor Gott beugen und ein jeder von uns fürsichselbst Gott Rechenschaft geben muß, was haben wir dann jetzt mit dem Richten anderer zu tun? Heißt das nicht tatsächlich in Gottes Rechte eingreifen? Darum: „Laßt uns nicht mehr einander richten!" (V. 13).

Ehe wir weitergehen, möchte ich noch einen Augenblick bei dem Richterstuhl verweilen. Wir finden das Wort hier und in 2. Korinther 5, 10, hier in Verbindung mit Gott, dort mit Christo. An keiner der beiden Stellen wird aber gesägt, daß der Gläubige vor diesem Richterstuhl gerichtet werden müsse. Es würde ja seine ewige Verdammnis be­deuten. Das gerechte Gericht Gottes ist in Christo am Kreuze an ihm vollzogen worden, Gericht kann ihn deshalb nie mehr treffen. Aber er muß offenbar werden, sein ganzes Leben, das Gute und das Böse, wird in dem untrüg­lichen Licht dieses Richterstuhls gesehen werden, und er wird jenachdem Anerkennung und Lohn empfangen, oder Schaden leiden. Wir alle sind ja Menschen, die dem Gott, vor dem einmal jedes Knie sich beugen wird, Rechenschaft schuldig sind, Knechte und Mägde, die im Blick auf ihren Dienst und die Verwaltung des ihnen Anvertrauten sich dereinst vor ihrem Herrn zu verantworten haben.

Wenn das Bewußtsein, daß ein jeder von uns einmal Rechenschaft ablegen muß, in unseren Herzen lebt, werden wir uns nicht nur vor allem „Richten" hüten, sondern der Wunsch, dem Herrn zu gefallen, der uns und unsere Brüder alle mit der gleichen Liebe liebt, wird uns auch antreiben, alles zu vermeiden, was dem Bruder einen Anstoß oder ein Ärgernis geben könnte. Nach den Worten des Apostels ist vielmehr das Richten des eigenen Tuns am Platze. Er war für sich selbst ja völlig, „in dem Herrn Jesus", überzeugt, daß „nichts an sich selbst gemein ist, sondern nur dem, der es für gemein achtet" (V. 14). Er kannte die Gedanken des Herrn in dieser Beziehung und war über alle auf Speise und Trank usw. bezüglichen Fragen erhaben. Aber indem „sein Herz durch Gnade befestigt war" (Hebr. 13, 9), leitete ihn die Liebe Christi, die Freiheit, die er in Ihm besaß, in keiner Weise zu einem Anlaß für das Fleisch zu benutzen. Lieber wollte er für immer kein Fleisch mehr essen, als seinem Bruder ein Ärgernis geben, (1. Kor. 8, 13.)

„Denn wenn dein Bruder wegen einer Speise betrübt wird, so wandelst du nicht mehr nach der Liebe. Verdirb nicht mit deiner Speise den, für welchen Christus gestorben ist" (V. 15). Wenn ich selbst auch „stark" bin und weiß, daß nichts an sich selbst gemein ist, soll ich doch das Gewissen meines Bruders achten und ihn nicht wegen einer Speise betrüben. Die Liebe soll, wie weiter oben schon gesagt, mein Verhalten bestimmen. Handle ich anders, so setze ich mich in Gegensatz zu der Gesinnung und Handlungsweise Christi und verderbe, soweit es an mir liegt, meinen Bruder, für welchen Christus gestorben ist. E r hat für den Schwachen Sein Leben gelassen, und ich kann mich nicht einmal um seinetwillen einer Speise enthalten, sondern veranlasse ihn vielleicht durch mein Verhalten, etwas zu tun, was sein Ge­wissen ihm verbietet, d. h. also ich verleite ihn, zu sündigen, und bringe ihn damit auf einen Weg, der im Verderben enden würde, wenn nicht Gottes Gnade ins Mittel träte. Ähnlich sagt Paulus in 1. Korinther 8, 11: „Durch deine Er­kenntnis kommt der Schwache u m." Mein Verhalten führt dahin, das Werk Christi, soweit es auf mich ankommt, wirkungslos zu machen.

„Laßt nun euer Gut nicht verlästert werden!" (V. 16). Die Freiheit, in welcher wir als Christen stehen, ist ein kostbares Gut; aber laßt uns wohl zusehen, daß unser Tun nicht den üblen Leumund eines fleischlichen Ungebundensein auf uns bringe! Hüten wir uns auch davor, unseren Geschwistern etwas aufdrängen zu wollen, was wir als erlaubt betrachten, während es ihnen Bedenken macht. Statt zu der so nötigen Erbauung führt ein solches Verhalten zur Zerstörung, so ge­ringfügig die in Rede stehenden Dinge, Essen und Trinken, uns an und für sich auch erscheinen mögen. „Denn das Reich Gottes ist nicht Essen und Trinken, sondern Gerechtigkeit und Friede und Freude im Heiligen Geiste" (V. 17).

Der Leser wird verstehen, daß der Ausdruck „Reich Gottes" hier nicht die Bedeutung eines Abschnittes in den verschiede­nen Haushaltungen oder Verwaltungen Gottes hat, sondern in sittlichem oder geistlichem Sinne zu verstehen ist. Unter diesem Gesichtspunkt betrachtet, hat das Reich Gottes nichts zu tun mit den vergänglichen Dingen dieses Lebens, sondern umfaßt die geistlichen Güter, die dem Christen geschenkt sind: „Gerechtigkeit und Friede und Freude im Heiligen Geiste", das was er innerlich genießt, was ihn im Geiste wandeln läßt und ihn davor bewahrt, irgendwie dem Fleische zu folgen. „Denn wer in diesem dem Christus dient, ist Gott wohlgefällig und den Menschen bewährt" (V. 18). In diesem wie in allem anderen sind wir berufen, Christo zu dienen, und wer das in Treue und Einfalt tut, darf auf das Wohlge­fallen Gottes rechnen und wird ein Zeugnis und ein Segen sein für seine Mitmenschen.

„Also laßt uns nun dem nachstreben, was des Friedens ist, und dem, was zur gegenseitigen Erbauung dient" (V. 19). Gott ist „der Gott des Friedens", und der Herr wird „der Herr des Friedens" genannt, der uns den Frieden zu geben vermag immerdar auf alle Weise. (2. Thess. 3, 16.) Sollten wir nun nicht auch dem nachstreben, was des Friedens ist, und der Liebe, die nicht zerstört, sondern erbaut? Sollten wir nicht einander zu dienen und aufzuerbauen suchen? Erkenntnis ohne Liebe bläht auf und bringt in Gefahr, „einer Speise wegen das Werk Gottes zu zerstören". Wie ernst ist der Gedanke!

Es ist freilich wahr, alles ist rein für den, der ohne Anstoß ißt (V. 20.) Aber soll ich meinen schwachen Bruder durch meine Freiheit in Gefahr bringen, „mit Anstoß zu essen"? Nein, die Liebe sagt: „Es ist gut, kein Fleisch zu essen, noch Wein zu trinken, noch e t w a s zu tun, worin dein Bruder sich stößt oder sich ärgert oder schwach ist" (V. 21). Es mag mancherlei, vielleicht selbst törichte Anlässe für den Schwa­chen geben, sich zu stoßen oder zu argem, aber die Liebe behandelt ihn deshalb nicht geringschätzig, sondern sucht in Treue und Selbstverleugnung sein Wohl.

Der 22. Vers enthält eine für alle Zeiten wichtige Richt­schnur für den Starken. Wir sagten schon, ,,stark im Glauben" zu sein ist besser, als ,,schwach im Glauben", in wahrer christ­licher Freiheit zu wandeln besser, als unter einem gesetzli­chen Joch zu stehen. Aber, mein Leser, wenn dieses Bessere dein Teil sein sollte, habe dann deinen Glauben „für dich selbst vor Gott"! Sieh wohl zu, daß du dir nicht Dinge erlaubst, die Gott nicht gutheißen kann! „Glückselig, wer sich selbst nicht richtet in dem, was er gutheißt!" Es würde dir sonst genau so gehen wie dem Schwachen, „der zweifelt, wenn er ißt". Abgesehen davon, daß du dem schwachen Bruder vielleicht einen Anstoß in den Weg legst, „bist du verurteilt", weil du, gleich ihm, nicht „im Glauben" han­delst. „Alles aber, was nicht aus Glauben ist, ist Sünde" (V. 23).

Ein zweiter, überaus wichtiger Grundsatz! Unsere Freiheit in dieser oder jener Sache, selbst in den einfachsten Dingen des täglichen Lebens, kann sich nur auf den Glauben gründen, daß das, was wir tun, vor Gott bestehen kann. Erlaubt sich ein Gläubiger etwas, das nicht auf diesem Boden steht, so wird es ihm zur Sünde. Die Freiheit ist in einem solchen Falle grundsätzlich zur Ungebundenheit geworden.

Kapitel 15
Der Apostel setzt in den ersten 7 Versen dieses Kapitels, die eigentlich zu dem vorigen gehören, seine Belehrungen über das Verhalten der Starken den Schwachen gegenüber fort. Indem er sich unmittelbar mit jenen einsmacht, sagt er:

„Wir aber, die Starken, sind schuldig, die Schwachheiten der Schwachen zu tragen und nicht uns selbst zu gefallen" (V. l). Darüber, wie er selbst zu der Frage stand, hatte er sich bereits geäußert; aber anstatt seine Überzeugung ande­ren aufzudrängen, was wohl nie zu einem guten Ende führt, wollte er die Schwachheiten seiner Brüder mit liebender Schonung behandeln und, eingedenk seiner Worte an die Korinther, „nicht das Seine suchen, sondern das des Anderen" (1. Kor. 10, 24).

Die Liebe wird uns davor bewahren, „uns selbst zu ge­fallen". Indem sie uns antreibt, „dem Nächsten zu ge­fallen zum Guten, zur Erbauung" (V. 2), werden wir nicht nur keine Last auf unseren Bruder legen, sondern vielmehr bereit sein, seine Last zu tragen und also das Gesetz des Christus zu erfüllen. (Gal. 6, 2.) „Denn auch der Christus hat nicht sich selbst gefallen, sondern wie geschrieben steht: „Die Schmähungen derer, die dich schmähen, sind auf mich gefal­len" " (V. 3). Er, der vollkommene Diener, machte sich hie-nieden in allem eins mit Seinem Gott, ließ alles über sich er­gehen, was die Erfüllung des Willens des Vaters mit sich brachte, nie Anerkennung für sich, nie Seine eigene Ehre suchend. Als das Bild des unsichtbaren Gottes ertrug Er willig die Schmähungen derer, die Gott schmähten.

Die Anführung der Stelle aus Psalm 69 gibt dem Apostel Gelegenheit, an die so wichtige Tatsache zu erinnern, daß alles, was zuvor geschrieben ist, zu unserer Belehrung ge­schrieben ist. Ja, das, was das Alte Testament von Christo sagt, wird heute auf uns, die Christen, angewandt. Welch einen Platz hat uns doch die Gnade gegeben! Als geliebte Kinder, eins mit Christo, Seines Lebens teilhaftig geworden, sind wir berufen, einerseits in Liebe zu wandeln, wie Er ge­wandelt hat, und andererseits, gleich Ihm, die Schmähungen der feindseligen Menschen über uns ergehen zu lassen. Indem wir an Seine Stelle getreten sind, ist Sein Teil unser Teil geworden. Mit dankbarer Freude dürfen wir jetzt dem nach­streben, was Er in Vollkommenheit getan hat, und so in unserem geringen Maße den Gott darstellen, der, wie es in einem Liede heißt, einst in Ihm „ohne Hülle" gesehen wurde.

„Denn alles, was zuvor geschrieben ist, ist zu unserer Be­lehrung geschrieben, auf daß wir durch das Ausharren und durch die Ermunterung der Schriften die Hoffnung haben" (V. 4). Wie hat Gott doch so gnädig für uns gesorgt, damit wir auf dem Wege nicht ermatten oder den Mut verlieren! Quellen reichster Segnungen sind uns in den Schriften des Alten Testaments geöffnet. Das Erforschen der Wege Gottes mit den Seinigen in längst vergangenen Zeiten, das Sinnen über Sein Reden und Tun mit ihnen in Heiligkeit und Ge­rechtigkeit, aber auch in Langmut und Gnade, dient zu unse­rer Ermunterung und weckt Geduld und Ausharren. Ach, daß so manche Kinder Gottes im Alten Testament so wenig zu Hause sind! Mit Ausnahme einiger Teile lesen sie es kaum; viel weniger suchen sie es zu erforschen, um die darin für uns und unsere Tage enthaltene „Belehrung" zu erfassen und zur Belebung der „Hoffnung" auf sich anzuwenden! 0, wenn sie wüßten, wieviel sie dadurch verlieren!

Wenn Paulus an Timotheus schreibt, daß „alle Schrift von Gott eingegeben und nütze ist zur Lehre, zur Überführung, zur Zurechtweisung, zur Unterweisung in der Gerechtigkeit", so denkt er zunächst an die heiligen Schriften des Alten Testaments, die, wie er sagt, vermögend sind, den Menschen „weise zu machen zur Seligkeit" (2. Tim. 3, 15—17). Was würden wir, um nur eins zu nennen, ohne diese Schriften wis­sen von den wunderbaren Wegen Gottes mit dem gefallenen Menschen ohne Gesetz und unter Gesetz, denen die An­kunft Seines eingeborenen Sohnes, von dessen Person und Werk sie immer wieder prophetisch und im Vorbilde reden, die Krone aufsetzte? Freilich ist es nötig, das Alte Testament zu lesen unter der steten Beachtung des unüberbrückbaren Gegensatzes zwischen Gesetz und Gnade. Israel stand unter Gesetz, wir sind unter Gnade, Israel war das irdische, wir sind das himmlische Volk Gottes. Behält man diesen grund­sätzlichen Unterschied nicht im Auge, so wird das Erforschen der alttestamentlichen Schriften allerdings eher Verwirrung als Segen bringen.

Anknüpfend an das Wort, daß die Schriften zu unserer Belehrung geschrieben seien usw., nennt der Apostel im 5. Verse Gott den „Gott des Ausharrens und der Er­munterung". überaus verschieden sind die Namen, die unserem Gott und Vater im Neuen Testament beigelegt wer­den, und jeder einzelne ist von tiefer, kostbarer Bedeutung. Er ist, um nur einige Namen zu nennen, der Gott der Liebe und des Friedens, der Gott alles Trostes, der Vater der Er­barmungen, der Gott aller Gnade, der Gott der Hoffnung, der Gott der Herrlichkeit, ja, selbst der Gott des Maßes, der einem jeden Seiner Diener das Maß seines Wirkungskreises zuteilt. So gesegnet die Betrachtung dieser verschiedenen Namen in Verbindung mit den alttestamentlichen Namen Got­tes auch sein möchte, können wir sie hier doch nur andeuten.

„Der Gott des Ausharrens und der Ermunterung aber gebe euch, gleichgesinnt zu sein untereinander, Christo Jesu ge­mäß, auf daß ihr einmütig mit einem Munde den Gott und Vater unseres Herrn Jesus Christus verherrlichet" (V. 5. 6). Aus diesem Gott fließt die Kraft, um eine gleichmäßige Ge­sinnung, Christo Jesu gemäß, in uns hervorzubringen. In Christo Jesu hat Gott uns das vollkommene Muster des Aus­harrens und der Ermunterung in einer Welt voll Jammer und Elend vor Augen gestellt; auf Ihn lenkt Er unsere Blicke, und wenn Herz und Sinne auf Ihn gerichtet, von Ihm erfüllt sind, so wird sich die einmütige Gesinnung ganz von selbst ergeben, und „mit einem Munde" wird der Gott und Vater unseres Herrn Jesus Christus von allen verherrlicht werden. Durch diesen Herrn haben wir ja alle, ob Juden oder Heiden, ob reich oder arm, die gleiche Berufung, den gleichen Zugang, die gleichen Segnungen. Ist Er der alles beherrschende Ge­genstand der Herzen, der einzige .Beweggrund des Handelns, so werden wir „in demselben Sinne und derselben Meinung völlig zusammengefügt sein", und Gott wird verherrlicht werden.

„Deshalb nehmet einander auf, gleichwie auch der Christus euch aufgenommen hat, zu Gottes Herrlichkeit" (V. 7.) Nicht unsere Würdigkeit, noch weniger ein übereinstimmendes Ur­teil in zweifelhaften Fragen bildet die Grundlage unserer An­nahme durch Ihn. Als Er für uns starb, waren wir Gottlose und Feinde, und wenn Er als der Auferstandene und Verherr­lichte uns jetzt aufgenommen hat, so ist es wahrlich nicht um deswillen geschehen, was wir waren oder was Er a n und i n u n s haben würde, sondern in bedingungsloser Gnade, „zu Gottes Herrlichkeit". Laßt uns diesem Beispiel folgen und einander aufnehmen, ob stark oder schwach, ob menschlich liebenswürdig oder nicht liebenswürdig, als Er­löste des Herrn, als Kinder Gottes, zu Gottesverherr­lichung ! Behalten wir dieses Ziel: „Gottes Herrlichkeit" im Auge, so werden wir vor jeder kleinlichen Rechthaberei, vor Sektiererei und dergleichen bewahrt bleiben; es wird uns allerdings zugleich auch anleiten, die Tür vor solchen zu schließen, welche die Lehre Christi nicht bringen (2. Joh.), oder andere ernstlich zurechtzuweisen, die „nicht den geraden Weg nach der Wahrheit des Evangeliums wandeln" (Gal. 2, 11 ff). Die Liebe ist tragsam, aber auch treu.

In den Versen 8—13 erinnert der Apostel noch einmal kurz an die Grundsätze, auf welchen der ganze Brief aufge­baut ist, vor allem an die Zulassung der Heiden zu den Vor­rechten des Evangeliums. Schon in den Eingangsworten des 1. Kapitels hat er die Person des Herrn vor uns gestellt unter dem doppelten Gesichtspunkt als „Sohn Davids dem Flei­sche nach" und als „Sohn Gottes, in Kraft erwiesen dem Geiste der Heiligkeit nach durch Toten-Auferstehung". Hier sagt er, daß Christus „ein Diener der Beschneidung geworden ist um der Wahrheit Gottes willen, um die Verheißungen der Väter zu bestätigen", zugleich aber auch, „auf daß die Na­tionen Gott verherrlichen möchten um der Begnadigung wil­len" (V. 8. 9). In diesen wenigen Worten treten die beiden großen Seiten der Sendung Christi klar vor unsere Blicke. Ursprünglich gekommen zu den verlorenen Schafen aus dem Hause Israel, um Seinem irdischen Volke zu beweisen, daß Gott wahrhaftig ist und treu zu Seinen den Vätern gemachten Verheißungen steht, war die Gnade Gottes, nachdem Israel sie von sich gestoßen und Jesum gekreuzigt hatte, zu den Nationen (Heiden) übergeströmt. Gerade das Kreuz Christi hatte ihnen die Tür zu den unermeßlichen Segnungen geöffnet, die Israel verschmäht hatte. Bei den Nationen handelte es sich also nicht um die Erfüllung von Verheißungen. Fremd­linge betreffs der Bündnisse der Verheißung, ohne Gott und ohne Hoffnung in der Welt, konnte bei ihnen von „der Wahrheit Gottes" keine Rede sein. Alles war „G n a d e".

So war Christus einerseits ein Diener der Beschneidung geworden, auf Grund der zwischen Gott und Israel bestehen­den Bundesbeziehungen, und anderseits waren die Heiden, die völlig fern von Gott, ohne alle Ansprüche dastanden, durch Gnade mit Gott in Verbindung gekommen, damit sie ,,um der Begnadigung willen Ihn verherrlichen möchten". Wieder möchten wir ausrufen: „O Tiefe des Reichtums, so­wohl der Weisheit als auch der Erkenntnis Gottes!" Wie einfach und doch so wunderbar sind Seine Wege, wie klar und doch so hoch Seine Gedanken l Freilich für die Juden waren sie schwer verständlich.

Dennoch hatte Gott ihnen schon vor alters diese Gedanken und Wege kundgetan, und während die Nationen nie vergessen durften, woher sie gekommen waren, sollten die Gläubigen aus Israel sich ihrerseits immer wieder an diese Aussprüche Gottes bezüglich der Begnadigung der Nationen erinnern. Wieder führt der Apostel aus den drei großen Teilen des Alten Testaments, dem Gesetz, den Psalmen und den Pro­pheten, Stellen an, welche die Absicht Gottes bezeugten, die Nationen mit Seinem irdischen Volke zu segnen. Unter ihnen sollte Sein Name bekannt und besungen werden, mit Seinem Volke sollten sie fröhlich sein, und auf „die Wurzel Isais und den, der da aufsteht, über die Nationen zu herr­schen", sollten sie ihre Hoffnung setzen. (V. 9—12.) Es braucht kaum darauf hingewiesen zu werden, daß nicht eine der an­geführten Stellen von der Versammlung, dem Leibe Christi, redet, in welchem alle Unterschiede zwischen Jude und Grieche aufgehoben sind. Das war ein Geheimnis, das erst nach der Verherrlichung des Menschensohnes zur Rechten Gottes geoffenbart werden konnte. Was der Apostel vor­stellen will, ist die einfache, aber so bedeutungsvolle Tat­sache, daß Gott von jeher durch den Mund Seiner Propheten die Begnadigung der Nationen angekündigt hat.

Hieran schließt sich der Wunsch oder das Gebet des treuen Dieners für die Heiligen in Rom: „Der Gott der Hoffnung aber erfülle euch mit aller Freude und allem Frieden im Glauben, damit ihr überreich seiet in der Hoffnung durch die Kraft des Heiligen Geistes!" (V. 13). Gott hat sidi in Christo nicht nur als ein Gott der Liebe, sondern auch als der Gott der Hoffnung geoffenbart, und der Apostel verbindet mit der Offenbarung dieses Namens die Bitte, daß dieser Gott sie im Glauben mit aller Freude und allem Frieden erfüllen möge. So würden sie nicht nur imstande sein, im Frieden miteinander zu wandeln trotz mancherlei Meinungsverschie­denheiten, sondern „überreich in der Hoffnung durch die Kraft des Heiligen Geistes", vorausblickend auf die herrliche Zeit, wann alles und alle im Lichte droben vollendet dastehen werden, würden sie in friedevoller Gemeinschaft die ihnen geschenkten Segnungen genießen und „voll Gütigkeit, erfüllt mit aller Erkenntnis, fähig sein, einander zu ermahnen" (V. 14.)

Indem der Apostel mit offenbarer Freude seiner Über­zeugung Ausdruck gibt, daß es so mit den geliebten Heiligen in Rom sein werde, (vergl. Kap. 1. 8) schließt er seine Be­lehrungen und begründet in einer Art Nachwort die Kühn­heit, mit welcher er an sie geschrieben hatte. Er erinnert sie an den Auftrag, der ihm von seilen Gottes hinsichtlich der Nationen geworden war. Im Blick auf sie hatte er eine be­sondere Gnade von Gott empfangen. Deshalb konnte er auch ihnen gegenüber so freimütig auftreten, obwohl sie nicht unmittelbar eine Frucht seines Dienstes waren. Gehörten sie doch den Nationen an, für welche er ein von Christo Jesu angestellter Diener war, „priesterlich dienend an dem Evan­gelium Gottes, auf daß das Opfer der Nationen angenehm werde, geheiligt durch den Heiligen Geist" (V. 15. 16).

Die Ausdrücke, die der Apostel, durch den Geist geleitet, an dieser Stelle gewählt hat, um seinen Dienst zu beschrei­ben, sind von auffallender Kraft und Tragweite. Das für „Diener" gebrauchte Wort bedeutet eigentlich einen im öffentlichen Dienst angestellten Beamten; der Dienst an dem Evangelium Gottes wird als ein priesterlicher Dienst bezeichnet, und das Ergebnis desselben, die Gläubigen aus den Nationen mit den in ihnen gewirkten Früchten der Gnade, wird ein Gott wohlgefälliges, durch den Heiligen Geist von der Welt abgesondertes, geheiligtes Opfer genannt, das der Apostel Gott priesterlich darbringen durfte. Ähnlich wie einst Aaron die Leviten als ein Opfer seitens der Sohne Israels Jehova darbrachte, nur mit dem großen Unterschied, daß die Weihung damals durch äußere, zeremonielle Hand­lungen erfolgte, während jetzt der Heilige Geist der Heili­gende war. Wir sind eine „gewisse Erstlingsfrucht" der Schöpfung Gottes, geweiht durch den Heiligen Geist.

Aber wenn der Apostel etwas zum Rühmen hatte in den Dingen, die Gott angehen, so war es doch nur „in Christo Jesu" (V. 17). Ach, daß doch niemand ihm etwas zuschreiben möchte! Hatte er auch in nichts den ausgezeichnetsten Apo­steln nachgestanden, sondern mehr gearbeitet als sie alle (2. Kor. 11, 5; 1. Kor. 15, 10), sollte doch nicht ihm die Ehre zufallen, sondern Dem allein, dessen Gnade mit ihm gewesen war. Auch an dieser Stelle wagt der treue Mann nicht „von dem zu reden, was Christus nicht durch ihn gewirkt hatte zum Gehorsam der Nationen durch Wort und Werk" (V. 18).

An dieses bescheidene Wort schließt sich dann in den näch­sten Versen eine kurze, aber eindrucksvolle Beschreibung der gewaltigen Arbeit des Apostels an. Wie immer, wenn er von diesen Dingen redet, spricht er nicht von seiner hohen Begabung oder apostolischen Würde, sondern von dem Tun Gottes und der Kraft Seines Geistes. Er will auch nicht auf eines anderen Grund bauen, sondern beeifert sich, das Evan­gelium da zu verkündigen, wo „Christus noch nicht genannt war", nach dem Worte: „Denen nicht von ihm verkündigt wurde, die sollen sehen, und die nicht gehört haben, sollen verstehen" (V. 21). Aus diesem Grunde war er auch bis dahin nicht nach Rom gekommen, obwohl er seit vielen Jahren ein großes Verlangen gehabt hatte, sie zu sehen; aber er war verhindert worden. (V. 22; vergl. Kap. 1. 9—15.) Nun aber, da er in den bis dahin von ihm besuchten Gegenden keinen Raum mehr hatte — denn „von Jerusalem an und ringsumher bis nach Illyrikum, (also wahrscheinlich bis an die Ostküste des Adriatischen Meeres) hatte er das Evangelium völlig ver­kündigt" — nun aber hoffte er, auf der Durchreise nach Spa­nien, die Gläubigen in Rom zu sehen und, nachdem er sie zuvor „etwas genossen habe", von ihnen „dorthin geleitet zu werden".

Der rastlos tätige Mann fühlte, daß die Zeit gekommen war, die Arbeit im Osten anderen zu überlassen, und es trieb ihn mit Macht nach dem Westen, um auch dort Christum zu verkündigen. Aber Gott hatte es anders beschlossen. Nach Spanien ist Paulus wohl nie gekommen, und Rom hat ihn nur als Gefangenen gesehen. „Gott wollte nicht", wie ein bekannter Schreiber (J. N. D.) sagt, „daß die römische Chri­stenheit eine unmittelbare apostolische Grundlage haben sollte. Den Gedanken, daß Petrus in Rom gewesen sei oder damals dort war, schließt unser Brief völlig aus. Das Christen­tum hat sich selbst in Rom gegründet. Kein weiser Bau­meister war dort. Es ist nicht die Gewohnheit Gottes, welt­liche Hauptstädte zu einem Mittelpunkt Seines Werkes zu machen. Der apostolische Dienst Pauli im Osten war be­endet; er stand im Begriff, eine Reise als Diakon nach Jeru­salem zu machen, und hat nachher nie wieder, wenigstens soweit wir einen unmittelbaren geschichtlichen Bericht dar­über haben, seine freie apostolische Tätigkeit aufgenom­men." über die Frage: Warum? wird wohl die Ewigkeit erst völligen Aufschluß bringen. Der Glaube weiß, daß Got­tes Weg, auch wenn er sich anders gestaltet, als wir meinen und erwarten, stets vollkommen ist. „Alle Seine Wege sind recht." Sie entsprechen Seinen ewigen Ratschlüssen, Seiner unergründlichen Gnade und nie irrenden Weisheit.

Inzwischen hatte der Apostel noch eine andere Aufgabe zu erfüllen. Er reiste nach Jerusalem im Dienst für die dor­tigen Heiligen. „Denn es hat Macedonien und Achaja Wohl­gefallen, eine gewisse Beisteuer zu leisten für die Dürftigen unter den Heiligen, die in Jerusalem sind" (V. 25. 26). Es war wohl dieselbe Kundgebung werktätiger Liebe, von wel­cher er in seinem 2. Brief an die Korinther redet (Kap. 8 u. 9), der kurz vor dem Brief an die Römer geschrieben wurde. Es hatte den Versammlungen in Macedonien und Achaja, der römischen Provinz, in welcher Korinth lag, Wohlgefal­len, diese „Hilfsleistung" den bedürftigen Gläubigen in Jeru­salem zu senden, aber eigentlich war es nur die Abtragung einer Schuld. Denn wenn die Nationen der geistlichen Güter ihrer Brüder aus Israel teilhaftig geworden waren, war es dann etwas Großes, wenn sie ihnen in den leiblichen dienten? Waren sie nicht schuldig, das zu tun? (V. 27).

Nach der „Versiegelung" dieser kostbaren „Frucht" wollte er dann, wie schon bemerkt, über Rom nach Spanien reisen, und er wußte, daß, wenn er kam, er „in der Fülle des Segens Christi" kommen würde. (V. 28. 29.) Wenn auch der Weg nach Rom sich ganz anders gestaltete, als der Apostel es ahnen konnte, ist nichtsdestoweniger das letzte Wort buch­stäblich in Erfüllung gegangen. Nicht nur durfte er zwei Jahre lang „in seinem gemieteten Hause" alle, die zu ihm kamen, aufnehmen, sondern er konnte ihnen auch „das Reich Gottes predigen und die Dinge, welche den Herrn Jesus Christus betreffen, mit aller Freimütigkeit ungehindert lehren" (Apstg. 28, 30. 31). Wir wissen ferner, daß während der Dauer dieser ersten Gefangenschaft die herrlichen Briefe an die Epheser, Philipper und Kolosser, neben dem an Philemon, von ihm geschrieben wurden.

„Ich bitte euch aber, Brüder, durch unseren Herrn Jesus Christus und durch die Liebe des Geistes, mit mir zu kämpfen in den Gebeten für midi zu Gott, auf daß ich von den Un­gläubigen in Judäa errettet werde, und auf daß mein Dienst für Jerusalem den Heiligen angenehm sei" (V. 30. 31). Wie wird die dringende Bitte des großen Apostels um die Gebete der Heiligen deren Herzen bewegt haben! Heute noch können wir sie nicht ohne Rührung lesen. Die Kenntnis unseres ge­meinsamen Herrn und die Liebe des Geistes verbinden zu allen Zeiten die Herzen der Gläubigen, wer sie auch sein und wo sie wohnen mögen, bewirken Teilnahme und rufen Fürbitte wach. Die Aufforderung, „mit ihm zu kämpfen in den Gebeten", bewies, wie das Herz des Apostels mit der bangen Frage beschäftigt war, ob seine Reise nach Jerusalem den von ihm gewünschten Erfolg haben werde. Als sie nicht lange danach wirklich zur Ausführung kam, „bezeugte ihm der Heilige Geist von Stadt zu Stadt, daß Bande und Drang­sale seiner warteten" (Apstgsdi. 20, 23). Aber die brennende Liebe zu seinem Volke ließ ihn alle Rücksichten auf sich und sein Leben vergessen und trieb ihn nach Jerusalem, dem Brennpunkt der Feindschaft wider Gott und Seinen Gesalbten.

Man hat gesagt, daß Paulus in diesem Falle nicht ganz auf der Höhe seiner Berufung als Apostel der Nationen ge­standen habe. Vielleicht nicht; aber wollen wir ihn deshalb tadeln? Gott hat es nicht getan. Im Gegenteil durfte Paulus in dem Lager der römischen Besatzung Jerusalems die tröst­lichen Worte des Herrn vernehmen: „Sei gutes Mutes! denn wie du von mir in Jerusalem gezeugt hast, so mußt du auch in Rom zeugen."

Mit der Erwartung, daß er infolge der Fürbitte der Heiligen in Rom „durch den Willen Gottes mit Freuden zu ihnen kommen und sich mit ihnen erquicken" werde, verbindet der Apostel den kurzen, aber innigen Gebetswunsdi: „Der Gott des Friedens aber sei mit eudi allen! Amen" (V. 32. 33). Möchte dieser Wunsch sich auch an uns allen in reichem Maße erfüllen!

Kapitel 16
Das Ende der öffentlichen Tätigkeit des Apostels, soweit die Schrift uns Bericht darüber gibt, ist ergreifend. In mehr als einer Beziehung gleicht es dem Ende des Dienstes seines großen Herrn und Meisters. Wie Er, so wurde auch Paulus von den Juden der Gewalt der Heiden überliefert. Von allen verlassen, ging auch er einsam seinen Weg. Trotz rastloser Bemühungen bei Tag und Nacht gab das Werk mehr und mehr Ursache zur Sorge, und der Feind schien zu trium­phieren. Wohl brachte Gott trotz allem Seine Gnadenrat­schlüsse zur Ausführung: Juden und Heiden war Paulus ein Zeuge gewesen; der hohe Rat in Jerusalem, Priester und Volk, Landpfleger und König, ja, selbst der Kaiser in Rom sollten die mächtige Stimme der Wahrheit vernehmen. Aber der Zeuge selbst stand im Begriff, von dem öffentlichen Schau­platz seiner Wirksamkeit abzutreten. Im Osten hatte er keinen Raum mehr, im Westen sollte er nur als Gefangener weilen. So sind die Wege unseres Gottes. Das scharfe Auge des Adlers erspäht sie nicht, aber die Weisheit ordnet und der Glaube bewundert sie.

Obwohl Paulus bis dahin Rom nicht gesehen hatte, gab es doch viele Gläubige dort, die ihm bekannt und seinem Herzen teuer waren. Grüße der Liebe an sie füllen die erste Hälfte des 16. Kapitels aus. Es ist bewunderungswürdig, wie der selbst so unermüdlich tätige Arbeiter sich jedes Liebes­dienstes, der ihm persönlich erwiesen oder im Werk des Herrn geschehen war, erinnert und für jeden der Gegrüßten, Bruder oder Schwester, eine besondere Bezeichnung oder eine Anerkennung hat, die den Betreffenden wohltun und ihnen zur Ermunterung dienen mußte. Wie schön ist das Band der Liebe, das die Herzen aller umschließt, die Jesum lieben und in Seinem Dienste stehen! Die Liebe kennt keine Selbstsucht, keinen Neid; alle bilden ein Ganzes und streben, in lieben­der Anerkennung alles Guten und Lieblichen in den anderen, nach dem gleichen Ziele.

Unter den Gegrüßten waren gewiß solche, die von Gott dazu benutzt worden waren, das kostbare Evangelium der Gnade in die große Weltstadt zu tragen; vielleicht umher­reisende Juden, die durch ihre Geschäfte oder andere Ur­sachen nach Rom geführt worden waren, oder auch solche, die dort ihren Wohnsitz hatten und auf ihren Reisen nach Grie­chenland und Palästina mit der Wahrheit bekannt geworden waren. Immer wieder werden wir so durch den Geist Gottes daran erinnert, daß in der Entstehung des Zeugnisses in Rom keine Spur von apostolischer Tätigkeit zu entdecken ist — gewiß, eine tief bedeutsame Sache im Blick auf die spätere Entwicklung der Dinge dort.

Die erste Person, welche Paulus nennt, ist eine Schwester, eine Dienerin oder Diakonisse der Versammlung in Kenchreä, einer der drei Hafenstädte Korinths, uns bekannt aus Apo­stelgeschichte 18, 18. Diese Schwester, Phoebe mit Namen, hatte offenbar einen besonderen Dienst unter den Heiligen in Kenchreä erfüllt. Worin er bestand, wird nicht näher ge­sagt; aber aus anderen Stellen wissen wir, daß Schwestern, besonders ältere, sich viel in Diensten der Liebe, in Kranken­pflege und anderen Hilfsleistungen in den Umständen des täglichen Lebens, bemüht haben. Auch von Phoebe hören wir, daß sie vielen ein Beistand (oder eine Fürsorgerin) gewesen war, unter ihnen auch dem Apostel selbst. Es gibt ja überall und zu allen Zeiten Dienste und Hilfsleistungen, die von Schwestern passender und besser ausgeübt werden können, als von Brüdern. So war Phoebe offenbar eine in solcher Weise tätige und von der Versammlung zu Kenchreä aner­kannte Schwester gewesen — im besten Sinne also das, was man heute gemeinhin eine „Gemeindeschwester" nennt. Was sie nach Rom geführt hatte, wissen wir nicht, aber der Apo­stel bittet, „sie in dem Herrn, der Heiligen würdig, aufzu­nehmen und ihr beizustehen, in welcher Sache irgend sie ihrer bedürfe" (V. 2).

Im nächsten Verse begegnen wir zwei bekannten Namen „Grüßet Priska und Aquila, meine Mitarbeiter in Christo Jesu, welche für mein Leben ihren eigenen Hals preisgegeben haben, denen nicht allein i c h danke, sondern auch alle Ver­sammlungen der Nationen." Paulus war diesem gottesfürch-tigen Ehepaar zuerst in Korinth begegnet, und weil sie gleichen Handwerks mit ihm waren (Zeltmacher), hatte er Wohnung in ihrem Hause genommen und mit ihnen gearbei­tet. Später hören wir von ihnen, daß sie Apollos in ihr Haus aufnahmen und ihm den Weg Gottes genauer auslegten. (Apstgsch. 18, 2. u. 26.) In 1. Korinther 16, 19 finden wir sie in Ephesus. (Vergl. 2. Tim. 4, 19.) Sie arbeiteten also nicht nur in dem gleichen Handwerk wie Paulus, sondern waren auch des Apostels „Mitarbeiter in Christo Jesu", die für sein Leben ihren eigenen Hals preisgegeben und sich so nicht nur seinen Dank, sondern auch, weil er der Apostel der Nationen war, den aller Versammlungen der Nationen erworben hatten. Beachten wir, daß der Name der Schwester hier, wie in Apo' stelgeschichte 18, 18 und 2. Tim. 4, 19, voransteht. Wir dürfen daraus wohl schließen, daß Priska oder Priscilla sich in her­vorragender Weise um Paulus bemüht und sich besonderen Gefahren seinetwegen ausgesetzt hatte. In Apostelgeschichte 18, 2 und 26 und in 1. Korinther 16, 19 steht der Name des Mannes an erster Stelle, und wir verstehen leicht, warum. Wie wunderbar genau ist doch Gottes Wort!

Noch eine kurze Bemerkung über den Ausdruck: „und die Versammlung in ihrem Hause" hier und in 1. Korinther 16,19. (Vergl. auch Kol. 4, 15 und Philem. 2.) Bekanntlich versam­melten sich die Christen in jenen ersten Tagen, in Ermang­lung geräumiger Versammlungsstätten, „hin und her in den Häusern", und da Aquila zur Ausübung seines Handwerks wohl einen größeren Raum nötig hatte, ist es leicht erklärlich, daß man sich gern bei diesen treuen Leuten versammelte. An eine „Hausgemeinde", die nur aus den Familiengliedern bestanden hätte, ist wohl nicht zu denken; schon aus dem Grunde, weil nirgendwo gesagt wird, daß Aquila und Priscilla Kinder oder sonstige Angehörige besessen hätten.

Wenn der Apostel im 5. Verse Epänetus „seinen Geliebten" nennt, so weist das offenbar auf besondere Bande der Zu­neigung hin, die zwischen ihm und diesem „Erstling Asiens für Christum" bestanden. Paulus umfaßte alle Heiligen mit derselben brüderlichen Liebe, aber Epänetus war die erste Frucht seiner gesegneten Arbeit in der römischen Pro­vinz Asien gewesen, und da er sich ohne Frage seit langem als treu erprobt hatte, besaß er die besondere Zuneigung seines Vaters in Christo.

„Grüßet Maria, die sehr für euch gearbeitet hat" (V. 6). Beachten wir, daß in der Reihe der Gegrüßten manche Schwestern als solche bezeichnet werden, die im Herrn arbeiteten oder gearbeitet hatten. (Vergl. V. 12.) Von Maria nun wird gesagt, daß sie sehr für die Gläubigen in Rom gearbeitet hatte, diesen also vorteilhaft bekannt sein mußte.

„Grüßet Andronikus und Junias, meine Verwandten und meine Mitgefangenen, welche unter den Aposteln ausgezeich­net sind, die auch vor mir in Christo waren" (V. 7). Es ist interessant, wie die Liebe allerlei Umstände und Beziehungen hervorzuheben weiß, welche geeignet waren, die genannten Personen zu ermuntern und sie zugleich vor ihren Mit­gläubigen in ein günstiges Licht zu stellen und ihnen wert­voll zu machen.
In den nächsten Versen nennt Paulus auch Amplias und Stachys seine „Geliebten im Herrn", Urbanus seinen „Mit­arbeiter in Christo", Apelles den „Bewährten in Christo", Herodion seinen „Verwandten"; an die, welche in den Häu­sern des Aristobulus und Narcissus „im Herrn" waren, sendet er nur einen Gruß. Die Liebe vergißt keinen, aber sie schärft den Blick und leitet im Urteil. Wie verschiedenartig wird dereinst erst das Urteil sein, wenn Der es fällt, der Liebe und Licht zugleich ist! Möchten wir alle eifriger nach Seiner An­erkennung streben!

„Grüßet Tryphäna und Tryphosa, die im Herrn arbeiten. Grüßet Persis, die Geliebte, die viel gearbeitet hat im Herrn" (V. 12). Wir haben schon weiter oben auf solche Schwestern hingewiesen. Zwei von ihnen arbeiten noch im Herrn, eine, Persis, „die Geliebte", hatte in der Vergangenheit viel im Herrn gearbeitet. Warum jetzt nicht mehr? War Alter oder Krankheit die Ursache? Wir wissen es nicht. Der Titel „die Geliebte" läßt uns kaum daran denken, daß diese teure Schwester erlahmt oder gleichgültig geworden wäre.

„Grüßet Rufus, den Auserwählten im Herrn, und seine und meine Mutter" (V. 13). Wenn Rufus derselbe Mann ist, von dem wir in Markus 15, 21 lesen, was von manchen Auslegern angenommen wird, so dürfen wir wohl sagen, daß der Herr den unfreiwilligen Dienst, den der Vater des Rufus Ihm einst am Tage Seines Leidens und Sterbens erweisen durfte, reich belohnt hat. Wir dürfen dann auch als sicher annehmen, daß das ganze Haus Simons von Kyrene dem Herrn treu ange­hangen hat, da Paulus die Mutter des Rufus (wohl in dank­barer Erinnerung an erfahrene Liebe und Fürsorge) auch seine Mutter nennt und ihn selbst als „den Auserwählten im Herrn" bezeichnet. Alle in Christo Geheiligten sind im Herrn auserwählt, aber Rufus hatte sich dieser Bezeichnung wohl besonders würdig erwiesen.

Nachdem der Apostel dann in den nächsten beiden Versen noch eine Reihe von Namen ohne besondere Beifügung ge­nannt hat, schließt er den ganzen Abschnitt mit den Worten: „Grüßet einander mit heiligem Kuß. Es grüßen euch alle Ver­sammlungen des Christus." Die gleiche Aufforderung finden wir in 1. Korinther 16, 20; 2. Korinther 13, 12 und 1. Thessa-lonicher 5, 26. (Vergl. 1. Petr. 5, 14.) Ohne an ein bestimmtes Gebot des Apostels denken zu wollen, dürfen wir doch an­nehmen, daß die Begrüßung mit einem Kuß unter den Chri­sten gebräuchlich war; und wenn Gott dafür gesorgt hat, daß diese Aufforderung für uns aufbewahrt blieb, so würde es nicht gut sein, mit Gleichgültigkeit über sie hinwegzugehen. Es ist sicher so, daß in dieser Art der Begrüßung sich eine größere Wärme und Herzlichkeit kundgibt, als in dem bloßen Händeschütteln! und wenn es auch im Morgenlande und be­sonders unter den Juden, mehr als bei uns, gebräuchlich war, den Gruß mit einem Kuß zu verbinden, und der Nachdruck hier und an den drei anderen Stellen auf dem Wort „heilig" liegen mag, sollten wir doch nicht vergessen, daß der Heilige Geist dieser Begrüßungsart Seine Zustimmung gegeben hat. Nicht als ob Gläubige, so oft sie einander begegnen, sich mit einem Kuß begrüßen sollten, aber es sollte doch auch nicht so sein, daß die darin sich kundgebende Liebe nie oder doch nur ganz selten, bei besonderen Gelegenheiten, zum Ausdruck kommt.

In dem nächsten Abschnitt muß der Apostel sich um des Wohles der Gläubigen willen noch mit anderen, dem bis­herigen ganz entgegengesetzten Dingen beschäftigen. Neben so vielem Guten und Anerkennungswerten gab es in Rom auch betrübende Erscheinungen. „Ich ermahne euch aber, Brüder, daß ihr achthabet auf die, welche Zwiespalt und Ärgernis anrichten, entgegen der Lehre, die ihr gelernt habt, und wendet euch von ihnen ab" (V. 17). Aus diesen Worten geht hervor, daß damals schon Männer in der Versammlung zu Rom auftraten, die im Gefühl ihrer eigenen Wichtigkeit und unter dem auch heute so wohlbekannten Drang, immer
etwas Neues zu bringen, nicht bei der einfachen Lehre blie­ben, die ihnen gebracht worden war, sondern „verkehrte Dinge lehrten, um die Jünger abzuziehen hinter sich her".

Der Reiz der Neuheit ist groß, besonders für schwache, einfältige Seelen, und wenn die Verkündiger neuer Lehren, wie es meist der Fall ist, diese in schöne, verführerische Worte und süße Reden einzukleiden vermögen, so gelingt es ihnen leicht, „die Herzen der Arglosen zu verführen" (V. 18). Man folgt den Verführern, schart sich um sie, eifert für sie, und „Zwiespalt und Ärgernis" sind die unausbleib­lichen Ergebnisse. Der Apostel ermahnt die Brüder, auf solche Leute achtzuhaben und sich von ihnen abzuwenden. Der Apo­stel Johannes fordert in späteren Tagen die Gläubigen auf, alle, die weitergingen und nicht blieben in der Lehre des Christus, nicht ins Haus aufzunehmen, ja, sie nicht ein­mal zu grüßen; denn wer ihnen Heil zu ihrem Wege wünschte, würde teilnehmen an ihren bösen Werken.

Solche Männer sind nicht Diener unseres Herrn Christus, denen das Wohl der Herde am Herzen liegt, sondern sie dienen „ihrem Bauche". Die Pflege ihrer eigenen Personen und Interessen geht allem anderen voran, überaus ernst ist das Urteil des Geistes über sie hier und an anderen Stellen. Ihnen gegenüber gibt es nur ein Bewahrungs- und Abwehrmittel, und das ist „die Lehre, die wir gelernt haben", das Wort der Wahrheit. (Vergl. auch Apstgsch. 20, 32.) So wie die „aus­erwählte Frau" und der „geliebte Gajus" (2. und 3. Joh.) angewiesen wurden, die Lehre zu prüfen, die ihnen ge­bracht wurde (nicht die Personen), so gibt auch hier das Ab­irren von der einmal überlieferten Wahrheit Anlaß zu der Ermahnung, sich mit Entschiedenheit abzuwenden. Einen an­deren Weg gibt es nicht, und der Apostel rechnet auf den Gehorsam der römischen Gläubigen, der überall bekannt ge­worden war und sein Herz erfreute. Zugleich ermahnt er sie, „weise zu sein zum Guten, aber einfältig zum Bösen" (V. 19).

Die letzten Worte sind unserer besonderen Beachtung wert. Die Menschen dieser Welt suchen durch die Beschäftigung mit dem Bösen sich vor Betrug und Überlistung zu schützen. Nicht so der Gläubige, der die Weisheit von oben kennt, die „aufs erste rein ist, sodann friedsam, gelinde, folgsam, voll Barmherzigkeit und guter Früchte" (Jak. 3, 17). Ihm liegt nicht daran, die verschiedenen Arten oder Abstufungen des Bösen kennen zu lernen, er ist einfältig zum Bösen, „u n m ü n d i g an der Bosheit" (1. Kor. 14, 20), aber „weise zum Guten". Mit dem Guten beschäftigt, die Stimme des guten Hirten hörend und den Belehrungen des guten Geistes Gottes lauschend, geht er still den Weg, den sein Herr ihm vorangegangen ist, den Pfad heiliger Absonderung und gött­licher Güte und Weisheit. Diesen Pfad kennt er, und andere braucht er nicht zu kennen. Er weiß wohl, daß er sich noch auf dem Schauplatz der Sünde befindet, wo Satan herrscht und das Böse so oft triumphiert, aber er weiß auch, daß Satans Macht am Kreuze gebrochen worden ist, und hört mit Frohlocken, daß der Gott des Friedens, der Treue hält auf ewig, „in kurzem den Satan unter unsere Füße zertreten wird".

In kurzem — höre auch du es, meine Seele, und freue dich! Hat Gott auch in Gnaden bis heute noch gezögert, das Gericht kommen zu lassen, der Richter steht vor der Tür, dein Heiland kommt bald! Und bis dahin wird die Gnade deines Herrn Jesus Christus mit dir sein alle Tage. (V. 20.) Vergiß es nicht!

Der nächste Vers bringt Grüße von Timotheus, dem Mit­arbeiter des Apostels, und von dreien seiner Verwandten, deren Namen kaum bekannt sind und vielleicht auch den Empfängern des Briefes unbekannt waren. Aber der Glaube an das Evangelium verbindet die Herzen und weckt die liebende Teilnahme des einen für den anderen, selbst wenn man einander nie gesehen hat.

Der Gruß in Vers 22 erinnert uns an die Tatsache, daß Paulus keinen seiner Briefe, mit Ausnahme desjenigen an die Galater, mit eigener Hand geschrieben hat. Er diktierte, und ein anderer schrieb. Hier ist ein Bruder, namens Tertius, der Schreiber. Zur Beglaubigung des wichtigen Inhalts unterzeich­nete der Apostel aber alle seine Briefe mit eigener Hand. (Vergl. 1. Kor. 16, 21; Gal. 6, 11; 2. Thess. 3, 17.)

Es folgen dann noch kurze, aber trotz ihrer Kürze bedeu­tungsvolle Grüße von Gajus, dem Wirt der ganzen Versamm­lung in Korinth, sowie des Apostels selbst, von Erastus, dem Stadt-Rentmeister, und schließlich von dem „Bruder" Quartus, einem wohl einfachen, bescheidenen Manne, dessen Herz von Liebe zu seinen Brüdern in der Ferne erfüllt war, und der dieser Liebe Ausdruck zu geben wünschte. Dann schließt der Apostel seinen Brief mit dem uns so wohlbekannten Wunsch: „Die Gnade unseres Herrn Jesus Christus sei mit euch allen! Amen."

Die drei letzten Verse bilden gewissermaßen einen An­hang, der aber von außergewöhnlicher Wichtigkeit ist. Der Apostel kann, wie ein anderer Schreiber sagt, „diesen Brief, in welchem er das Evangelium in seinen einfachsten Elemen­ten entwickelt, in seinen praktischen Ergebnissen, seiner Ver­bindung mit den verschiedenen Haushalten oder Verwaltun­gen Gottes und den Pflichten, die aus der Annahme der guten Botschaft hervorgehen, nicht schließen, ohne das Geheimnis Gottes, dessen Offenbarung er in einigen seiner späteren Briefe bringt, mit den genannten Dingen in Verbindung zu bringen."

Die himmlische Seite der Wahrheit, wenn ich mich kurz so ausdrücken darf, d. h. alles das, was mit Christo, dem zur Rechten Gottes verherrlichten Menschensohne, dem Haupte Seines Leibes, der Versammlung, in welchem Gott einmal alles unter ein Haupt zusammenbringen will, in Ver­bindung steht, finden wir in unserem Briefe nicht. Derselbe hat einen anderen Zweck. Er behandelt die Frage, wie die einzelne Seele in glückseliger Freiheit vor Gott stehen kann. Die Tatsache, daß wir alle einen Leib bilden in Christo, sowie die Vorrechte dieses Leibes, der Versammlung, wer­den wohl kurz angedeutet, aber nicht näher besprochen. Wir dürfen auch im Blick hierauf sagen: „Alles hat seine Zeit." Die Stunde sollte kommen, in welcher der Verwalter der Geheimnisse Gottes auch dieses Geheimnis, in Verbindung mit der ganzen Fülle des Christus, den Gläubigen, vornehm­lich den Ephesern und Kolossern, mitteilen würde. Der geist­liche Zustand dieser beiden Versammlungen gestattete es, sie zu solchen Höhen hinaufzuführen. Die Versammlung in Rom bedurfte aber der Befestigung in den Grundlagen des Chri­stentums, in dem, was der Tod und die Auferstehung des Sohnes Gottes dem sündigen, verlorenen Menschengeschlecht gebracht haben. Was uns heute bleibt, ist, alle diese Gaben Gottes dankbar entgegenzunehmen und die Weisheit und Gnade zu bewundern, die sich auch in der Art ihrer Dar­reichung bewiesen hat.

Das Herz des Apostels war so mit dem, was er „sein Evangelium" nennt, erfüllt — dieses Geheimnis stand allezeit so frisch und lebendig vor seiner Seele — daß er auch jetzt nicht umhin kam, noch einen Augenblick dabei zu verweilen. Dieses Geheimnis war, wie er sagt, in den Zeiten der Zeit­alter verschwiegen gewesen, „jetzt aber geoffenbart und durch prophetische Schriften, nach Befehl des ewigen Gottes, zum Glaubensgehorsam an alle Nationen kundgetan wor­den" (V. 25, 26). Der Geist Gottes hatte in den früheren Zeit­altern über diese Dinge geschwiegen. Die Propheten des Alten Bundes hatten zwar „von den Leiden, die auf Christum kommen sollten, und von den Herrlichkeiten danach" zuvor gezeugt, aber Gottes Gedanken über Christum und die Ver­sammlung waren nie bekannt gewesen; sie waren erst durch prophetische Schriften des Neuen Testaments kund­getan worden. Welch einen bedeutsamen Charakter verleiht auch die letzte Bezeichnung den Briefen der Apostel! Diese Männer waren nicht nur Gesandte Gottes, sondern auch Pro­pheten. Sie legten, ja, bildeten die Grundlage, auf welche wir aufgebaut sind. (Eph. 2, 20.)

Es konnte unmöglich in der Absicht Gottes liegen, das Geheimnis von Christo und der Versammlung während des Zeitalters des Gesetzes kundzutun, aber nachdem durch das am Kreuz vollendete Werk Christi und durch Seine Verherr­lichung zur Rechten der Majestät droben alle Bedingungen dafür erfüllt waren, wurde es nach Befehl des ewigen Gottes geoffenbart und durch prophetische Schriften zum Glaubensgehorsam an alle Nationen kundgetan. Die zeitlichen Wege Gottes standen in Verbindung mit Israel und der Erde; Seine ewigen, mit dem „Geheimnis" verbundenen Gedanken sind jetzt allen Nationen kundgetan worden, und unsere Sache, nein, unser seliges Vorrecht ist es, sie in einfältigem Glaubensgehorsam anzunehmen und bewundernd zu betrachten. 0 dieser allein weise Gott! Wie tief sind Seine Gedanken, wie anbetungswürdig Seine Wege, wie unausforschlich ist Sein Tun!

Wir sind am Schluß unserer Betrachtung angekommen. Wir haben ein wenig hineinschauen dürfen in die „Tiefe des Reichtums sowohl der Weisheit als auch der Erkenntnis Got­tes". Dieses Wenige hat unsere Herzen erwärmt und weit gemacht, hat uns gezeigt, wie gering unser Erkennen und Verstehen noch ist, und den Wunsch in uns geweckt, bald vom Stückwerk zum Vollkommenen, vom Glauben zum Schauen zu gelangen. Was bleibt uns am Ende anders übrig, als von Herzen einzustimmen in die Lobpreisung des großen Apostels der Nationen: „Dem aber, der uns (euch) zu befestigen vermag ..., dem allein weisen Gott durch Jesum Christum, Ihm sei die Herriidikelt in Ewigkeit!" Amen.