Erich Beyreuther, August Hermann Francke, Zeuge des lebendigen Gottes

05/11/2023
von Christ-und-Buch Günter Arhelger

Herkunft, Kindheit und Jugend

August Hermann Francke ist ein Sohn der freien Reichsstadt Lübeck. In ihren Mauern erblickte er am 22. März 1663 das, Licht der Welt. Wer heute den alten Stich aus Merians Städtebuch zur Hand nimmt, der das Antlitz der alten Hansestadt nachzeichnet, ist von dem Bild entzückt, das sich ihm darbietet. Vieltürmig grüßt die Stadt vom Westen her. Wie eine schöne steinerne Blume wächst sie gen Himmel. Die spitzgiebligen Dächer der gedrängten Häuserzeilen überragen die schützenden Wälle.


Alles ist in diesem Jahrhundert noch ganz unzerstörte mittelalterliche Wirklichkeit. Die barocken Bastionen, die sich wie eine stachlige Schale um den Kern des alten Festungsringes legen, und die zahllosen Wassergräben heben die Stadt noch strenger und abweisender aus der offenen Landschaft heraus. Fremdartig ist uns heute diese ganze Welt. Zerfahrene, schmutzige Straßen führen zu den wenigen Toren. Die bescheidenen Vorstadthäuser und die Gärten, die vor den Wallgräben und den sumpfigen Wiesen zu sehen sind, verschärfen noch die abweisende Härte der Grenze.
Wer durch die Stadttore eintritt, wandert durch enge Straßen. Die Pflasteruiig ist von alters her ganz unregelmäßig; denn sie obliegt den einzelnen Hausbesitzern. Die Straßenbeleuchtung kommt in Lübeck erst im Jahre 1704 auf. Ein eifriger Bürger errichtet sie mit Billigung des Rates. Aber sie brennt nur zwei Winter hindurch. Die Stadt steuert gerade mühsam am Bankerott vorbei, und viele Hausbesitzer weigern sich, die für die Lampen festgesetzte Abgabe zu leisten.
Und doch kündigt sich ein helleres Jahrhundert an, das nach dem Dreißigjährigen Krieg aufzieht. Einzelne gut gepflasterte Hauptplätze mit ihren heiteren Barockpalästen machen es wahrnehmbar. In diese und in die gotischen Hauptkirchen, deren neue Barockaltäre marmorne Kühle ausstrahlen, führt man die Fremden. Die auswärtigen Geschäftsfreunde sitzen lieber in den Kontoren der Lübecker Großkaufleute und wandern mit ihnen durch die hochstöckigen Lagerhäuser. Die übergroße Mehrheit der Firmen ist tatsächlich immer noch dort seßhaft, wo sie seit der Stadtgründung sich angesiedelt hatten. Seit nunmehr 600 Jahren sitzen sie in der Gründerstraße und um den Markt, auch in der Holstenstraße und
in der Petersgrube. -
So schön und weiträumig die Häuser der Kaufherren oft angelegt sind, so eng kleben die alten schmalen GiebelhäusS mit den kleinen Fenstern in den Gassen aneinander. Hier lebt und webt das alte ehrsame Handwerk in althergebrachten und oft sehr um-
ständlichen Gebräuchen. Es hält starr und steif am Kleinbetrieb fest. Es fehlen aber auch nicht die Künstlerwerkstätten. Denn um diese Zeit empfängt das rein gotische Bild der Reichsstadt einen barocken Zug.
Das Wasser wird aus den öffentlichen Brunnen geholt, die eine Zierde der Stadt darstellen. In den Patrizierhäusern sprudelt das Wasser aus kunstvoll geformten Hausbrunnen. Aber an eine Kanalisation ist nicht zu denken. Auch das Badezimmer ist fast unbekannt. Neunzig von hundert Menschen leben in Europa noch von der bäuerlichen Urproduktion auf dem flachen Land. An den Werktagen beherrschen nicht die herrschaftlichen Karossen, sondern die ländlichen Karren die Straßen. Man sieht mehr Bauern als Reiter.
Eng sind, die Städte und nicht sonderlich dem Neuen aufgeschlossen. Man sucht sich oft recht ängstlich gegen alle Zugluft zu schützen. Vorherrschend ist ein konservativer Grundzug. Auf uralten Grundmauern stehen die Bürgerhäuser. Fest gegründet in den Tiefen vergangener Jahrhunderte sind Sitte und Gewohnheit der bürgerlichen Welt, der auch August Hermann Franckes Geschlecht sich eingefügt hat. Reichtum und Stolz der Geschlechter, die jene alten Häuser bewohnen, zeigen sich in den prächtigen Rahmen der Portale.
In Lübeck hat man noch zur Zeit des Vaters unseres August Hermann Francke fünf Hexen nach hochpeinlichen Untersuchungen und schauerlichen Folterungen verbrannt. Zwei wurden aus den Toren gejagt. Der Hexenglaube geistert noch lange durch die Winkel der Stadt. August Hermann Francke ist noch keine dreiundzwanzig Jahre alt, als man einen Schmiedegesellen aus Ostpreußen in Lübeck enthauptet. Er hat sich in Herbergsgesprächen zu freimütig über die Lehre von der Dreieinigkeit ausgesprochen, mit der er nicht mehr zurechtkommt. Der Gotteslästerer wird nach einem eingeholten Universitätsgutachten aus. Wittenberg, das reichsgesetzlich verankert ist, in Lübeck zu Tode gebracht. Man weiß mit verirrten Seelen noch nicht anders umzugehen, als mit dem blutigen Ketzerrecht, das sich im Mittelalter voll ausgebildet hat. Die harte Scheidewand zwischen den Gelehrten, zu denen die Juristen, Mediziner und Theologen zählen, und dem schlichten Volk ist noch nicht gefallen. Man hat förmlich Angst vor jeder selbständigen religiösen Stimme, die sich im einfachen Volk meldet. Man wittert nur Gefahr, nur Schwärmerei, nur Auflehnung gegen die Obrigkeit.
Die Hansestadt hat sich hier nicht besser und nicht schlechter benommen als all die großen und kleinen Städte in der damaligen Welt. Denn wer mit den Augen des modernen Besuchers durch die größere City von London, durch die Altstadt von Paris, durch
Wien, durch Frankfurt, durch die mitteldeutschen Städte jener Zeit wandert, dem bietet sich immer wieder das gleiche Bild: In der Enge dieser mittelalterlichen Städte mit ihren einigen zehntausend Einwohnern, vielleicht aber nur von wenigen tausend Menschen, leben die Dichter und Denker, die Musiker und Gelehrten, die Theologen und Schulmeister, die Berufenen und die Unb ruf e-nen. Hier lebt und webt die bürgerliche Welt.
Es ist eine Welt, die bei aller Schwere und Last alter Traditionen um diese Zeit in eine große Krise gerät und in eine Wandlung hineingezogen wird, wenngleich sie sich auch sträubt. Dieser Epoche gehört August Hermann Francke an. Schon sein Großvater mütterlicherseits, Dr. David Gloxin, ahnt den Wandel der Zeiten. Er ist einer der großen Bürgermeister dieser stolzen Stadt, und sein Name bleibt für immer mit folgenreichen Veränderungen in ihrem Leben verbunden. Lübecks Größe ist dahin. Einst war sie das Oberhaupt der mächtigen Hanse, die Stadt an der Trave. Der Bund hat einmal die Schiffahrtsstraßen von den Häfen Rußlands und Skandinaviens nach Flandern und England beherrscht. Aber in dem Jahrhundert, in dem August Hermann Francke heranwächst, sinkt diese Herrlichkeit endgültig dahin. Manche der Hansestädte sind bereits zu Landstädtchen in Fürstenhand geworden. Die freie Reichsstadt Lübeck hat die Ehre, bei den unaufhörlichen Kriegs' -händeln des morschen Reiches deutscher Nation zu bluten und zu zahlen; denn ihr Beitrag richtet sich noch nach dem einstigen, längst dahingeschmolzenen Reichtum. Zu melden hat sie nichts mehr.
Die Bürgerschaft stemmt sich tapfer gegen alle Verfallserscheinungen. Es treibt die Lübecker Kaufleute immer neu auf die alten Schiffahrtsrouten. Weltweite Erfahrung und kluge Regierungskunst vererben sich noch ungebrochen von Geschlecht zu Geschlecht. Nur das alte Adelspatriziat, das die Ratssitze besetzt, resigniert. Es ist landsässig geworden, wohnt zumeist auf den großen Gütern und zeigt kein Interesse mehr am Fernhandel. Was Wunder, daß es mit den Schwierigkeiten der Zeit längst nicht mehr fertig wird. Die Schuldenlast der guten Stadt steigt ins Unermeßliche. Charakterlos buhlen die alten Adelsgeschlechter der Stadt weithin schon um die Gunst der mächtig aufstrebenden Fürstenmacht; denn hier liegt die Zukunft ihrer Kinder, nicht bei den versinkenden Stadtrepubliken. Alte Stadtrechte werden schmählich verraten
Dieser 'Umstand bleibt nicht unbemerkt, und die Kaufmannsgeschlechter rebellieren. Es hätte ihnen vielleicht nicht viel genützt, Wenn nicht David Gloxin in die Bresche gesprungen, wäre. Erst nach weiten Reisen, die ihn nach Holland, England, Frankreich und Spanien führen, nach zehnjähriger Tätigkeit als Rat des Herzogs von Schleswig-Holstein, tritt dieser Jurist, in dessen Adern auch holländisches Blut fließt, in den Dienst der Stadt
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Lübeck. Auf dem Friedensschluß zu Münster und Osnabrück (1648) vertritt er die Hansestädte so geschickt, daß er eine weltbekannte Persönlichkeit wird. Er ist es gewöhnt, mit Königen und Fürsten umzugehen, und muß noch auf manchem Reichstag erscheinen.
Mit Weisheit und überlegener Ruhe weiß er die verfahrenen Verhältnisse der Stadt Lübeck zu ordnen und besiegelt auch die Mitarbeit der Bürgerschaft an den Ratsgeschäften in der Stadtverfassung, die bis 1848 gilt.
David Gloxin, der an der Hochburg des Luthertums, in Wittenberg, studiert hat, ist ein Mann, der mit Gott lebt. Es tritt uns in ihm eine ausgesprochene Kämpfernatur entgegen. Eine Kampfes-freudigkeit, die an Schwierigkeiten wächst, beseelt ihn offenbar von Natur aus. Wir finden diese Charakterzüge in seinem Enkel August Hermann Francke wieder. Klugheit von staatsmännischem Format gepaart mit Entschlossenheit, Tatkraft verbunden mit Großmütigkeit sind die Gaben, die vom Großvater auf den Enkel übergehen.
Neben den Großvater mütterlicherseits tritt ebenbürtig die Großmutter väterlicherseits, die Bäckersfrau Elsabe Francke, geborene Wessel, aus altem hanseatischen Geschlecht. Sie gehört zu den seltenen Frauen, bei denen Herz, Gemüt und Geist sich harmonisch vereinen. Sie zählt zu den Menschen, die man nicht mehr vergißt; wenn man ihnen einmal begegnet ist. Wir besitzen über sie das schöne Zeugnis Magister Bangerts, des Rektors des Lübecker Gymnasiums, der jahrzehntelang Wand an Wand mit ihr gewohnt hat: „Ihr Leben währte neunundsiebzig Jahre und fünf Wochen. Und es war wirklich ein Leben, nicht bloß ein Geborenwerden, Atmen, Kriechen, ja vielmehr Gequält-, Gefoltert-, Hin-und-her-geworfen-, Emporgehoben- und Nieder gedrücktwerden. Es war wirklich ein Leben, weil sie ganz ihrem Gott lebte, ihn beständig lobte, liebte, anbetete und verehrte und seinem Willen sich überließ und weil sie ihre Kraft in den Dienst ihrer Mitmenschen stellte. Ihnen zu helfen, wurde sie niemals müde.«
Auf ihrem letzten Lager antwortet sie ihrem Sohn, dem Vater August Hermann Franckes, auf die Frage, ob sie etwas wünsche, in Plattdeutsch: „Wat ich noch hebben mücht? Einen seligen Dod mücht ich hebben und bi minen Herrn Christus sin un cm mit de ganze heilige Dreieinigkeit von Angesicht seihn in ehre himmlische Majestät un Herrlichkeit. Sünst will ich nix mehr hebben.«
Sie kann als Mutter für ihren Sohn auf der Universität beten: „0 Herr, ich schließe zwar meinen Sohn; der in der Ferne weilt, aus diesem meinen Hause aus, niemals aber aus meinem Herzen. Und dich, o heiliger Gott, flehe ich inständigst an, du wollest ihn nie ausschließen aus deiner Gnade und deinem göttlichen Schutze." Mit besonderer Vorliebe liest sie in Johann Arnds Schriften. Nach
dessen „Vier Bücher vom wahren Christentum" will sie fern von allem Heuchelsdiein ein ganz gottergebenes, dem Nächsten dienen-:des und von ihrem Heiland zeugendes Leben führen.
Die Kraft holt sie sich aus Gottes Wort. Elsabe Francke steht früh morgens um drei Uhr auf, um die Stille zu finden. Da schlägt sie die Bibel auf und schüttet ihr Herz aus vor ihrem Heiland. Diese Bäckersfrau lebt darum in einer weiten und reichen Welt. Wie kann das auch anders sein! Wem die letzten und tiefsten Fragen beantwortet sind, die das Herz stellen kann und muß, der wird frei für die andern und für die ganze Welt. Im Bäckerhaus zu Lübeck hat eine Bibliothek erlesener Bücher und alter Handschriften gestanden. Darunter fehlen nicht die Kirchenväter und Zeugen der ersten Christenheit. Aber sie sammelt auch gemeinsam mit ihrem Mann Hans Francke Nachrichten zu einer Lübecker Stadtchronik. Sie ist nur für den Hausgebrauch bestimmt und wird unermüdlich ergänzt. So stark fühlen sich beide mit ihrer Stadtrepublik, mit deren Wohl und Wehe verbunden.
Wie kann diese tüchtige Geschäftsfrau, die ihren Mann lange überlebt, helfen und raten! Wo jemand in der Nachbarschaft krank liegt oder Mangel leidet, sendet sie Speise und Trank sowie Arznei. An Krankenlagern und Sterbebetten weiß sie zu trösten, weil sie selbst eine Getröstete ist. Die letzten Lebensjahre verlebt sie im Hause ihres Sohnes, des Juristen Dr. Johannes Francke, des Vaters unseres August Hermann. Hier ist die achtundsiebzigjährige Bäckerswitwe Elsabe Francke auch beim Tauffest ihres Enkels August Hermann der von allen geliebte Mittelpunkt. Welch eine herzbewegende Stunde! Ihren hochbegabten und früh zur Theologie entschlossenen ältesten Sohn Hermann hat sie zeitig ins Grab sinken sehen, und ihr Sohn Johannes, bei dem sie nun ihren Lebensabend verbringt, hat wegen seiner schwachen Brust auf diesen Berufsweg verzichten müssen. Nun hält sie auf ihren zitternden Armen und an ihrem von Jesusliebe brennenden Herzen den dritten Enkelsohn, August Hermann, der ein so Großer werden soll im Reiche Gottes. Eineinhalb Jahre hat sie über diesem Kind noch die Hände gefaltet.
Von dieser Frau mit dem von Christusliebe übervollen Herzen, das sich ein Leben lang in mütterlichem Erbarmen über alles beugt, was elend und hilflos ist, hat August Hermann Francke wohl entscheidende Züge empfangen. Veranlagung, Gabe und Segen der Großeltern formen sich neu in den Enkeln. Die moderne Tiefenpsychologie bestätigt, was die Glaubensaussage vom Segen der Väter erzählt. Denn nach der tlberzeugung der modernen Seelenkunde ist es durchaus gegeben, daß Leitbilder der Seele, die von den Vorf ahren geträumt und ersehnt worden sind, in denEnkeln als potentielle Energie nachwirken. Im Leben der Seele spielen
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die sogenannten Leitbilder eine besondere Rolle. Darunter sind die Zielsetzungen zu verstehen, die ein Mensch in sich trägt im Handwerk zurück, aber sein Rektor ruht nicht, bis dieser Schüler wieder aufs Gymnasium zurückkommt. Der Sohn des schlichten Handwerksmeisters tritt nunmehr in die große Welt ein. Sein juristisches Studium führt ihn nach Königsberg und Rostock. Nach Abschluß der Studien begibt er sich noch an holländische und französische Hochschulen. Dort sitzt er zu Füßen weltberühmter Rechtsgelehrter; Auf den Landstraßen der Welt weiten sich Blick und Herz. In Basel erwirbt er sich den Doktorgrad beider Rechte, des weltlichen und des geistlichen. Die Reise nach Italien bricht er jedoch ab, als ihn die Nachricht von der schweren Erkrankung
Blick auf Berufswahl, auf Wünsche und Hoffnungen, die an die • seines Vaters erreicht. Er eilt heim.
Zukunft gestellt werden. Die Leitbilder sind niemals nur eine blasse Idee oder ein begrifflich geschauter Vorgang. Das wirkt und - Johannes Francke besitzt viele Freunde unter den Theologen. Die Sehnsucht nach einem wahren Christentum ohne Heuchelei verbindet sie untereinander.
wogt in uns und lebt in geschauter farbiger Plastik. Von guten Leitbildern strömen der Seele Segenskräfte zu, die Geist und Herz beflügeln und anspornen. Das ist das Streben aller ernsten Geister der Zeit. Weltoffenheit vereinigt sich bei dem tüchtigen. Juristen mit persönlicher Bescheidenheit und ausgeprägter Wahrhaftigkeit. Kein Wunder, daß der mit Geschäften überbürdete Syndikus David Gloxin dem jungen Rechtsgelehrten, der in Kiel, der Residenzstadt der Holsteinischen Herzöge, Mandanten sucht, die ersten Aufträge gibt. Als Johannes Francke in den Dienst des evangelischen Domkapitels zu Ratzeburg tritt, gibt David Gloxin ihm ohne Zögern eine seiner Töchter zur Frau. Es ist die siebzehnjährige Anna Gloxin, die Dr. Johannes Francke in die Wohnung im Domkapitel zu Ratzeburg heimführen darf. Ein weiträumiges Haus, Gärten, Pferde
Nach demTaufeintrag inSt.Agidien znLübeck vom 15. März 1663 gehört zu den Paten August Hermann Franckes die Herzogin Hedwig Sybilla von Sachsen-Lauenburg, Tochter des regierenden Herzogs von Sachsen-Lauenburg. Nach ihm ist der Täufling August genannt worden. Diese Herzogsfamilie greift tief hinein in die Schicksalsführung des ganzen Frandceschen Geschlechtes. Noch ist das zur Stunde nicht sichtbar. Den Namen Hermann verdankt der Täufling seinem zweiten Paten Hermann von Dorne, dem ältesten Bürgermeister von Lübeck unter den vieren, die miteinander die Geschicke der Stadt lenken; Neben einem zweiten Vertreter der Patrizierfamilien finden wir aber auch zwei Anverwandte aus dem Kleinbürgertum. Diese Zusammenfügung von Paten aus den verschiedensten Ständen, angefangen bei dem Mitglied eines regierenden Fürstenhauses bis zu den Kleinbürgern, charakterisiert die innere Haltung des Franckeschen Geschlechts. Dr. Johannes Francke, der Vater des Täuflings, hat später einem der tüchtigsten Fürsten seiner Zeit den schönen Satz geschrieben: „Ich bin zwar nicht von großen und hochansehnlichen, jedoch gottseligen, redlichen und frommen Eltern geboren, deren ich mich noch nie geschämt, noch schämen werde." Das ist die Freiheit von Menschen, die an Gott gebunden sind und darum auch in der Zeit barocker Enge mit der betonten Abstufung der Stände nicht der Unterwürfigkeit verfallen, sondern das freie Manneswort behalten. und Wagen stehen zur Verfügung. -
In der Patenwahl der Eltern August Hermann Franckes bahnt sich die große Wende an, die einmal seinen ganzen Lebensweg bestimmen wird. Das Geschlecht Francke ist schnell emporgestiegen zu Rang und Geltung. Der Großvater väterlicherseits ist noch auf einem hessischen Dorf, in Heldra, nahe der thüringischen Grenze 1617 geboren. Den jungen Bäcker hat zweifelsohne das Kriegselend, das Hessen besonders hart traf, in die Ferne, nach Hamburg getrieben. Den beruflich hervorragenden Freibäcker holt man dann nach Lübeck. Seine ungekünstelte Gottesfurcht und seine Rechtschaffenheit, die Tugenden des alten Handwerksmeisters, bringen ihm in der Hansestadt schnell die wohlverdiente öffentliche Anerkennung ein. Nun tritt Dr. Francke noch in die Dienste der beiden Fürstinnen von Sachsen-Lauenburg. Er ist damit dem Zug der Zeit gefolgt. Die alten Reichsstädte, die langsam verkümmern, bieten den jungen aufstrebenden Vertretern des Bürgertums kaum noch Aufstiegsmöglichkeiten, geschweige denn weitreichende Aufgaben. Die Fürstenmacht ist in unaufhörlichem Anstieg begriffen. Der moderne Machtstaat ist im Kommen. Die barocke Welt wertet den Menschen nur nach seinem Rang im Staate. Hier steht der Bürgernoch weit weg von dem allein lichtgebenden Strahlenthron der Fürsten. Und doch bedürfen die Fürsten, die ihre Staatsmaschinerie immer komplizierter ausbauen, vieler tüchtiger Bürgersöhne in all den neu entstehenden Staatsfunktionen. Der moderne Verwaltungsstaat, der in alles hineinregiert und hineinredet, ist bereits in den Umrissen sichtbar. So lebt das Bürgertum im ganzen auf den Adel hin, der die Zeit beherrscht, den Zeitstil prägt und den Bürger doch nicht entbehren kann. An rohen Landjunkern und bornierten Höflingen fehlt es hier nicht, an Adligen, die auf den Bürgersmann herabsehen und ihn höchstens auszunützen trachten. Aufs allgemeine gesehen, sind das freilich Ausnahmen.
Sein hochbegabter Sohn Johannes kehrt zwar mit fünfzehn Jahren von der Lateinschule in die Backstube zum väterlichen 15
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