Glaube ist kein Gefühl, Ney Bailey

10/28/2024
von Christ-und-Buch Günter Arhelger

Unsere Gefühle und Gottes Wort stimmen nicht immer überein. Ney Bailey versucht aufzudecken, warum das so ist und wie sich der Konflikt lösen lässt. Sie bietet sehr praktische Hilfe an, ganz gleich, an welchem Abschnitt des Weges mit Gott sich jemand befindet.
Dies ist ein sehr persönliches, interessantes und flüssig geschriebenes Buch. Es verbindet
Tragisches, Humorvolles und Dramatisches auf eine Weise, dass der Leser gefesselt bleibt.

Dieses Buch kann man immer wieder lesen und auch andere darauf aufmerksam machen.
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Ney Bailey Glaube ist kein Gefühl
Die Bibelzitate sind, wenn nicht anders angegeben,
der Revidierten Elberfelder Übersetzung (1985) entnommen.
Überarbeitete Neuauflage 2007
Originaltitel: Faith Is Not a Feeling
Originalverlag: Here’s Life Publishers, Inc.
© der deutschen Ausgabe
Campus für Christus, Gießen
Übersetzung: Litera/Günsch
Umschlaggestaltung: OttENDESIGN.de
Satz: CLV
Druck: Ebner & Spiegel, Ulm
ISBN 978-3-88404-021-8 (CfC)
ISBN 978-3-89397-571-6 (CLV)
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Inhalt
Einleitung 7
Die Flut 9
Albtraum Arizona 23
Aber dein Wort sagt … 37
Gewissensfragen 45
Ein verändertes Herz 57
Ein Stein nach dem anderen 71
Der Feind wird entlarvt 95
»Fünfundsiebzig Prozent« des Lebens 115
Versagen und Vergebung 129
Worauf gebaut? 141

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Einleitung
»Was würdet ihr tun, wenn ihr nur noch ein Jahr zu leben hätt et?«, fragte mein Teamleiter, Paul Eshleman, einige von uns bei einer Mitarbeiterbesprechung. Ich dachte: »Ich würde einige meiner Ansprachen in Buchform herausbringen wollen, weil sie im Leben vieler Menschen so positive Auswirkungen zu haben scheinen.« Bald darauf sagte Judy Downs Douglass aus der Verlagsabteilung von Campus für Christus zu mir: »Ney, wir hätt en gern ein Buch von dir über den Inhalt deiner Vorträge.« 
Etwas später meinte Sharon Fischer, ebenfalls aus unserer Verlagsabteilung, zu einer gemeinsamen Freundin:
»Ich habe einige von Neys Tonbändern gehört. Das, worüber sie spricht, geht uns alle an, ob Mann oder Frau, ob verheiratet oder unverheiratet. Wenn sie jemals ein Buch schreiben sollte, würde ich sehr gern mit ihr daran arbeiten.«
Und so fi ng Gott an, alles zusammenzufügen.
Jeder von uns hat Gefühle. Sie können uns zu Freunden oder zu Feinden werden, je nachdem, wie wir mit ihnen umgehen. Ich möchte Ihnen von einigen Kämpfen und Prüfungen berichten, die ich bestehen musste, bis ich lernte, meine Gefühle zu bändigen und zu meistern.
Ich möchte Ihnen erzählen, wie ich es lernte, sie als einen Zugang zu Gott es Wort zu gebrauchen. Hunderte von Menschen, die gehört haben, was auf den folgenden Seiten berichtet wird, haben angerufen, geschrieben oder sind zu mir gekommen, um mir zu sagen, dass ihr Leben dadurch anders geworden ist. Es ist mein Wunsch, dass jeder, der dieses Buch liest, ermutigt und herausgefordert wird. Ich bete, dass Gott in unseren Herzen »ein Feuer anzünde«, dass Menschenleben
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verändert werden und dass jeder, der dieses Buch gelesen hat, sagen kann: »Jetzt verstehe ich, was es heißt, aus Glauben zu leben und Gott beim Wort zu nehmen. Jetzt verstehe ich, dass Glaube kein Gefühl ist, sondern eine Entscheidung.«
Ney Bailey, Lake Arrowhead, Kalifornien
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Die Flut
»Alarm! Flutkatastrophe! Alarm! Flutkatastrophe!« Die Schreckensworte der letzten Nacht dröhnten mir noch in den Ohren, während ich gespannt die Fernsehnachrichten verfolgte.
»31. Juli 1976. Der Big Thompson führt Hochwasser.
Alles überfl utet. Einhundert Menschen wurden getötet, achthundert werden noch vermisst; der Sachschaden geht in die Millionen; die größte Katastrophe in der Geschichte des Staates Colorado. Wolkenbruchartige Regenfälle am Osthang der Wasserscheide des Kontinents
brachten innerhalb von sechs Stunden fünfunddreißig Zentimeter Regen mit sich und überschwemmten das Gebiet zwischen Estes Park und Loveland, genau nördlich von Denver. Eine Wasserwand wurde von einem heulenden, peitschenden Sturmwind den Canyon hinuntergetrieben.
Bäume wurden entwurzelt, Häuser verwüstet und Autos zerstört. Alle Bergungsaktionen scheinen unmöglich. Rett ungsfl ugzeuge suchen verzweifelt nach Vermissten. Die Lutt selbst ist erfüllt von einer Mischung aus Abwasser- und Dieselölgeruch und menschlichen Hilfeschreien.
Am 1. August ist alles vorüber, nur die Suche geht weiter … Die Flut, von Experten für unmöglich gehalten, kam dennoch: Reißende Wasser verwandelten eine friedliche Landschatt in ein Schreckensbild. 
Was bleibt, sind die Dankgebete für die Überlebenden und die Erinnerung an jene, die nicht mehr unter uns sind …«
Meine Gedanken wanderten von der Stimme des Fern sehsprechers zurück zu dem schrecklichen Erlebnis.
Wenige Stunden zuvor hatt e ich selbst noch zu den Vermissten gehört. Bald darauf sollte ich erfahren, dass 10
sie ben Menschen, die mir sehr viel bedeuteten, unter den Toten waren. Wir – das waren fünfunddreißig langjährige Mitarbeiterinnen von Campus für Christus – hatt en uns auf
das Freizeitwochenende auf der Sylvan-Dale-Ranch riesig gefreut. Wir wollten Zeit zusammen verbringen und einander erzählen, was wir inzwischen erlebt hatt en, ehe wir zu unserer alljährlichen Mitarbeiterkonferenz an der staatlichen Universität von Colorado nach Fort
Collins fuhren.
Es war wie ein Familientreff en. Unsere verschiedenen Aufgaben hatt en uns im Lauf des vergangenen Jahres überall in die Vereinigten Staaten geführt, und einige von uns kamen aus dem Ausland zurück. Wir trafen am 31. Juli mitt ags auf der Ranch ein; am Eingang begrüßte
uns ein Schild: »Erholsame, kühle Übernachtungen weit weg von lauten Autostraßen.«
Das Wett er war unvergleichlich schön. Ein herber Tannendutt erfüllte die Lutt der Berge. Die warme Sonne strahlte aus dem tiett lauen Himmel über die Rocky Mountains auf die Ranch, die sich in etwa 1500 Metern Höhe harmonisch in das Tal einfügte. Durch die Narrows, eine Felsenschlucht gleich oberhalb der Ranch, floss reißend der Big Thompson.
Nach einem gemütlichen Mitt agessen im Speiseraum mit Blick auf den Fluss gingen wir reiten und schwimmen. Wir klett erten auf einen beladenen Heuwagen und sangen, lachten und unterhielten uns, während der Wagen uns einen schmalen Weg durch den Canyon hinauf zu einem Wasserfall brachte und dann wieder zurück zur Ranch zum Abendessen.
Während des Abendessens fesselte eine silberhaarige Dame meine Aufmerksamkeit; durchs Fenster beobachtete ich sie beim Angeln. Sie stand auf ein paar Steinen im Flussbett und hatt e die Hosenbeine hochgekrempelt.
Ihre Freunde standen in der Nähe und ermunterten sie. Ich fragte mich, wie sie erwarten konnte, in einem so reißenden und fl achen Wasserlauf überhaupt etwas zu fangen.
Nachdem wir unser Hähnchen nach Hausfrauenart verspeist hatt en, sammelte sich unsere Gruppe beim Kamin in dem geräumigen Aufenthaltsraum der »People’s Barn«, einem alten Gebäude mit Blick auf den Fluss, das an den Außenwänden mit vielen alten Wagenrädern
verziert war.
Freude erfüllte den Raum, als wir unsere Erinnerungen an all das miteinander austauschten, was Gott im vergangenen Jahr für uns getan hatt e. Dann bat ich Carol Rhoad, uns zu erzählen, wie sie den Nachmittag verbracht hatte. Sie war nämlich müde gewesen und hatte sich schlafen gelegt und deshalb die Fahrt auf dem Heuwagen nicht mitgemacht. Nach ihrem Mitt agsschlaf
war sie mit dem Besitzer der Ranch ins Gespräch gekommen.
»Wir haben ständig Leute hier, aber noch nie habe ich eine so fröhliche und harmonische Gruppe gesehen«, meinte er. »Wer seid ihr?«
Carol nahm die Gelegenheit wahr, ihm etwas über die Quelle unserer Freude zu sagen und dass auch er Jesus Christus als seinen Erlöser finden könne. Carol konnte an jenem Abend, als sie uns von diesem Gespräch berichtete,nicht ahnen, dass sie schon Stunden später bei Jesus Christus sein würde – für immer.
Marilyn Henderson besprach mit uns ihre Hoff nungen und Erwartungen in Bezug auf die kommende Mitarbeitertagung.
Sie sagte, sie habe dafür gebetet, dass keine von uns von dort so wieder weggehen würde, wie
sie gekommen sei. Wir wussten nicht, dass die nächs
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ten Stunden und Tage unser Leben unwiderrufl ich verändern sollten.
Kurz nach 21 Uhr machten wir eine kleine Erfrischungspause.
Kaum waren wir wieder zusammen, als ich in weiter Ferne eine Sirene hörte. Gleich darauf
waren durch Lautsprecher verzerrte Stimmen zu hören. Als sie näher kamen, konnte ich allmählich die Warnungen verstehen. Wir wurden aufgerufen, sofort das Gebiet zu verlassen – der Fluss stieg, eine Flut welle nahte.
»Das kann nur ein Scherz sein«, dachte ich.
Jemand sagte: »Während der Pause war ich draußen, und der Fluss sah wirklich etwas sonderbar aus …«
Alles schien so unverständlich. Es war ein ruhiger, sonniger Tag gewesen – bis auf einen Wolkenschleier, der aber keineswegs bedrohlich wirkte, und einen leichten Schauer gegen Mitt ag.
Die Polizei dröhnte ihre Befehle in dringlichen Wiederholungen immer wieder hinaus.
»Sofort das Gebiet verlassen! Hochwasser kommt!
Nichts mitnehmen …! Höher gelegene Plätze aufsuchen!« Unser Raum war plötzlich voller Hochspannung und Aktivität. In weniger als einer Minute verließen wir die »People’s Barn«, rannten in die Dunkelheit hinaus und drängten uns in acht Autos.
Wir alle kannten die Umgebung nicht; niemand wusste genau, wohin wir uns wenden sollten. In dem Durcheinander wurden wir voneinander getrennt. Vier Autos blieben in der Nähe der Ranch und fuhren in verschiedene Richtungen. Die anderen vier Autos, darunter auch meines, folgten dem Polizeiwagen über eine Brücke hinauf zu dem Parkplatz eines Geschäfts an der Bundesstraße 34.
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Als ich auf den Parkplatz kam, sprang eine meiner Mitfahrerinnen hinaus, um sich umzusehen. In dem Augenblick
rief jemand in der Nähe: »Die Brücke, über die wir eben gefahren sind, ist nicht mehr da!«
Ein Polizist in gelbem Ölzeug, nur von den Autoscheinwerfern beleuchtet, wiederholte durch sein Megaphon
immer wieder die Anweisung, höheres Gelände aufzusuchen. Ich versuchte, den unglaublichen Lärm
laufender Motoren, schreiender Menschen und explodierender Propangasflaschen, die der Fluss mitriss, zu
übertönen: »Wo ist höheres Gelände?«
Keine Antwort, nur immer wieder der Ruf des Polizisten:
»Hört doch die Explosionen! Weg hier …! Raus aus den Autos und höher hinauf!«
Ich sprang aus dem Auto und schrie wieder meine Frage: »Wohin?« Wieder keine Antwort.
Ich wusste, dass irgendwo auf der anderen Seite der Straße das Gelände anstieg, aber wo? Acht von uns waren
auf dem Parkplatz aus den Autos gestiegen und suchten nun in der Finsternis einen Weg den steilen Abhang
hinauf, eine hinter der anderen. Die Lutt war erfüllt von Propangasdunst. Ich spürte förmlich den Geschmack im Mund, als wir uns in Dunkelheit, Regen und dem ganzen Durcheinander gemeinsam den Berg hinaufschleppten, wobei wir über Stacheldraht klett ern mussten und immer wieder im Schlamm ausrutschten.
Winky Leinster und ich bewegten uns Hand in Hand vorwärts, geleitet nur von den Blitzen, die hin und wieder die sturmgepeitschte Finsternis durchdrangen. Wir schauten uns um und sahen, wie Jackie Hudson sich bückte, um einer älteren Frau zu helfen, die im nassen Lehm immer wieder ausrutschte und sich mühte, irgendwie durch den gefährlichen Stacheldraht zu kommen.
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Nie hatt e ich mich dem Tod so nah gefühlt. Es schien,
als hätt e das reißende Wasser bereits unsere Fersen erreicht,
als folgte es uns den Berg hinauf, als könnte es
uns jeden Augenblick verschlingen.
Als wir oben auf dem Berg angekommen waren,
drängten wir acht uns dicht aneinander. Wir wussten
nicht, wo die anderen geblieben sein mochten, und wir
hatt en keine Ahnung, was eigentlich um uns herum vor
sich ging. Die Berglutt war kalt, und ein scharfer Wind
ließ sie noch kälter wirken; dazu kam der prasselnde
Regen. Frieren war mir immer besonders zuwider gewesen,
doch verbot ich mir jetzt, daran zu denken. Da
ich auf einem Felsbrocken direkt hinter einer der Frauen
saß, versuchte ich, sie vor dem Ansturm der Elemente
zu schützen.
Als wir so dicht aneinandergedrängt dasaßen, schlug
ich vor: »Lasst uns beten.«
Worte der Bibel kamen mir in den Sinn, und so begann
ich: »Herr, dein Wort sagt: ›Sagt in allem Dank!
Denn dies ist der Wille Gott es in Christus Jesus für euch‹
(1. Thessalonicher 5,18). Da wir nun in dieser Lage sind,
entscheiden wir uns ganz bewusst dafür, dir Dank zu
sagen. Herr, dein Wort sagt auch, dass ›denen, die Gott
lieben‹, und das tun wir, ›alle Dinge‹, also auch dies,
›zum Guten mitwirken, denen, die nach seinem Vorsatz
berufen sind‹, also auch uns (Römer 8,28). Du hast
auch gesagt: ›Der Himmel und die Erde werden vergehen,
meine Worte aber sollen nicht vergehen‹ (Matt häus
24,35). Demnach ist dein Wort verlässlicher als alles,
was wir jetzt fühlen und erleben.«
Unsere Ängste zerstreuten sich, unsere Herzen wurden
getröstet und seltsamerweise von Frieden erfüllt,
als wir so auf dem windumtosten Berggipfel beteten.
Unsere Gebete wurden zum Lobgesang: Vater, wir dan
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ken dir, Vater, wir danken dir, Vater im Himmel, wir danken
dir. Bald darauf klett erten wir ein Stück den Berg hinunter
und gesellten uns zu einer anderen Gruppe von
Touristen, die unter hohen Felsbrocken besseren Schutz
gefunden hatt e.
Die ältere Dame, der Jackie Hudson durch den Zaun
geholfen hatt e, lehnte sich gegen einen dicken Felsblock.
Von unserem erhöhten Platz auf den Felsen aus konnten
wir sehen, wie noch immer Propangasfl aschen explodierten
und zu plötzlich leuchtenden Feuerbällen wurden.
Und wir sahen die ziellos wandernden Scheinwerfer
von Autos, die vom Fluss mitgerissen wurden.
Bald gab uns die Polizei Zeichen, dass wir herunterkommen
sollten. Wir wurden angewiesen, unsere Autos
zu suchen, und bald folgten wir einem Streifenwagen
über einen Feldweg nach Loveland.
Vor Loveland wiesen uns die roten Blinklichter einer
Polizeisperre weiter nach Fort Collins; in Loveland
durtt en keine Autos halten.
Wir kamen nach Mitt ernacht in Fort Collins an. Dort
meldeten wir uns bei der zuständigen Polizeidienststelle,
um zu erfahren, wer von unserer Gruppe noch gerettet
worden war. Man versicherte uns, dass auf der Sylvan-
Dale-Ranch keiner zurückgeblieben sei. Wir wollten
umkehren und nach unseren Freunden suchen, aber aus
dem Radio kam die Durchsage: »Bitt e nicht nach Loveland
fahren … Sie vergrößern nur den Andrang dort und
behindern die Rett ungsarbeiten!« Da wir off enbar nichts
weiter tun konnten, gingen wir alle nach Hause.
Sobald ich allein in meiner Wohnung war, nicht weit
entfernt von dem Gelände der staatlichen Universität
von Colorado, dachte ich noch einmal über die verwirrende
Abfolge von Ereignissen an diesem Abend nach.
Vor allem machte ich mir Sorgen, weil Marilyn Hender
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son noch nicht zu Hause war. Marilyn wohnte in jenem
Jahr mit mir zusammen; wir waren Kolleginnen und
sehr gute Freundinnen. Ich steckte einen Zett el an ihre
Tür und ging ins Bett . Es war drei Uhr morgens.
Sechs Stunden später erhielt ich die schreckliche
Nach richt. Ich erfuhr, dass bei der morgendlichen
Zu sammenkuntt auf unserer Mitarbeitertagung bekannt
gegeben worden war, dass einige unserer Mitarbeiterinnen
vermisst wurden. Minuten später war
ich angezogen, hatt e meine Familie angerufen, damit
sie wusste, dass ich in Sicherheit war, und nun hastete
ich zum Büro von Bill Bright, dem Leiter unserer Bewegung.
Die Leute, die sich vor seiner Tür versammelt hatt en,
umarmten mich vor lauter Freude, dass ich noch lebte.
Jetzt erst, fast zwölf Stunden nachdem die Sirenen erstmals
am Flussufer entlang aufgeheult hatt en, kamen
mir die Tränen.
Dr. Bright begrüßte mich herzlich in seinem Büro.
Die Stimmung dort war ernst, aber friedvoll.
»Ney, wie freue ich mich, dich in Sicherheit zu wissen!
Wie bist du davongekommen?«, fragte er.
»Die Polizei leitete uns über einen Feldweg heraus.«
Ich schilderte ihm die Erlebnisse unserer Gruppe.
»Marilyn rief etwa gegen Mitt ernacht an, um uns zu
sagen, sie sei im Krankenhaus«, sagte er sachlich. »Später
wurde dann noch Melanie Ahlquist eingeliefert.«
Ich verstand das nicht. »Was soll das heißen, sie sind
im Krankenhaus?«
»Ihr Auto geriet ins Wasser. Sie glauben nicht, dass
die anderen Insassen davongekommen sind. Marilyn
und Melanie konnten sich an Bäumen festhalten und
wurden gerett et.«
»Ihr Auto geriet ins Wasser?«
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Dr. Bright sprach ruhig weiter. »Sie wurden angewiesen,
nach Osten, Richtung Loveland, zu fahren.«
»Nach Osten, Richtung Loveland!«, wiederholte
ich.
Ich saß regungslos und mit vor Entsetzen off enem
Mund da. Dr. Bright wurde ans Telefon gerufen. Er hörte
aufmerksam zu und legte dann die Hand über die
Sprechmuschel. Er wandte sich um und sah mich an.
»Sie haben mit Sicherheit die Leichen von Carol
Rhoad und Cathie Loomis identifi ziert.«
Ich sackte im Stuhl zusammen, als hätt e ich einen
Schlag mit dem Holzhammer bekommen. All das Unglaubliche
des gestrigen Abends drang nun auch in diesen
Sonntagmorgen vor.
Ich blieb noch ein paar Minuten bei Dr. Bright und
eilte dann ins Krankenhaus zu Marilyn.
Sie lächelte schwach, als ich ins Zimmer trat. Ich weiß
noch, dass mir ein Lied durch den Kopf ging, als ich sie
sah, das wir am Anfang des Sommers einmal gehört
hatt en: Geht man so mit ’ner Dame um …? Wir begrüßten
uns herzlich. Sie war zerschunden und erschöptt und
erbrach Schlamm und Geröll aus dem reißenden Fluss,
der versucht hatt e, ihr Leben zu vernichten.
Der verfi nsterte Himmel sah fast aus, als trauerte
Gott es Herz – es goss in Strömen, als ich an jenem
Spätnachmitt ag das Krankenhaus verließ, um Mary
Graham, eine weitere Mitarbeiterin und gute Freundin
von mir, am Flughafen von Denver abzuholen. Mary
hatt e wegen einer wichtigen Verpfl ichtung nicht zu
unserem Treff en auf der Ranch kommen können, und
wir hatt en vereinbart, dass entweder Carol Rhoad oder
ich Mary vom Flughafen abholen sollte. Ich wollte sie
direkt wissen lassen, warum Carol nicht da sein
konnte.
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Wie benommen ging ich durch den Flughafen. Ich
war schon ott und überall im Land auf Flughäfen gewesen,
aber diesmal war es anders. Ich dachte über all
die Leute nach, die zu den Flugzeugen gingen oder von
ihnen kamen und keine Ahnung hatt en, dass ich am
Abend zuvor knapp der Flut entgangen war, dass ich
Kummer hatt e, dass meine Freundinnen entweder tot
oder verletzt oder vermisst waren. Niemand ahnte, wie
entsetzlich elend ich mich fühlte.
Ich fragte mich, wie ott ich auf Flughäfen an Menschen
vorübergegangen war, die eben erst einen lieben
Verwandten oder Freund verloren hatt en – und ich hatte
nichts davon gewusst.
Im Lauf der nächsten Tage wurde das, was geschehen
war, nach und nach klarer. Off enbar hatt e im Lärm
und Durcheinander der herankommenden Flutwelle
niemand gewusst, welchen Weg man hätt e einschlagen
sollen, um höheres Gelände zu erreichen. Jeder hörte
sich in eine andere Richtung gewiesen. Siebzehn unserer
Mitarbeiterinnen hatt en sich auf der Ranch wiedergefunden.
Sie verbrachten die Nacht im Freizeitraum
der Sylvan-Dale-Ranch und gelangten von da aus am
folgenden Nachmitt ag per Anhalter in Sicherheit. Der
Raum in der »People’s Barn«, in dem unser Treff en statt -
gefunden hatt e, war wenige Minuten nachdem wir ihn
verlassen hatt en, bis zur Decke voll mit Schlamm und
Wasser gewesen.
Vier Autos hatt en es über die Brücke geschatt . Die
Insassen zweier unserer Autos verließen auf Anweisung
der Polizei die Wagen und versuchten zu Fuß, weiter
nach oben zu kommen.
Die anderen Autos folgten der Anweisung eines Polizisten,
nach Osten in Richtung Loveland weiterzufahren.
Als sie an eine tiefere Stelle der Straße kamen, don
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nerte eine Wasserwand über sie hinweg und spülte sie
in den Fluss. In Sekundenschnelle waren die Autos versunken.
Von den neun Frauen in diesen zwei Autos kamen
sieben ums Leben. Die beiden Überlebenden, Marilyn
und Melanie, kämptt en einen verzweifelten Kampf.
Sie klammerten sich an Bäume, bis die Rett ungsmannschatt
en sie bergen konnten.
In den folgenden Tagen, während wir viele Stunden
im Krankenhaus verbrachten, um uns um Marilyn
und Melanie zu kümmern, und unseren Aufgaben bei
der Mitarbeitertagung nachkamen, dachte ich ott daran,
dass ich einmal gelesen hatt e: »Was uns die größte
Freude schenkt, bringt auch den größten Kummer mit
sich.« Jetzt erfuhr ich die Wahrheit dieser Worte, als ich
über den Tod meiner Freundinnen weinte. Ich weinte
herzzerreißend. Der Verlust brach mir fast das Herz; ich
hatt e sie sehr lieb gehabt.
Beim Gedanken an jede einzelne von ihnen brachen
lebhatt e Erinnerungen hervor.
Rae Arm Johnston … am Morgen unseres Treff ens
auf der Ranch hatt e ich ihr einen Zett el zugeschoben,
auf dem stand, sie solle mit mir ein Zimmer teilen …
Der Zett el steckte nun in meiner Bibel mit ihrer Antwort:
»Mach ich liebend gern …«
Carol Rhoad … wie fröhlich war sie als unsere Sekretärin
gewesen …! Sie hatt e unseren regelmäßigen Treffen
etwas Häusliches gegeben – kleine Überraschungen
wie Obst, Käse, Blumen … Am Anfang des Sommers
hatt e ich eine vierwöchige Vortragsreihe gehalten …
Carol brachte Freunde mit und saß jedes Mal in der vordersten
Reihe, um mir Mut zu machen …
Cathie Loomis … Cathie saß während der Kaff eepau
se bei mir in der »People’s Barn« …, ich weiß noch,
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wie ich dachte: »Cathie hat noch nie so strahlend schön
aus ge sehen.« … Ein Leuchten schien von ihr auszu gehen

June Fujiwara … ihre Augen verschwanden, wenn
sie ihr strahlendes Hawaiilächeln zeigte … Sie besuchte
mich einmal im Dezember zu Hause in Kalifornien – ich
machte ein Foto von June, wie sie zum ersten Mal in ihrem
Leben auf Skiern stand …
Precy Manongdo … sie war im Reisedienst auf den
Philippinen gewesen … Den Nachmitt ag hatt en wir
noch zusammen verbracht, hatt en auf einem Zaun gehockt,
miteinander geplaudert und den Fluss betrachtet
und darauf gewartet, dass unsere Pferde gesatt elt
wurden …
Barbie Leyden … sie hatt e mich von unserer ersten
Begegnung an hell begeistert … Barbie hatt e ein unsichtbares
Wesen mit Namen »Edith« erfunden: Wenn
das Geschirr nicht gespült worden war, war Edith dafür
zuständig; wenn die Autoschlüssel nicht aufzufi nden
waren, hatt e Edith die Schuld … Eines Sommers
veranstalteten wir eine Party für Barbies unsichtbare
Freundin und versprachen allen geladenen Gästen, sie
werde wirklich erscheinen … Wir sorgten dafür, dass
nach dem Essen ein Telegramm kam, das mit den Worten
endete: »Man kann nicht alles haben – entweder Kuchen
oder Edith!«
Terri Bissing … während einer schwierigen Phase
in meinem Leben schickte sie mir vierzehn Tage lang
jeden Tag eine Karte mit einem besonderen Wort für
mich … Während unserer Mitarbeitertagung wollten wir
uns einmal Zeit nehmen für ein langes Gespräch …
Nun waren sie nicht mehr am Leben. Sie würden mir
entsetzlich fehlen, und was in meinem Herzen vorging,
lässt sich nicht mit Worten sagen. Ich wollte jede ih
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rer Familien besuchen und ihnen sagen, wie nahe sie
meinem Herzen gestanden hatt en.
Ich wusste auch, dass ich in der Gefahr stand, bitt er
und zynisch zu werden, wenn ich weiter über den Verlust
und das ganze Unglück nachdachte und all die Fragen
nach dem »Warum« zu beantworten suchte, auf die
es doch keine rechten Antworten gab.
Aber aus früheren Erfahrungen hatt e ich gelernt, dass
wir in dem Maße bitt er werden, wie wir Gott nicht Dank
sagen, und so begann ich unter Tränen, ›Gott [durch
Jesus] ein Opfer des Lobes dar[zu]bringen! Das ist:
Frucht der Lippen, die seinen Namen bekennen‹ (Hebräer
13,15). Ich richtete mein Herz auf die Dankbarkeit
Gott gegenüber aus. Ich zwang mich, auf das zu sehen,
was er gegeben hatt e, und nicht so sehr auf das, was er
genommen hatt e.
Auf einmal sah ich: Mein Leben hätt e auch anders
verlaufen können, ohne dass ich je diese mir so wertvollen
Menschen kennen und lieben gelernt hätt e, doch
Gott hatt e sie mir über den Weg geschickt. Er hatt e mir
die Zeit, die ich mit jeder von ihnen verbracht hatt e, als
ein Geschenk gegeben.
Willentlich, nicht aus meinem Gefühl heraus, entschloss
ich mich dazu, immer wieder zu danken. Gott
hatt e in seinem Wort verheißen, er werde denen, die
ihn lieben und die nach seinem Vorsatz berufen sind,
alle Dinge (auch die allerschlimmsten) zum Besten dienen
lassen.
Etwa einen Monat nach der Flut schrieb mir eine
Freundin aus Europa: »Ney, wenn ich jene Flut mit erlebt
hätt e, ich weiß nicht, ob ich ebenso wie du darauf reagiert
hätt e …«
Mir war zutiefst bewusst, dass dies keine natürliche
Reaktion meinerseits war, sondern eine übernatürliche
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aus dem Glauben heraus, dass Gott es Wort wahrer ist,
als ich es empfand. Ich war mir außerdem darüber klar,
dass dies das Ergebnis langer Jahre war, in denen ich
durch eine harte Schule gegangen war und aus meinen
Fehlern gelernt hatt e.
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Albtraum Arizona
Mein dunkelblauer VW-Käfer war bis oben hin vollgepackt.
Ich hatt e so ziemlich all mein Hab und Gut in
meinem Auto und einem kleinen Anhänger verstaut.
Vor mir lag die über 2500 Kilometer lange einsame Fahrt
von meinem Heimatort New Orleans quer durch den
Westen von Texas und New Mexico nach Arizona. Ich
sollte nach Tucson kommen, um meinen Dienst als Mitarbeiterin
bei Campus für Christus an der Universität
von Arizona zu beginnen.
Vieles ging mir durch den Kopf während der einsamen
Stunden unterwegs. Es ging einem neuen Abenteuer
entgegen. Die 25 Jahre meines bisherigen Lebens
waren mit mancherlei Erfolgen, mit großen Freuden und
wenigen Entt äuschungen angefüllt gewesen. Und obwohl
ich Jesus Christus schon mit 15 Jahren als meinen
Erlöser angenommen hatt e, gab ich erst nach meinem
Hochschulabschluss, als ich Sozialarbeiterin in New Orleans
war, mein Leben ganz Christus hin. Und das war
erst eineinhalb Jahre her. Ich war jung, voller Selbstvertrauen,
Hoff nung und Begeisterung und von Herzen
bereit, »große Dinge« für Gott zu tun.
Bei der Mitarbeiterkonferenz einen Monat zuvor
hatt e mir einer der Konferenzleiter einige Fragen gestellt.
»Was brauchst du deiner Meinung nach am nötigsten,
wenn du an deine neue Aufgabe denkst?«, war eine
der Fragen.
Ohne zu zögern, hatt e ich geantwortet: »Eine Schulung
für meinen Dienst als Campus-Mitarbeiterin, weil
ich noch nichts darüber weiß.« Der Glaube der Männer
und Frauen auf der Konferenz hatt e mich sehr beeindruckt,
darum wollte ich im Glauben wachsen, um
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tun zu können, was sie taten, um zu wissen, was sie
wussten.
Den Straßenschildern nach zu urteilen, ging meine
Reise nun bald zu Ende. Ich hatt e schon viel gehört über
diese Wüstengegend, über den Sonnenschein das ganze
Jahr hindurch, über die prachtvollen Sonnenuntergänge.
Eine Unmenge großer Säulenkakteen in den verschiedensten
Formen schmückte die Täler, von fernen
Hügeln und Bergen eingerahmt. Ich hatt e Arizona bereits
ins Herz geschlossen.
Ein freundliches Ehepaar hatt e mir gleich neben dem
größten Studentenwohnheim ein Einzimmerappartement
besorgt. Damals wusste ich nicht mehr über die
Hochschule in Tucson, als dass sie in einer zweifelhatt en
Zeitschritt als »Party«-Universität Nr. 1 bezeichnet wurde.
Als ich nun auf dem Weg zu meiner neuen Wohnung
an der Universität vorbeifuhr, fi el mein Blick auf ein sehr
schönes Universitätsgelände: auf hohe Palmbäume und
weiße Gebäude mit leuchtend roten Ziegeldächern.
Ich kam mit großen Erwartungen dort an, sah mit Begeisterung
der Schulung entgegen, die ich bekommen
sollte, und wollte eifrig alles lernen, was wissenswert
war. Zusammen mit Paul Schipper, ebenfalls Mitarbeiter
bei Campus für Christus, sollte ich im Universitätsbereich
arbeiten. Ich war auch gespannt darauf, den
Studenten kennenzulernen, der die Arbeit an der Uni
angefangen hatt e. Von ihm hieß es, er könne mir jede
nur denkbare Information geben und habe viel »Knowhow«.
Doch plötzlich wendete sich das Blatt . Der Student,
der bisher die Arbeit geleitet hatt e, musste sich von jeder
zusätzlichen Verantwortung freimachen und übergab
darum Paul und mir die gesamte Arbeit, um sich
ganz seinen Examensvorbereitungen widmen zu kön
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nen. Und nur wenige Tage nach meiner Ankuntt wurde
Paul 180 Kilometer weiter nach Norden an die staatliche
Universität von Arizona geschickt, um eine Mitarbeiterschulung
durch den Leiter der Arbeit an der Uni
dort, Elmer Lappen, zu erhalten.
Sehr zu meinem Leidwesen blieb ich an der Universität
von Arizona in dem mir fremden Tucson zurück
– allein!
Bei dieser Entscheidung war off ensichtlich mein persönlicher
Hintergrund in Betracht gezogen worden, und
man hatt e angenommen, dass ich der Situation gewachsen
wäre. Jetzt – ich war kaum angekommen – lag alles
allein in meinen Händen. So hatt e ich mir das überhaupt
nicht vorgestellt.
Meistens war ich sehr dazu bereit, alles auszuprobieren.
Ich weiß noch, wie ich auf der Fahrt nach Arizona
dachte: »Ich bin Studentensprecherin gewesen, Herr;
wenn ich also an die Uni komme, werde ich mit allen
Studentensprechern über dich reden. Ich bin Wohnheimsprecherin
gewesen, also werde ich mit den Wohnheimsprechern
reden. Ich bin Vorsitzende einer Studentenvereinigung
gewesen, also werde ich mit all diesen
Leuten sprechen. Ich war Klassensprecherin, also werde
ich Termine mit allen Klassensprechern ansetzen.«
Nun aber, nachdem ich angekommen war, gab mir
das Wissen um diese früheren Ämter keinerlei Selbstvertrauen
für die Arbeit. Wo war meine frühere Kühnheit,
meine Begeisterung? Als ich noch in Louisiana war,
kamen einige Leute zum Glauben, nachdem ich mit ihnen
über das Evangelium gesprochen hatt e. Ich nutzte
damals alle Möglichkeiten, um mit anderen Menschen
über Jesus Christus ins Gespräch zu kommen. Aber hier
in Arizona musste ich mich täglich zwingen, zur Universität
zu gehen. Ja, ich war sehr froh, wenn ein Termin
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mit einem Studenten nicht zustande kam – dann hatt e
ich reichlich Zeit, mich in einer nahen Buchhandlung
umzusehen, oder ich konnte mich anderer bewährter
Methoden bedienen, um bis zum Mitt ag- oder Abendessen
die Zeit totzuschlagen.
Ich fühlte mich auch durch gewisse Verhaltensformen
unter Druck gesetzt. Einige kamen von außen; bei
Campus für Christus gibt es Richtlinien, die für jeden
Mitarbeiter verbindlich sind. Ich wollte mich unbedingt
an diese Richtlinien halten, merkte jedoch, dass ich es
nicht konnte. Und meistens tat ich es auch nicht.
Außerdem setzte ich mich auch selbst unter Druck.
Obwohl ich noch immer nicht genau wusste, wie ich
meine Arbeit tun sollte, erwartete ich von mir, dass ich
sie ebenso gut tat, wie ich bisher alles gemacht hatt e.
Nicht nur das, sondern ich verglich mich auch mit anderen
Mitarbeitern und kam dabei zu dem Schluss,
dass ich ihnen – jedenfalls aus meiner Sicht – um einiges
nachstand.
Diane Ross zum Beispiel war mein Ideal. Diane war
damals im Reisedienst unserer Bewegung tätig. Sie hatte
in ihrer Arbeit viel Erfolg und schien immer über den
Dingen zu stehen. Off ensichtlich kannte sich Diane in
Gott es Wort aus, und sie schien ihren Glauben an Christus
frei und mühelos anderen weiterzusagen. Sie war in
jeder Hinsicht eine anziehende Persönlichkeit. In meiner
Vergleichsskala rangierte Diane ganz oben – und ich
bildete das Schlusslicht.
Aber größer als alle Ängste und Empfi ndungen bezüglich
meiner Unzulänglichkeit war meine Entt äuschung
über Gott . Ich meinte, er hätt e mich im Stich
gelassen.
Hatt e ich denn nicht in Louisiana meine Familie,
meine Freunde und meine Geborgenheit zurückgelas
27
sen? Hatt e ich nicht »alles verlassen«, um Jesus Christus
nachzufolgen? Jetzt schien mir der Boden unter den
Füßen weggezogen. Hieß das, ihm zu dienen?
Ich fragte mich, wie ich in eine solche Zwangslage
hatt e kommen können. Und noch mehr beschätt igte
mich die Frage, wie ich da wieder herauskommen
könn te. Jetzt war ich noch nicht einmal einen Monat
in Ari zona, und schon hätt e ich am liebsten alles hingeworfen.
Noch nie in meinem bisherigen Leben hatt e ich versagt
– jedenfalls hatt e ich es noch nie vor anderen zugeben
müssen. Natürlich kamen mir Gelegenheiten in
den Sinn, bei denen ich versagt hatt e, aber dafür gab es
Gründe. Einmal hatt e ich im Gymnasium in Mathematik
versagt, aber nur, »weil der Lehrer so streng war«.
Ich wiederholte den Kurs bei einem anderen Lehrer und
brachte ihn erfolgreich zum Abschluss.
Mir fi el ein weiteres Erlebnis aus meiner Studienzeit
ein. Unser Schulchor war sehr bekannt und geschätzt;
er stand im ganzen Staat Louisiana in hohem Ansehen.
Nach dem Vorsingen wurde ich aus unerfi ndlichen
Gründen angenommen, vermutlich, weil ich ein paar
tiefe Töne traf und der Chor Altstimmen brauchte. Während
unserer Chorproben vor der Konzertsaison hielt
ich mich eng an die anderen Altstimmen und konnte
mich so, was Tonhöhe und Einsätze betraf, immer an
ihnen orientieren.
Nach seiner Gewohnheit trennte der Chorleiter bald
die verschiedenen Stimmen, so dass Alt, Sopran, Tenor
und Bass durcheinanderstanden. Und plötzlich gab es
um mich herum keine Altstimmen mehr, auf die ich
mich stützen konnte. Da ich keine Noten lesen und auch
nicht nach Gehör singen konnte, fi ng ich bei den Proben
an, nur die Worte zu formen, und sang nie so laut, dass
28
jemand in der Nähe hören konnte, wenn ich bei einem
Ton nicht ganz sicher war.
Aber der wirkliche Schrecken kam, als der Konzertplan
des Chores für das Jahr bekannt gegeben wurde.
Neben den üblichen Konzertreisen waren wir für eine
wöchentliche Fernsehsendung vorgesehen und sollten
möglicherweise von der Regierung für eine Tournee zu
den Militärstandorten in Asien ausgewählt werden.
Also traf ich meine Entscheidung: Ich konnte nicht
einfach im Chor bleiben und so tun als ob – nicht bei
einem derartigen Konzertreiseplan. Es musste etwas
geschehen.
Doch anstatt mein Versagen gleich einzugestehen,
begann ich, nach einem anderen Ausweg zu suchen.
Schließlich, nachdem ich hin und her überlegt hatte,
wie ich mich aus dem Chor zurückziehen könnte,
ohne das Gesicht zu verlieren, fi el mir eine Lösung ein.
Das würde mich wirklich von dieser Verpfl ichtung
be freien!
Eines Tages war ich allein im Haus unserer Studen
ten vereinigung. Ich holte mir einen Hocker von
etwa einem Meter Höhe, stellte ihn mitt en in den Raum
und fi ng an, immer wieder von diesem Hocker auf den
Boden hinunterzuspringen – in der verzweifelten Hoff -
nung, mir den Knöchel zu brechen, denn mit einem
Knöchelbruch konnte ich ja kein Konzert durch stehen.
Ein paar Jahre zuvor hatt e ich mir einmal bei einer
Wanderung den Knöchel verletzt, und nun dachte ich,
das müsste wieder geschehen.
Mein Fuß wurde tatsächlich sehr in Mitleidenschatt
gezogen – und damit hatt e ich eine ausreichende Entschuldigung,
nicht mehr an den Chorproben teilnehmen
zu müssen. Ich war ein wenig traurig, als der Chor
ohne mich nach Asien reiste, aber ich wusste auch, dass
29
niemand mir die Möglichkeit zum Mitfahren verbaut
hatt e.
Auch jetzt mochte ich mein Versagen nicht zugeben.
Was würden die Leute denken? Wie konnte ich
Bill Bright schreiben und ihm sagen, dass ich meinen
Dienst in Arizona schon leid war? Zu Hause gab es Leute,
die für mich beteten und mich fi nanziell unterstützten.
Wie konnte ich ihnen schreiben, dass ich alles hinwerfen
wollte?
An einem Spätnachmitt ag legte ich mich in meiner
kleinen Wohnung auf den Teppich, den Kopf auf die
Arme gestützt. Wie ich so dalag, sah ich in der Wand
die Ritzen, die anzeigten, wo mein Klappbett eingebaut
war. Dann wanderten meine Augen weiter zur Gasheizung
an der anderen Wand.
»Ich dreh’ einfach den Gashahn auf, und das ganze
Elend ist vorbei.«
Aber dann dachte ich: »Nein, das geht auf keinen
Fall, denn dann würde in der Zeitung von Tucson zu lesen
sein: ›Mitarbeiterin der missionarischen Bewegung
Campus für Christus begeht Selbstmord!‹ Und das wäre
kein gutes Zeugnis, weder für Christus noch für unsere
Bewegung, noch für mich!«
Meine Gedanken wanderten zu der Gebirgskett e unweit
von Tucson. »Ich fahre einfach mit meinem Wagen
den Mount Lemon hinauf, und wenn ich dann wieder
herunterfahre, komme ich ganz zufällig von der Straße
ab … und es sieht dann wie ein Unfall aus! Und jeder
wird sagen: ›Arme Ney, sie wollte eine kleine Spazierfahrt
in die Berge machen und hat irgendwie die Kontrolle
über den Wagen verloren …‹«
Das ging! Weder auf mich noch auf Campus für Christus,
noch auf Gott würde ein schlechtes Licht fallen! Das
schien ein ehrbarer Ausweg.
30
Trotz all dieser Gedanken, wie ich »mit allem Schluss«
machen könnte, dachte ich doch viel häufi ger: »Herr,
wenn ich hier je wieder wegkomme, bringt mich nichts
mehr hierher zurück.«
Als der 1. November kam und ich für einige Zeit
zu einer Mitarbeiterschulung an die staatliche Uni versi
tät von Arizona fl iegen sollte, ergriff ich die Chance
mit beiden Händen. »Wenn ich nur dorthin gehen
kann«, sagte ich mir, »dann wird alles gut werden.« Aber
bald stellte ich fest, dass eine Ortsveränderung nicht
die Lö sung für mein Problem war. Wenn man einen
faulen Apfel nimmt und ihn mit dem Flugzeug von
Tucson nach Phoenix transportiert, ist er, wenn er dort
ankommt, immer noch faul. Und ich nahm meinen »faulen
Apfel« mit. Auch an der staatlichen Uni gefi el es mir
nicht – ich war dort ebenso deprimiert, fürchtete mich
und hielt mich für einen Versager.
Eines Tages, als ich eigentlich an die Uni gehen sollte,
um Gespräche über den Glauben zu führen, stieg ich
widerspenstig in meinen VW, fuhr nach Phoenix und
suchte mir ein Café. Dort bestellte ich den größten Eisbecher,
den die Speisekarte zu bieten hatt e.
»Hier sitze ich und esse Eis mit heißer Schokolade«,
sagte ich fi nster. »Niemand weiß, dass ich hier bin, und
mir ist alles egal!«
Ich war eingeladen worden, während der Weihnachtszeit
an der Hochzeit von Bev, einer Freundin aus meiner
Kindheit, teilzunehmen. Sie sollte in Corpus Christi,
Texas, statt fi nden. Ich erwähnte die Einladung gegenüber
meinem Leiter, Elmer Lappen, als wir unsere wöchent
liche Besprechung in der Bibliothek hatt en.
»Elmer, wenn ich vor Weihnachten nach Hause fahre,
um zu Bevs Hochzeit zu gehen, ich glaube, dann komme
ich nicht mehr zurück.«
31
Er sah mich traurig an. »Ney, wenn du das tust,
machst du mir wirklich das Herz schwer.«
Doch ich blieb hart. Mir ging es darum, von hier wegzukommen,
und es kümmerte mich nicht, ob es Elmer
das Herz schwer machen würde.
Schließlich kam der 15. Dezember, der Tag meiner Abreise
zu Bevs Hochzeit und in die Weihnachts ferien. In
meinem Leben war ich noch nie so gern von irgendwo
weg gefahren. Ich sprang in meinen VW, hielt am Stadtrand
von Tucson noch einmal an, um mir voller Trotz
Zigarett en zu kaufen, und rauchte dann auf der ganzen
Fahrt bis Corpus Christi!
Ich hatt e in meinem Leben nur selten geraucht, und
wenn, dann war es immer symptomatisch dafür gewesen,
dass irgendetwas nicht stimmte. Als ich zu Bevs
Hochzeitsfeier kam, roch ich bereits wie ein ganzer Tabak
laden.
Als wir alle beim Festessen saßen, schlug jemand vor,
jeder von uns sollte kurz sagen, was Bev ihm bedeutete.
Ich hatt e sie sehr gern, aber an jenem Abend bekam ich
den Mund nicht auf. Bevs Einfl uss war es hauptsächlich
zuzuschreiben, dass ich mich Campus für Christus
angeschlossen hatt e. Ich war unglücklich und der Ansicht,
dass sie zu dieser Gemütsverfassung beigetragen
hatt e. Ich sagte also keinen Ton und war darüber nur
noch unglücklicher!
Nach der Hochzeit fuhr ich nach Hause, nach Shreveport
in Louisiana. Die Weihnachtstage machten mir
wenig Freude, und zwei Wochen lang hing ich so zu
Hause herum. Eines Tages, kurz vor Ende meiner Ferien,
saß ich auf der Couch im Wohnzimmer und sah
ab und zu durch das große Fenster hinaus. Ich tat mir
selbst leid und mochte gar nicht an meine Rückkehr
nach Arizona denken.
32
An den Fingern zählte ich ab: »September, Oktober,
November, Dezember … mal sehen, vier Monate habe
ich durchgehalten.« Ich zählte weiter: »Januar, Februar,
März, April, Mai … Wenn ich es vier Monate lang
geschatt habe, kann ich es auch noch fünf weitere Monate
aushalten. Aber im Mai ist Schluss.«
Die Rückfahrt nach Arizona fi el mir so schwer wie
noch selten etwas in meinem Leben. Als ich ankam, fand
ich in meinem Zimmer einen Brief von einem Bekannten
aus Hawaii vor. Er schrieb: »Ney, neulich hat hier ein
Mann einen Vortrag gehalten, der mir ungeheuer geholfen
hat. Er heißt Merv Rosell, und für mich war es Gottes
Mann mit der richtigen Botschatt zur richtigen Zeit.
Er kommt nach Phoenix, und ich möchte dich bitt en, zu
der Veranstaltung zu gehen.«
Ich dachte: »Wenn ich etwas nötig habe, dann ist es
ein Mann Gott es mit der richtigen Botschatt – und jetzt
kommt er off enbar zur richtigen Zeit.«
Eine knappe Woche später machte ich mich auf den
Weg, um Merv Rosell zu hören. Ich weiß noch, wie ich
im Auto saß und dachte: »Ob ich nun Missionarin bin
oder nicht, Herr, wenn ich heute Abend nach vorne gehen
muss, ich werd’s tun, um mit dir ins Reine zu kommen.
Ich bin bereit zu tun, was du von mir verlangst.«
Als ich in die Veranstaltung kam, traute ich meinen
Ohren kaum, denn das Thema hieß: »Christen in der
Niederlage«.
Rosell begann mit den Worten: »Wenn Sie je in Ihrem
Leben als Christ total niedergeschlagen waren, dann ist
die heutige Botschatt für Sie.« Ich hörte zu, als sei ich der
einzige Zuhörer im Raum. Er sprach davon, wie wir ott
versuchen, aus eigener Kratt und durch eigenes Bemühen
unser Leben als Christen zu führen, und wie Gott
uns dann ott versagen lässt, um uns auf eine entschei
33
dende Wahrheit hinzuweisen: dass wir das christliche
Leben nicht aus eigener Kratt führen können.
Zusammenfassend sagte er: »Wer heute und sein ganzes
weiteres Leben für Jesus Christus leben will und wer
möchte, dass Jesus Christus von jetzt an durch ihn lebt,
der möge bitt e aufstehen.«
Ich war schon in anderen Veranstaltungen gewesen,
wo derartige Einladungen gemacht wurden. Meistens
sah ich mich dann verschämt um, weil ich sehen wollte,
ob auch sonst noch jemand darauf reagierte.
Aber an diesem Abend war mir das gleichgültig. Mir
ging jetzt allmählich auf, dass ich versucht hatt e, aus
meiner eigenen Kratt ein christliches Leben zu führen –
ich verließ mich auf mein eigenes Bemühen. Verzweifelt
wünschte ich mir, Christus möge durch mich zu leben
beginnen. Ich stand auf und übergab in jenem Augenblick
meinen Willen und mein ganzes Sein der Herrschatt
Jesu Christi. Er wurde mir wieder so gegen wärtig
wie seinerzeit, als ich mich ihm erstmals als meinem
Heiland anvertraute.
All die lange Zeit hindurch schien Gott mir so fern gewesen
zu sein. Mich bedrückte der Gedanke, dass er sich
wiederum entfernen könnte, obwohl er mir nun so viel
näher schien. Als ich die Versammlung verließ, dachte
ich: »Herr, jetzt habe ich zehn Minuten lang deine Gegenwart
gespürt. Bitt e, verlass mich nicht mehr!«
Ich fuhr nach Hause, und als ich aus dem Auto stieg,
betete ich: »Herr, jetzt haben wir dreißig Minuten lang
in ununterbrochener Gemeinschatt gelebt. Bitt e, verlass
mich nicht!« Bevor ich mich schlafen legte, kniete ich neben
meinem Bett . »Bitt e, sei morgen früh, wenn ich aufwache,
noch bei mir, Herr.«
Am nächsten Morgen war er noch da. Und wir bewältigten
gemeinsam den Tag. Und den nächsten Tag.
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Und den folgenden. Eine ganze Woche. Den ganzen
Monat.
Mir war, als sei ich ganz allein gewesen in jenen ersten
Monaten in Tucson. Aber der, der versprochen hatte,
allezeit bei mir zu sein, war bei mir gewesen, auch
als ich seine Gegenwart nicht spürte. Gott wunderte sich
gar nicht darüber, dass ich in der »Wüste« gewesen war.
Er selbst hatt e mich dorthin geführt.
Obwohl ich mit den besten Absichten nach Arizona
gegangen war und Gott hatt e folgen wollen, so gut ich
es verstand, begriff ich jetzt, dass ich doch aus eigener
Kratt , auf der Grundlage meiner eigenen Erfolge, mit
meinen eigenen Wünschen und Erwartungen dorthin
gegangen war. Und Gott hatt e mich elendig versagen
lassen, bis ich am liebsten gestorben wäre. Er ließ mich
ganz in die Tiefe sinken.
Aber dann rief ich aus der Tiefe der Verzweifl ung
nach ihm. Und er hörte mich und ließ mich erkennen,
dass es nur einen gab, der ein vollkommenes christliches
Leben führen konnte: Jesus Christus selbst. Als ich
anfi ng, Christus zu bitt en, er möge sein Leben durch
mich leben, begann er in der Kratt des Heiligen Geistes
durch mich das zu tun, was ich selbst nicht hätt e
tun können.
Wenn durch mich irgendetwas erreicht werden sollte,
das Ewigkeitswert hatt e, musste Christus es tun.
Ich glaube, wenn wir Gott unseren Dienst anbieten,
sieht er uns, die wir voller Stolz und Selbstbewusstsein
sind, an und sagt:
Ich habe dich lieb, aber ich muss zuerst an dir abtragen,
was nicht aus meinem Geist ist, damit ich neu autt auen
kann.
Ich muss dir wehtun, damit ich dich heilen kann. Ich sehe,
wie du dich auf deine eigene Kratt verlässt. Ich sehe, wie du
35
dich auf dich selbst stützt. Ich muss dich versagen lassen
– damit du zu mir rufst und dich mit deinem Leben und deiner
Kratt auf mich verlässt.
Ich dachte natürlich, dass Campus für Christus einen
schlimmen Fehler begangen hatt e, als ich ganz allein
nach Tucson geschickt worden war. Doch jetzt wusste
ich, dass Gott mich dorthin geführt hatt e. Mein »Feuerofen«
von Arizona war Gott es Spezialbehandlung, um
meinen Charakter zu läutern. Er wollte mich lehren,
ein Leben aus dem Glauben zu führen. Doch das war
nur der Anfang.
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37
Aber dein Wort sagt …
Ich goss mir ein Glas eiskalte Limonade ein, holte meinen
Schreibblock hervor, spitzte den Bleistitt an und
setzte mich an mein Bibelstudium. Einige Stunden zuvor
hatt e mir der Lehrer unseres Sommerbibelkurses
ein Thema zur Bearbeitung gegeben.
»Schreiben Sie einen Bericht über alles, was Sie im
Römerbrief über das Thema Glauben fi nden«, hatt e er
mir gesagt. Das klang recht vielversprechend und schien
ziemlich einfach.
Doch ich sollte mich noch wundern.
Als ich durch die Kapitel des Römerbriefes blätt erte,
tauchte das Wort »Glaube« so häufi g auf, dass es fast
nicht zu zählen war. Während ich über das Wort nachdachte,
begann ich mich zu fragen: »Was heißt das überhaupt?
Glaube ist vermutlich das Wichtigste in meinem
Leben, doch wie soll ich erklären, was das ist?«
Meine Gedanken wanderten um acht Jahre zurück
in die Zeit in Tucson, als ich so wenig von dem Leben
aus Glauben verstanden hatt e. »Ich habe so viel dazugelernt«,
dachte ich. Und doch hatt e ich keine klare Antwort
auf die Frage: »Was ist Glauben?«
Ich wusste, dass es unzählige Schritt stellen zum Thema
Glauben gab, zum Beispiel: »Der Gerechte aber wird
aus Glauben leben« (Römer 1,17), oder: »Dies ist der
Sieg, der die Welt überwunden hat: unser Glaube« (1.
Johannes 5,4). Ich war erstaunt, dass ich keine einfache,
persönliche Defi nition zustande brachte; nie hatt e ich
den Satz zu Ende führen können: »Für mich bedeutet
Glaube …«
Ich dachte: »Herr, wie würdest du ihn defi nieren?«
Mir kam die Geschichte in den Sinn, in der Jesus zu
seinen Jüngern sagte: »Selbst nicht in Israel habe ich so
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großen Glauben gefunden.« Jetzt wurde ich neugierig.
Was war das, was Jesus selbst als »so großen Glauben«
bezeichnete?
Schnell schlug ich Lukas 7 auf.
Dort fand ich die Geschichte von jenem römischen
Hauptmann, der bereit war zu glauben, dass Jesus seinen
Diener, der im Sterben lag, heilen konnte. Er sagte zu
Jesus: »Sprich ein Wort, und mein Diener wird gesund
werden« (Lukas 7,7). Dann gebrauchte der Hauptmann
selbst ein Beispiel, um zu zeigen, dass er verstand, was es
bedeutete, wenn jemand beim Wort genommen wird.
Jesus reagierte auf die Worte des Hauptmanns damit,
dass er sich an die ihm nachfolgende Menge wandte und
sprach: »Ich sage euch, selbst nicht in Israel habe ich so
großen Glauben gefunden« (Lukas 7,9). Mir schien, dass
Jesus mit einem »so großen Glauben« einfach meinte,
man solle ihn beim Wort nehmen.
Ich fragte mich, ob diese »Defi nition« noch irgendwo
anders in der Bibel bestätigt wurde. Weil Hebräer 11
ott als »das Hohelied des Glaubens« bezeichnet wird,
schlug ich dort nach.
Nachdem ich mehrmals alle Abschnitt e gelesen hatt e,
in denen es immer wieder heißt: »Durch Glauben …«,
fand ich schließlich das Gemeinsame all dieser Beispiele
heraus. Ganz gleich, von welchem Menschen der Schreiber
des Hebräerbriefes auch sprach: Jeder hatt e Gott
einfach beim Wort genommen und seinem Gebot gehorcht.
Und wegen ihres Glaubens werden sie in diesem
Kapitel erwähnt.
Da war zum Beispiel Noah, dem Gott sagte, er sollte
die Arche bauen.
Noah nahm Gott beim Wort und baute die Arche.
Darum beginnt Hebräer 11,7 mit den Worten: »Durch
Glauben baute Noah … eine Arche …« Das ganze Ka
39
pitel hindurch scheint es, dass jeder der dort erwähnten
Menschen Gott und seinem Wort glaubte und bereit war,
ihm zu gehorchen, ganz gleich, in welcher Lebenssituation
er sich befand, wie unlogisch Gott es Forderung aussehen
mochte, welche Gründe es dagegen gab – ganz
egal, wie der Mensch sich fühlte.
Nun war meine Hausaufgabe noch viel lohnender
geworden, als ich am Anfang erwartet hatt e. Jetzt fragte
ich mich: »Wenn Lukas 7 und Hebräer 11 Beispiele für
einen großen Glauben sind, wie sieht dann ein Beispiel
für Mangel an Glauben aus?«
Ich erinnerte mich an ein Ereignis in Markus 4, als Jesus
gerade einen ganzen Tag lang an den Ufern des Sees
Genezareth gepredigt und das Volk gelehrt hatt e. Nun
wies er die Jünger an, auf die andere Seite des Sees zu
fahren. Zunächst nahmen sie ihn beim Wort, bestiegen
mit ihm ein Boot und wollten ans andere Ufer fahren.
Aber als ein Sturm autt am, ver loren sie das Vertrauen
in seine Zusage, dass sie wirklich ans andere Ufer gelangen
würden. Als Jesus sie fragte: »Warum seid ihr
furchtsam? Habt ihr noch keinen Glauben?« (Markus
4,40), hätt e er ebenso gut fragen können: »Warum nehmt
ihr mich nicht beim Wort?«
Sein Wort erwies sich als wahr. Ich bin immer so froh,
wenn ich in Markus 5 die erste Zeile lese: »Und sie kamen
an das jenseitige Ufer des Sees …«
Alles, was ich in diesen Abschnitt en gefunden hatte,
verhalf mir zu einer einfachen, brauchbaren Defi nition
für Glauben. Ich wusste nicht genau, ob ich je einen
Bericht zustande bringen konnte über all das, was
im Römerbrief über den Glauben gesagt wird, aber in
meinem Inneren wusste ich, dass ich etwas gelernt hatte,
was sich für meinen Weg mit Gott als sehr wichtig
erweisen würde.
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Doch ich hatt e noch eine Frage. Wenn Glauben »Gott
beim Wort nehmen« bedeutet, was sagt dann Gott selbst
über sein Wort? Wieder fand ich die Antwort in der Bibel:
»Der Himmel und die Erde werden vergehen, meine
Worte aber sollen nicht vergehen« (Matt häus 24,35).
»Aber das Wort des Herrn bleibt in Ewigkeit« (1. Petrus
1,25). »Das Gras ist verdorrt, die Blume ist ver welkt.
Aber das Wort unseres Gott es besteht in Ewigkeit« (Jesaja
40,8).
Aus diesen Versen entnahm ich, dass alles im Leben
sich ändern kann, aber Gott es Wort bleibt bestehen! Seine
Wahrheit ändert sich nie. Ich bekam einen ersten Anfl
ug von Verständnis davon, wie sich dies auf mich und
mein weiteres Leben auswirken könnte.
Ich gehöre zum Beispiel zu den Menschen, die alles
sehr tief empfi nden. Manchmal bin ich so glücklich,
dass ich meine, ich könnte nie mehr traurig sein. Dann
wieder kommen Zeiten, wo ich so traurig bin, dass ich
meine, ich könnte nie mehr froh werden.
Aber so stark meine Gefühle auch sind, ich war froh,
als ich erkannte:
Gott es Wort ist wahrer als alle meine Gefühle.
Gott es Wort ist wahrer als alle meine Erfahrungen.
Gott es Wort ist wahrer als alle Lebensumstände,
in die ich geraten mag.
Gott es Wort ist wahrer als alles in der Welt.
Warum?
Weil Himmel und Erde vergehen werden, ehe Gottes
Wort vergeht. Das hieß, dass ich – ganz gleich, was
ich fühlte oder erlebte – mich dafür entscheiden konnte,
auf Gott es Wort als der unveränderlichen Wirklichkeit
in meinem Leben zu vertrauen.
Rückblickend wird mir bewusst, dass jener Sommerabend
und jenes »einfache« Studienprojekt ein Wende
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punkt in meinem Leben waren. Immer und immer wieder
habe ich mich seitdem, wenn die Umstände und
meine Gefühle realer schienen als das Leben selbst, dafür
entschieden zu glauben, dass Gott es Wort wahrer
ist als alles andere. Ich habe mich sozusagen für ein Leben
aus Glauben entschieden. Manchmal war das eine
schwierige Entscheidung.
Zum Beispiel gab es danach Zeiten, in denen ich sagen
konnte: »Ich fühle mich ungeliebt.« Dann hatt e ich
die Wahl, mich auf dieses Gefühl einzulassen und mich
in einen Zustand des Selbstmitleids gleiten zu lassen,
oder ich konnte sagen: »Herr, ich fühle mich ungeliebt.
Das ist wahr. So empfi nde ich im Augenblick. Aber dein
Wort, Herr, sagt, dass du mich liebst. Ja, es sagt: ›Ja, mit
ewiger Liebe habe ich dich geliebt; darum habe ich dir
meine Güte bewahrt‹ (Jeremia 31,3). Du hörst nie auf,
mich zu lieben. Deine Liebe zu mir bleibt auch dann
bestehen, wenn alles andere zerbricht. Dein Wort sagt,
›dass Gott die Person nicht ansieht‹ (Apostelgeschichte
10,34). Das heißt, du liebst niemanden in der Welt mehr
als mich. Und darum, Herr, danke ich dir jetzt, dass ich
geliebt werde. Und ich entscheide mich dafür weiterzuleben,
weil ich weiß, dass du mich liebst. Dein Wort ist
wahrer als mein augenblickliches Gefühl.«
Allmählich merkte ich, was das Wichtigste daran war,
wenn ich so reagierte: Ich gewann Freiheit. Ich konnte
frei mit Gott reden, ich hatt e die Freiheit, mich zu meinen
Gefühlen zu bekennen, und ich konnte gleichzeitig
an Gott es Wort glauben.
Es gab auch Zeiten, in denen ich mich verlassen, geängstigt
oder niedergeschlagen fühlte. In solchen Zeiten
löste die Qual über die Lebensumstände buchstäblich
Herzschmerzen bei mir aus, und in jenen Augenblicken
war ich am meisten versucht, an der Wahrheit von
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Gott es Wort zu zweifeln. Doch waren das auch die Situationen,
in denen ich mich mit meinem Willen für den
Glauben an sein Wort entscheiden musste. Tausende
meiner Gebete begannen so: »Herr, ich fühle mich …,
aber, Herr, dein Wort sagt …«
Und ich habe erfahren, dass er meine Gefühle mit
seinem Wort in Einklang bringt, zu seiner Zeit und auf
seine Weise.
Die Bibel verheißt uns, dass alles, was uns, die wir
Gott wirklich lieben, geschieht, sich so auswirken wird,
dass wir »dem Bilde seines Sohnes gleichförmig sein«
werden (Römer 8,29). Einige von uns haben bestimmt
schon das folgende Gebet oder ein ähnliches gesprochen:
»Herr, ich bitt e dich, mach mich dir ähnlicher. Ich
bitt e dich, dass du mich dem Ebenbild Christi gleich
gestaltest.« Ott wünschen wir uns damit von Gott eine
»Narkose«, aus der wir dann eines Tages als ein völlig
in das Ebenbild Christi umgewandelter Charakter erwachen
möchten.
Aber so macht Gott das nicht. Er lässt die Prüfungen,
Versuchungen und Belastungen in unserem Leben zu,
damit wir Gelegenheit haben, auf sie zu reagieren, entweder
nach unserem Gefühl oder indem wir ihn beim
Wort nehmen.
Der Herr sorgt sich um das, was wir durchmachen,
aber ich glaube, er sorgt sich noch viel mehr darum, wie
wir auf das reagieren, was wir durchmachen. Unsere Reaktion
darauf ist Willenssache.
Ich habe gelernt, es mir zur Gewohnheit zu machen,
dass ich Gott beim Wort nehme – und es ist wirklich
eine Gewohnheit! Wir können uns entweder angewöhnen,
auf unsere Gefühle, unsere Überlegungen und die
Lebensumstände zu achten und uns von ihnen beherrschen
zu lassen, oder wir können uns angewöhnen, Gott
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beim Wort zu nehmen. Wir müssen uns willentlich dafür
entscheiden zu glauben, dass sein Wort wahrer ist
als unsere Gefühle.
Ich habe für mich die Entscheidung getroff en, dass
ich mein Leben auf Gott es Wort gründen will – und Gott
achtet und schätzt diese Entscheidung. Aber dennoch
hat es Zeiten gegeben seit jener Entscheidung, in denen
es viel einfacher schien, sie zurückzunehmen, weil ich
glaubte, nichts könnte realer sein als das, was ich gerade
durchmachte; in solchen Zeiten schrien meine Gefühle
geradezu nach einer Kehrtwendung um 180 Grad
weg von Gott es Wort.
Um ehrlich zu sein: Das kommt sehr häufi g vor …
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45
Gewissensfragen
An einem strahlenden Morgen im August 1969 machte
ich mich für die Arbeit fertig und hatt e die Nachrichten
eingeschaltet. Zunächst hörte ich nicht richtig zu, dann
aber fesselte die Stimme des Nachrichtensprechers meine
Aufmerksamkeit.
»Gestern kam es im Sinaigebiet zu Kämpfen zwischen
Arabern und Israelis«, gab er bekannt.
Im nächsten Atemzug sagte er: »Der Evangelist Billy
Graham erklärte gestern Abend, seiner Meinung nach
stehe die Wiederkuntt Christi kurz bevor.«
Ich war verblütt . Es schien mir unglaublich, diese
beiden Nachrichten so unmitt elbar nacheinander aus
dem Lautsprecher zu hören. Der Nachrichtensprecher
brachte die beiden Ereignisse nicht miteinander in Verbindung,
aber ich tat es.
Die Worte Jesu aus Matt häus 24 kamen mir in den
Sinn, wo er von den letzten Tagen vor seiner Wiederkuntt
spricht. Er verheißt Krieg und Kriegsgeschrei,
Hungersnöte und Erdbeben und falsche Propheten, die
viele Menschen irreführen werden. Dann sagt er: »Weil
die Gesetzlosigkeit überhand nimmt, wird die Liebe der
meisten erkalten« (Matt häus 24,12).
Ich stand da, mitt en im Zimmer, und betete: »Herr,
lass meine Liebe zu dir nicht erkalten! Schenke unserem
Land und unserer Welt eine Erweckung.«
Mir fi el ein alter Studentenspruch ein: »Am Anfang
sind alle Feuer gleich groß.« Und ich betete weiter: »Du
musst irgendwo anfangen, Herr. Fang doch bei mir an.
Schenke meinem Herzen eine Erweckung.«
Noch in derselben Woche wurden dieser Wunsch
und dieses Gebet auf die Probe gestellt.
Während unserer Mitarbeiterkonferenz im Sommer
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in Arrowhead Springs, der internationalen Zen trale unserer
Bewegung, sprach ein Gastredner. Als Thema hatte
er gewählt: »Wie wichtig es ist, sich ein reines Gewissen
zu bewahren«.
Er sagte, wir müssten so leben, dass weder Gott noch
Menschen Grund hätt en, mit dem Finger auf uns zu zeigen
und uns anzuklagen: »Du hast mich gekränkt und
nie versucht, die Sache in Ordnung zu bringen.« Er zitierte
das Wort des Apostels Paulus: »Darum übe ich mich
auch, allezeit ein Gewissen ohne Anstoß zu haben vor
Gott und den Menschen« (Apostelgeschichte 24,16).
Und, sagte er weiter, Paulus warne Timotheus in
seinem ersten Brief an ihn: »… damit du … den guten
Kampf kämpfst, indem du den Glauben bewahrst und
ein gutes Gewissen, das einige von sich gestoßen und
so im Hinblick auf den Glauben Schitt ruch erlitt en haben«
(1. Timotheus 1,18b-19).
Unser Gastredner ermahnte uns, bei der Prüfung unseres
Gewissens unsere Gedanken nicht zu sehr auf unser
Inneres zu richten. Denn wenn in unserer Beziehung
zu Gott und Menschen etwas zu berichtigen sei, komme
es in unseren Gedanken mühelos an die Oberfl äche.
Bis zu dieser Ansprache hatt e ich darüber nie weiter
nachgedacht. Aber jetzt kamen mir auf Anhieb drei Dinge
klar und unmissverständlich in den Sinn.
Ich schluckte.
»Nein, Herr. Das nicht! Und das …, und das auch
nicht! Du kannst doch unmöglich meinen, dass ich das
in Angriff nehmen soll!?«
Sogleich hörte ich die Mahnung einer inneren Stimme.
»Ney, war es dir ernst, als du sagtest, die Erweckung
solle bei dir beginnen?«
»Ja.«
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»Ist dir wichtiger, was die Leute von dir denken oder
was ich von dir denke?«
»Mir ist wichtiger, was du von mir denkst.«
»Ney, bist du bereit, diese Dinge in Ordnung zu bringen?«
»Ja, Herr, ich bin bereit.«
Die erste Sache, an die ich mich erinnerte, hatt e mit
meiner Kratt fahrzeugversicherung zu tun. Ich war 1963
von Tucson nach Arrowhead Springs umgezogen, um
die Personalabteilung von Campus für Christus aufzubauen.
Ich hatt e auf dem Gelände von Arrowhead
Springs, unserer Zentrale, gewohnt und dorthin auch
all meine Post erhalten.
Jedes Mal, wenn meine Autoversicherung fällig war,
bekam ich eine Zahlungsauff orderung und ein Schreiben,
auf dem ich durch meine Unterschritt bestätigen
musste, dass die Informationen, die bei der Versicherung
über mich vorlagen, noch stimmten. Die letzte Zeile
über der Unterschritt lautete: »Ich fahre wöchentlich
nicht mehr als sechzig Kilometer zur Arbeit.« Das traf
auf mich zu – bis ich in die Berge, etwa dreißig Kilometer
oberhalb von Arrowhead Springs, hinaufgezogen
war. Damit fuhr ich wöchentlich rund dreihundert Kilometer
zur Arbeit und zurück.
Nach meinem Umzug war das Schreiben noch einmal
an mein Büro in Arrowhead Springs geschickt worden.
Ich wollte gerade unterschreiben und alle Daten als richtig
bestätigen, als ich den Satz über die sechzig Kilometer
las. Ich las ihn noch einmal: »Ich fahre wöchentlich
nicht mehr als sechzig Kilometer zur Arbeit.«
Mein Verstand arbeitete schnell.
»Meine Post kommt immer noch hierher nach Arrowhead
Springs«, sagte ich mir. »Schließlich weiß die
Versicherung nicht, dass ich umgezogen bin, und wenn
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sie es erfährt, wird sie wahrscheinlich meine Prämie erhöhen
… Ich glaube, ich unterschreibe den Wisch einfach
und schicke ihn zurück.«
Ein halbes Jahr später war wieder eine Rechnung gekommen
und wieder so ein Schreiben. Wieder hatt e ich
unterschrieben.
Jetzt, nachdem ich diese Ansprache gehört hatt e,
wuss te ich, was ich zu tun hatt e. Mir wurde mulmig in
der Magengegend bei dem Gedanken, dass ich den Versicherungsbeamten
vor Ort aufzusuchen hatt e, um ihm
mein Vergehen einzugestehen. Aber tags darauf war ich
doch unterwegs.
Noch nie zuvor hatt e ich etwas Derartiges getan. Meine
Hände waren kalt und feucht, als ich mein Auto vor
dem renovierten Gebäude aus den 1920er Jahren parkte,
in dem sich das Versicherungsbüro befand. Langsam
und zögernd ging ich hinein.
Ein paar Leute standen schon da und warteten, als ich
durch die Tür kam. Der zuständige Beamte, Herr Blevins,
sah auf und sagte freundlich und lächelnd: »Was
kann ich für Sie tun?« Mir sank der Mut. Ich wollte doch
nicht vor aller Welt meine Geschichte erzählen.
»Schon gut«, meinte ich zögernd. »Ich kann warten.
Ich möchte Sie gern allein sprechen.«
Als alle gegangen waren, winkte er mir, ihm in sein
Büro zu folgen.
Ich setzte mich und schluckte. Mir stand der Schweiß
auf der Stirn.
»Also, wie kann ich Ihnen helfen?«, fragte er.
»Herr Blevins, Sie werden meinen Besuch vermutlich
recht ungewöhnlich fi nden.« Ich erklärte ihm, was
ich getan hatt e, dass ich meinen Fehler einsah und gekommen
war, um die Sache in Ordnung zu bringen und
nachzuzahlen, was ich schuldete.
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Er hörte mir aufmerksam zu. Als ich fertig war,
schimmerte es feucht in seinen Augen.
»Danke, dass Sie mir das alles gesagt haben«, meinte
er. »Doch wir gehen davon aus, dass manche Leute
zu viel, andere zu wenig zahlen, darum dürfen Sie die
Sache als erledigt betrachten.«
Ich konnte kaum glauben, was ich da hörte.
»Wirklich?«, fragte ich. »Ich bin wirklich gern bereit
zu bezahlen, was ich schulde.«
»Nein«, antwortete er. »Das ist ganz und gar nicht nötig.
Sie müssen nichts zahlen. Aber ich freue mich sehr,
dass Sie gekommen sind. Übrigens, sind Sie nicht Mitarbeiterin
bei Campus für Christus?«
»Doch, das bin ich.«
Anteil nehmend fragte er: »Wie geht’s Ken Verven?
Ich habe ihn lange nicht gesehen.«
»Es geht ihm gut.« Wir sprachen noch eine Weile
über Christus und unseren gemeinsamen Glauben an
ihn. Dann verabschiedete ich mich und bedankte mich
für sein Verständnis und die Zeit, die er sich für mich
genommen hatt e.
Eine Woge von Gefühlen überkam mich, als ich in
die Nachmitt agssonne hinaustrat; es waren Gefühle der
Freude und der Erleichterung, verbunden mit einer tiefen
inneren Zufriedenheit. Ich hatt e eine Sache in Ordnung
gebracht, hatt e Falsches richtiggestellt. Ich hatt e
überhaupt keine Ahnung gehabt, wie Gott alles »richtig«
machen würde. »Herr, ich danke dir«, betete ich.
»Danke, dass du vor mir hergegangen bist und alles
vorbereitet hast.«
Die zweite Sache, um die es ging, war ein Darlehen,
über das ich vor kurzem mit der Bank verhandelt hatte.
Ich wollte Aktien kaufen, die gerade günstig waren.
Der Vater eines Freundes hatt e eine neue Gesellschatt
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gegründet, die ein Riesenerfolg zu werden versprach,
und ich hielt es für ein Vorrecht, dass ich gleich zu Beginn
an diesem Unternehmen teilhaben sollte.
Dies war eine unwahrscheinlich gute Gelegenheit,
sich einen »Sparstrumpf« für die Zukuntt anzulegen,
dachte ich. Ich träumte von vielen Dingen, die ich für
mich und für andere würde kaufen können, wenn die
Aktien einen Riesengewinn abwarfen. Bestimmt war
dies das Geschätt des Jahrhunderts!
Da ich jedoch kein Geld hatt e, um Aktien zu kaufen,
beschloss ich, tausend Dollar von meiner Bank zu leihen.
Mein Auto war fast abbezahlt, und ich wusste, dass es
als Sicherheit für das Darlehen gelten konnte.
Als ich die Formulare bei der Bank ausfüllte, erwähnte
ich nicht, dass ich das Geld für den Kauf von Wertpapieren
haben wollte. Ich meinte nämlich, gehört zu
haben, dass die Banken es nicht gern sahen, wenn man
Geld lieh, um damit in Aktien zu spekulieren. Also gab
ich als Begründung für den Antrag an: »Kleidung, Urlaub
und Verschiedenes«.
Kaum war das Darlehen genehmigt, eilte ich in die
Stadt zu einem bekannten Maklerbüro, um meine Papiere
zu kaufen. Sie hatt en die Aktien nicht in ihren
Lis ten. Ein Anlageberater, mit dem ich dort sprach,
riet mir vom Kauf ab und machte mir Alternativvorschläge.
Aber ich war entschlossen, die Aktien zu kaufen. Ich
hatt e den Prospekt gelesen, und bald musste die ganze
Welt von dieser erfolgreichen Organisation erfahren.
Ich rief einen Anlageberater in der Stadt an, in der die
Gesellschatt ihren Sitz hatt e, und er verkautt e mir die
Aktien für 1,75 Dollar das Stück. Bald stiegen sie auf
2,50 Dollar an, dann auf 3,00 Dollar und sogar bis auf
4,00 Dollar das Stück. Ich war begeistert.
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Eineinhalb Wochen später erhielt ich die Mitt eilung
von meiner Gesellschatt , dass sie durch die Behörde für
Vermögens- und Anlagenkontrolle überprütt worden
war. Die Behörde hatt e angeordnet, dass die Aktien sofort
aus dem Verkehr gezogen werden mussten. In der
Mitt eilung wurde mir versichert, dies sei nur vorübergehend,
und die Gesellschatt werde sehr bald wieder wett -
bewerbsfähig sein. Doch sie erholte sich nie mehr.
Nun musste ich nicht nur ein Darlehen zurückzahlen,
das sich als fi nanzieller Verlust für mich erwies, sondern
ich erfuhr auch, dass es tatsächlich ungesetzlich
war, Geld zum Ankauf von Aktien zu leihen.
Wiederum hatt e ich einen Fehler in Ordnung zu bringen.
Ich suchte bei meiner Bank die Darlehensberaterin
auf und erzählte ihr meine Geschichte. Obwohl meine
Aktien bereits vor sechs Monaten wertlos geworden
waren, zeigte sie sich, ebenso wie vorher Herr Blevins
bei der Sache mit meiner Autoversicherung, erstaunlich
mitfühlend und verständnisvoll. Sie meinte, ich hätt e
wahrscheinlich eine heilsame, wenn auch kostspie lige
Lektion erhalten – und wollte mir keinerlei Strafen auferlegen.
Und als sie erfuhr, dass ich vorhatt e, bald nach
Texas zu ziehen, gab sie mir ihre Visitenkarte und meinte,
sie könnte mir nützlich sein, wenn ich dort ein Konto
eröff nen wollte. Sie bot mir jede nur mögliche Hilfe
an und wollte sogar als Referenz für weitere fi nan zielle
Geschätt e für mich fungieren.
Als ich ihr Büro verließ, war ich froh gestimmt und
voller Dank gegenüber Gott für alles, was er getan hatte.
Einige Zeit später erst stieß ich auf die Verse in den
Sprüchen: »…aber jeder, der hastig ist, erreicht nur Mangel.
Erwerb von Schätzen durch eine lügnerische Zun
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ge ist wie verwehter Dunst, eine Falle des Todes« (Sprüche
21,5-6).
Das dritt e »Geständnis« war für mich wohl das
schwie rigste.
Campus für Christus begann 1962 damit, für die Mitarbeiter
Bibelstudienkonferenzen abzuhalten, um ihnen
ein gutes Bibelwissen zu ermöglichen. In jenem Jahr hatte
ich einen Kurs über das Johannesevangelium belegt.
Als Abschlussprüfung des Kurses bekamen wir einen
Fragebogen mit nach Hause, den wir, ohne in der Bibel
nachzuschlagen, ausfüllen sollten. Man vertraute auf
unsere Ehrlichkeit.
Ich erinnere mich noch deutlich an den Nachmitt ag,
als ich den Test machte. Ich saß auf einem der oberen
Bett en in meinem kleinen Zimmer und ging die Fragen
durch. Ich stieß auf eine Frage, die eigentlich ganz einfach
klang, aber ich kam einfach nicht auf die Antwort.
Ich war überzeugt, die Antwort zu wissen, aber in dem
Augenblick wäre sie mir um alles in der Welt nicht eingefallen.
Ich überlegte: »Ich brauche nur einen kleinen Tipp,
nur einen Anstoß, damit mein Gehirn wieder funktioniert.«
Als ich alle anderen Fragen beantwortet hatt e,
wandte ich mich noch einmal der ungelösten Frage zu.
Die Antwort fi el mir noch immer nicht ein.
Nun begann ein innerer Kampf. Sollte ich …, oder
sollte ich nicht? Ich überlegte hin und her. Schließlich
gab ich nach. Ich schlug ganz schnell meine Bibel auf
und ebenso schnell wieder zu. Aber es hatt e genügt, um
mir den notwendigen Hinweis auf die Antwort zu der
Frage zu geben.
Ich hatt e nicht wirklich betrogen, dachte ich, als ich
den Test abgab. Im Grunde wusste ich die Antwort und
brauchte nur eine kleine Hilfe, um mich zu erinnern.
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Aber ganz allmählich legte sich an jenem Tag eine Last
auf mich, die auch in den folgenden Tagen nicht von
mir wich. Immer wieder bekannte ich Gott meine Sünde,
aber mein Schuldgefühl verschwand nicht. Es wurde
mir schwer, überhaupt im Johannesevangelium zu
lesen, und die Seite, von der ich mir den Tipp gestohlen
hatt e, konnte ich schon gar nicht aufschlagen.
Im Lauf der Zeit vergingen meine Schuldgefühle …,
bis auf seltene Gelegenheiten, wenn ich durch irgendetwas
daran erinnert wurde. Jetzt, nach sieben Jahren,
kam die Erinnerung wieder hoch; meine Schuld kam
laut und deutlich zum Vorschein wie das Dröhnen einer
Glocke.
Ich wusste: Diesmal ging es wirklich um meinen guten
Ruf bei Menschen. Es war schon schlimm genug,
überhaupt bei einem Test zu betrügen. Aber auch noch
bei einem Bibeltest! Es war ekelhatt , nur daran zu denken!
Wieder stellte sich mir die Frage: Ist mir mein Ruf
bei den Leuten wichtiger als mein Ruf bei Gott ? War ich
wirklich gewillt, das Rechte zu tun?
Ich wusste, dass es mir diesmal schwerer fallen würde,
meine Schuld zu bekennen, als die beiden anderen
Male. Ob ich den Versicherungsbeamten oder die
Bankangestellte je wiedersah, war ziemlich ungewiss.
Aber jetzt musste ich meinem Bibellehrer von damals,
einem Mitarbeiter unserer Bewegung, meinen Betrug
eingestehen …
In jenem Sommer kamen wir Mitarbeiter zu einem
Picknick in einem sehr schönen Park in Riverside, Kalifornien,
zusammen. Es war ein herrlicher Tag, und
es herrschte eine festliche Stimmung, als ich ankam.
Aber ich hatt e überhaupt keine Lust, mich an den Spielen
zu beteiligen, die überall statt fanden. Ich dachte an
den Test.
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Ich nahm mir vor, falls ich mit Ted Martin, dem Leiter
unserer Bibelstudienkonferenzen, zusammentreff en
würde, ihm die ganze Sache zu erzählen. Doch bald war
ich in entgegengesetzter Richtung unterwegs zum anderen
Ende des Parks, weg von allen anderen, und als
ich ein stilles Fleckchen an einem Bach fand, setzte ich
mich dort an einen Holztisch. Minutenlang starrte ich
auf die Tischplatt e, dann auf die Bäume.
In dem Augenblick hörte ich Schritt e über die nur
wenige Meter von mir entfernte hölzerne Brücke kommen.
Ich wandte mich um. Sah ich Gespenster, oder war
es Wirklichkeit? Dr. Martin, seine Frau Gwen und ihre
vier Kinder kamen über die Brücke und steuerten auf
mich zu. Ich sah keine Gespenster.
Die Familie kam zu mir an den Tisch und begrüßte
mich: »Guten Tag, Ney!« Dr. Martin lächelte. »Was
machst du denn so weit hier hinten?«
»Ich denke ein wenig nach. Seid ihr auf dem Weg
zum Picknick?«
Dr. Martin antwortete: »Ja, wir haben einen Rundgang
gemacht, und jetzt gehen wir zurück.«
Die Familie wollte wieder gehen, aber ich wusste,
jetzt hatt e ich meine Sache zu bereinigen.
»Ted«, sagte ich zögernd, »könnte ich dich ein paar
Minuten sprechen, bevor du zurückgehst?«
»Aber sicher«, sagte er, während die übrige Familie
schon zum Picknickplatz vorausging.
Mit zitt ernder Stimme begann ich: »Ted, vor sieben
Jahren hat sich etwas zugetragen, was ich dir berichten
muss.« Ich erzählte ihm, was geschehen war, und
sagte zum Schluss, dass ich wüsste, was ich verkehrt
gemacht hätt e und bereit sei, mit dem Lehrer zu sprechen,
der damals den Kurs gehalten hatt e, um alles in
Ordnung zu bringen.
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»Nein«, antwortete Dr. Martin verständnisvoll, »es
genügt, dass du mit mir gesprochen hast.«
Dann meinte er: »Ney, wir wissen, dass solche Dinge
von Zeit zu Zeit vorkommen. Aber du bist die Erste,
die es jemals zugegeben hat. Ich denke, du hast genug
darunter gelitt en. Du darfst es nun auf sich beruhen
lassen.«
Ich war sehr dankbar für seine Freundlichkeit, und
als er wegging, kam ich mir vor, als könnte ich mich mit
Leichtigkeit den Vögeln in den Zweigen über mir anschließen.
Mir war eine solche Last abgenommen, dass
ich am liebsten mit Lob- und Dankliedern auf den Lippen
zu dem Picknick hinübergehüptt wäre.
Rückblickend scheint es mir, dass ich unerhörtes
Glück hatt e, weil alle, denen ich Schuld einzugestehen
hatt e, mir so viel Verständnis entgegenbrachten. Allerdings
konnte ich vorher nicht wissen, wie die Leute reagieren
würden. Mein Versicherungsmann hätt e sagen
können: »Sie schulden mir einige hundert Dollar
plus Strafgebühren und Verzugszinsen.« Oder die Bankangestellte
hätt e antworten können: »Tut mir leid, aber
wir müssen gerichtliche Schritt e gegen Sie einleiten und
Anklage erheben. Sie werden mit einer beträchtlichen
Geldstrafe und möglicherweise einer Gefängnisstrafe
rechnen müssen.«
Und Dr. Martin hätt e durchaus antworten können:
»Tut mir leid, aber du musst den Kurs noch einmal machen.«
Doch ganz gleich, wie sie reagierten, ich hatt e
den Entschluss fassen müssen, alles in Ordnung zu bringen.
Die Frage, ob Vergehen in Ordnung gebracht werden
müssen, hat nichts mit ihrem Ausmaß zu tun. Die
Anlässe mögen anderen vielleicht geringfügig erscheinen.
Hätt e ich eine Bank ausgeraubt, einen Diebstahl be
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gangen oder jemanden mit der Pistole bedroht, hätt e ich
mich zweifellos irgendwann für mein Tun rechtfertigen
müssen. Aber auch wenn meine Vergehen vergleichsweise
geringfügig waren, musste ich mich bemühen, die
Dinge wieder ins Reine zu bringen.
Die Erneuerung in mir hatt e begonnen. Mein Gewissen
war in jeder Beziehung rein, soweit ich es beurteilen
konnte …, oder etwa nicht?
Es gab noch etwas, das ich vergessen hatt e.
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Ein verändertes Herz
Gestern klingelte das Telefon. Meine Mutt er rief an.
»Liebling, diese Woche habe ich mich mit deinem Vater
unterhalten, und er sagte, wie stolz er auf jedes unserer
Kinder sei. ›Ich kann ihnen das nicht selbst sagen‹,
meinte er, ›aber ich möchte, dass du sie alle anrufst und
ihnen sagst, wie stolz ich auf sie bin.‹«
Dieses Telefongespräch war ungeheuer wichtig für
mich.
»Mutt er, hat er das wirklich gesagt?«
»Ja, das hat er.«
»Wiederholst du mir bitt e genau, was er gesagt hat?
Lass auch kein Wort aus.«
»Dein Vater hat mich gebeten, dich anzurufen und
dir zu sagen, wie stolz er auf dich ist.«
»Mutt er, sagst du das bitt e noch einmal?«
»Dein Vater hat mich gebeten, dich anzurufen und
dir zu sagen, wie stolz er auf dich ist.«
»Sag ihm bitt e meinen herzlichen Dank, und dass er
mir damit das schönste Geschenk gemacht hat, das ich
je bekommen habe.«
Mein Herz jubelte, als ich den Hörer aufl egte. Und
dazu hatt e es begründeten Anlass, denn die Dinge standen
nicht immer so.
Ich erinnerte mich an die Zeit, als ich sechs Jahre alt
war. Ich war kaum einen Meter groß und stand im städtischen
Schwimmbad am Rand des Beckens.
»Spring, Ney Ann!«, rief mir mein Vater zu und
streckte die Arme aus. »Ich fang dich auf!«
Dort, wo er im Becken stand, ging mir das Wasser bis
über den Kopf. Ich hatt e schreckliche Angst. Zitt ernd
rief ich: »Nein, das kann ich nicht!«
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»Natürlich kannst du’s«, rief er. »Spring, und ich fange
dich auf!«
Schließlich sprang ich. Aber mein Vater war nicht da.
Das Wasser schlug über meinem Kopf zusammen, und
ich kam prustend und wild um mich schlagend wieder
an die Oberfl äche. Mein Vater war im Wasser etwas zurückgegangen
in der Hoff nung, ich werde auf ihn zuschwimmen.
Ich fi ng an zu weinen.
»Vati, du bist nicht stehen geblieben! Du hast doch
versprochen, du fängst mich auf!«
Er lachte. »Ney Ann, du regst dich unnötig auf. Du
weißt doch, ich lasse dir nichts zustoßen. Ich wollte dir
nur das Schwimmen beibringen.«
Dieses Erlebnis hatt e eine vernichtende Wirkung auf
mein kindliches Gemüt. Ich hatt e meinem Vater so viel
Ver trauen entgegengebracht, wie mein kleines Herz nur
autt ringen konnte. Vati hatt e gesagt, er würde mich auffangen,
aber er hatt e es nicht getan. Er hatt e mich betrogen.
Diese Erfahrung prägte maßgeblich meine Gefühle
ihm gegenüber, als ich älter wurde. Ich begann zu erfassen,
dass uns diejenigen am meisten verletzen können,
die wir am meisten lieben, was ott gestörte Beziehungen
innerhalb unserer Familien zur Folge hat. Und
ott gibt es nichts Schwierigeres, als diese gestörten Beziehungen
wieder zu heilen.
Es gab noch andere Erlebnisse, die meine negativen
Ge fühle und meine Verbitt erung gegen meinen Vater
schürten. Sie schlugen immer tiefere Wurzeln und
waren schließlich voll ausgewachsen, als ich zur Universität
ging.
Erst nachdem ich von Arizona nach Kalifornien
um gezogen war, um die Personalabteilung von Campus
für Christus aufzubauen, kam ich innerlich an
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einen Wendepunkt, von dem ich nicht einmal wusste,
dass ich ihn nötig hatt e.
Ich war bei einer Veranstaltung, in der jemand aus
unserer Mitarbeiterschatt Dinge sagte, die ich noch nie
gehört hatt e. Ich wusste, dass die Bibel sagt: »Gott ist Liebe«
(1. Johannes 4,16). Ich wusste auch, dass 1. Korinther
13 ausführlich beschreibt, was Liebe ist. Der Redner aber
sagte etwas, das für mich wie ein Sonnenstrahl in einen
lange verschlossenen Kerker fi el: »Wenn Gott Liebe ist
und 1. Korinther 13 uns sagt, wie diese Liebe ist, dann
liebt Gott Sie und mich mit ebendieser Liebe.«
Das war mir ganz neu.
Ich hatt e immer gehört, dass ich andere Leute so lieben
sollte, wie es in 1. Korinther 13 stand. Mir war sogar
vorgeschlagen worden, ich sollte meine Liebe zu anderen
dadurch überprüfen, dass ich immer an die Stelle
des Wortes »Liebe« meinen Namen setzte. Diese Überprüfung
fi el immer schlecht für mich aus! Aber anstelle
des Wortes »Liebe« den Namen Gott es einzusetzen,
war mir nie in den Sinn gekommen.
Nun entdeckte ich:
Gott es Liebe zu mir ist langmütig,
Gott es Liebe zu mir ist gütig,
Gott es Liebe zu mir lässt sich nicht erbitt ern,
Gott es Liebe zu mir rechnet Böses nicht zu,
Gott es Liebe zu mir erträgt alles,
sie glaubt alles,
sie hott alles,
sie erduldet alles.
Gott es Liebe zu mir vergeht niemals.
Ich war überwältigt, als ich mir vor Augen hielt, dass
Gott mich mit einer solchen Liebe liebt.
Als ich an jenem Abend nach Hause fuhr, fi ng ich
an, über meinen Vater nachzudenken. Ich dachte dar
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an, wie schlecht wir uns meistens verstanden hatt en
während meiner Kinder- und Jugendzeit. Ich wusste
zwar, dass es für einen Teenager nicht ungewöhnlich
war, Konfl ikte mit den Eltern zu haben. Das war ganz
normal. Aber die Schwierigkeiten, die es zwischen mir
und meinem Vater gab, schienen viel gravierender zu
sein als die üblichen.
Ich dachte zurück an die ersten Jahre meines Lebens,
als mein Vater sich noch mit seinem Jurastudium abgerackert
hatt e. Es waren die Jahre nach der Wirtschatt skrise;
er studierte täglich viele Stunden lang und arbeitete
noch nebenher, damit wir genug zum Leben hatt en.
Er konnte sich für mich nur sehr wenig Zeit nehmen,
und als ich in die Schule kam, hatt en wir kaum eine Beziehung
zueinander. Folglich hatt e meine Mutt er einen
weitaus größeren Einfl uss auf mein Leben, und ich hing
außerordentlich stark an ihr.
Im Lauf der Jahre begann ich, mich vor meinem Vater
zu fürchten. Wenn er gegen meine Mutt er oder gegen
mich die Stimme erhob, fi ng etwas in mir an zu zittern.
Diese Furcht schlug während meiner Teenagerzeit
in Feindseligkeit um. Die Väter meiner Freunde schienen
sich für ihre Kinder zu interessieren und für die
Zeugnisse, die sie bekamen, aber mein eigener Vater
war, wie ich meinte, so sehr mit seinen eigenen Interessen
beschätt igt, dass es ihm ganz egal war, was aus mir
wurde. Ich wusste, dass er seine Arbeit liebte, aber ich
hatt e off enbar keine Bedeutung für ihn.
In späteren Jahren wurde aus meiner Feindseligkeit
eine unterschwellige Aufl ehnung. Ich dachte: »Geh du
deinen Weg, und ich gehe meinen. Lässt du mich in
Ruhe, dann lasse ich dich auch in Ruhe.« Wenn mein
Vater mich anbrüllte, hätt e ich am liebsten zurückgeschrien.
Wenn er mich nicht beachtete, ließ ich ihn auch
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links liegen. Wenn er mir wehtat, versuchte ich, ihn auch
zu verletzen. Ich wollte ihm geben, was er meiner Meinung
nach verdiente.
Ich musste daran denken, wie schlecht wir uns verständigen
konnten, und es schien, dass er seine Liebe
mir gegenüber nur durch materielle Dinge ausdrücken
konnte. Ich spürte seine Liebe nicht und fragte mich, ob
sie überhaupt vorhanden war.
All die Jahre hindurch wartete ich darauf, dass er
mich so liebte, wie ich geliebt werden wollte. Das war
nie geschehen, und es hatt e meinen Hass und meine Ablehnung
nur vergrößert.
Dann hörte ich die Botschatt von Gott es Liebe. Wenn
Gott Liebe ist und 1. Korinther 13 Gott es Liebe beschreibt,
dann bedeutet das:
Gott es Liebe zu meinem Vater ist langmütig,
Gott es Liebe zu meinem Vater ist gütig,
Gott es Liebe zu meinem Vater lässt sich nicht
erbitt ern,
Gott es Liebe zu meinem Vater rechnet Böses
nicht zu,
Gott es Liebe zu meinem Vater erträgt alles,
sie glaubt alles,
sie hott alles,
sie erduldet alles.
Gott es Liebe zu meinem Vater vergeht niemals.
Ich überlegte: »Wenn Gott meinen Vater genau so
liebt, wie er ist, wie komme ich dann dazu, ihn nicht
auch so zu lieben?« Ich hatt e meine Liebe zu ihm an
Bedingungen geknüptt , hatt e sie von seinem Verhalten
abhängig gemacht. Ich hatt e darauf gewartet, dass
er sich ändern würde. Tat er es, wollte ich anfangen,
ihn zu lieben.
Ich in meiner Liebe hatt e gesagt: »Vati, ich will dich
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lieben, wenn du dies und wenn du jenes tust.« Aber Gott
in seiner Liebe sagte einfach: »Ich liebe dich – Punkt.«
Bei ihm gab es kein »Wenn« und »Aber«. Mir war, als
sagte Gott zu mir:
»Ich liebe dich so, wie du bist …
Ich liebe ihn so, wie er ist …
Ich möchte, dass du ihn auch so liebst, wie er ist …«
Tränen liefen mir über das Gesicht, als ich die Straße
zu meiner Wohnung in den Bergen hinauff uhr. Zum
ersten Mal in meinem Leben beschloss ich, meinen Vater
so zu nehmen, wie er war. Als ich über seine Herkuntt
und seine Kindheit nachdachte, wurde mir klar,
dass er mir nur das hatt e geben können, was er selbst
mitbekommen hatt e.
Mein Vater war ein Einzelkind und wuchs in einer
kleinen Stadt nördlich von Shreveport in Louisiana auf.
Schon als er noch sehr klein war, hatt en seine Eltern Eheprobleme,
und bald trennten sie sich und ließen sich
scheiden. Er blieb bei seiner Mutt er. Sie starb, als er dreizehn
Jahre alt war. Das war ein großer Verlust für einen
kleinen Jungen.
Mein Vater lebte von da an bei einer Tante und einem
Onkel. In jener Zeit war sein Vater fast ständig unterwegs;
er spekulierte in Öl und Aktien, und manchmal
verdiente, manchmal verlor er Summen, die in die Tausende
gingen. Sehr selten bestand die Liebe, die er seinem
Sohn gegenüber äußerte, in Worten oder in Gefühlen.
Meistens versuchte er dem Sohn seine Fürsorge
dadurch zu zeigen, dass er ihm Geschenke kautt e und
ihn gelegentlich auf eine Reise mitnahm. Ich konnte sehen,
wie sich Jahre später dieses Verhalten bei meinem
Vater seiner eigenen Familie gegenüber wiederholte.
Meine Mutt er dagegen war die jüngste von vier
Schwestern und wuchs auf einer Farm in der kleinen
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Ortschatt Jet im äußersten Zipfel von Oklahoma auf,
wo ihre Eltern das Land urbar gemacht hatt en. Ihre Familie
zeichnete sich durch Liebe und ein starkes Zusammengehörigkeitsgefühl
aus. Sie unternahmen alles
gemeinsam: die tägliche Arbeit auf der Farm, die
Gestaltung ihrer Freizeit, die Erntearbeit und auch den
Gang zur Kirche.
In der Familie meiner Mutt er fehlte es nicht an gegenseitigen
Liebesbezeigungen; sie waren alle sehr zärtlich
miteinander und umarmten und küssten sich gern.
Und Mutt er setzte dieses Verhalten in ihrer eigenen Familie
fort. Sie führte genau Tagebuch über meine ersten
drei Lebensjahre, bis mein Bruder und meine Schwester,
die Zwillinge, geboren wurden. Sie schrieb auf, was
ich tat, was ich aß, kleine Aussprüche von mir und wie
viel ich wog. Überallhin begleitete sie mich, immer hatte
sie aufmunternde Worte bereit für alles, was ich tat,
und war es auch noch so geringfügig.
Als Kind erklärte ich mir all diese Unterschiede zwischen
meinen Eltern so, dass ich meinte: »Mutt er liebt
mich, aber Vater nicht.« Doch nun erkannte ich, dass sie
mich beide nach bestem Vermögen liebten, jeder entsprechend
seiner Herkuntt und seinen Möglichkeiten.
Als ich mein Auto vor dem Haus abstellte, war ich
dankbar, dass ich dieses neue Verständnis gewinnen
durtt e. Mir war, als hätt e Gott in meinem Leben etwas
erneuert. Aber ich wusste, dass die wirkliche Prüfung
noch ausstand.
Zwei Monate später fl og ich in die Ferien zu meiner
Familie nach Louisiana, und noch immer erfüllten mich
Liebe und Aufgeschlossenheit gegenüber meinem Vater.
Ich war nun wirklich frei davon, ihn kritisieren oder direkt
oder indirekt mein Missfallen ihm gegenüber äußern
zu müssen.
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Ganz besonders an einen Tag erinnere ich mich
noch. Wir saßen zusammen im Wohnzimmer, ich auf
der Couch und Vater in seinem Liegesessel vor dem
Fernseher. Bald schlief er ein. Ich sah zu ihm hinüber
und betrachtete ihn lange, wie er so in seinem Sessel
lag, und dann fl üsterte ich sehr leise: »Vati, ich liebe
dich und nehme dich so, wie du bist …, wie du da im
Sessel sitzt.«
Im Lauf der nächsten Tage ereignete sich etwas Seltsames.
Als er spürte, dass ich ihn akzeptierte, begann
er mit Herzlichkeit darauf zu reagieren. Er schien auf
einmal mehr Wert darauf zu legen, diese und jene Kleinigkeit
für mich zu tun. Zum Beispiel ging er mit mir
zum Arzt, als ich mich einer kleinen Operation unterziehen
musste. Er wartete auf mich und kautt e dann in
der nächsten Apotheke die Medizin, die ich verschrieben
bekam. In der Nähe seiner Anwaltskanzlei war ein
Modegeschätt ; er ließ sich drei Kleider mitgeben, von
denen ich mir aussuchen konnte, was mir gefi el.
Gott hatt e begonnen, unsere Beziehung zu heilen!
Bald stieß ich in der Bibel auf Verse, in denen von
den Beziehungen zwischen Eltern und Kindern die Rede
war.
»Er erwählte für uns unser Erbe« (Psalm 47,5), und
er erschuf uns: »Denn du bildetest meine Nieren. Du
wobst mich in meiner Mutt er Leib« (Psalm 139,13).
Und: »Deshalb beuge ich meine Knie vor dem Vater,
von dem jede Vaterschatt in den Himmeln und
auf Erden benannt wird« (Epheser 3,14-15). Gott hatte
mir meine Eltern ausgewählt! Er war nicht erstaunt
darüber, dass ich gerade in diese Familie hineingeboren
wurde. Als mir dies klar wurde, konnte ich
Gott zum ersten Mal in meinem Leben für meine
Eltern danken.
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Erst einige Jahre später stieß ich auf den folgenden
Vers aus dem Epheserbrief: »›Ehre deinen Vater und deine
Mutt er!‹ – das ist das erste Gebot mit Verheißung –
›damit es dir wohlgehe und du lange lebst auf der Erde‹«
(Epheser 6,2-3). Ich stellte fest, dass das Wort »ehren«
»kostbar erachten, rühmen, schätzen« bedeutet.
Ich betete: »Herr, zeigst du mir bitt e, wie ich meine
Eltern ehren kann? Ich möchte es wirklich tun. Schenkst
du mir Ideen und zeigst du mir, was ich tun kann?« Gott
erhörte mein Gebet auf ganz konkrete Weise.
Wenn ich zu Besuch nach Hause kam, war ich normalerweise
ständig unterwegs, um alle meine Freunde
wiederzusehen, und verbrachte nur wenig Zeit zu
Hause. Als Antwort auf mein Gebet war einer meiner
ersten Gedanken, dass ich bei meinem nächsten Besuch
auch einige Zeit zu Hause verbringen und mich auf
irgendeine Weise meinen Eltern widmen wollte, bevor
ich daranging, meine Freunde zu besuchen.
Bei einem meiner Besuche fi el mir, kurz nachdem
ich angekommen war, auf, dass die Schlafzimmermöbel
meiner Eltern, die an sich noch sehr gut waren, Spuren
von zwanzig Jahren täglichen Gebrauchs zeigten.
»Wäre es nicht großartig, wenn ich die Möbel neu streichen
würde?«, überlegte ich.
Sie gaben mir die Erlaubnis dazu. Ich schliff die Betten,
die Kommoden, die Nachtschränkchen und das Regal
mit Sandpapier ab. Dann strich ich alle Möbel in
einem dunklen Grün. Mutt er und ich fanden einen sehr
schönen Stoff , und gemeinsam bezogen wir die Rückwand
der Bett en damit und machten noch ein paar passende
Kissen dazu. Alles sah sehr schön aus, und sie waren
total erfreut, dass ich vier oder fünf Tage für eine
Sache aufgewendet hatt e, die nur für sie war.
Weiter fragte ich mich: »Wann habe ich meinen
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Eltern das letzte Mal ein Geschenk gemacht, einfach nur
so …, um ihnen zu zeigen: ›Ich liebe euch und denke
an euch‹?« Ich konnte mich nicht erinnern. Meistens
beschenkten wir einander an den Geburtstagen und zu
Weihnachten. Aber nun bekam ich immer mehr Lust, ihnen
so ganz ohne Grund Geschenke zu machen.
Meine Eltern kochen sehr gern. Da ich sie nun überraschen
wollte, hielt ich unterwegs an einem Gemüsestand
und kautt e eine riesige Tüte einer besonderen
Erbsensorte. Dann sahen mir Mutt er und Vater voller
Staunen zu, wie ich stundenlang im Wohnzimmer saß
und Erbsen schälte. Sie freuten sich unheimlich über
das Geschenk, und mein Vater, der ein ausgezeichneter
Koch ist, gab sich besondere Mühe, sie für uns zuzubereiten.
Ein anderes Mal, als ich die Universität von Missouri
in Columbia besuchte, kam ich eines Morgens auf
dem Weg zum Haus der Studentenvereinigung an einigen
Geschätt en vorbei. Im Schaufenster eines Schmuckladens
stach mir etwas in die Augen. Es war eine Silberkett
e mit dem Namen »Alberta« eingraviert. Der Name
meiner Mutt er!
Ich ging in den Laden hinein.
»Was kostet die Halskett e im Fenster – die silberne
ganz rechts?« fragte ich. Die Verkäuferin meinte: »Es
kostet einen bestimmten Betrag pro Buchstaben, und
die Anfertigung dauert sechs Wochen.«
»Ich möchte keine Kett e bestellen«, antwortete ich.
»Ich möchte gerne die aus dem Fenster – meine Mutter
heißt Alberta.«
Die Verkäuferin schien etwas erstaunt. »Ich heiße
auch Alberta! Die Firma wollte ein Muster herstellen,
also nannte ich meinen Namen. Aber ich denke, ich kann
sie Ihnen verkaufen.« Ich muss wohl nicht besonders er
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wähnen, wie sehr sich meine Mutt er über dieses persönliche
Geschenk gefreut hat.
Das Hobby meines Vaters ist Fischen, und unsere Familie
ist immer gern zum Fischfang an die in der Nähe
gelegenen Seen gefahren. Einmal, als ich mit ihm zum
Fischen fuhr, machte ich ein Foto von ihm, wie er mit
einem breiten Filmstarlächeln einen sehr kleinen Fisch
hochhielt, den er gefangen hatt e. Ich ließ das Bild vergrößern,
kautt e einen schönen Rahmen und schickte es
als Überraschung in seine Kanzlei. Vater freute sich so
darüber, dass er es mit zum Gericht nahm, um es einigen
seiner Freunde zu zeigen. Noch heute hat es einen
Ehrenplatz in seinem Büro.
Einige Zeit später hatt e ich eine wichtige berufl iche
Entscheidung zu treff en. Da kam mir der Gedanke:
»Wäre ich bereit, mir bei meinem Vater Rat zu holen?«
Ich wollte ihn auch um Vergebung bitt en wegen einiger
Dinge, die ich in den vergangenen Jahren getan hatte
und bei denen ich mich ihm gegenüber nicht richtig
verhalten hatt e. Über persönliche Dinge hatt en wir nie
viel gesprochen, darum fürchtete ich mich nun ein wenig
davor.
Eines Sonntagnachmitt ags, als ich wieder einmal zu
Hause zu Besuch war, schauten Vater und ich allein ein
Footballspiel an. Ich nahm all meinen Mut zusammen.
Dann fragte ich ihn wegen der berufl ichen Sache um
Rat. Was er sagte, war mir eine große Hilfe, und es ging
viel leichter, als ich erwartet hatt e.
Dann sagte ich: »Vati, da ist noch etwas, worüber ich
nachgedacht habe. In den Jahren, als ich heranwuchs,
hatt e ich alles Mögliche gegen dich, ich war undankbar
und lieblos. Jetzt sehe ich ein, dass das nicht richtig war,
und ich möchte dich um Vergebung bitt en. Kannst du
mir bitt e vergeben?«
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Er drehte sich in seinem dicken Liegesessel zu mir
um und zwinkerte ein wenig mit den Augen.
»Nein.« Dann machte er eine Pause. »An all das
kann ich mich nicht mehr erinnern …, außer an das eine
Mal …« Er nannte die Gelegenheit und lachte.
Ich überlegte kurz und sagte dann: »Schön, vergibst
du mir dann all das, woran du dich erinnern
kannst?«
»Ja«, antwortete er.
Das Footballspiel ging weiter.
Ich besprach mit ihm noch die Einladung, die ich erhalten
hatt e, Hal Lindsey auf seiner ersten Israelreise zu
begleiten. Was hielt er davon?
In Showmastermanier sagte er: »Ich persönlich hab ja
für die Klagemauer nicht viel übrig, aber wenn du hinwillst,
meinetwegen.«
Dann sagte ich: »Vati, ich glaube, ich fahre zurück
nach Dallas und höre mir unterwegs den Rest des Spiels
im Radio an.«
»Gut«, sagte er. »Gute Idee. Dann bist du schon unterwegs,
ehe der dickste Verkehr losgeht.«
Wir standen beide auf. »Und wohin geht deine nächste
Tour?« Noch nie hatt e er mich das gefragt.
»Nach Houston und Nacogdoches«, antwortete ich.
»Mach dir doch einen Cheeseburger von gestern
Abend warm und nimm ihn mit für die Heimfahrt«,
schlug er vor.
Große Lust auf einen alten Cheeseburger vom Vorabend
hatt e ich zwar nicht, aber ich wollte auch nicht
ablehnen. »Keine schlechte Idee!«, meinte ich.
Ich suchte meine Sachen zusammen und wollte gehen.
Unter der Tür gab mir Vater den Cheeseburger und
fragte: »Wann kommst du wieder?« Auch das hatt e er
mich noch nie vorher gefragt.
69
»Vielleicht am 21. oder 22.«
Lächelnd meinte er: »Na, dann bis zum 21.!«
Einige Tage später telefonierte ich mit meiner Mutt er.
»Hat Vater etwas über unser Gespräch zu dir gesagt?«,
wollte ich wissen.
»Ja, er hat gesagt: ›Ney muss verrückt geworden sein!
Sie hat mich um Rat gefragt.‹«
Einige Zeit später fand ich in den Sprüchen einen Abschnitt
, über den ich mir lange Gedanken machte.
»Gehorche, mein Sohn, der Zucht deines Vaters und
verwirf nicht die Weisung deiner Mutt er! Denn ein anmutiger
Kranz für dein Haupt sind sie und eine Kett e
für deinen Hals« (Sprüche 1,8-9).
Meine Eltern hatt en mir nie Belehrungen erteilt oder
Vorschritt en gemacht. Und doch erkannte ich, als ich
über diesen Abschnitt nachdachte, dass sie mich unterwiesen
hatt en, einfach indem ich beobachten konnte,
was sie taten, indem sie vor meinen Augen ihr Leben
lebten und mir dadurch alles Mögliche zeigten. Ich holte
mir einen Schreibblock und begann zu notieren, was
ich von meinen Eltern alles gelernt hatt e, was ich an ihnen
besonders schätzte und welche Eigenschatt en und
Fähigkeiten ich in meinem Leben mit ihrer Hilfe hatt e
entwickeln können.
Aus meinen Gedanken wurde ein fünf Seiten langer
Brief, den ich meinen Eltern zum Hochzeitstag schickte.
Bestimmt bin ich später einmal froh darüber, dass
ich ihnen diese Dinge gesagt habe.
Als Vater und Mutt er meinen Brief erhielten, wa ren
sie so gerührt, dass sie sich hinsetzten und weinten.
Eltern sollten und möchten erfahren, dass wir, ihre
Kinder, zu schätzen wissen, was sie im Lauf der Jahre
für uns getan haben. Sie sollten wissen, dass ihre Kinder
ihnen dankbar sind, dass sie die Eltern schätzen, dass sie
70
ihren Rat beachten und sie so annehmen, wie sie sind,
auch wenn sie ganz anders sind als wir.
Ich bin überzeugt, dass Gott zerstörte oder gespannte
Beziehungen heilen möchte, dass er eingreifen möchte,
wo immer es Spannungen gibt und Liebe fehlt. Obwohl
mein Vater mich nie für etwas um Vergebung bat, hat
Gott von mir verlangt, es zu tun. Heute schätze und liebe
ich meinen Vater von ganzem Herzen.
Und nachdem nun die Feindseligkeit in meinem eigenen
Herzen beseitigt ist, kann ich in ihm all die vielen
Qualitäten sehen, für die ich vorher blind war. Er
ist liebevoll, lustig und fürsorglich. Meine Freunde haben
ihn sehr gern und fi nden, dass er wunderbar Geschichten
erzählen kann.
Er ist außerdem ein tüchtiger Rechtsanwalt – und
in meinen Augen ein großartiger Mensch. Ich bin sehr
stolz auf ihn.
Kürzlich fi el mir auf, dass mein Vater sich eigentlich
in vieler Hinsicht gar nicht geändert hat. Aber ich bin anders
geworden. Darin besteht der ganze Unterschied.
71
Ein Stein nach dem anderen
Menschliche Beziehungen sind Bewährungsproben im
Leben. Sie können schmerzlich sein oder segensreich.
Und ott sind sie eine Mischung aus beidem, aus Höhen
und Tiefen; einmal eine Quelle höchster Freude, dann
wieder eine Quelle tiefsten Kummers.
1969 begann für mich eine Beziehung, die zu einer
der bedeutsamsten in meinem bisherigen Leben werden
sollte.
Nachdem ich sechs Jahre lang die Personalabteilung
von Campus für Christus geleitet hatt e, trat ich in den
Reisedienst unserer Bewegung und war für die Betreuung
unserer Mitarbeiterinnen an allen Universitäten der
mitt leren Südstaaten der USA verantwortlich.
Meine Aufgabe war es, die einzelnen Mitarbeiterinnen
in ihren persönlichen Fragen zu unterstützen
und sie geistlich weiterzuführen. Normalerweise war
man im Reisedienst allein unterwegs, doch ich bat darum,
mit jemand anderem zusammen meine Reisen unternehmen
zu dürfen. Meine Bitt e wurde erfüllt, und
Jean Pietsch wurde meine Partnerin.
Da wir nun so eng zusammenarbeiten würden, beschlossen
Jean und ich, uns eine gemeinsame Wohnung
zu nehmen. Das Zusammenleben fi ng zunächst sehr
schön an.
Wir setzten uns hin und sprachen darüber, was wir
mochten, was wir nicht so sehr mochten und worauf wir
jeweils besonderen Wert legten – ich möchte das »Vorsorgeinspektion«
nennen.
Meine Autofi rma hat ein Programm aufgestellt, das
sich so nennt. Sie rutt die Autobesitzer dazu auf, in
regelmäßigen Abständen ihre Autos überprüfen zu
lassen, um eventuelle Schäden so frühzeitig feststel
72
len zu können, dass keine größeren Probleme daraus
werden.
Grundsätzlich hatt e ich dieses Prinzip in jeder neuen
Wohnsituation für sehr nützlich gehalten. Ich erfuhr
zum Beispiel, dass Jean im Haushalt auf peinliche Sauberkeit
Wert legte und alles so aufgeräumt und sauber
wie möglich haben wollte. Und Jean fand heraus, dass
ich nichts im Leben so sehr verabscheue wie das Platzen
einer Kaugummiblase. Es hat auf mich eine ähnliche
Wirkung, wie wenn Kreide auf einer Tafel kratzt.
Es tat mir leid, dass platzende Kaugummiblasen mir so
sehr zusetzten, aber Jean versprach, darauf Rücksicht zu
nehmen, wie auch ich mich dazu verpfl ichtete, auf ihre
Wünsche einzugehen.
Aus früheren Erfahrungen dieser Art hatt e ich mir
als Wahlspruch gemerkt: »Wenn du Stein für Stein jede
Kleinigkeit beachtest und ernst nimmst, baust du nie
zwischen dir und dem anderen eine Wand auf.« Auch
das Gegenteil hatt e ich schon als wahr erkannt: Wenn
zwei Menschen sich nicht Stein für Stein mit den vorhandenen
Problemen auseinandersetzen, bauen sie eine
Wand zwischen sich auf. Und die Wand bleibt dann
entweder für immer bestehen, oder sie stürzt in einem
schmerzlichen Augenblick mit einem lauten Krachen
ein. Beide Möglichkeiten können gleich viel Leid verursachen.
Also verpfl ichteten Jean und ich uns dazu, eine offene
und ehrliche Beziehung zueinander zu haben. Wir
beschlossen, vor Gott und voreinander »im Licht zu leben«,
und wir wollten über alles miteinander reden, ob
uns danach zumute war oder nicht.
Außerdem verpfl ichteten wir uns zum Gebet – sowohl
miteinander als auch füreinander. Unser Zuhause
war in Dallas, Texas, und gleich, als wir beide dort an
73
kamen, knieten wir nieder und beteten: »Herr, wir gehören
dir. Wir vertrauen uns dir und einander an, damit
du in uns und durch uns all das tun kannst, was du
tun willst. Was auch geschieht, Vater, bewahre uns davor,
an der Fülle, die du von deinen Zielen her für uns
bereithältst, vorbeizuleben.«
Wir baten Gott darum, in unserer Beziehung sichtbar
werden zu lassen, was Jesus in seinem Gebet in Johannes
17 ausgedrückt hat: Er bat den Vater, er möge
uns, die Gläubigen, vollkommen machen in der Einheit,
damit wir eins würden, wie Christus und der Vater
eins sind.
Nach meinem Verständnis heißt Einheit oder Einssein
nicht, dass wir ganz gleiche Personen sein sollten,
vergleichbar in jeder Hinsicht. Es bedeutete vielmehr,
dass wir keine Konfl ikte, keine Feindseligkeiten und keinen
Groll gegeneinander dulden wollten, die als Bausteine
für einen »Mauerbau« dienen konnten. Wir waren
verschieden, aber unsere Beziehung sollte harmonisch
sein, wie Musikinstrumente zusammenklingen, obwohl
sie sehr verschieden sind.
So begannen wir unsere Beziehung auf der festen
Grundlage von Gott es Wort, Gebet und der Verpfl ichtung
zum Gespräch miteinander. Doch wir wussten sehr
wenig über unsere unterschiedliche Herkuntt und unsere
emotionalen Eigenheiten.
Schon nach ein paar Tagen fühlte ich mich in Jeans Gegenwart
immer unbehaglicher. Ihre Art schien sehr kühl
und abweisend, eine Kombination von Feind seligkeit
und Gleichgültigkeit. Sie äußerte dies nicht so sehr in
Worten, sondern vielmehr in ihrem Verhalten, das von
innen her, aus ihrem Naturell, zu kommen schien.
Ich wusste, dass Jean ein sehr begabter Mensch und
nach ihrer eigenen Beschreibung fast ihr ganzes Leben
74
lang ein »Einzelgänger« war. Off enbar rückte sie wegen
ihrer Fähigkeiten und Talente immer zu schnell nach
oben an die Spitze, um auf gleicher Basis Beziehungen
mit den Menschen um sie herum anknüpfen zu können;
sie war ihnen gegenüber immer in der Führungsposition.
Später fand ich heraus, dass Jean in unserer Freundschatt
zum ersten Mal Gelegenheit zu einer partnerschatt lichen
Beziehung hatt e, bei der sie persönliche Probleme mit
jemandem auf gleicher Basis bewältigen musste.
Ich versuchte, Jeans Verhalten im Licht ihrer Vorgeschichte
zu verstehen, war aber trotzdem ratlos, wie
ich auf diese Situation reagieren sollte. Ich war immer
ein »Gruppenmensch« gewesen. In der Oberschule wie
auch an der Uni hatt e ich mehr Erfolg im Umgang mit
den Menschen als mit meinen Studien. Ich hatt e immer
jede Gelegenheit genutzt, um alle möglichen Leute kennenzulernen
und Spaß mit ihnen zu haben. Nun aber
schien es, als würde eine Mauer entstehen, die wir nicht
hatt en bauen wollen.
Wegen der Unterschiede in Bezug auf unsere Herkuntt
und Persönlichkeit schien unsere größte Schwierig
keit dadurch zu entstehen, wie wir das Gespräch
mit ein ander suchten. Obwohl wir uns beide zu einem bestimmten
Umgang miteinander verpfl ichtet hatt en und
off ensichtlich Fortschritt e im gegenseitigen Verständnis
machten, belasteten uns diese Unterschiede im Lauf der
Zeit immer mehr. Jean schien sich durch meine Off enheit
in meinen Gefühlsäußerungen und Reaktionen ständig
bedroht zu fühlen, und ott war ihre Gegenmaßnahme,
dass sie sich einfach zurückzog. Ich meinerseits war dadurch
manchmal verletzt und entmutigt.
An manchen Tagen, wenn die Atmosphäre in unserer
Wohnung in Dallas buchstäblich geladen zu sein
schien, verschatt e ich mir eine kleine Verschnaufpause
75
in einem nahe gelegenen Café. Ott saß ich – so schien es
mir – sehr lange da und starrte aus dem Fenster.
»Wie bin ich nur in all das hineingeraten?«, dachte
ich dann. »Warum wohne ich mit jemandem zusammen,
der so feindselig, so kalt, so zurückhaltend und
gefühllos ist?«
Meine häufi gen Rückzüge ins Café halfen mir, alles
wieder aus der richtigen Perspektive zu sehen. Unsere
Schwierigkeiten brachten mich dazu, Gott es Weisheit
und Führung anzuzweifeln, die Jean und mich zusammengeführt
hatt e. Ich war versucht, mich dem Gedanken
hinzugeben: »Wir können eben nicht miteinander
auskommen, weil wir so verschieden sind.«
Aber wenn ich von zu Hause wegkommen und nachdenken
konnte, erinnerte ich mich immer wieder daran,
dass das, was Gott in seinem Wort über seine Liebe sagt
und darüber, wie er mich und Jean angenommen hat,
mein Maßstab sein sollte – und nicht die Erfahrung, die
ich zu Hause machte.
Ich dachte an die Worte Jesu, als er Satan anprangerte
als den, der nur kommt, »um zu stehlen, zu schlachten
und zu vernichten« (Johannes 10,10a), und zwar das Leben
im Überfl uss, das Christus für uns vorgesehen hat.
Wenn ich so im Café saß, füllte Gott es Sicht der Dinge
meine Gedanken. Er hatt e Jean und mich füreinander
berufen. Es war sein Tun. Und da Jesus für unsere Einheit
gebetet hatt e, konnte nur Satan es darauf abgesehen
haben, sie zu zerstören. Ich musste weiter blicken
als nur auf Jean – auf Gott selbst.
Dann trank ich meinen Kaff ee aus, ging wieder in die
Wohnung und fühlte mich etwas besser.
Einmal, als ich zur Tür hereinkam, sah Jean auf. »Wie
war dein Spaziergang?«, fragte sie. »Schön«, antwortete
ich. »Ich habe einige Besorgungen gemacht und
76
bin dann ins Café gegangen.« »Du gehst gern dorthin,
nicht wahr?«
Ich zögerte: »Ja. Ich kann dort sehr gut nachdenken.«
Dann fragte ich: »Jean, hast du auch gespürt, was für
eine Spannung in der Lutt lag, als ich wegging?« »Ja«,
erwiderte sie.
»Weißt du, woher sie kam?«
Diesmal zögerte Jean, nachdenklich und überlegend.
»Nein. Ney, ich weiß nicht genau, woher meine Gefühle
kommen. Könnten wir darüber beten …, noch mal?«
Und so übten wir erneut eine Gewohnheit, durch
die unsere Beziehung während der nächsten drei erfüllten
und wichtigen Jahre zusammengehalten wurde.
Wir knieten uns vor der Couch im Wohnzimmer
hin und beteten.
»Herr, uns ist nicht besonders nach Beten zumute,
aber da sind wir. Dein Wort sagt, wir sollen Gott unermüdlich
um alles bitt en (Lukas 18,1). Und uns ist nach
Autt ören zumute, darum beten wir lieber. Dein Wort
sagt auch: ›Sagt in allem Dank! Denn dies ist der Wille
Gott es in Christus Jesus für euch‹ (1. Thessalonicher
5,18). Während wir also in dieser Sache drinstecken,
entschließen wir uns ganz bewusst dazu, dir für das
zu danken, was wir gemeinsam durchzustehen haben,
auch wenn wir nicht ganz verstehen, warum es solche
Kämpfe sind.
Danke für deine Verheißung, dass ›alle Dinge‹, also
auch diese, ›zum Guten mitwirken‹ ›denen, die [dich]
lieben‹, und das tun wir. Dies gilt für alle, ›die nach [deinem]
Vorsatz berufen sind‹, also auch für uns (Römer
8,28). Du hast auch gesagt, dass in dir keine Finsternis
ist (1. Johannes 1,5), und darum bitt en wir dich: Sende
Licht auf unsere Wege, und gib uns Weisheit und Verständnis.
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Wir berufen uns auf deinen Sieg über Satan in unserem
Leben. Wir beten darum, dass wir eins sein können,
wie du es uns zugedacht hast. Und, Gott , dein Wort
sagt, dass wir dazu bestimmt sind, deinem Sohn ähnlich
zu werden (Römer 8,29). Wir bitt en dich jetzt, höre nicht
auf mit uns, bis dein Werk vollendet ist. Auch wenn es
uns Schmerzen bringt, wollen wir dein Werk in unserem
Leben weiterführen, um dein Ziel zu erreichen.«
Wie bei anderen Gelegenheiten löste sich die Spannung,
und ein Geist der Einheit kehrte zurück, wenn wir
gemeinsam laut beteten. Jean und ich wussten, wie verschieden
wir in unseren Emotionen waren. Aber wenn
wir uns auf keiner anderen Ebene mehr treff en konnten,
wussten wir: In Jesus Christus würden wir immer
wieder zueinander fi nden. Wir konnten uns unter dem
Kreuz begegnen. Wir konnten uns im Gebet auf einer
geistlichen Ebene fi nden, und das taten wir unzählige
Male, während wir zusammenlebten.
Manchmal kamen unsere Verschiedenheiten in den
einfachen, praktischen Alltagserfahrungen zum Vorschein.
Zum Beispiel bringt mein Vater seit fünfundvierzig
Jahren meiner Mutt er den Kaff ee ans Bett – eine
kleine Aufmerksamkeit, um ihr den Tagesbeginn zu erleichtern.
Und wenn ich zu Hause zu Besuch bin, bringen
mir meine Eltern meistens auch morgens den Kaffee
ans Bett .
So fi ng ich an, Jean jeden Morgen den Kaff ee ans
Bett zu bringen. Doch eines Morgens merkte ich, dass
sie sich gar nicht zu freuen schien, sondern äußerst gereizt
darauf reagierte.
Verwundert überlegte ich. »Vielleicht ist das verkehrt«,
dachte ich für mich. Ich spürte in meinem Magen
etwas wie einen Stein. Ich wusste: Wir mussten darüber
sprechen.
78
Später fragte ich: »Jean, wäre es dir lieber, wenn ich
dir morgens nicht den Kaff ee ans Bett bringen würde?«
Als wir darüber sprachen, sagte Jean: »Ney, ich glaube,
es ist mir deshalb peinlich und unangenehm, weil es mir
nicht zuerst eingefallen ist! Ich komme mir vor, als sei
ich nicht würdig, dass du mir diese Freundlichkeit entgegenbringst
– und weil ich nicht daran gedacht habe,
es für dich zu tun, darum kann ich dir auch nicht dafür
dankbar sein.«
Jahre später sagte Jean im Rückblick auf unser »Kaffee-
Erlebnis«: »Deine schlichte Geste war nur der Anfang
zahlloser Geschehnisse, die mir zeigten, wie unsicher
und stolz ich war. Ich hatt e die irrige Idee, dass ich
alles wissen, an alles denken und alles tun müsste, sonst
kam ich mir unwürdig vor. Ich habe mich ganz schön
unter Druck gesetzt, nicht wahr?«
Unsere erste gemeinsame Fahrt als Mitarbeiterinnen
im Reisedienst führte uns nach Lubbock in Texas. Dort
gingen wir eines Morgens in ein Lebensmitt elgeschätt ,
um uns etwas fürs Frühstück zu kaufen. Als wir die Auswahl
an tief gefrorenen Orangensätt en ansahen, fragte
ich: »Welchen möchtest du?«
Jean war sofort reserviert und schien nicht mehr in
der Lage, meine Frage direkt zu beantworten. In meinem
Magen bemerkte ich den vertrauten Stein. Ich spürte
förmlich, wie da wieder ein Stein aufgeschichtet wurde,
wie wieder eine Mauer entstand. Später fragte ich
Jean, ob wir uns unterhalten könnten über das, was im
Lebensmitt elladen geschehen war.
Jean antwortete: »Na ja, ich habe mich mal wieder
über dein Entgegenkommen geärgert. Ich erwartete,
dass du den Satt wählst, ohne mich zu fragen. Ich bin
es einfach nicht gewöhnt, dass man sich so liebevoll um
mich kümmert.«
79
»Jean, ich möchte keine Belastung für dich sein, aber
es ist mir nicht egal, wie du empfi ndest und was du
gern hast.«
Sie antwortete: »Gott weiß darum, wenn wir für andere
eine Belastung sind, Ney. Und er wird die Belastung
dann von uns nehmen, wenn er es für richtig hält.
In der Zwischenzeit müssen wir sie aushalten und werden
hoff entlich dadurch geformt, also sei bitt e auch weiterhin
liebevoll zu mir. Es hiltt mir, ein paar innere Barrieren
zu überwinden.«
Bei anderer Gelegenheit musste ich lernen, die Nehmende
zu sein. Wegen des Umzugs und der Einrichtungskosten
war ich fi nanziell ziemlich schlecht dran.
Wenn mein Gehalt kam, war es bereits so gut wie aufgeteilt,
und es blieb kaum genug für das Allernotwendigste.
Noch nie zuvor hatt e ich mir von jemandem Dinge
wie Shampoo, Haarspray oder Klebestreifen borgen
müssen. Ich lieh gar nicht gern etwas von Jean aus, aber
wie ich meinte, blieb mir keine andere Wahl.
Ich spürte jedoch, dass es ihr ebenso schwerfi el,
mir etwas zu geben, wie es mir schwer wurde zu borgen,
und das machte die Situation für uns beide schwierig.
Eines Tages sagte ich: »Jean, es ist mir wirklich zuwider,
dich um all diese Dinge bitt en zu müssen, aber
ich weiß nicht, wie ich es anders machen soll. Und meine
Bitt en gehen dir off enbar auch auf die Nerven.«
Aus ihrer Antwort erfuhr ich, dass sie mit drei Schwestern
groß geworden war, von denen jede ihre eigenen
Sachen hatt e. So hatt e sie selten persönliche Dinge mit
anderen teilen müssen – und diese Einstellung hatt e
sich auch nicht geändert, als sie mit anderen zusammenwohnte.
80
»Ich weiß, dass ich selbstsüchtig bin. Ich glaube, der
Herr will mich lehren, freigebiger zu sein«, sagte sie.
»Weißt du«, antwortete ich, »mir fällt zwar das Geben
leicht, aber das Nehmen macht mir Schwierigkeiten!
Gott will mich off enbar das Nehmen lehren.«
Wir mussten beide lachen, als wir erkannten, dass
Gott uns gegensätzliche Prinzipien durch dieselbe
Situation lehren wollte.
Ganz gleich unter welchen Umständen, wir fanden
ständig Gelegenheiten, bei denen sich Steine zu einer
Mauer zwischen uns hätt en stapeln können, wenn wir
uns nicht täglich Stein für Stein mit diesen Hindernissen
auseinandergesetzt hätt en.
Besonders wirksam fanden wir die Methode, jede
einzelne Angelegenheit, jeden »Stein«, wie auf einen
Tisch vor uns zu legen, um objektiv darüber zu reden.
Jean äußerte dann ihre Ansicht zu einem bestimmten
Geschehen, und ich sagte ihr meine Meinung dazu.
Wir stellten fest, dass wir normalerweise an dieselbe
Sache von ganz verschiedenen Seiten herangingen, aber
je häufi ger wir unsere Ansichten besprachen, desto größer
wurde unser Verständnis füreinander.
Manchmal konnten wir einfach dadurch, dass wir
über die Sache sprachen, zu einem gegenseitigen Verständnis
kommen.
Manchmal war es auch nötig, dass wir einander um
Vergebung baten. Es kam auch vor, dass wir uns nicht
verständigen konnten; dann kamen wir einfach überein,
die Sache auf dem »Tisch« zu lassen.
Ott half es uns, eine Sache objektiv zu betrachten,
wenn sich jeder von uns fragte: »Lässt sich dieser Konfl ikt
mit anderen vergleichen, die ich vorher schon hatt e?«
Manche Reaktionen entspringen ähnlichen Erfahrungen
in der Vergangenheit und weniger der augenblicklichen
81
Situation. Ob das der Fall ist, können wir dar an erkennen,
dass wir dann weitaus stärker reagieren, als es der
augenblicklichen Situation angemessen ist.
Einmal, als wir diese Frage diskutierten, fanden wir
heraus, dass ich Jean in vieler Hinsicht an andere Leute
aus ihrem Bekanntenkreis erinnerte, die sie wegen ihrer
freien Art, beispielsweise ihre Gefühle zu äußern,
abgelehnt hatt e. So verhalfen auch einige unserer Einsichten
dazu, dass jene anderen Beziehungen verändert
und geheilt wurden.
Wir fanden heraus, dass es einen »Stein« gab, den
ich als »Lutt blase der Einbildung« bezeichnete. Eine
Einbildung liegt dann vor, wenn, erstens, ich denke, der
andere denkt etwas Negatives über mich, oder, zweitens,
der andere denkt, ich denke etwas Negatives über
ihn. Gewöhnlich entbehrt eine solche Einbildung jeder
Grundlage in der Wirklichkeit – mit anderen Worten:
Der Gedanke wurde nie ausgesprochen, er entspricht
also keiner bekannten Tatsache. Zum Beispiel könnte
jemand denken:
»Ich glaube, sie mag mich nicht.« »Er möchte bestimmt,
dass ich gehe.« »Ihr gefällt mein Haar nicht.«
»Er denkt, ich bin unpassend angezogen.«
Wir bilden uns ein, diese Gedanken seien richtig, und
folglich »blasen« wir sie auf und lassen ihnen freien
Lauf, sodass dadurch unsere Beziehungen zu anderen
belastet werden.
Einbildungen können etwas sehr Zerstörerisches
sein. Viele Beziehungen sind völlig in die Brüche gegangen,
einfach weil Menschen an ihre Einbildungen
glaubten, ohne jemals zu überprüfen, ob sie auch mit
der Wirklichkeit übereinstimmten.
Jean und ich beschlossen, solche Gedanken off en zu
besprechen, wenn sie zwischen uns autt amen, und das
82
war häufi g der Fall. Weil wir über diese Einbildungen
off en miteinander sprachen, konnten wir sie wie aufgeblasene
Ballons mit Nadeln anstechen – sofort waren
sie verschwunden!
Ein solcher Ballon platzte während eines Besuchs an
der Universität von Kansas. An einem Nachmitt ag waren
wir dabei, uns für ein evangelistisches Treff en im
Haus einer Studentenvereinigung vorzubereiten. Mir
war das Herz sehr schwer, denn aus Jeans Benehmen
schien mir deutlich erkennbar, dass sie an jenem Tag
mit niemandem zusammen sein wollte, und schon gar
nicht mit mir. Ich dachte: »Ich kann einfach nicht zu diesem
Treff en gehen, bevor ich mich nicht mit ihr ausgesprochen
habe.«
Kurz bevor es Zeit zum Autt ruch war, nahm ich allen
Mut zusammen, um ihr zu sagen, was für einen Eindruck
ich hatt e.
»Jean«, bat ich, »können wir miteinander reden, bevor
wir gehen?«
Sie sah von ihrem Buch auf und sagte: »Natürlich.«
Ich fuhr fort: »Ich habe den deutlichen Eindruck, dass
du heute Abend nicht mit mir zu diesem Treff en gehen
willst.«
Sie rief: »O nein, Ney! Das stimmt überhaupt nicht.
Aber ich dachte die ganze Zeit, du wolltest nicht mit
mir gehen!«
»Jean, ganz ehrlich, nichts liegt mir ferner als das!«
Wir waren nun beide erleichtert, weil wir wussten: Da
war wieder einmal Satan am Werk gewesen, um unsere
Einheit zu untergraben, zu rauben und zu zerstören, gerade
jetzt, als wir drauf und dran waren, diesen Abend
gemeinsam als Rednerinnen zu gestalten.
Ein weiteres Problem, das bei zwischenmenschlichen
Beziehungen ott autt aucht, sind falsche Erwartungen.
83
Manchmal verlangen wir von anderen Menschen mehr,
als sie geben können, oder wir betrachten das, was sie
geben, als selbstverständlich.
Ich hörte einmal eine Geschichte von einem Mann,
der einen Monat lang ein Experiment machen wollte. Er
wollte in einem bestimmten Wohnviertel jedem Haushalt
einen Fünfzig-Euro-Schein schenken, ohne jede Verpfl
ichtung.
Am ersten Tag seines Experiments, als er von Haus
zu Haus ging, hatt en die Bewohner erhebliche Zweifel
– und zwar an seinem Verstand. Sie streckten zögernd
die Hand durch den Türspalt und nahmen hastig den
Geldschein an sich. Am zweiten Tag, als er wieder mit
einem Fünfzig-Euro-Schein an jede Tür kam, war die
Reaktion ähnlich.
Bis zum dritt en und vierten Tag hatt en viele Leute
die Geldscheine zur Bank gebracht und festgestellt, dass
sie echt waren, und in der ganzen Nachbarschatt sprach
man von diesen geschenkten Fünfzig-Euro-Scheinen.
In der zweiten Woche standen die Leute schon an den
Haustüren, sahen die Straße hinunter und warteten darauf,
dass der Mann kam. Sie fi ngen an, einander zu besuchen
und unterhielten sich von Tür zu Tür und über
die Straße.
In der dritt en Woche aber schien sich der Reiz des
Neuen zu verlieren. Die Bewohner nahmen das tägliche
Geschenk bereits als etwas Gewohntes an. Die Gaben
wurden »ein alter Hut«. Und in der vierten Woche wurden
sie, da die Besuche des Mannes zur Routine geworden
waren, als fester Bestandteil des Lebens hingenommen.
Am allerletzten Tag versuchte der Mann noch etwas
Neues. Er ging wieder die Straße entlang, aber diesmal
gab er keine Geldscheine aus. Da geschah etwas
84
ganz Seltsames. Die Bewohner rissen die Tür auf, kamen
an die Gartenpforte und riefen ärgerlich: »Wo ist
unser Geld?« und: »Sie, wie kommen Sie dazu, mir meine
fünfzig Euro heute nicht zu geben?«
Was war geschehen? Die Leute hatt en etwas gefordert
und erwartet, was sie ursprünglich als Geschenk
und unverdientermaßen erhalten hatt en. Sie hatt en nach
und nach die Haltung entwickelt, der Mann »schulde«
ihnen die Fünfzig-Euro-Scheine.
Das ist ein Beispiel dafür, wie wir manchmal mit anderen
Menschen und auch mit Gott umgehen. Alles im
Leben ist eigentlich ein Geschenk – unsere Familien, unsere
Freunde, unser materieller Besitz, unsere Gesundheit.
Im Lauf unseres Lebens können wir dazu kommen,
diese Gaben als selbstverständlich anzusehen und sogar
bestimmte Erwartungen zu haben, wie die Dinge
sein »sollten«. Wenn und sobald sie uns einmal genommen
werden, werden wir ott verärgert und fordernd,
weil wir glauben, wir hätt en ein »Recht« auf sie. Doch
wäre es viel besser für uns, wenn wir uns dazu entschließen
würden, dankbar zu sein für das, was uns geschenkt
wird.
Paulus beschreibt im Römerbrief wunderschön dieses
Prinzip, wie wir andere annehmen sollten: »Des halb
nehmt einander auf, wie auch der Christus euch aufgenommen
hat, zu Gott es Herrlichkeit« (Römer 15,7).
Es dient dem Lob Gott es, wenn wir einander annehmen,
und es macht Gott Unehre, wenn wir es nicht tun.
Wenn wir uns nicht willentlich dafür entscheiden,
andere anzunehmen, dann setzen wir unsere ganzen
Erwartungen darauf, dass sie sich genau nach unseren
Vorstellungen verhalten. Wenn andere unseren Erwartungen
entsprechen, haben wir in der Regel kaum Probleme
mit ihnen. Aber wenn sie sich nicht nach unse
85
rem »Geschmack« verhalten, geben wir ihnen gern eins
drauf, schwingen uns zum Richter über sie auf und lassen
sie auf verschiedene Arten wissen, dass sie unseren
Maßstäben ganz und gar nicht genügen. Und dann bekommen
sie das Gefühl, dass sie in unseren Augen Versager
sind.
David schreibt in Psalm 62, dass nur Gott allein sein
Fels und seine Festung ist. Warum? Weil Gott die einzige
»Konstante« in unserem Leben ist, alles andere ist
veränderlich. Wenn wir unsere Hoff nung auf das Veränderliche
setzen, werden wir unweigerlich entt äuscht.
Sehr ott musste ich mich fragen: »Worauf habe ich
meine Hoff nungen gesetzt? Auf Jeans Verhalten oder
auf Gott ?« Wenn wir unsere Hoff nungen auf das Verhalten
eines anderen Menschen setzen oder auch nur
auf unser eigenes, wird unser Leben zu einer Fahrt in
der Achterbahn, einfach weil es im menschlichen Verhalten
ein ständiges Auf und Ab gibt.
Obwohl all diese Dinge – individuelle Verschiedenheiten,
Einbildungen und falsche Erwartungen – unsere
Beziehungen erheblich belasten können, geht doch
wohl von einer Kränkung der zerstörerischste Einfl uss
aus. Es gab Zeiten, in denen Diff erenzen zwischen Jean
und mir tiefe Kränkungen verursachten.
Ich erinnere mich noch lebhatt an einen Abend, an
dem Jean nicht zu Hause war. Ich kniete neben meinem
Bett nieder und rief im Gebet laut aus: »Herr, ich habe
nicht das Gefühl, dass Jean mich liebt, und ich empfi nde
auch keine Liebe für Jean. Nach all diesen Jahren dachte
ich, ich wüsste etwas über Liebe, aber jetzt bin ich mir
nicht sicher, ob ich überhaupt eine Ahnung habe!
Ich bete darum, dass du mich deine Liebe lehrst. Meine
ist völlig verbraucht. Ich gebe mich dir hin als ein
Werkzeug deiner Gerechtigkeit. Ich bete, dass ich für
86
Jean das sein kann, was sie in dir braucht, und nur du
weißt, was das ist. Ich bitt e dich: Tu durch deinen Geist
an mir und durch mich, was ich selbst nicht für mich
tun kann.«
Ich wusste, dass wir beide von Herzen das Richtige
wollten und dass wir beide Gott liebten. Wir waren verschieden,
aber verschieden hieß ja nicht »verkehrt«.
Aber wenn diese Verschiedenheiten Kränkungen mit
sich brachten, reagierte ich unterschiedlich darauf.
Zuerst war ich immer geneigt, alles auf Jean zu schieben
und den Fehler bei ihr zu suchen. Dann dachte ich:
»Ohne Jean wäre alles in bester Ordnung.« Doch dann
packte ich diese Gedanken beim Schopf und entschied
mich mit meiner ganzen Willenskratt dafür, Jean nicht
anzuklagen. Ich musste selbst die Verantwortung für
mein Verhalten übernehmen und für die negativen Gedanken,
die aus meinem Herzen hervorkamen.
Zum Beispiel betete ich: »Herr, welche Fähigkeiten
willst du durch diese Erfahrung in meinem Leben zur
Entfaltung bringen?« Da mir das Lieben so schwer fi el,
war die Antwort, die in mir autt auchte: »Liebe«.
Als ich anfi ng, über 1. Korinther 13 nachzudenken,
wurde ich wieder wie damals, als es um die Beziehung
zu meinem Vater ging, daran erinnert, dass Gott es Liebe
sehr viel mehr mit dem Willen zu tun hat als mit Gefühlen
und Empfi ndungen.
Wenn wir an anderen Menschen etwas entdecken, was
wir nicht leiden können, neigen wir dazu, sie zu verurteilen,
und wir konzentrieren uns genau auf das, was uns
an ihnen nicht gefällt, und machen ihnen Vorhaltungen,
dass sie so sind, wie sie sind. Aber Gott möchte nicht,
dass wir andere verurteilen. Er sieht Anfang und Ende. Er
weiß, wo jeder Einzelne von uns herkommt, und er weiß
um allen Kummer, den wir durchgemacht haben.
87
Ein kleiner Junge saß einmal mit seinem Vater im
Zug. Den ganzen Tag schluchzte, weinte und wimmerte
der Junge mit nur kurzen Unterbrechungen. Als es
Nacht wurde, legten Vater und Sohn sich in eine der
Schlatt ojen im Zug. Aber durch die Vorhänge konnte
man den Jungen weiterschluchzen hören.
Ein Mitreisender, der sich das Weinen des kleinen
Jungen nun schon seit Stunden angehört hatt e, wurde
ungeduldig und ärgerlich. Aufgebracht sprang er aus
seiner Koje und riss die Vorhänge zurück, hinter denen
Vater und Sohn sich für die Nacht hingelegt hatt en.
In scharfem Ton sagte er: »Sie, wenn Sie den Jungen
nicht dazu bringen können, dass er autt ört zu heulen,
dann sollten Sie ihn besser seiner Mutt er überlassen.«
Der Vater antwortete leise: »Seine Mutt er ist gerade gestorben.
Wir bringen ihren Leichnam zur Beerdigung
nach Hause.«
Der Mitreisende hatt e nur einen Teil der Wahrheit gesehen
und darauf sein Urteil gegründet. Erst als er noch
weitere Informationen erhalten hatt e, konnte er das Verhalten
richtig einordnen.
Ebenso wurde auch ich in dem Maße frei davon, Jean
zu verurteilen, wie mir die Augen aufgingen über ihr
gesamtes bisheriges Leben und ihre Herkuntt .
Ott reagieren wir auf Kränkungen, die uns zugefügt
werden, auch so, dass wir den anderen ebenfalls verletzen
wollen. Ein solches »Rache-Denken« kann jede
Beziehung zerstören. Doch in 1. Petrus 3,8-9 heißt es:
»Endlich aber seid alle gleichgesinnt, mitleidig, voll
brüderlicher Liebe, barmherzig, demütig, und vergeltet
nicht Böses mit Bösem oder Scheltwort mit Scheltwort,
sondern im Gegenteil segnet, weil ihr dazu berufen worden
seid, dass ihr Segen erbt!« Wir müssen uns darin
üben zu segnen, wenn wir gekränkt worden sind.
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Eine Möglichkeit zu segnen ist, im Leben eines Menschen,
der uns verletzt hat, einen »guten Samen zu säen«.
Ich hatt e einmal einen Garten, und ich entdeckte, dass,
wenn ich zum Beispiel einen Gurkensamen säte, daraus
nicht nur eine Gurke wurde, sondern dass viele Gurken
aus dem einen Samen entstanden. Und nicht nur das,
sondern wenn ich Gurkensamen pfl anzte, erntete ich
Gurken und keine Karott en. Ich bekam genau das, was
ich gesät hatt e, und eine weit größere Menge davon, als
ich gesät hatt e.
Ott habe ich den Ausspruch »Man erntet, was man
sät« in dem Sinne gehört, dass man, wenn man böse
Dinge tut, auch böse Folgen zu tragen hat. Doch der
Satz gilt auch, wenn man gute Dinge tut, die dann gute
Folgen haben.
Wenn wir Böses säen, können Schwierigkeiten erwachsen,
aber wenn wir guten Samen säen, kann daraus
Liebe und Harmonie entstehen. In Galater 6,7-9 heißt es:
»Irrt euch nicht, Gott lässt sich nicht verspott en! Denn
was ein Mensch sät, das wird er auch ernten. Denn wer auf
sein Fleisch sät, wird vom Fleisch Verderben ernten; wer
aber auf den Geist sät, wird vom Geist ewiges Leben ernten.
Lasst uns aber im Gutestun nicht müde werden! Denn
zur bestimmten Zeit werden wir ernten, wenn wir nicht ermatt
en« (Hervorhebungen von der Verfasserin).
Und in Jakobus 3,18 wird darauf hingewiesen, dass
wir die Frucht der Gerechtigkeit säen müssen, wenn wir
Frieden ernten wollen. Was ist mit Frucht der Gerechtigkeit
gemeint? Es ist die Frucht des Geistes; es ist ein
von Christus geprägtes Verhalten und Reagieren in jeder
Situation.
Die Frucht des Geistes wird im Galaterbrief beschrieben:
»Liebe, Freude, Friede, Langmut, Freundlichkeit,
Güte, Treue, Santt mut, Enthaltsamkeit. Gegen diese ist
89
das Gesetz nicht gerichtet« (Galater 5,22-23). Das bedeutet:
Wir können so liebevoll, freundlich, geduldig
und gütig sein, wie wir wollen, denn dagegen gibt es
keine Gesetze!
Wenn in mein Leben jemand einen »Samen des Hasses«
sät, kann ich ihn Wurzeln schlagen lassen, eine
große »Hass-Ernte« heranziehen und den Ertrag dann
dem anderen wieder in sein Leben werfen, wo er als
neuer Same des Hasses autt eimt und Abneigung und
Bitt erkeit entstehen lässt. Oder aber ich kann einen Samen
des Hasses, den jemand in mein Leben sät, als solchen
erkennen und entschlossen aus dem Teufelskreis
ausbrechen, indem ich dem anderen Menschen vergebe
und ihm Gutes erweise.
Jean und ich bemühten uns nach Krätt en, guten Samen
im Leben des anderen zu säen. Das erste Jahr unseres
Zusammenlebens war weitaus das schwierigste,
voll von Missverständnissen. Doch in diesem Jahr hatt e
ich heimlich Erinnerungsstücke von allen unseren Reisen
gesammelt. Ich hatt e Postkarten, Souvenirs und Bilder
zusammengetragen und ein Tagebuch über unseren
Dienst geführt. Am Ende des Jahres klebte ich alles in
ein großes Hett und überraschte Jean damit.
Andererseits war es Jean, die ott unsere Flugtickets
besorgte, wunderbare Mahlzeiten für uns kochte und
schritt lich oder telefonisch alles veranlasste, was für unsere
Reisen notwendig war. Rein gefühlsmäßig hatt e
jede von uns Zeiten, in denen sie nicht bereit war, der anderen
einen Liebesdienst zu erweisen. Aber wir wollten
uns nicht an unseren Gefühlen orientieren, sondern hatten
uns ganz bewusst dazu entschlossen, durch solche
Dinge guten Samen in das Leben des anderen zu säen.
Die beste und heilsamste Reaktion auf eine Kränkung
ist jedoch die Vergebung. Ich hatt e mir fest vor
90
genommen, Jean zu vergeben, wann immer ich mich
gekränkt fühlte. Ich musste immer und immer wieder
Vergebung üben. Dabei half es mir, das Wort »vergeben«
in »für den anderen geben« umzuformen und
mich zu fragen:
Suche ich nach einer Möglichkeit, für Jean zu geben?
Oder: Halte ich etwas fest?
Wenn ich im Herzen etwas festhielt (nämlich die
Kränkung), war ich auch nicht bereit zu vergeben, und
ich suchte nicht nach Möglichkeiten zu geben.
Eine andere Frage, die ich mir stellte, lautete:
Ist mein Gott größer als die Kränkung, die mir zugefügt
wurde?
Es hängt ganz von meiner Entscheidung ab, ob ich
Gott größer sein lasse als die Kränkung, die ich erfahren
habe. Wenn ich es aber zulasse, dass die Kränkung
ganz meine Gedanken beherrscht, dann wird es mir unmöglich,
Gott in dieser Situation zu sehen. Ott fällt es
mir schwer, mich bewusst dafür zu entscheiden, Gott
größer sein zu lassen als meine Kränkung, aber letztlich
ist das die richtige Entscheidung, das erlebte ich in meiner
Beziehung zu Jean immer wieder.
Während unserer drei gemeinsamen Jahre reisten
wir zusammen nach Texas, Louisiana, Oklahoma, Kansas,
Missouri, Nebraska, Colorado und Wyoming. Wir
sprachen viele hundert Male gemeinsam bei Zusammenküntt
en, erlebten, wie Menschen Christus als ihren
Erlöser annahmen, und durtt en sehen, wie Menschen
verändert wurden. Ich glaube, weil wir uns dafür entschieden
hatt en, Gott und einander zu ehren, gebrauchte
er uns gemeinsam in vielerlei Hinsicht.
Jean und ich wohnten, aßen, feierten gemeinsam,
taten unseren Dienst zusammen und standen viele Probleme
miteinander durch. Im Lauf der Zeit wurde es
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uns geschenkt, dass wir kurze Augenblicke wirklicher
und echter Einheit erlebten.
In den Psalmen lesen wir: »Siehe, wie gut und wie
lieblich ist es, wenn Brüder einträchtig beieinander wohnen«
(Psalm 133,1). Gegen Ende unseres dritt en Jahres
wurde es immer häufi ger »gut und lieblich«. Wir fanden
tatsächlich Gefallen aneinander! Gott hatt e unsere
Herzenshaltung, unsere Gebete, unser Reden miteinander
und unsere Bereitschatt , Dinge zu klären, belohnt.
Er hatt e ein Wunder getan.
Es kam sogar so weit, dass wir einander vermissten,
wenn wir getrennt waren, und wir empfanden Zeiten
der Trennung nicht mehr als Befreiung von einem
Druck.
Im Sommer unseres dritt en Jahres kam Jean von
einem Besuch bei ihrer Familie in Houston zurück und
sagte zu mir: »Ney, erinnerst du dich, dass ich einmal
von einem jungen Mann namens Doug gesprochen
habe? Ich kenne ihn seit vier Jahren – und mochte ihn
nie besonders.«
»Ja«, sagte ich, »du hast von ihm erzählt, ich erinnere
mich.«
»Stell dir vor, als ich zu Hause war, traf ich ihn zufällig,
und er lud mich zum Essen ein. Nach dem Essen
fuhren wir zusammen nach Galveston und verbrachten
einen wunderschönen Abend am Meer. Er hat sich
sehr verändert im Vergleich zu früher. Ich habe das Zusammensein
mit ihm richtig genossen – das hätt e ich
nie erwartet!«
Zwei Monate später rief Doug Jean von Illinois aus an
und sagte ihr, er komme zu einer Konferenz nach Dallas.
Sie nahmen jeden Tag gemeinsam an der Konferenz teil.
Wenn keine Sitzungen waren, unterhielten sie sich, gingen
zusammen einkaufen oder etwas besichtigen.
92
Als Doug wieder nach Hause fuhr, sagte Jean: »Ney,
ich komme mir vor, als sei ein Teil von mir weg.« Dann
fi ngen sie an, sich zu schreiben, sich anzurufen und
sich gegenseitig zu besuchen. Ich war keineswegs überrascht,
als sie sich im November verlobten.
Eines Abends bekam ich völlig unerwartet einen Anruf
von Doug. »Ney, Jean und ich haben uns unterhalten,
und es ist uns klar geworden, dass wir nicht heiraten
könnten, wenn ihr beide in den drei Jahren zusammen
nicht so vieles gelernt und durchgearbeitet hätt et. Ich
möchte dir von Herzen danken für das, was du in Jeans
Leben bewirkt hast.«
Der Anruf bewegte mich sehr, und ich weinte an jenem
Abend Tränen der Freude und der Dankbarkeit
über alles, was Gott getan hatt e. Im letzten Monat vor
Jeans Hochzeit konnte ich ihren Namen nicht nennen,
ohne dass mir die Tränen kamen. Wir hatt en so vieles
in jenen Jahren miteinander geteilt, und ich wusste, ich
würde sie sehr vermissen.
Ich erkannte nun deutlich, dass die Empfi ndsamkeit,
von der ich geglaubt hatt e, Jean besäße sie nicht, immer
vorhanden gewesen war. Ja, ich staunte über die Tiefe
ihres Mitgefühls und ihrer Liebe. Aber all unsere gemeinsamen
Erfahrungen waren nötig gewesen, um das
deutlich zu machen.
Jean schrieb mir kürzlich: »Die Erfahrungen, die wir
miteinander gemacht haben, waren ganz ent scheidend
für meine jetzige glückliche Ehe. Weil du mir ständig
Liebe entgegenbrachtest, begannen die Mauern
der Furcht und der Feindseligkeit nach und nach abzubröckeln.
Nachdem ich gelernt hatt e, mein eigenes
Versagen, meine Angst und Niedergeschlagenheit zu
akzeptieren, konnte ich auch mit Doug geduldig und
verständnisvoll sein.«
93
»Freundschatt en mit Männern«, schrieb sie weiter,
»hätt en mich nicht auf die Ehe vorbereiten können. Ich
hielt mit meinen wahren Gefühlen zu sehr hinterm Berg.
Ich musste mit jemandem zusammenleben, der mich
mit der Wahrheit über mich selbst und über sich selbst
konfrontierte.«
Durch meine Erfahrungen im Umgang mit anderen
Menschen ist mir bewusst geworden, dass es zwar ziemlich
einfach ist, Gott zu lieben, weil er vollkommen ist,
dass es aber gar nicht so einfach ist, einander zu lieben
– weil wir nicht vollkommen sind. Das muss Jesus gemeint
haben, als er sagte, die Welt werde erkennen, dass
er Gott ist, wenn wir Liebe untereinander haben. Es ist
nicht natürlich, sondern übernatürlich für uns, einander
mit jener Hingabe zu lieben, die aushält, auch wenn
unsere Gefühle sagen: »Ich will da raus!« Für Jean und
mich wurde das »Aushalten« zum Segen, nicht das »Davonlaufen«.
Während der Zeit, in der ich mit Jean zusammen war,
lernte ich, dass man, wenn man einen Mitarbeiter, einen
Mitbewohner oder einen Ehepartner ablehnt, eigentlich
Gott ablehnt, weil er einen in diese Gemeinschatt hineingestellt
hat. Ich lernte nicht nur, Dinge in Ordnung zu
bringen, »immer einen Stein nach dem anderen«, sondern
auch zu beten, wenn mir gar nicht danach zumute
war, und mit dem anderen zu sprechen, wenn ich
lieber geschwiegen hätt e. Und ich lernte wertvolle Lektionen
darüber, wie man mit Einbildungen und Kränkungen
umgeht.
Wenn zwischen Jean Pietsch und mir sich all die Mauern
aufgetürmt hätt en, die entstehen wollten, hätt en wir
einander letztendlich gehasst, und Gott hätt e unseren
Dienst nicht so segnen können, wie er es getan hat. Obwohl
wir in vieler Hinsicht krasse Gegensätze waren,
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erlebten wir, wie uns Gott zu einer Einheit und Harmonie
zusammenbrachte. Die Liebe, Hingabe, Dankbarkeit
und Zuneigung, die wir füreinander empfi nden, haben
bis zum heutigen Tag nicht nachgelassen.
95
Der Feind wird entlarvt
Als Jean und ich Jackie Hudson zum ersten Mal trafen,
arbeitete sie in einem Büro in Dallas, Texas, um bei den
Vorbereitungen für »Explo ’72« zu helfen. »Explo ’72«
war ein Kongress, zu dem achtzigtausend Christen kamen,
um eine Grundausbildung in Evangelisation und
Jüngerschatt zu erhalten.
Jackie stand erst seit kurzem in einer vollzeitlichen
christlichen Arbeit und wollte von ganzem Herzen Gott
dienen und ihm nachfolgen. Sie war lebhatt und fröhlich
und machte einen zufriedenen Eindruck.
Als ich sie drei Monate später wiedersah, erschien sie
mir völlig verändert. Ich wollte gerade aus dem Klassenzimmer
gehen, um mit einer Freundin zu Mitt ag zu
essen, als ich ganz hinten im Raum Jackie entdeckte. Es
schien, als sei sie in einer anderen Welt. Als ich auf sie
zuging und sie aus der Nähe betrachtete, sah ich die
dunk len Ringe unter ihren Augen und erkannte, wie
blass sie war. Ich fragte mich, ob sie krank sei.
»Jackie, du siehst elend aus.« Meine Direktheit überraschte
mich selbst. »Fehlt dir etwas?«
»Ja.« Ihre Lippen begannen zu zitt ern, und sie war
kurz davor, in Tränen auszubrechen.
Ich fasste sie an der Schulter. »Hast du ein paar Minuten
Zeit, dass wir miteinander reden können?«
Jackie nickte, und nun liefen ihr die Tränen übers
Gesicht.
Wir gingen nach draußen, suchten uns ein Plätzchen
auf dem Rasen und setzten uns. »Kannst du mir sagen,
was los ist?«, fragte ich.
»Ney«, begann sie, »es klingt vielleicht seltsam, aber
während ich bei ›Explo ’72‹ in der ›Cott on Bowl‹ (einer
Arena, in der die Abendveranstaltungen gehalten
96
wurden) saß und auf die achtzigtausend Leute blickte,
die da waren, gingen mir allerlei Gedanken durch den
Kopf. Wie etwa: ›Woher weiß ich denn, dass es wirklich
einen Gott gibt? Woher weiß ich denn, dass sich all
diese Leute da nicht nur etwas vormachen?‹« Sie hielt
inne und holte tief Lutt .
»Ich schob die Gedanken weg, aber in den folgenden
Tagen tauchten sie immer wieder auf. Je mehr Fragen
ich mir stellte, desto größer wurden meine Zweifel. Jetzt
bin ich so weit, dass ich mir mit gar nichts mehr sicher
bin.«
Jackie setzte sich auf dem Rasen anders hin, sah vor
sich auf den Boden und dann wieder zu mir. »Ein Teil
von mir weiß, dass alles wirklich wahr ist, aber meine
Zweifel bedrücken mich so sehr, dass ich meine, ich könne
nicht glauben. Ich kann einfach nicht glauben.«
Ihre Stimme wurde lauter. »Meine Zweifel scheinen
berechtigt, und nun bin ich mir nicht einmal mehr sicher,
ob ich überhaupt Christ bin. Ich kann nicht mehr
schlafen und nicht mehr essen. Ich habe schon neun
Pfund abgenommen. Manchmal frage ich mich, ob Satan
da seine Hand im Spiel hat. Ich kann nicht glauben,
aber ich möchte es doch … ich kann nicht …« Ihre
Stimme wurde von Schluchzen erstickt. »… ich möchte.
Aber mir ist, als würde ich mir etwas vormachen.« Gemeinsam
schlugen wir einige Bibelstellen über Glauben
nach und besprachen sie. Ich fragte: »Was ist Glauben,
Jackie?«
»Ich denke, nach dem, was du gesagt hast, bedeutet
es ›Gott beim Wort nehmen‹. Aber, Ney, ich weiß nicht
einmal, ob es wirklich einen Gott gibt; wie kann ich ihn
also beim Wort nehmen?«
Nun erklärte ich Jackie, dass in ihr ein geistlicher
Kampf tobte und dass Satan sie in ihrem Verständnis für
97
biblische Wahrheiten blind gemacht hatt e. Es schien angebracht,
an dieser Stelle aufzuhören und zu beten. Ich
betete, Gott möge sie aus der Macht Satans befreien und
ihr die Gnade schenken, wieder an ihn zu glauben. Am
Ende unseres Gesprächs gab ich ihr ein Päckchen mit
Bibelversen und ermutigte sie, über diese Verse nachzudenken.
Wir wollten in Verbindung bleiben.
Am nächsten Tag besuchte mich Jackie im Haus einer
Freundin.
»Ney, seit wir gestern zusammen waren, konnte ich
immer noch nicht schlafen oder essen. Ich weiß nicht,
was ich tun soll.«
»Hast du eine Bibel bei dir?«, fragte ich.
»Ja.«
»Gut, dann schlag 1. Petrus auf. Ich weiß, du sagst,
dass du der Bibel im Augenblick nicht glaubst, aber lass
uns ein paar Minuten lang einfach so tun, als glaubtest
du.«
Ich bat sie, im 5. Kapitel die Verse 6 bis 10 vorzulesen.
Sie begann: »Demütigt euch nun unter die mächtige
Hand Gott es, damit er euch erhöhe zur rechten Zeit.«
»Was sollst du also tun?«, fragte ich. »Mich unter die
mächtige Hand Gott es demütigen.«
»Wie machst du das?«
Sie las weiter: »indem ihr alle eure Sorge auf ihn
wertt ! Denn er ist besorgt für euch.«
»Wie viele Sorgen?«
»Alle.«
»Und warum sollst du das tun?«
Jackies Stimme klang ein ganz klein wenig hoff nungsvoll:
»Weil er für mich sorgt.«
»Ja«, antwortete ich. »Er sorgt für dich. Lies jetzt die
nächste Zeile.«
98
»Seid nüchtern, wacht! Euer Widersacher, der Teufel,
geht umher wie ein brüllender Löwe und sucht, wen er
verschlingen kann.«
»Also, Jackie, wie lautet Gott es Warnung an dich?«
»Ich soll wachsam sein.« »Warum?«
»Weil der Teufel darauf aus ist, mich fertigzumachen.«
»Wer ist der Teufel?« »Er ist mein Widersacher.«
»Gut, lies den nächsten Vers.« »Dem widersteht standhatt
durch den Glauben, da ihr wisst, dass dieselben Leiden
sich an eurer Bruderschatt in der Welt vollziehen!«
»Was befi ehlt dir Gott hier, Jackie?« »Ich soll Satan widerstehen.«
»Wie sollst du ihm widerstehen?« »Durch
den Glauben.« »Was ist Glauben?« »Gott beim Wort nehmen.«
»Und was sagt der Vers weiter?« »… da ihr wisst,
dass dieselben Leiden sich an eurer Bruderschatt in der
Welt vollziehen!« »Jackie, das bedeutet, dass du nicht
allein dastehst. Andere Menschen machen das Gleiche
durch wie du. Es ist einer von Satans Tricks, dass er dich
denken lässt, du seist ganz allein.
Im nächsten Vers verspricht Gott : ›Der Gott aller Gnade
aber, der euch berufen hat zu seiner ewigen Herrlichkeit
in Christus, er selbst wird euch, die ihr eine
kurze Zeit gelitt en habt, vollkommen machen, stärken,
krätt igen, gründen.‹ Was du durchmachst, dauert nicht
ewig.«
Und weiter sagte ich: »Ich möchte dich bitt en, diese
Verse auswendig zu lernen. Und weil es in diesem
ganzen Abschnitt darum geht, dass wir uns für Gott es
Wahrheit anstatt für die Lügen Satans entscheiden sollen,
möchte ich, dass du in deiner Bibel an den Rand
schreibst:
›Entscheide dich für Glauben.‹«
Wir verabschiedeten uns und vereinbarten, uns bald
wieder zu treff en. Einige Tage später trafen wir uns in
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einem Restaurant, und wieder sagte sie: »Ich möchte von
Herzen gerne glauben, aber ich kann nicht.«
»Jackie, dir ist es zur Gewohnheit geworden, die falschen
Dinge zu glauben, nun musst du dich daran gewöhnen,
die richtigen Dinge zu glauben. Du denkst von
dir, du hätt est keinen Glauben, aber du solltest denken:
›Ich fange an, eine neue Gewohnheit zu entwickeln –
nämlich aus Glauben zu leben.‹«
Als wir uns noch einige Male trafen, hatt e ich den
Eindruck, dass wir vorwärts kamen, aber ich war doch
noch sehr besorgt um sie. Als sie ihren Dienst als Mitarbeiterin
von Campus für Christus an der staatlichen
Universität von Oregon antrat, war sie noch immer sehr
schwach im Glauben.
In der darauf folgenden Zeit betete ich weiter für sie
und hielt die Verbindung zu ihr über eine gemeinsame
Freundin aufrecht.
Als ich Jackie dann ein Jahr später wiedersah, war
sie erneut ein Bild sieghatt en Glaubens. Sie teilte mir
einiges von dem mit, was sie gelernt hatt e.
»Was mich schließlich frei machte, war die Erkenntnis,
dass ich in einem geistlichen Kampf stand. Ich erkannte
nach und nach, dass ich eine alte Natur habe,
die Gott feindlich gesinnt und für Zweifel anfällig ist.
Aber ich habe auch eine neue Natur, die auf Gott reagieren
kann.
Ich erkannte auch, dass die Entscheidung ganz bei mir
lag. Mit meinem Willen konnte ich mich dafür entscheiden,
Gott zu glauben und ihn beim Wort zu nehmen,
ganz gleich, was für Gefühle ich hatt e oder was meine
alte Natur mir einreden wollte. Als ich mir angewöhnte,
Gott zu vertrauen, schwanden meine Zweifel.«
Es ist fünf Jahre her, seit ich Jackie zum ersten Mal
traf. Heute tut sie einen Dienst für Gott , wie ich ihn mir
100
für eine junge Frau nicht positiver und fruchtbarer vorstellen
kann. Der erste Satz eines Artikels, der kürzlich
über sie geschrieben wurde, lautete: »Wenn Jackie Hudson
ihre eigene Medienkampagne durchführen würde,
hätt e sie als Autt leber an ihrem Auto: ›Glaubt an Gott ,
und er wird alles für euch tun.‹«
Mitt en in dem geistlichen Kampf um ihr Denken und
ihren Willen kam die Wende, als sie sich für das Vertrauen
in Gott es Wort entschied. Sie vertraute der Verheißung
Gott es, dass der Geist Gott es, der in uns ist, stärker
ist als der Geist der Lüge, von dem die Welt beherrscht
wird (vgl. 1. Johannes 4,4).
Ich war froh, dass sich Jackie den Rat, den sie bekam,
zu Herzen genommen hatt e. Hätt e sie mich aber
ein Jahr früher um Rat gefragt, hätt e ich ihr vielleicht
gar nicht helfen können. Nicht etwa, weil ich nie etwas
von einem »geistlichen Kampf« gehört hatt e, sondern
weil ich die Macht und den Einfl ussbereich Satans stark
unterschätzte.
C.S. Lewis schrieb in einem seiner Bücher: »Wenn Satan
uns dazu bringen kann, dass wir nicht mehr an sein
Vorhandensein glauben, hat er eine wichtige Schlacht
gewonnen, weil sein Wirken dann unerkannt bleibt.«
Obwohl ich an die Existenz Satans glaubte, tat ich
doch ott so, als rechnete ich nicht mit ihm. Es kam mir
total unnötig und fast geschmacklos vor, über ihn zu
reden.
Aber das änderte sich in jenem Sommer, als ich von
Arrowhead Springs nach Dallas zog. Eines Tages war
ich in meinem Schlafzimmer und sprach laut mit Gott .
Ich bat ihn: »Lehre mich beten.« Als ich meine eigenen
Worte hörte, merkte ich, wie vertraut sie klangen.
Ich erinnerte mich, dass vor langer Zeit die Jünger Jesu
ebenso gebetet hatt en. Dann betete ich das Vaterun
101
ser, das ja die Antwort Jesu auf die Bitt e der Jünger gewesen
war.
Ein Satz in dem Gebet – »Und führe uns nicht in Versuchung,
sondern errett e uns von dem Bösen (von der
Person des Bösen)« (Matt häus 6,9-13) – strahlte wie mit
Leuchtschritt vor mir auf. Ich erinnerte mich an ein anderes
Gebet Christi, das in Johannes 17 steht. Jesus betete
zum Vater für die Gläubigen, die nach seiner Himmelfahrt
auf der Erde zurückbleiben sollten.
»Ich bitt e nicht, dass du sie aus der Welt wegnimmst,
sondern dass du sie bewahrst vor dem Bösen!« (Johannes
17,15).
Ich dachte: »Das ist doch interessant, dass diese beiden
Gebete Jesu eins gemeinsam haben: die Bitt e um Errett
ung oder Bewahrung vor dem Bösen, dem Satan.«
Von da an betete ich fast täglich, dass ich vor Satans
Macht bewahrt werden möge. Ich wusste, dass mein Gebet
mit dem Gebet Jesu Christi übereinstimmte, denn er
trat gleichermaßen für mich im Himmel ein.
Als ich mehr und mehr von Satan und seinem Wirken
verstehen lernte, bat ich Gott , mich zu lehren, was
ich über geistlichen Kampf wissen musste. Er wies mich
auf Epheser 6 hin.
»Schließlich: Werdet stark im Herrn und in der Macht
seiner Stärke! Zieht die ganze Waff enrüstung Gott es an,
damit ihr gegen die Listen des Teufels bestehen könnt!
Denn unser Kampf ist nicht gegen Fleisch und Blut, sondern
gegen die Gewalten, gegen die Mächte, gegen die
Weltbeherrscher dieser Finsternis, gegen die geistigen
Mächte der Bosheit in der Himmelswelt. Deshalb ergreitt
die ganze Waff enrüstung Gott es, damit ihr an dem
bösen Tag widerstehen und, wenn ihr alles ausgerichtet
habt, stehen bleiben könnt! So steht nun, eure Lenden
umgürtet mit Wahrheit, bekleidet mit dem Brust
102
panzer der Gerechtigkeit und beschuht an den Füßen
mit der Bereitschatt zur Verkündigung des Evangeliums
des Friedens! Bei alledem ergreitt den Schild des Glaubens,
mit dem ihr alle feurigen Pfeile des Bösen auslöschen
könnt! Nehmt auch den Helm des Heils und
das Schwert des Geistes, das ist Gott es Wort!« (Epheser
6,10-17).
Dieser Abschnitt off enbart einiges über Satan, und
eine der wichtigsten Informationen über ihn ist, dass
er ein Betrüger ist. Wenn jemand betrügt, lässt er etwas
als Wahrheit erscheinen, was keine Wahrheit ist. Gute
Zauberer zum Beispiel beherrschen die Kunst der Täuschung.
Satan wird in diesem Abschnitt als listiger Täuscher
bloßgestellt – verschlagen, geschickt und betrügerisch.
Jesus nannte ihn den »Vater der Lüge« (vgl. Johannes
8,44). Seine Täuschungen nehmen viele Formen
an, und seine Strategien sind von unendlicher Vielfalt.
Manchmal greitt er ganz direkt an; bei anderen Gelegenheiten
geht er listig und verschlagen vor. Aber Paulus
schreibt auch, dass wir mit dem Schild des Glaubens
seine Angriff e abwehren können. Damit können wir all
die »feurigen Pfeile« Satans auslöschen. Was sind das
für »feurige Pfeile«? Und wie können wir »den Schild
des Glaubens ergreifen«, um sie auszulöschen? Wie in
einem Krieg der Gegner im Vorteil ist, wenn er sich tarnen
kann, so ist auch Satan in unserem Leben im Vorteil,
wenn seine Taktiken verborgen bleiben.
Satan rechnet den Zweifel zu seinen mächtigsten
Waff en. Es gibt Tausende von Christen in der Welt, die
– genauso, wie es bei Jackie der Fall war – in Niederlage
und Hoff nungslosigkeit leben. Ihre Kämpfe sind
lediglich darauf zurückzuführen, dass sie aufgehört haben,
Gott zu vertrauen. Sie entscheiden sich lieber dafür,
103
ihren Zweifeln Glauben zu schenken, als Gott es Wort
zu glauben.
Die listigen Täuschungen Satans sind so alt wie die
Welt, aber noch immer wirksam. Im Garten Eden näherte
er sich Eva mit den Worten: »Hat Gott wirklich gesagt
…?« (1. Mose 3,1). Satans Bestreben war es, Evas
Vertrauen, Zuversicht und Glauben an Gott und sein
Wort zu untergraben. Er macht es heute noch genauso.
Und er trägt jedes Mal den Sieg davon, wenn sein »Opfer«
sich nicht dafür entscheidet, an Gott zu glauben, so
wie Jackie es tat.
Eine weitere Taktik Satans ist es, in uns ein Gefühl des
Verdammtseins autt ommen zu lassen. Es hat Zeiten gegeben,
in denen ich mir aus heiterem Himmel plötzlich
verdammt vorkam, ohne wirklichen Grund.
Satan wird in der Schritt »der Verkläger unserer Brüder«
(Off enbarung 12,10) genannt. Wenn er mich mit
dem Gefühl des Verdammtseins überfällt, kann ich seine
Angriff e mit den machtvollen Zusagen Gott es in Römer
8 abwehren.
»Also gibt es jetzt keine Verdammnis für die, die in
Christus Jesus sind. … Was sollen wir nun hierzu sagen?
Wenn Gott für uns ist, wer gegen uns? Er, der doch seinen
eigenen Sohn nicht verschont, sondern ihn für uns
alle hingegeben hat: wie wird er uns mit ihm nicht auch
alles schenken? Wer wird gegen Gott es Auserwählte
Anklage erheben? Gott ist es, der rechtfertigt. Wer ist,
der verdamme? Christus Jesus ist es, der gestorben, ja
noch mehr, der auferweckt, der auch zur Rechten Gottes
ist, der sich auch für uns verwendet« (Römer 8,1.31-
34; Hervorhebung von der Verfasserin).
Wenn ich diesen Abschnitt gelesen habe, bete ich:
»Herr, ich fühle mich verurteilungswürdig, aber ich
entscheide mich dafür zu glauben, was dein Wort sagt.
104
Danke, dass ich von dir nicht verurteilt werde.« Mein
wirksamster Gegenangriff ist immer, wenn ich einfach
bekrätt ige, dass ich an Gott es Wort glaube.
Den zerstörerischsten Einfl uss übt Satan auf uns aus,
wenn er uns das Gefühl gibt, von Gott verlassen zu sein.
Manchmal gab es Zeiten, in denen ich mich sehr verloren
und allein fühlte. Es schien, als kümmerte sich niemand
darum, was ich durchmachte, und als hätt e sogar
Gott mich vergessen. Ott entstand dieses Gefühl, wenn
ich mich in einer Situation befand, die eine große emotionale
Belastung mit sich brachte, und war eine ganz
natürliche Reaktion darauf.
Die Taktik des »Bösen« ist es dann, dieses Gefühl
noch einen Schritt weiterzutreiben – bis ich wirklich anfange
zu glauben, dass sich nicht nur kein Mensch um
mich kümmert, sondern dass mir auch Gott seine Liebe
und Fürsorge entzogen hat bis zu dem Punkt, dass
er mich ganz und gar aufgegeben hat.
Solche Gefühle haben viele Menschen, die das Gleiche
erlebt haben, in verzweifelte, manchmal selbstmörderische
Gedanken getrieben. Wenn ich merke, dass
meine Gedanken in eine solche Richtung umschwenken,
halte ich mich gern an die ermutigenden Worte
aus Römer 8:
»Wer wird uns scheiden von der Liebe Christi? Bedrängnis
oder Angst oder Verfolgung oder Hungersnot
oder Blöße oder Gefahr oder Schwert? Wie geschrie ben
steht: ›Um deinetwillen werden wir getötet den ganzen
Tag; wie Schlachtschafe sind wir gerechnet worden.‹ Aber
in diesem allen sind wir mehr als Überwinder durch den,
der uns geliebt hat. Denn ich bin überzeugt, dass weder
Tod noch Leben, weder Engel noch Gewal ten, weder
Gegenwärtiges noch Zuküntt iges, noch Mäch te, weder
Höhe noch Tiefe, noch irgendein anderes Geschöpf uns
105
wird scheiden können von der Liebe Gott es, die in Christus
Jesus ist, unserem Herrn« (Römer 8,35-39).
Paulus sagt damit, dass uns nichts von Gott es Liebe
trennen kann. Ja, Jesus hat versprochen: »Ich will dich
nicht aufgeben und dich nicht verlassen« (Hebräer 13,5).
Das Wort »nicht« ist zu schwach, um deutlich zu machen,
wie kratt voll diese Zusage ist. Im Original steht
hier ein Wort mit einer dreifachen Verneinung, das man
mit »nie-nie-niemals« übersetzen müsste. Jesus sagte
also eigentlich: »Ich will dich niemals, nein, niemals,
nein, niemals aufgeben oder dich verlassen.«
Ein anderer von Satans »feurigen Pfeilen«, der mit
dem Gefühl, Gott könne einen verlassen haben, eng verwandt
ist, ist ein Gefühl der Wertlosigkeit. Ich hörte einmal
jemanden sagen, Säuglingen würde, solange sie
noch auf dem Arm ihrer Mutt er sind, beständig Liebe
und Aufmerksamkeit entgegengebracht. Man sagt zu
ihnen: »Mein süßer kleiner Schatz, ich hab dich lieb!«
Aber wenn das Kind dann heranwächst, überdecken ott
zahlreiche Erlebnisse der Ablehnung – durch die Familie
und die Welt ringsum – teilweise oder ganz diese positive
Grunderfahrung des Kindes. Das kann zur Folge
haben, dass ein Mensch sich schließlich als Erwachsener
völlig wertlos fühlt.
Ich bin überzeugt, dass Satan alles und jedes Mitt el
nutzt, um unser persönliches Wertgefühl zu untergraben,
wann immer er kann. Er hasst uns, und wenn er uns
dazu bringen kann, dass wir uns selbst auch hassen und
glauben, wir seien wertlos, vor allem für Gott , dann hat
er uns mit Erfolg dahin gebracht, genau das Gegenteil
von dem zu glauben, was Gott es Wort uns sagt.
Manchmal greitt er uns mit diesem »Minderwertigkeitsgefühl«
sofort, nachdem wir gesündigt haben, an.
Gott liebt uns, wie wir sind, aber er ist nicht immer ein
106
verstanden mit dem, was wir tun. Ihm geht es darum,
unser Verhalten zu korrigieren, während Satans Taktik
dar auf zielt, unsere Persönlichkeit, unseren Charakter, zu
zer stören.
Nehmen wir einmal an, Sie hätt en gelogen. Dann
kann Satan sagen: »Du Lügner! Du bist ein elender Lügner,
und das weißt du auch. Du bist überhaupt nichts
wert.« Gott reagiert jedoch so: »Ich liebe dich, aber du
hast nicht die Wahrheit gesagt. Ich habe dich viel zu
lieb, um dich das weiterhin tun zu lassen, darum will
ich dein Verhalten korrigieren.«
Gott liebt uns. Wir sind »teuer und wertvoll« (vgl.
Jesaja 43,4). So unbegreifl ich und schwer verständlich
es auch für uns sein mag, wir sind Gott wirklich ebenso
viel wert wie sein Sohn. Wie eine Ware in einem Geschätt
das wert ist, was dafür bezahlt wird, so sind wir
das wert, was für uns bezahlt wurde. Und wenn wir Gott
so viel wert sind, kann es doch nur der Widersacher sein,
der uns einreden will, wir seien wertlos.
Wenn Satan mich auf diese Weise angreitt , bete ich:
»Herr, ich fühle mich wertlos. Aber ich danke dir, dass
ich dir ebenso viel wert bin wie dein eigener Sohn, der
dir teuer ist.«
Wenn Satan seine Angriff e gegen uns als Einzelne
richtet, ist das nur ein kleiner Teil seines großen Feldzugs,
der zum Ziel hat, das wirksame Funktionieren
des ganzen Leibes Christi lahmzulegen. Und manchmal
merken wir gar nicht, wie uns der »Verkläger unserer
Brüder« einspannt, um für ihn zu arbeiten.
Einer seiner »feurigen Pfeile«, der sich auf die Einheit
unter Christen höchst zerstörerisch auswirkt, ist die negative
Kritik. Da Jesus für unsere Einheit betete, wissen
wir: Wenn Zwietracht zwischen uns gesät wird, kann sie
nicht von Gott kommen, sondern vom Bösen.
107
Wenn wir uns je verletzt fühlten durch Worte, die
andere hinter unserem Rücken über uns gesprochen
haben, wissen wir, wie sehr das wehtun kann. Dieser
Schmerz kann uns aber empfi ndsam machen und davon
abhalten, verletzende Worte über andere zu sagen.
Auch als wir tief in unseren gemeinsamen Schwierigkeiten
steckten, verpfl ichteten Jean und ich uns dazu,
im Gespräch mit anderen nur gut voneinander zu reden.
Es kam vor, dass wir uns wegen unserer Beziehung
zu einander bei anderen Rat holten, aber nur, wenn wir
uns vorher darauf geeinigt hatt en, es zu tun.
In seinem Buch Mein Äußerstes für sein Höchstes
schreibt Oswald Chambers, dass Gott uns Urteilskratt
gegeben hat, damit wir beten können, nicht, damit wir
die Fehler der anderen aufdecken. Weil niemand von
uns vollkommen ist, ist es unvermeidlich, dass wir im
Leben anderer Menschen auf Dinge stoßen, die uns nicht
gefallen oder mit denen wir nicht übereinstimmen. Solche
Feststellungen können richtig sein, aber wenn wir
anfangen, diese Dinge negativ zu betrachten und zu verurteilen,
kann das eine Glaubensniederlage bewirken
und zu Kummer und Verzweifl ung führen.
Wenn wir aber die Dinge, die wir am anderen nur
schwer ertragen können, im Gebet vor Gott bringen,
arbeiten wir mit Gott zusammen und nicht mit Satan.
Wir drücken damit aus, dass wir ihm zutrauen, im Leben
eines Menschen und in schwierigen Situationen das
zu bewirken, was er tun will.
Dann gibt es einen Angriff des Bösen, den ich als
den »feurigen Pfeil des ›Wenn nicht‹« bezeichne. Auch
diese Technik setzte Satan bei Eva im Garten Eden ein,
um sie dazu zu bringen, Gott ungehorsam zu sein und
vom Baum der Erkenntnis des Guten und Bösen zu
essen (vgl. 1. Mose 3,1-5).
108
Sinngemäß sagte er: »Eva, dieser Baum schränkt dich
ein. Wenn dieser Baum nicht wäre, könntest du all das
wissen, was Gott weiß.«
Bis heute benutzt Satan die Taktik, uns einzureden,
wir seien eingeengt – mal von dem einen, mal von dem
anderen. Er geht ganz geschickt vor und fl üstert uns
ein: »Dieser Mensch (Frau, Mann, Kind, Mitbewohner,
Arbeitskollege, Angehöriger, Elternteil usw.) schränkt
dich ein. Wenn er oder sie nicht in deinem Leben wäre,
könnte alles vollkommen sein.«
Als Jean und ich zusammenwohnten, fl üsterte Sa -
tan ott : »Ney, Jean engt dich ein. Wenn sie nicht wäre,
könntest du sehr viel glücklicher sein, und dein Leben
wäre viel schöner.« Hätt e ich Satan geglaubt, dann
hätt e ich angefangen, nach meiner Überzeugung zu handeln,
und ich hätt e auf den Tag hin gelebt, an dem unsere
Wohngemeinschatt zu Ende gegangen wäre.
Doch ich wusste, dass ich über Jean hinweg sehen
und meine Hoff nung auf Gott und sein Wort setzen
muss te. Ein Freund von mir, Don Meredith, sagte
ein mal: »Wir müssen lernen, die Menschen um uns herum
nicht als eine persönliche Einengung zu sehen.«
Im Alten Testament lesen wir, dass Josef von seinen
Brüdern gehasst wurde. Sie warfen ihn in einen Brunnen
und verkautt en ihn in die Sklaverei. Dem äußeren
Anschein nach war er in seinen Lebensmöglichkeiten
erheblich eingeschränkt. Josef hätt e denken können:
»Wenn meine Brüder mir dies nicht angetan hätt en,
wäre ich frei!«
Statt dessen setzte er seine ganze Hoff nung auf Gott ,
der ihm alles zum Besten dienen ließ. Später konnte
Josef sagen, dass seine Brüder ihm zwar Böses hatt en
tun wollen, »Gott aber hatt e beabsichtigt, es zum Guten
zu wenden« (1. Mose 50,20).
109
Nachdem Lazarus gestorben war, kamen seine
Schwes tern Maria und Marta zu Jesus gelaufen. Maria
sagte: »Herr, wenn du hier gewesen wärest, so wäre
mein Bruder nicht gestorben« (Johannes 11,32).
Jesus spricht zu ihr: »Habe ich dir nicht gesagt, wenn
du glaubtest, so würdest du die Herrlichkeit Gott es sehen?«
(Johannes 11,40).
Jesus setzte ihrem »Wenn« sein »Wenn« entgegen. Er
antwortete: »Habe ich dir nicht gesagt, wenn du glaubtest,
so würdest du die Herrlichkeit Gott es sehen?« (Johannes
11,40; Hervorhebung von der Verfasserin). Wenig später
wurde Lazarus von den Toten auferweckt.
Wir müssen jedes »Wenn nicht« in unserem Leben
Gott anvertrauen, ebenso all die Menschen und Lebensumstände,
durch die wir uns eingeschränkt fühlen, weil
er aus allem »Herrlichkeit Gott es« machen kann.
Zweifel, negative Kritik, das Gefühl der Wertlosigkeit,
das »Wenn nicht«, das Gefühl des Verdammtseins
– sie sind nur eine Auswahl aus den zahllosen fi nsteren,
hinterhältigen Anschlägen des Bösen. Satan geht in der
Tat umher »wie ein brüllender Löwe«. Er will uns alle
verschlingen, und ott tut er es, indem er immer wieder
einen »feurigen Pfeil« auf uns abschießt. Wer nicht den
Schild des Glaubens nimmt und gegen ihn hochhält,
wird von der geballten Ladung seiner Angriff e schnell
außer Gefecht gesetzt.
So war es auch bei einem jungen Mädchen, das ich
vor einigen Jahren traf. Ich war an die Ostküste der
USA gefl ogen, um dort mit einigen Mitarbeiterinnen
unserer Bewegung zusammen zu sein. Barbie Leyden,
die mich am Flughafen abholte, kam mir mit den
Worten entgegen: »Ney, ich mache mir wegen Marti
große Sorgen. Sie hat sich sehr verändert. Sie ist total
niedergeschlagen und scheint vom Leben nichts
110
mehr zu erwarten. Könntest du dir für sie etwas Zeit
nehmen?«
Gleich bei der ersten Begegnung mit ihr merkte ich,
dass ihr Wille vollkommen passiv geworden war und
dass sie Gott überhaupt nicht mehr glaubte. Sie erzählte
mir, dass sich ein junger Mann in sie verliebt hätt e, und
sie sei ihm auch von ganzem Herzen zugetan gewesen.
Als sie die Frage, ob sie heiraten sollten, vor Gott brachte,
meinte sie, er hätt e ihr durch bestimmte Bibelstellen
bestätigt, dass sie heiraten würden. Sie hatt e sich auf
diese Bibelverse berufen und ihre Hoff nung, dass sie zusammenkommen
würden, darauf gegründet.
Als sich ihre Beziehung nicht so entwickelte, wie sie
gehott hatt e, verlor sie allen Glauben und alles Vertrauen
in Gott und gab auf. Sie wollte nichts mehr davon
hören. Sie weigerte sich, sich auch nur irgend etwas von
dem zu Herzen zu nehmen, was ich sagte, und im Verlauf
unseres Gesprächs fi ng sie an, sich zu winden wie
ein Aal und machte Bemerkungen, die überhaupt nicht
zum Thema gehörten.
Als unser Gespräch zu Ende war, wusste ich, dass
das, was ich gesagt hatt e, überhaupt nicht zu ihr durchgedrungen
war. Schwer bedrückt begann ich, intensiv
für unser nächstes Zusammensein zu beten. Mir kamen
die Worte aus 2. Timotheus in den Sinn: »Ein Knecht des
Herrn aber soll … gegen alle milde sein, lehrfähig, duldsam,
und die Widersacher in Santt mut zurechtweisen
und hoff en, ob ihnen Gott nicht etwa Buße gebe zur Erkenntnis
der Wahrheit und sie wieder aus dem Fallstrick
des Teufels heraus nüchtern werden, nachdem sie von
ihm gefangen worden sind für seinen Willen« (2. Timotheus
2,24-26). Diese Verse schienen mir etwas zu dieser
Situation zu sagen.
Ich betete: »Vater, ich bitt e dich, dass du Marti Buße
111
schenkst, dass du sie zur Erkenntnis der Wahrheit führst,
und ich bitt e dich, dass sie zur Vernuntt kommt und den
Schlingen des Teufels entgeht, der sie ge fangen hält, damit
sie seinen Willen tut. Vater, schenke doch, dass sie
ihren Willen wieder dir überlässt, dann wird es für sie
neues Licht und neue Hoff nung geben.«
Am nächsten Tag trafen wir uns wieder. Ich sagte ihr,
ich hätt e über sie nachgedacht, seit wir das letzte Mal
miteinander gesprochen hatt en.
»Als du gebetet hast, dass du den jungen Mann heiraten
wolltest«, sagte ich, »und als du Bibelstellen gefunden
hast, die dich darin bestätigten, und es dann doch
nichts wurde, hast du dein Vertrauen zu Gott und zu
seinem Wort verloren, nicht wahr?«
»Das stimmt«, gab sie zu. »Ich glaube, Gott hat mich
im Stich gelassen.«
»Du weißt, Marti, dass es nirgends in der Bibel ei nen
Vers gibt, der sagt: ›Der und der wird mein Mann.‹ Gott
hat dich nicht im Stich gelassen. Du wolltest, dass die
Bibel das sagt, und du hast es aus einigen Versen herausgelesen,
stimmt’s?«
Sie gab es zu.
»Du solltest nicht an Gott und seinem Wort zweifeln,
sondern an manchen Dingen, die du aus seinem Wort
herausliest, die aber gar nicht drinstehen.« Sie meinte,
daran habe sie bisher noch nicht gedacht.
Dann sagte ich ihr, wie gefährlich es sei, wenn unser
Wille passiv wird. »Marti, ich möchte dich sagen hören:
›Ich will aus dieser Sache heraus.‹« Aber wieder schien
sie mir zu entgleiten, als sie anfi ng, unklar und ausweichend
zu sprechen.
Ich las mit ihr den Abschnitt aus 2. Timotheus, an
den Gott mich erinnert hatt e. Während ich die Verse las,
schien sie mir zum ersten Mal richtig zuzuhören und
112
ein klein wenig zu erfassen, wie wichtig das war, was
da mit ihr vor sich ging.
»Ich dachte, Gott würde alles tun, um mich aus diesem
Zustand herauszuholen, aber nun sehe ich, dass
mein Wille aktiv werden muss. Ich dachte, Gott sei dafür
verantwortlich, mich aus meinen negativen Gedanken
und Depressionen herauszuholen, aber ich habe nicht
gewusst, dass ich auch etwas dazu beitragen muss.«
Ich sagte ihr, sie müsse ihr »Sentt orn« an Glauben (Matthäus
17,20) dazu beitragen und sich dafür entscheiden,
auf Gott es Wort zu vertrauen. Da alle ihre Gedanken
sich in eine ganz hoff nungslose Richtung bewegten
und stets damit endeten, dass sie Gott in Frage stellte,
schlug ich vor, sie sollte anfangen, ein Tagebuch zu führen.
Ich ermunterte sie dazu, alle ihre negativen, zweifelnden
Gedanken in diesem Tagebuch zu Papier zu
bringen und dann im Anschluss an ihre Gedankengänge
etwas aus Gott es Wort aufzuschreiben, das direkt etwas
zu den Gefühlen zu sagen hatt e, die sie vorher geäußert
hatt e. Wenn ihre Gedanken sie zum Beispiel zu
der Annahme verleiteten, Gott habe sie verlassen, sollte
sie ihre Tagebuchseite mit den Worten Jesu beschließen:
»Ich will dich nicht aufgeben und dich nicht verlassen«
(Hebräer 13,5).
Ich sagte ihr, ich wüsste, dass sie im tiefsten Grunde
ihres Herzens gern herauskäme aus ihrer Verzweifl ung,
dass sie aber ihren Willen üben müsste. Dann schlug ich
vor, zusammen zu beten.
»Ich habe so ott gebetet, aber es bringt nichts«, sagte
sie.
»Aber ich möchte mich gern an deine Seite stellen«,
gab ich zurück, »und ich möchte deine Last mitt ragen,
indem ich mit dir bete. Du denkst von dir, du hast keinen
Glauben und kannst nicht vertrauen. Ich möchte,
113
dass du jetzt denkst: ›Ich nehme eine neue Gewohnheit
an, ich nehme Gott beim Wort.‹ Lass dir Zeit, diese
neue Gewohnheit zu entwickeln. Ich verspreche dir,
dass ich in den nächsten zwei Monaten jeden Tag für
dich beten werde.«
Dann beteten wir zusammen. Sie sagte Gott , dass
sie ihren Willen ganz dem Unglauben überlassen hatt e
und dass sie ihm nun ihren Willen zurückgeben wollte,
um ihm und seinem Wort zu vertrauen. Ich betete
für sie und ermutigte sie, auch noch andere zu fragen,
ob sie für sie beten würden, denn bis jetzt hatt e sie mit
niemandem über das gesprochen, was sie durchmachte.
Am Abend jenes Tages schrieb ich in mein Tagebuch:
»Ich glaube, dies kann ein Wendepunkt in Martis Leben
werden. Ich bete, dass es einer wird.«
Zwei Tage später rief ich sie an. Sie hatt e gerade über
drei Stunden in der Bibel gelesen, und sie erkannte nach
und nach, wie sie sich in vieler Hinsicht hatt e täuschen
lassen. »Zum Beispiel hatt e ich geglaubt, dass es mit
meinem Leben bergab ginge«, sagte sie, »aber in 2. Korinther
3,18 steht, dass wir ›verwandelt werden in dasselbe
Bild von Herrlichkeit zu Herrlichkeit, wie es vom
Herrn, dem Geist, geschieht‹. Vor allem aber sehe ich
nun, welche Rolle mein Wille dabei spielt, Gott die Möglichkeit
zu geben, mich zu verändern.«
Marti schien dankbar für meinen Anruf, und ich freute
mich, denn ich merkte, wie sie dabei war, es sich zur
Gewohnheit zu machen, Gott zu vertrauen.
Seit unserer Begegnung sind nun vier Jahre vergangen,
und Marti hat nicht nur völlig aus ihrer Verzweiflung
herausgefunden, sondern sie hat auch in den letzten
beiden Jahren im Ausland einen fruchtbaren Dienst
für Gott getan.
114
Marti hatt e entdeckt, wie lebenswichtig es ist, dass
wir unseren Willen im aktiven Gehorsam gegen über
der Wahrheit der Schritt üben, denn Satan schießt immer
wieder feurige Pfeile auf uns ab, um unseren Glauben
zu untergraben. Er kommt immer wieder in unterschiedlichster
Gestalt und sät Zweifel und Unglauben
in unser Herz und unsere Sinne, wo er nur kann.
Aber wir dürfen nicht vergessen, dass er ein überwundener
Feind ist. Christus hat Satan am Kreuz besiegt,
und wenn wir daran denken, dass wir in Christus
sind, können wir vom Sieg her kämpfen.
Der Apostel Paulus wusste um unsere Siegesposi tion.
Er schrieb:
»Er erleuchte die Augen eures Herzens, damit ihr
wisst, was die Hoff nung seiner Berufung, was der Reichtum
der Herrlichkeit seines Erbes in den Heiligen und
was die überragende Größe seiner Kratt an uns, den
Glaubenden, ist, nach der Wirksamkeit der Macht seiner
Stärke. Die hat er in Christus wirksam werden lassen,
indem er ihn aus den Toten auferweckt und zu seiner
Rechten in der Himmelswelt gesetzt hat, hoch über
jede Gewalt und Macht und Kratt und Herrschatt und
jeden Namen, der nicht nur in diesem Zeitalter, sondern
auch in dem zuküntt igen genannt werden wird.
Und alles hat er seinen Füßen unterworfen und ihn als
Haupt über alles der Gemeinde gegeben, die sein Leib
ist, die Fülle dessen, der alles in allen erfüllt« (Epheser
1,18-23).
Auf unserem Weg durch das Leben und in den vielen
Glaubenskämpfen, die es zu bestehen gilt, sollten
wir uns auf unsere rechtmäßige Stellung in Christus berufen.
Vor allem aber müssen wir den Schild des Glaubens
ergreifen, mit dem wir alle feurigen Pfeile des Bösen
auslöschen können.
115
»Fünfundsiebzig Prozent« des Lebens
Es gibt Zeiten im Leben, in denen wir sehr entmutigt
sind, weil wir so viele Prüfungen und Kämpfe zu bestehen
haben. Don Meredith, einer meiner Freunde und
Gründer der Organisation »Christliches Familienleben«,
eines christlichen Seelsorgedienstes in den USA, hat hinsichtlich
solcher Zeiten eine interessante Theorie.
Kürzlich schütt ete ihm seine Sekretärin, Carol Wierman,
ihr Herz aus und brachte all die Probleme und
Schwierigkeiten, denen sie sich ausgesetzt sah, zur Sprache.
Als sie fertig war, meinte Don: »Carol, was Sie mir
da sagen, ist nicht ungewöhnlich. Fünfundsiebzig Prozent
unseres Lebens bestehen aus Kämpfen, Sorgen, Enttäuschungen
und Prüfungen. Mit diesen fünfundsiebzig
Prozent sind wir immer konfrontiert. Sie müssen nur
eines tun: Sie müssen dafür sorgen, dass diese fünfundsiebzig
Prozent Ihres Lebens nicht von Unglauben gekennzeichnet
sind, sondern von Glauben, vom Vertrauen
auf Gott und vom Hoff en auf ihn.«
Dann fügte er fast schelmisch hinzu: »Während der
restlichen fünfundzwanzig Prozent vertrauen Sie Gott
und genießen Sie das Leben!«
Als Carol mir von diesem Gespräch erzählte, dachte
ich, welch große Weisheit Dons Rat doch enthielt. Jesus
selbst sagte, wir müssten in dieser Welt mit Schwierigkeiten
rechnen. Wir lassen uns aber ott dazu verleiten
zu glauben, dass wir keine Probleme haben dürtt en und
dass hinter der nächsten Ecke das Glück wartet.
Ott beherrscht eine »Wenn-dann«-Vorstellung unser
Denken. »Wenn ich erst aus der Schule bin, dann wird
alles gut.«
»Wenn ich verheiratet bin, dann werde ich glücklich
sein.«
116
»Wenn ich diese Schwierigkeit hinter mich bringe,
dann ist alles in Ordnung.« Und so geht es weiter. Aber
meistens kommt alles ganz anders.
Wie Don sagte, ist es nichts Ungewöhnliches für uns,
wenn wir Schwierigkeiten und Kummer zu bestehen haben.
Wir empfi nden den Schmerz, aber wir wissen ott
nicht, wie wir unsere Erfahrung von einem objektiven
Standpunkt aus betrachten sollen. Es ist verständlich,
dass wir zu persönlichen Schwierigkeiten ott nicht den
nötigen Abstand haben können, dass wir es nicht schaffen,
einen Schritt zurückzutreten und von dem neuen
Standpunkt aus zu bewerten, was da vor sich geht. Die
Folge davon ist, dass wir überhaupt keinen Nutzen aus
der Erfahrung ziehen.
Ich habe erkannt, dass es ein ganz realer Bestandteil
des täglichen Glaubenslebens ist zu lernen, die Lebenserfahrung
zu »objektivieren«. Ich habe eine einfache Tabelle
entworfen, mit deren Hilfe ich mir über meine persönlichen
»fünfundsiebzig Prozent« klar werde.
Wenn ich eine bestimmte Situation durchdenken will,
nehme ich mir zuerst einmal ein Blatt Papier und teile
es in vier Abschnitt e ein.
In den ersten Abschnitt schreibe ich alles Gute und Positive,
das ich zu dieser Situation sagen kann. Wenn mein
Problem zum Beispiel mit einem bestimmten Menschen
zusammenhängt, schreibe ich alles auf, was ich an diesem
Menschen schätze.
In den zweiten Abschnitt schreibe ich alle negativen Dinge,
die mir zu der Angelegenheit einfallen; ich führe alles
auf, was mir nicht gefällt. Meistens sind das Dinge,
mit denen ich mich nur schwer einverstanden erklären
kann.
Jemand hat einmal gesagt, schwierige Verhältnisse
und Menschen würden in unserem Herzen die nega
117
tiven Reaktionen nicht hervorbringen, sondern nur enthüllen,
was dort schon vorher vorhanden war. Der Ausspruch:
»Er bringt meine schlimmsten Seiten ans Licht«,
ist gar nicht so verkehrt; »er« lässt diese »schlimmsten
Seiten« in uns nicht erst entstehen, sondern er bringt
sie ans Licht! Ott bin ich mir dieser »schlimmen Seiten«
in meinem Herzen gar nicht bewusst, bis dann etwas
in meinem Leben geschieht, durch das sie off enbar
werden.
In Abschnitt drei schreibe ich meine Reaktionen auf die
Dinge, die ich in Abschnitt zwei erwähnt habe. Ich habe
festgestellt, dass es äußerst wichtig ist, in Bezug auf meine
inneren Reaktionen und äußeren Verhaltensweisen
sehr ehrlich zu sein. In diesem Abschnitt tauchen dann
immer wieder verschiedene Verhaltensmuster auf wie
Hass, Empfi ndlichkeit, Mangel an Vergebungsbereitschatt
oder Ungeduld.
Mein nächster Schritt ist dann, dass ich Gott all das
bekenne, was ich in diesem Abschnitt aufgeschrieben
habe. Ott kommen da Haltungen zutage, die das genaue
Gegenteil zur Frucht des Geistes – Liebe, Freude,
Friede, Langmut, Freundlichkeit, Güte, Treue, Santt mut,
Enthaltsamkeit (Galater 5,22-23) – sind. Dann sage ich:
»Herr, ich stimme dir zu, dass ich im Unrecht bin und
du im Recht bist.«
In Abschnitt vier schreibe ich, was Gott mich off enbar
durch diese Situation lehren will. Zum Beispiel, wenn
ich Hass in meinem Herzen entdecke, wird Gott mich
lehren wollen zu lieben. Wenn ich Ungeduld vorfi nde,
möchte er mich wahrscheinlich Geduld lehren.
Dann nehme ich mir eine biblische Handkonkordanz
oder ein gutes Begriff slexikon zur Bibel her und
suche Bibelverse heraus, die in meine Situation hineinsprechen.
118
Hier ein Muster der Tabelle:
Was mir an … gefällt
Was mir an … nicht gefällt
Meine Empfi ndungen und Reaktionen
Was Gott mich lehren möchte oder Bibelstellen
zu meinem Problem
Wenn ich alle meine Gedanken und Gefühle zu Papier
gebracht habe, danke ich Gott noch einmal für alles,
was ich in Abschnitt zwei und drei aufgeschrieben
habe. Ich tue das, weil ich weiß, dass er mir auch diese
Dinge in meinem Leben zum Besten dienen lässt.
Obwohl ich an meinen Reaktionen, die ich in den dritten
Abschnitt eintrage, immer wieder erkenne, wie weit
ich noch hinter den biblischen Forderungen zurückbleibe,
habe ich doch gelernt, nicht über mich selbst entmutigt
zu sein oder über mich zu Gericht zu sitzen. Auch
wenn mich die Sünde betrübt, die sich in meinem Herzen
fi ndet, verdamme ich mich nicht, weil auch Gott
mich nicht verdammt.
Im Gegenteil: Ich bin frei geworden, meine Sündhaftigkeit
einzugestehen, weil ich weiß: Wenn ich Gott gegenüber
ehrlich bin in Bezug auf das, was in meinem
Herzen ist, habe ich schon den ersten Schritt zu meiner
Sinnesänderung getan.
Dazu hat mich das Büchlein The Practice of the Presence
of God (»Praxis der Gegenwart Gott es«) von Bruder
Lawrence, einem Christen aus dem 17. Jahrhundert,
ermutigt.
Bruder Lawrence hatt e sehr engen Umgang mit Gott .
Wenn er sündigte, hob er seine Hände zum Himmel
empor und sagte zu Gott : »Ich werde mich nie ändern,
wenn du mich mir selbst überlässt.«
1
Er vertraute ganz
1 Brother Lawrence, The Practice of the Presence of God, Fleming H. Revell Co.,
Old Tappan, New Jersey, 1958, S. 16
119
und gar auf Gott , weil er erkannte, dass er Gott es Kratt
brauchte, um ein christliches Leben führen zu können.
Ich habe diese Worte von Bruder Lawrence Gott ott
vorgetragen und zusätzlich gebetet: »Vater, tu du für
mich durch deinen Heiligen Geist, was ich für mich
selbst nicht tun kann.«
Die Bibel war für mich lange Zeit wie ein Gesetz oder
eine Drohung, die über meinem Haupt schwebte und
mich verdammte, weil ich den Maßstäben nicht genügte.
Ich weiß heute, dass Gott es Wort keine Drohung ist,
sondern die Verheißung all dessen, was er durch seinen
Geist in meinem Leben tun will.
Ott habe ich Menschen zu mir sagen hören: »Ney, ich
habe eine bestimmte Sünde immer und immer wieder
bekannt, aber ich habe in dem Bereich keine Fortschritt e
gemacht.« Dann nennen sie meist eine bestimmte Handlung
oder Haltung, wie sie in Abschnitt drei unserer Tabelle
aufgeführt sein könnte.
In der Regel frage ich dann: »Erneuerst du auch deinen
Geist mit einer Bibelstelle, die etwas zu dem zu sagen
hat, was du bekannt hast?« Sehr häufi g sagen mir
die Gesprächspartner dann, sie hätt en noch nie daran
gedacht, das zu tun. Mit anderen Worten: Sie haben
Gott vielleicht ihre »Ungeduld« bekannt, aber sie sind
nicht weitergegangen und haben nicht über einen Bibelabschnitt
, in dem es um Geduld geht, nachgedacht,
um sich in diesem Punkt Gott es Perspektive zu eigen
zu machen.
Da Gott uns bestimmte Sünden in unserem Leben
klar werden lässt, wie etwa die Ungeduld, müssen wir
ihm diese Sünden auch jeweils gesondert bekennen.
Dann müssen wir unsere Gedanken mit einem Abschnitt
aus Gott es Wort füllen, der speziell etwas zu der Sünde
zu sagen hat, die wir Gott bekannt haben. Der Heili
120
ge Geist kann durch diesen Schritt abschnitt in uns wirken
und anfangen, unser Denken so zu erneuern, wie
es Gott gefällt.
Einer der Vorteile der Tabelle ist, dass wir, obwohl wir
uns in Abschnitt zwei auf das konzentrieren, was uns
an einem Menschen oder einer Situation nicht gefällt,
in Abschnitt vier damit abschließen, dass wir selbst die
Verantwortung für unser Verhalten übernehmen und
einen Bibelabschnitt fi nden, der uns unsere Not bewältigen
hiltt . Die Person oder die Situation, die anfangs
wie ein Mühlstein an unserem Hals zu hängen schien,
wird nun zu einem Segen, den Gott gibt, um uns mehr
über sein Wesen zu lehren.
Eine solche Situation erlebte ich im Januar 1977.
Es fi ng damit an, dass Robert Pitt enger, ein enger
Mitarbeiter von Bill Bright, zu uns zum Essen kam und
mich mit den Worten begrüßte: »Ney, ich habe mir
überlegt, dass es gut wäre, wenn du zur Amtseinführung
des Präsidenten nach Washington fahren würdest.
Carol Lawrence (eine bekannte Sängerin und Schauspielerin)
ist von Jimmy Carter gebeten worden zu singen,
und da wir dort als ihre Gastgeber fungieren, wäre es
schön, wenn du hinfahren könntest, um dich um sie zu
kümmern. Ich werde Dr. Bright ein Te lex nach Afrika
schicken und ihn fragen, was er dazu meint.«
Die Sache klang fantastisch, war aber doch ein wenig
weit hergeholt für mich.
»Es ist wirklich lieb von dir, dass du mich da hinschicken
willst, Robert, aber ich weiß nicht … Gott hätte
schon eine Menge zu tun, wenn alle Einzelheiten in
so kurzer Zeit zusammenpassen sollten. In ein paar Tagen
werde ich verreisen, also gehe ich einfach davon
aus, dass ich nicht nach Washington fahre, es sei denn,
ich höre von dir.«
121
Zwei Tage später fl og ich nach Seatt le, um auf einer
Mitarbeiterkonferenz von Campus für Christus zu sprechen,
dann nach Litt le Rock, Arkansas, zu einer weiteren
Konferenz. Ich kam am Spätnachmitt ag in Litt le Rock an
und meldete mich zunächst in meinem Hotel. An der Rezeption
lag eine Mitt eilung für mich, dass ich Dr. Brights
Büro in Arrowhead Springs anrufen sollte.
Ich wählte die Nummer, und Jim Pratt , ebenfalls ein
enger Mitarbeiter von Bill Bright, war am Apparat. »Ney,
Dr. Bright möchte unbedingt, dass du zur Amtseinführung
des Präsidenten fährst.«
»Tatsächlich, Jim?«
»Ja, alles ist geregelt. Du wirst dort erwartet.«
Ich legte den Hörer auf und war wie benommen. Laut
sagte ich zu mir: »Ist das wirklich wahr? Herr, was soll
ich dann anziehen?« Ich hatt e nichts, was für ein so feierliches
Ereignis passend gewesen wäre, und ich hatt e
auch nicht genug Geld, um mir etwas zu kaufen.
Als ich auf der Konferenz an jenem Abend die einleitenden
Worte sprach, gab ich meine Neuigkeit weiter.
Denn normalerweise war ich bei einer Konferenz während
der ganzen Zeit anwesend, dieses Mal aber musste
ich früher weg, zurück nach Dallas und dann weiter
zur Amtseinführung des Präsidenten. Die Konferenzteilnehmer
freuten sich riesig für mich.
Als ich an jenem Abend nach der Versammlung wieder
in mein Hotelzimmer kam, überfi elen mich sorgenvolle
Gedanken darüber, was ich in Washington anziehen
sollte. Als ich im Bett war, setzte ich mich aufrecht
hin, schob mir die Kissen in den Rücken und nahm meine
Bibel zur Hand. Ich war schon so sehr daran gewöhnt,
meine Tabelle zu verwenden, dass ich mich gleich daranmachte.
In Gedanken ging ich die Schritt e durch und
analysierte die Situation mit aller Sorgfalt.
122
Mir gefi el der Gedanke, nach Washington zu gehen.
Mir gefi el nicht, dass ich nicht die richtige Kleidung hatte
und auch kein Geld, sie mir zu kaufen. Meine Reaktion
war, dass ich mir Sorgen machte. Es war mir nicht
bewusst gewesen, in welchem Ausmaß Sorgen und Unglauben
in meinem Herzen schlummerten, bis sie durch
diese Situation enthüllt wurden. Ich bekannte Gott meine
Befürchtungen, und es wurde mir klar, dass Gott
mich Glauben lehren wollte.
Dann fi el mir die Stelle aus der Bergpredigt ein, wo
Jesus über die Sorgen wegen Nahrung und Kleidung
spricht. Ich schlug sie schnell auf und begann zu lesen:
»Deshalb sage ich euch: Seid nicht besorgt für euer
Leben, was ihr essen und was ihr trinken sollt, noch
für euren Leib, was ihr anziehen sollt! Ist nicht das
Leben mehr als die Speise und der Leib mehr als die Kleidung?
… Und warum seid ihr um Kleidung besorgt? Betrachtet
die Lilien des Feldes, wie sie wachsen: sie mühen
sich nicht, auch spinnen sie nicht. Ich sage euch aber,
dass selbst nicht Salomo in all seiner Herrlichkeit bekleidet
war wie eine von diesen. Wenn aber Gott das Gras
des Feldes, das heute steht und morgen in den Ofen geworfen
wird, so kleidet, wird er das nicht viel mehr euch
tun, ihr Kleingläubigen?« (Matt häus 6,25.28-30).
»Herr, ich bekenne, dass ich mir Sorgen darüber mache,
was ich anziehen soll. Aber du sagst hier, dass du
die Lilien und das Gras kleidest und dass du mich nicht
vergessen willst. Ich bekenne meinen Kleinglauben! Ich
möchte dir glauben!«
»So seid nun nicht besorgt, indem ihr sagt: Was sollen
wir essen? Oder: Was sollen wir trinken? Oder: Was
sollen wir anziehen? Denn nach diesem allen trachten
die Nationen; denn euer himmlischer Vater weiß,
dass ihr dies alles benötigt. Trachtet aber zuerst nach
123
dem Reich Gott es und nach seiner Gerechtigkeit! Und
dies alles wird euch hinzugefügt werden« (Matt häus
6,31-33).
»Herr, nach meinem besten Wissen sorge ich mich
vor allem um deine neue Welt und lebe nach deinem
Willen. Aber ich bin so froh, dass du meine Bedürfnisse
kennst und für mich sorgen willst. Du wirst mich mit
allem anderen versorgen. Ich glaube, dass dein Wort
wahrer ist, als ich es im Augenblick empfi nde, und ich
bitt e um deine Versorgung – und ich danke dir für die
Art und Weise, auf der du für mich sorgen wirst.«
Ich machte das Licht aus und kuschelte mich unter
die Decke. Kurz vor dem Einschlafen sang ich Teile aus
einem Lied vor mich hin: »Suchet, so werdet ihr fi nden,
klopfet an, so wird euch aufgetan …« Mir fi el dabei ein,
dass ich anfangen könnte, »zu suchen« und »anzuklopfen«,
wenn ich nach Kleidung fragte, die ich mir vielleicht
leihen konnte.
Am nächsten Morgen merkte ich, dass ich noch über
eine kleine Summe einen Scheck einlösen musste, um
meine Heimreise bezahlen zu können. Meine Freundin
Carol Wierman war Kassenwart auf der Konferenz und
bot mir an, den Scheck für mich einzulösen.
Als ich gerade hinten in einem Raum saß, um einem
Vortrag zuzuhören, brachte sie mir das Geld. Sie hockte
sich neben meinen Stuhl hin, gab mir außer meinem
Geld noch zwei Zehndollarscheine und fl üsterte mir
zu: »Hier, Ney, für irgendwas, was du für deine Reise
brauchen kannst.«
Ich gab ihr die zwei Scheine zurück und protestierte:
»Carol, das ist sehr lieb von dir, aber ich kann es nicht
annehmen!«
Sofort drückte sie mir das Geld wieder in die Hand.
»Ney, ich möchte, dass du es annimmst. Ich glaube, Gott
124
will, dass ich es dir gebe.« Carol ging weg, und ich saß
da, mit einem Kloß im Hals und zwei Zehn-Dollar-Scheinen
im Schoß.
Am gleichen Tag gab mir Ann Parkinson, eine andere
Freundin, die an der Konferenz teilnahm, ein Briefchen.
Mir blieb der Mund off en stehen, als beim Auff alten
des Blatt es dreißig Dollar herausfi elen.
Ich hatt e den Brief noch in der Hand, als Don Meredith,
der Konferenzredner, auf mich zukam und sagte:
»Na, hast du schon deine Einkäufe gemacht für die Amtseinführung
des Präsidenten?«
»Nein, Don, ich wollte mir eigentlich nichts kaufen.
Ich dachte, ich könnte mir etwas leihen.«
Er war schockiert. »Ich will nicht, dass du dir etwas
leihst. Du sollst dich für diesen Anlass ganz neu einkleiden.
Darf dir die Organisation ›Christliches Familienleben‹
150 Dollar schenken?« Ehe ich noch antworten
konnte, hatt e er sein Scheckbuch herausgezogen und
stellte mir über diese Summe einen Scheck aus. Ich war
sprachlos!
Spät am Abend saß ich in meinem Hotelzimmer, hatt e
den Kopf in die Hände gestützt und blickte auf die drei
Zehn-Dollar-Scheine, den Zwanzig-Dollar-Schein und
den Scheck über 150 Dollar, die vor mir lagen. Ich lobte
Gott angesichts dieses Geldes, das er mir als direkte
Antwort auf meine Bedürfnisse geschenkt hatt e, keine
vierundzwanzig Stunden nach meinem Gebet. Ich war
ganz überwältigt vor Freude.
Sofort rief ich eine Freundin an, um ihr mitzuteilen,
was Gott für mich getan hatt e, damit sie sich mit mir
freuen konnte. Nachdem ich alles erzählt hatt e, sagte
sie: »Ich möchte zu dem, was Gott dir gegeben hat, noch
fünfundzwanzig Dollar dazugeben.«
Und es sollte noch mehr werden.
125
Ich verließ Litt le Rock am Sonntag und wollte in Dallas
Station machen. Meine Mitbewohnerin Mary Graham
und ich waren für den Abend zur Einweihungsfeier
einer Gemeinde eingeladen.
Ich traf mich mit Mary am Flugplatz. Als wir bei der
Gemeinde ankamen, entdeckte uns eine meiner Freundinnen,
Ann West, und kam auf uns zugestürzt.
»Ney, was machst du denn in Dallas?«
»Annie, du wirst es nicht glauben, aber ich bin auf
dem Weg zur Amtseinführung des Präsidenten.«
»Tatsächlich? Das ist ja großartig. Was ziehst du denn
an?«
»Wie komisch, dass du danach fragst. Ich will mir
morgen was kaufen. Und Ann Parkinson hat mir vorgeschlagen,
ich sollte eine ihrer Freundinnen anrufen und
mir von ihr ein paar lange Kleider leihen.«
»Das brauchst du nicht! Ich habe einige Sachen, die
kannst du bestimmt tragen. Komm doch heute Abend
mit zu mir.«
Um Mitt ernacht war ich damit beschätt igt, Anns
Schrank durchzusehen und schwarze Samtröcke und
zau berhatt e Abendkleider anzuprobieren. Als Mary
und ich etwas später Anns Wohnung verließen, hatt e
ich zwei elegante Roben, die für jede Abendveranstaltung
in Washington geeignet waren.
Am nächsten Tag kautt e ich von dem Geld, das ich
wäh rend der Konferenz in Litt le Rock erhalten hatt e, eine
wunderschöne füntt eilige Kombination mit Rock und
Hose in einem exklusiven Konfektionshaus in Dallas.
Die Dame, die mir die Hose absteckte, staunte, als
ich sagte: »Wissen Sie, das ist das Teuerste, was ich mir
je an Kleidung gekautt habe.«
»Is ja wohl nich möglich«, meinte sie stark dialektgefärbt
und sah verwundert auf.
126
»Doch, wirklich!«
»Ja, und, wie kommt’s?«, fragte sie. »Wohin soll’s
denn gehen?«
»Wollen Sie das wirklich genau wissen?« »Klar, sagen
Sie schon!«
Ich erzählte ihr von meiner Einladung, dass ich erst
nichts anzuziehen hatt e und wie Gott dann so wunderbar
für mich gesorgt hatt e. Mit Ehrfurcht in der Stimme
sagte sie: »Seit sieben Jahren bin ich hier Abteilungsleiterin;
ich hab das noch nie getan, und ich tu’s auch nie
wieder, aber weil Sie mir diese Geschichte erzählt haben,
mach ich die Änderung umsonst.« Und sie machte
die Änderung nicht nur umsonst, sie machte sie auch
innerhalb von zwei Stunden, obwohl man normalerweise
einige Tage darauf warten muss.
Als ich an jenem Abend für Washington packte, betrachtete
ich meine Kleidung: zwei wunderschöne lange
Kleider, die neue Kombination, eine neue Hand tasche,
neue Schuhe und neuer Modeschmuck. Gott hatt e überreichlich
geschenkt, »mehr, als wir erbitt en oder erdenken«
können (Epheser 3,20).
Am nächsten Morgen brachte mich Mary zum Flughafen
von Dallas. Als ich auf den Aufruf für meine Maschine
wartete, war ich ein wenig besorgt wegen der
neuen und ganz anderen Situation, mit der ich in den
nächsten Tagen konfrontiert sein würde. Ich holte meine
Bibel heraus und schlug Matt häus 6 auf. Der letzte
Vers des Kapitels sprach mich besonders an:
»So seid nun nicht besorgt um den morgigen Tag!
Denn der morgige Tag wird für sich selbst sorgen. Jeder
Tag hat an seinem Übel genug« (Matt häus 6,34).
Ich betete still für mich: »Herr, ich danke dir noch
einmal dafür, dass du so wunderbar für mich gesorgt
hast. Danke für diese Gelegenheit, nach Washington
127
zu gehen. Jetzt will ich mich dafür entscheiden zu
glauben, dass der morgige Tag für sich selber sorgen
wird …, dass du für mich sorgen wirst …, ich weiß
noch nicht, was morgen sein wird, aber ich danke dir,
dass deine Gnade genügen wird, wenn der morgige
Tag kommt.«
Die Passagiere wurden aufgerufen. Im Flugzeug setzte
sich ein vornehmes Ehepaar neben mich, das ebenfalls
zur Amtseinführung fl og. Der Mann hatt e viele
Amtsbezeichnungen, unter anderem war er der ehemalige
Leiter des Amts für indianische Angelegenheiten.
Als das Flugzeug landete, hatt e ich eine Einladung, als
Gast des Paares den Amtseinführungsball der Indianer
Amerikas zu besuchen!
Robert Pitt enger, der als Erster von der Möglichkeit
gesprochen hatt e, dass ich zur Amtseinführung des Präsidenten
fahren sollte, holte mich in Washington am National
Airport ab.
»Ney, der Manager von Carol Lawrence hat gerade
angerufen und gesagt, sie sei krank und könne nicht
kommen.«
»Macht nichts, Robert. Gott hat sich bei dieser Reise
schon selbst übertroff en. Ich weiß, dass mein Hiersein
einen Grund hat.«
Der Segen Gott es zeigte sich auf dieser Reise auf vielfältige
Weise. Ich fand viele neue Freunde, besich tigte
das Weiße Haus und das Parlamentsgebäude, ging zum
Ball der Indianer und sah die Hauptstadt im festlichen
Glanz.
Und ich hatt e einige wichtige Glaubenslektionen neu
gelernt während jener aufregenden Vorbereitungstage.
Ich glaube, meine Einstellung der Amtseinführung gegenüber
wurde in dem Moment anders, als ich meine
Angst erkannte und mich bewusst darauf konzentrierte,
128
einen Bibelabschnitt zu fi nden, der mir in meiner Not
etwas zu sagen hatt e.
Ich war besorgt und brauchte etwas anzuziehen. Ich
hätt e dabei stehen bleiben und mir weiterhin Sorgen
machen können – in der Vergangenheit war das ott der
Fall gewesen. Aber weil ich gelernt hatt e, die Umstände
in meinem Leben objektiv zu betrachten, konnte ich
meine Lage so sehen, wie Gott sie sah.
Als ich Matt häus 6 las, erneuerte ich mein Denken
durch Gott es Wort und war deshalb in der Lage, die Situation
aus seinem Blickwinkel zu sehen. Ich sprach
ehrlich mit ihm über meine Gefühle, aber ich entschied
mich dafür, nicht meinen Gefühlen, sondern seinem
Wort zu glauben. Ich hielt mich an seine Verheißungen,
dass er sich um meine Bedürfnisse kümmern würde, als
ich noch längst nicht das Gefühl hatt e, für meine Bedürfnisse
würde gesorgt werden.
Die Schwierigkeiten, die wir immer wieder zu bestehen
haben, sind unterschiedlicher Art und reichen
von den kleinen Nöten des Alltags bis hin zu großen
Konfl ikten. Ob wir es mit dem normalen »Auf und Ab«
des Lebens zu tun haben oder mit dem Schwersten, das
uns je begegnet ist, wir sollten nicht vergessen, dass
uns unsere »fünfundsiebzig Prozent« das ganze Leben
hindurch erhalten bleiben. Aber diese Schwierigkeiten
können sich als die größten Segnungen Gott es für uns
erweisen, wenn wir unsere Erfahrungen objektiv betrachten
lernen und mitt en in ihnen Gott vertrauen.
129
Versagen und Vergebung
Es gibt Zeiten, in denen ich so eng mit Gott lebe und so
zufrieden bin, dass ich denke: »Jetzt will ich mein ganzes
Leben lang nichts anderes mehr tun, als ihn zu lieben,
ihm zu dienen und ihm zu gefallen. Endlich führe
ich ein richtiges Christenleben, endlich lebe ich sieghatt .
Von jetzt an wird alles gut gehen.«
Aber kaum denke ich, dass ich es jetzt geschatt habe
und nie mehr versagen werde, überrasche ich mich
selbst. Ich versage.
Und weil ich überrascht bin, neige ich dann wohl zu
der Ansicht, Gott müsste auch überrascht sein.
Ich weiß noch, dass ich einmal in einer Weise versagte,
wie ich nie wieder versagen möchte. Ich war danach
schrecklich deprimiert und verzweifelt und fragte mich,
wie ein so sündiger Mensch wie ich überhaupt in den
hauptamtlichen christlichen Dienst geraten konnte.
Damals wohnten Jean und ich zusammen, und sie
merkte, dass ich sehr verzweifelt war.
Mitfühlend sagte sie: »Ney, Gott ist nicht überrascht,
dass du versagt hast.«
Ich konnte das kaum glauben und rief: »Wirklich
nicht?«
Als wollte sie mir diese Wahrheit einhämmern, wiederholte
Jean: »Nein, Gott ist nicht überrascht, dass du
versagt hast.«
»Ja, Jean, aber manchmal wünschte ich, ich könnte
vollkommen sein. Ich möchte nicht sündigen, aber ich
kann mein Maß der Vollkommenheit einfach nicht erreichen.
Ich bin sehr entmutigt, weil ich wieder versagt
habe.«
»Ich verstehe schon, was du empfi ndest, Ney. Weißt
du, es ist interessant, aber zu dem Zeitpunkt, in dem wir
130
Christus annehmen, wissen wir, dass wir vollkommen
geliebt werden und dass er uns ganz vergeben hat. Aber
wenn wir dann in unserem Leben als Christen wachsen,
kann sich das ändern.
Vielleicht fangen wir an, uns mit Leuten zu vergleichen,
die geistlich reifer sind; oder wir messen uns an
den Maßstäben einer Organisation, der wir angehören;
oder aber am Maßstab der Bibel. Und wenn wir dann
einem dieser Maßstäbe nicht entsprechen, fangen wir
an, uns selbst zu verdammen.
Wenn wir das tun, haben wir ganz vergessen, dass
es Gott ist, der unseren Glauben wachsen lässt (vgl. 1.
Korinther 3,6-7).
Ganz gleich, an welchem Punkt des Wachstums wir
uns als Christen befi nden, wir sind noch immer in Gottes
Zeitplan. Gott liebt und akzeptiert uns noch immer
vollkommen. Er ist gar nicht überrascht darüber, dass
wir dort sind, wo wir sind.«
Ich hörte sehr interessiert zu, als sie weitersprach.
»Nun kann sich eine große Klutt autt un zwischen
dem Punkt, an dem wir sind, und dem, an dem wir sein
möchten; zwischen der Wunschvorstellung, die wir davon
haben, wo wir im Glauben sein sollten, und dem
Punkt, an dem wir uns tatsächlich befi nden. Und nun
fangen wir an, diese Klutt aus eigener Kratt zu überbrücken.
Wir versuchen durch eigene Anstrengung, also auf
fl eischliche Weise, Wachstum zustande zu bringen, und
wir vergessen ganz, dass wir Gott und seine Wege suchen
sollen und dass es sein Geist ist, der dann das
Wachstum in uns wirkt.«
Ich hatt e angefangen, mir einzureden, dass Gott mich
annahm, wenn ich gehorsam war und in meinem Christenleben
alles gut ging. Aber ich konnte nicht einsehen,
131
dass Gott mich auch liebte und akzeptierte, wenn ich
Fehler machte und versagte, wenn ich eine geistliche
Bauchlandung hinlegte und das Leben wegen meiner
Fehler düster und problematisch aussah.
Während Jean mit mir redete, spürte ich zum ersten
Mal seit vielen Tagen eine innere Erleichterung. Was
sie sagte, hatt e Hand und Fuß, und es half mir, alles
mit Gott es Augen zu sehen. Mir wurde langsam klar,
dass ich zwar versagt hatt e, dass aber Gott mich deshalb
nicht aufgab.
Es wurde mir wieder bewusst, dass Gott mich liebt
und akzeptiert, ganz gleich, wie ich mich verhalte, und
das ermutigte mich über alle Maßen, mein Leben wieder
in jeder Hinsicht nach seinem Wort auszurichten.
Und obwohl Vergebung heißt, eine Schuld so auszulöschen,
als sei sie nie geschehen, wusste ich, dass das nicht
bedeutete, einen Freibrief zu haben, um absichtlich zu
sündigen und eigenen Wegen nachzugehen. Vielmehr
wurde ich dadurch nur darin bestärkt, Gott in allen Bereichen
meines Lebens noch mehr zu gefallen.
Ich erkannte, dass ich Frieden und Rechtfertigung in
meinem Inneren nicht fi nden konnte, wenn ich nur auf
mein Verhalten und meine Verdienste achtete. Aber ich
konnte auf das sehen, was Gott über mich sagte, auf meine
Vergebung, meine Stellung und mein Angenommensein
in Christus. Ich konnte mich willentlich entscheiden,
daran zu glauben, und so Frieden fi nden.
Paulus schrieb: »Da wir nun gerechtfertigt worden
sind aus Glauben, so haben wir Frieden mit Gott durch
unseren Herrn Jesus Christus« (Römer 5,1). Meine Stellung
in Christus blieb unverändert; mein täglicher Zustand,
mein Verhalten und mein Tun, war das, was sich
änderte.
Die, die ihr Vertrauen auf Christus setzen, sind nicht
132
auf Probe angenommen. Gott weiß, dass wir nicht Christen
sind, die zu einem bestimmten Zeitpunkt Menschen
wurden, sondern dass wir Menschen sind, die zu einem
bestimmten Zeitpunkt Christen wurden. Schon bevor er
seine Liebe, Barmherzigkeit und Gnade so reichlich über
uns ausgoss, kannte er unsere Schwächen und Fehler.
Mir wurde klar, dass ich gar nichts tun konnte, um
mein »Image« vor Gott zu verbessern, damit er mich
mehr liebte. Christus war ja für mich gestorben, als ich
noch ein hilfl oser, gott loser, sündhatt er Feind war. Er
liebte mich damals ebenso sehr, wie er mich immer geliebt
hat und immer lieben wird (vgl. Römer 5,6-10).
Jesus sagte: »Wie der Vater mich geliebt hat, habe
auch ich euch geliebt« (Johannes 15,9). Wie Gott seine
Liebe Jesus nicht entzieht, so entzieht er auch mir seine
Liebe nicht. Er hat einen ewigen Bund mit mir geschlossen,
der nie gebrochen wird.
Woher weiß ich, dass Gott mir und meinem Versagen
gegenüber verständnisvoll, barmherzig und voller Vergebung
ist? Ich kann es am Beispiel Jesu sehen.
Der Dienst Christi während seines Erdenlebens war
gekennzeichnet von Vergebungsbereitschatt und Erbarmen:
Er sprach die Ehebrecherin von ihrer Sünde
los in Gegenwart derer, die drauf und dran waren, sie
zu steinigen; die religiösen Führer seiner Zeit warfen
ihm Gott eslästerung vor, weil er sich die Vollmacht
anmaßte, Sünden zu vergeben; sogar als er bereits am
Kreuz hing, sprach er dem Verbrecher, der mit ihm gekreuzigt
wurde, noch das ewige Leben zu. Jesus sagte:
»Wer mich gesehen hat, hat den Vater gesehen« (Johannes
14,9). Jesus machte Gott es Vergebung deutlich
und sichtbar.
Von den vielen Begebenheiten, bei denen Jesus Menschen
Vergebung schenkte, ist für mich eine der ermu
133
tigendsten die, wie Jesus mit Petrus umging, als er versagt
hatt e.
Simon Petrus war einer der ersten Jünger, die der Herr
er wählte. In vielen Szenen wird Petrus in seiner ganzen
Begeisterungsfähigkeit und Aufrichtigkeit geschildert.
Er war freigebig, rücksichtsvoll, treu und entschlossen,
Christus zur Seite zu stehen. Er bewies starken Glauben,
sprach von Herzen die Wahrheit und sagte, was er
dachte. Petrus war einer der engsten Freunde Jesu während
seines Erdenlebens, und er liebte seinen Herrn von
ganzem Herzen.
Doch kam die Hingabe von Petrus an Christus wohl
nie deutlicher zum Ausdruck als bei der letzten Passahfeier.
Als Jesus seine Jünger um sich sammelte, um
ihnen zu sagen, was die nächsten Stunden und Tage
bringen sollten, wandte er seine Aufmerksamkeit besonders
Petrus zu.
»Simon, Simon! Siehe, der Satan hat euer begehrt,
euch zu sichten wie den Weizen. Ich aber habe für dich
gebetet, dass dein Glaube nicht autt öre. Und wenn du
einst zurückgekehrt bist, so stärke deine Brüder! Er aber
sprach zu ihm: Herr, mit dir bin ich bereit, auch ins Gefängnis
und in den Tod zu gehen. Er aber sprach: Ich
sage dir, Petrus, der Hahn wird heute nicht krähen, ehe
du dreimal geleugnet hast, dass du mich kennst« (Lukas
22,31-34; vgl. Matt häus 26,35). Petrus konnte sich nicht
vorstellen, dass er Jesus je verlassen könnte, und auch
als dieser ihm sagte, Petrus werde ihn in Kürze verleugnen,
weigerte sich Petrus zu glauben, dass er jemals zu
so etwas fähig wäre.
Und dann kam der Augenblick, den Petrus sich nicht
hatt e vorstellen können. Die Stunden, die auf die Passahfeier
folgten, waren für alle wie ein Albtraum gewesen.
Petrus war mit Christus zum Garten Gethse
134
mane gegangen und hatt e dort den Verrat des Judas
miterlebt. Und genau an diesem Ort zog Petrus voller
Verzweifl ung über den Verrat und die ungerechte Verhatt
ung Christi durch die römischen Behörden impulsiv
sein Schwert und schlug einem Sklaven des Hohenpriesters
ein Ohr ab.
Lukas berichtet über die Ereignisse, die auf die Festnahme
Jesu folgten:
»Sie ergriff en ihn aber und führten ihn hin und brachten
ihn in das Haus des Hohenpriesters. Petrus aber folgte
von weitem. Als sie aber mitt en im Hof ein Feuer angezündet
und sich zusammengesetzt hatt en, setzte sich
Petrus in ihre Mitt e. Es sah ihn aber eine Magd bei dem
Feuer sitzen und blickte ihn scharf an und sprach: Auch
dieser war mit ihm. Er aber leugnete und sagte: Frau, ich
kenne ihn nicht. Und kurz danach sah ihn ein anderer
und sprach: Auch du bist einer von ihnen. Petrus aber
sprach: Mensch, ich bin‘s nicht. Und nach Verlauf von
etwa einer Stunde behauptete ein anderer und sagte: In
Wahrheit, auch dieser war mit ihm, denn er ist auch ein
Galiläer. Petrus aber sprach: Mensch, ich weiß nicht, was
du sagst. Und sogleich, während er noch redete, krähte
ein Hahn. Und der Herr wandte sich um und blickte
Petrus an; und Petrus gedachte an das Wort des Herrn,
wie er zu ihm sagte: Bevor ein Hahn heute kräht, wirst
du mich dreimal verleugnen. Und Petrus ging hinaus
und weinte bitt erlich« (Lukas 22,54-62; Hervorhebungen
von der Verfasserin).
Jesus war nicht überrascht, als Petrus versagte. Er hatte
sogar vorher schon für seinen Jünger gebetet, dass er
seinen Glauben nicht verlieren möge. Wir sollten beachten,
dass Jesus nicht darum bat, dass Petrus nicht versagen
solle, sondern darum, dass der Glaube von Petrus
nicht versagte.
135
Ich glaube, Christus wollte damit sagen, wenn Petrus
versagte, dann sollte er dennoch weiterhin glauben, dass
er geliebt wurde und dass ihm vergeben war. Kurz gesagt
gab Jesus ihm zu verstehen: »Ganz gleich, was ge schieht,
Petrus, ich will, dass du an das glaubst, was ich dir gesagt
habe; ich will, dass du mich bei meinem Wort nimmst,
dass ich dich liebe …, dass ich dir vergeben habe.«
Christi Vergebung zeigte sich erneut am Auferstehungsmorgen.
Maria Magdalena und zwei weitere trauernde
Frauen, die dem Herrn nachgefolgt waren, hatten
soeben das leere Grab gefunden. Das heißt, es war
nicht leer, sondern ein Engel saß darin, der darauf wartete,
ihnen die Botschatt zu bringen, dass ihr Erlöser
auferstanden war.
Von jeher liebe ich die Worte des Engels:
»Er ist auferstanden, er ist nicht hier. Siehe da die
Stätt e, wo sie ihn hingelegt hatt en. Aber geht hin, sagt
sei nen Jüngern und Petrus, dass er euch nach Galiläa
voraus geht!« (Markus 16,6-7; Hervorhebung von der
Ver fas se rin).
Es scheint, als ob sich der Herr hier besonders um
Pe trus besorgt zeigte. Als Petrus die Nachricht von der
Auf erstehung hörte, rannte er buchstäblich zum Grab,
um mit eigenen Augen zu sehen, dass Jesus auferstanden
war.
Christus erschien nach seiner Auferstehung, in jenen
vierzig Tagen bis zu seiner Himmelfahrt, wiederholt
denen, die ihm nachgefolgt waren. Eine dieser Begegnungen
wirtt noch mehr Licht auf seine Vergebung
für Petrus.
Eines Tages fuhren Petrus und die anderen Jünger
zum Fischen auf den See Genezareth hinaus, hatt en aber
keinen Erfolg. Sie arbeiteten die ganze Nacht hindurch,
ohne etwas zu fangen.
136
Bei Tagesanbruch erschien Jesus am Ufer und rief ihnen
zu: »Kinder, habt ihr wohl etwas zu essen?«
Die Jünger, die ihn nicht erkannten, antworteten:
»Nein.« Nun wies Jesus sie an: »Wertt das Netz auf der
rechten Seite des Bootes aus! Und ihr werdet fi nden.«
Die Jünger warfen das Netz aus und fi ngen so viele
Fische, dass die Männer, unter denen immerhin mehrere
Berufsfi scher waren, das Netz nicht einholen konnten.
Da sagte Johannes zu Petrus: »Es ist der Herr!«
Und als Petrus diese Worte hörte, warf er sich in den
See und schwamm so schnell er konnte, um Jesus am
Ufer zu erreichen (vgl. Johannes 21,1-7).
Wenn Petrus nicht gewusst hätt e, dass ihm sein
Versagen vergeben worden war und er vom Herrn noch
immer geliebt wurde, wäre er dann wohl vor lauter
Verlangen, Jesus zu sehen, aus dem Boot gesprungen?
Höchstwahrscheinlich hätt e er sich mit den Netzen
zugedeckt und tief unten im Boot versteckt. Wenn dann
die Jünger ans Ufer gekommen wären und Jesus sie gefragt
hätt e: »Wo ist Petrus?«, hätt en sie geantwortet:
»Herr, er fürchtet sich vor dir. Er will dich nicht sehen,
weil er weiß, wie zornig du über ihn bist.«
Aber Petrus war von der Liebe und Vergebung Jesu
so überzeugt, dass er, sobald er Jesus am Ufer entdeckt
hatt e, alles daransetzte, um so schnell wie möglich zu
ihm zu gelangen.
Petrus war etwa drei Jahre lang Tag und Nacht mit
seinem Herrn zusammen gewesen. Er hatt e gehört, wie
Christus Vergebung lehrte; er hatt e gesehen, wie Jesus
anderen vergeben hatt e. Er mag sogar gehört haben,
wie Christus am Kreuz für jene um Vergebung schrie,
die ihn kreuzigten: »Vater, vergib ihnen! Denn sie wissen
nicht, was sie tun« (Lukas 23,34).
137
Nun hatt e Petrus Gelegenheit, die Vergebung Jesu
für sich selbst in Anspruch zu nehmen. Jesus hatt e gebetet,
dass der Glaube von Petrus nicht autt ören möge.
Und mitt en in jener schrecklichen Nacht vor der Kreuzigung
gelang es diesem Jünger mit seinem gebrochenen
Herzen, sich an die Worte seines Herrn zu erinnern und
sich ihm wieder zuzuwenden in dem Glauben, dass er
noch immer geliebt wurde und ihm trotz allem vergeben
worden war.
Petrus muss auch gelernt haben, wie allumfassend
Christi Liebe ist, diese Liebe, die das Böse, das ihr zugefügt
wird, nicht nachträgt (vgl. 1. Korinther 13,5). Jesus
warf Petrus sein Versagen nicht vor. Die Bibel berichtet
nichts davon, dass Jesus nach der Passahfeier die Verleugnungen
jemals erwähnt hätt e – eine wunderbare Erfüllung
der Verheißung Gott es, dass er unsere Schuld so
weit von uns fortwerfen will, wie der Osten vom Westen
entfernt liegt (Psalm 103,12), und dass er nicht mehr an
unsere Sünden denken will (Jeremia 31,34).
In lebhatt em Gegensatz dazu versucht Satan, unser
Versagen nach allen Regeln der Kunst auszuschlachten.
Er nutzt jede Gelegenheit, um in seine Rolle als »Verkläger
der Brüder« zu schlüpfen und uns denken zu lassen:
»Ich tauge wirklich gar nichts …, ich bin einfach
nicht ›geistlich‹ genug …, ich weiß nicht genug …, ich
tue nicht genug für Gott …«
Aber Jesus Christus rechtfertigt uns und nimmt uns
an und kann sogar noch unser Versagen zu seiner Verherrlichung
gebrauchen. In dem Buch Principles of Spiritual
Growth (»Grundlagen für das Wachstum im Glauben«)
wird berichtet, J.C. Metcalfe habe gesagt:
»Ohne die bitt ere Erfahrung unserer eigenen Unzulänglichkeit
und Armut sind wir ganz unfähig, die
Last eines geistlichen Dienstes zu tragen. Man muss das
138
Ausmaß der eigenen Schwachheit erkannt haben, um
mit den Unzulänglichkeiten anderer geduldig sein zu
können.
Wer das gelernt hat, kennt auch aus erster Hand die
liebevolle Fürsorge des guten Hirten und seine Fähigkeit,
jeden zu heilen, der demütig ihm und nur ihm allein
vertraut. Darum verzweifelt er nicht so leicht an
anderen, sondern schaut über Sündhatt igkeit, Eigenwilligkeit
und Dummheit hinweg auf die Macht der unwandelbaren
Liebe.
Der Herr Jesus gibt den Autt rag: ›Weide meine Lämmer
…, weide meine Schafe‹ nicht auf die selbstbewusste
Versicherung von Petrus hin, er werde ihm immer treu
bleiben, sondern er erteilt diesen Autt rag, nachdem Petrus
völlig versagt hat, sein Versprechen gebrochen und
in den Straßen von Jerusalem bitt erlich geweint hat.«
2
Ich habe mich ott in die Lage von Petrus versetzt,
und ich kann sehr gut all das nachfühlen, was er durchmachte:
wie er Jesus von ferne sah, wie er ihn verleugnete
und sich dann fragte, ob Gott ihn überhaupt noch
lieben und gebrauchen könnte. Genauso ging es mir bei
dem Erlebnis, von dem ich am Anfang sprach, als ich so
sehr in meinem Glauben versagt hatt e. Ich fragte mich,
ob Gott mich noch liebte und ob er mich je wieder gebrauchen
könnte.
Aber als ich über Gott es vollkommene Liebe zu mir
nachdachte, vertrieb seine Liebe alle Angst aus meinem
Herzen (vgl. 1. Johannes 4,18). Ich erkannte, dass Gott
mich so liebt, wie ich bin – genauso, wie er Petrus geliebt
hatt e. Und er vergab mir – genauso, wie er Petrus
vergeben hatt e. Gott sah über mein Versagen und meine
Wankelmütigkeit hinweg auf die bußfertige Haltung
2 Miles J. Stanford, Principles of Spiritual Growth, Back to the Bible Broadcast,
Lincoln, Nebraska, 1974, S. 31.
139
meines Herzens und auf mein aufrichtiges Verlangen,
ihm zu gefallen.
Wo auch immer wir uns in unserem Glaubensleben
in diesem Augenblick befi nden, Gott liebt uns und hat
uns vergeben. Wir sind in Gott es Zeitplan. Gott , der sein
Werk in uns begonnen hat, wird es zu Ende führen …
(vgl. Philipper 1,6). Ja, was Gott angefangen hat, das
führt er zu einem guten Ende (vgl. Psalm 138,8).
Petrus wusste es, als er Christus am Ufer des Sees
erkannte: Es ist nie zu spät, zu Christus zu »schwimmen«.
Es ist nie zu spät, wieder von vorn zu beginnen.
140
141
Worauf gebaut?
Man hatt e mich eingeladen, auf einer Studentenkonferenz
in Washington zu sprechen. Nach der Konferenz
beschlossen Winky Leinster, eine gute Freundin von mir,
und ich, eine sonntägliche Autofahrt durch das ländliche
Virginia zu machen. Erst saß Winky am Steuer,
und als wir gerade einmal eine Pause eingelegt hatt en,
bot ich mich an zu fahren.
Die santt en grünen Hügel mit den altertümlichen
Bauernhäusern, die sich zwischen kleine Baumgruppen
harmonisch in die Landschatt einfügten, machten
diesen Ausfl ug besonders schön. Wir genossen unsere
Fahrt so richtig, bis wir hinter einem Hügel auf dem
grasbewachsenen Mitt elstreifen der Autobahn mehrere
Polizeiwagen stehen sahen.
»Oh, Winky, ich glaube, da ist eine Geschwindigkeitskontrolle.
Hier sind nur neunzig Kilometer pro Stunde
erlaubt, und ich fahre mehr als hundert. Ich glaube,
jetzt gibt’s Ärger.«
Als wir vorbeifuhren, setzte sich sofort einer der Polizeiwagen
mit Blaulicht hinter uns.
Ich bremste, fuhr von der Straße auf den Seitenstreifen
und hielt an. Mir kloptt e das Herz.
Ein gut aussehender, dunkelhaariger Verkehrspolizist
näherte sich unserem Wagen, einem hellgrünen
Chevrolet, den Winky liebevoll »Kichererbse« nannte.
Ich drehte das Fenster herunter.
Der Beamte war sehr sachlich und sein Gesicht völlig
ausdruckslos, als er sagte: »Ihren Führerschein bitt e.«
Ich reichte ihm den Schein durchs Fenster. Er sah ihn
sich sorgfältig an.
»Sie tragen Kontaktlinsen?«
»Ja.«
142
Er sah sich meine Augen genau an, um zu sehen, ob
ich die Wahrheit sagte.
»Sie sind nicht aus diesem Staat?«
»Nein, ich wohne in Kalifornien. Ich bin nur zu einem
kurzen Besuch hier.«
»Wussten Sie, dass Sie hundertdreißig Kilometer pro
Stunde gefahren sind, wo nur neunzig erlaubt sind?«
»Ich weiß, dass ich mehr als hundert gefahren bin,
aber hundertdreißig waren es wohl nicht.«
»Wir haben hundertdreißig Kilometer pro Stunde bei
Ihnen gemessen. Sie müssen mit mir zur nächsten Stadt
zur Friedensrichterin kommen. Da Sie hier nicht wohnen,
bekommen Sie gleich heute ein Schnellverfahren.«
»Zur Friedensrichterin? Herr Wachtmeister, wir sind
auf der Rückfahrt nach Washington, und ich muss morgen
früh dort mein Flugzeug erreichen. Kann ich die Sache
nicht mit Ihnen regeln? Ich bin wirklich in Eile.«
»Tut mir leid, aber Sie müssen mit mir in die nächste
Stadt zur Friedensrichterin.«
Ich suchte verzweifelt nach einem Ausweg. »Mein
Vater ist Rechtsanwalt. Gibt es denn keine Möglichkeit,
diese Sache mit Ihnen zu bereinigen und das Bußgeld
zu überweisen?«
Völlig unbeeindruckt von meiner Herkuntt oder meinen
Bitt en sagte der Beamte: »Nein, tut mir leid, Sie müssen
mit mir zur Richterin.«
»Was meinen Sie, wie lange das dauert?«
»Das hängt davon ab, wie schnell wir sie fi nden und
wie viel sie zu tun hat. Wenn Sie mir jetzt bitt e folgen
wollen …«
Damit ging er zu seinem Wagen zurück. Ich holte tief
Lutt und startete den Motor.
»Na, der war aber sehr amtlich, was?«, suchte Winky
mich zu trösten. »Den kann wohl gar nichts erschüt
143
tern. Ihn interessiert nur, dass du eine Vorschritt übertreten
hast und vor den Kadi gehörst.«
Als wir so Kilometer um Kilometer hinter dem Polizeiwagen
herrollten bis zur Stadt, erschien mir die Sache
langsam wie ein Albtraum.
»Winky, ich kann das alles nicht glauben.« »Ich auch
nicht.«
»Das mit der ›Friedensrichterin‹ kommt mir auch
ziemlich eigenartig vor! Den Ausdruck habe ich noch
nie gehört. Meistens heißt es doch ›Schnellrichter‹.«
»Beten wir doch zusammen.« Wir dankten dem Herrn
für unsere missliche Lage und baten ihn um Gnade und
Erbarmen vor den Augen der Friedensrichterin.
Wir kamen ins Stadtzentrum von Culpeper und fuhren
an Imbissbuden und Tankstellen vorbei und dann
in den älteren Teil der Stadt.
Als wir um eine Ecke bogen, stand vor uns ein altertümliches,
zweistöckiges Gebäude, das aus einer anderen
Zeit zu kommen schien: das Gericht. Rings um
das Gebäude lief ein ebenso altes schmiedeeisernes Gitter.
Ein riesiges Schild verkündete: Gefängnis im Hinterhaus.
Der Beamte fuhr uns voraus durch das Tor und um
das Gebäude herum nach hinten.
»Winky, sieh dir das an! Zum Gefängnis! Er bringt
uns zum Gefängnis! Ich kann’s einfach nicht glauben.«
Wir stie gen aus dem Auto, gingen einen kopfsteingepfl
asterten Weg entlang, durch eine schief in den Angeln
hängende Tür und standen dann unmitt elbar vor
einem langen, weißen Tisch. Dahinter stand der Polizist,
der uns ver hatt et hatt e, und telefonierte mit der
Friedensrichterin.
Wir blieben vor dem Tisch stehen und sahen uns um.
Gleich zu unserer Linken waren eiserne Gitt er und Zel
144
len. Durch die Öff nungen hörten wir Gefangene miteinander
reden.
Die Wand hinter uns war zu allem Überfl uss mit
Pla katen des polizeilichen Suchdienstes bedeckt. Die
grauen, ernsten Gesichter, neben denen die Steckbriefe
aufgeführt waren, trugen noch zusätzlich zur Gefängnisatmosphäre
bei.
»Miss Bailey, ich muss Ihnen einige Fragen stellen.«
Ich wandte mich zu dem Tisch um und sah, dass der
Beamte etliche Formulare vor sich liegen hatt e. Er ging
die Fragen einzeln mit mir durch und kam zu der nach
dem Arbeitgeber.
Leicht peinlich berührt sagte ich: »Ob Sie’s glauben
oder nicht, ich bin Mitarbeiterin bei Campus für Christus,
einer christlichen Studentenbewegung.«
Jetzt entdeckte ich zum ersten Mal den Schimmer
eines Lächelns in seinen Augen. Aber er sagte nichts.
Nachdem er alle Fragen gestellt hatt e, sagte ich: »Sie
haben da genau die gleiche Kaff eemaschine wie ich. Der
Kaff ee wird gut darin.«
Meine Bemerkung schien das Eis noch etwas mehr
zu brechen und seine Amtswürde zu lockern.
Freundlich fragte er: »Möchten Sie eine Tasse?«
»Ja, sehr gern. Vielen Dank.«
Er gab mir den Kaff ee, blieb aber weiterhin hinter seinem
Tisch stehen. Er beobachtete die Eingangstür und
schrieb etwas auf seinen Notizblock. Seine Schreibarbeit
wurde unterbrochen, als die Tür auffl og und eine große,
grauhaarige Frau wie ein Wirbelwind hereinfegte.
Im Sturmschritt ging sie durch den Raum zu ihrem
Büro am hinteren Ende. Ohne den Polizisten eines Blickes
zu würdigen, schoss sie dabei die Worte auf uns
ab: »Schwören Sie, die Wahrheit zu sagen und nichts als
die Wahrheit, so wahr Ihnen Gott helfe?«
145
Der Polizist konnte gerade noch sein gewohnheitsmäßiges
»Ich schwöre es!« herausbringen, da war
sie auch schon in ihrem Büro verschwunden. Winky
wollte fl üsternd wissen, ob er sich nicht etwas dümmlich
vorkam, wie er so mit erhobener rechter Hand
dastand, während die Richterin bereits zwei Zimmer
weiter war.
»Lach bloß nicht«, fl üsterte ich zurück. Kramptt att
versuchten wir, unsere Erheiterung über diese Szene,
die eher in ein Kabarett zu passen schien, zu verbergen.
Wir warteten noch etwa zehn Minuten. Dann sagte
der Polizist, der so lange bei uns geblieben war: »Sie
können jetzt hineingehen.«
Als wir in das Büro der Richterin kamen, sah sie nicht
auf und gab auch durch kein Wort zu erkennen, dass sie
unsere Anwesenheit wahrgenommen hatt e. Ich fragte
mich, ob uns der Polizist nicht zu früh hin eingeschickt
hatt e. Winky und ich wechselten fragende Blicke. Wir
standen weitere zehn Minuten wartend da, und ich hatte
fast das Gefühl, ich sei unsichtbar, während wir von
einem Fuß auf den anderen traten. Die Richterin machte
sich inzwischen mit Papieren auf ihrem Schreibtisch
zu schaff en.
Dann sagte sie, ohne aufzusehen, sehr energisch: »Sie
sind hundertdreißig Kilometer pro Stunde gefahren auf
einer Strecke, auf der nur neunzig Kilometer pro Stunde
erlaubt sind. Das macht fünfzig Dollar oder einen
Tag Gefängnis.«
Ich hatt e mein Guthaben nachgerechnet, während
wir im Vorraum warteten, und sagte nun mit einiger Erleichterung:
»So seltsam es auch scheinen mag, aber genau
den Betrag habe ich noch auf meinem Girokonto.«
Sie sah plötzlich auf, als ich nach meiner Hand tasche
146
griff , und sagte in verächtlichem Ton: »Wir können Ihren
Scheck nicht annehmen!«
»Sie nehmen ihn nicht?«, fragte ich erstaunt. »Aber
er ist gedeckt, und ich kann mich hinreichend ausweisen.«
»Das hat nichts zu sagen. Wir nehmen keine Schecks
aus anderen Staaten. Dann bleiben Sie eben über Nacht
im Gefängnis!«
Winky und ich sahen einander entsetzt an.
»Ich habe meinen Wohnsitz im Staat Virginia«, ver -
suchte Winky zu vermitt eln. »Meine Eltern leben in
Vienna, Virginia. Nehmen Sie von mir einen Scheck?«
»Nein. Was ist mit Ihren Eltern? Können sie Ihnen
Geld schicken?«
»Sie würden es bestimmt tun, aber sie sind unterwegs
nach South Carolina. Vor morgen kann ich sie keinesfalls
erreichen.«
Die Richterin sah mich an und sagte sehr bestimmt:
»Sie bleiben über Nacht im Gefängnis.«
Ich wusste, dass ich keine Wahl hatt e. Ich hatt e
das Gesetz übertreten. Der Richterin war es gleichgültig,
wer ich war, welchen Beruf ich ausübte oder
ob mein Vater Jurist war. Auch mein Scheck wurde
nicht angenommen. Ich konnte die Strafe nicht bezahlen.
Also musste ich ins Gefängnis. Da war nichts zu machen.
Ich dachte: »Auch mal eine Erfahrung! Was werden
wohl meine Freunde dazu sagen?«
Der Polizist, der ein paar Minuten zuvor den Raum
betreten hatt e, trat zu uns und sagte zu Winky: »Wenn
Sie einen Scheck über fünfzig Dollar auf meinen Namen
ausstellen wollen, löse ich ihn aus meiner eigenen
Tasche ein. Dann haben Sie das Geld, um die Strafe
zu bezahlen.«
147
Mit einer Handbewegung auf die Friedensrichterin
hin sagte ich: »Warum nehmen Sie einen Scheck an, und
sie tut es nicht?«
»Ich biete es Ihnen als Privatmann und nicht als Amtsper
son an.«
Ehe er noch seine Meinung ändern konnte, nahm
Winky sein Angebot an. Sie schrieb einen Scheck über
fünfzig Dollar aus, und er gab ihr das Geld in bar. Winky
gab dann die fünfzig Dollar der Richterin und zahlte
damit für mich die Geldstrafe. Sie erhielt eine Quitt ung
mit dem Vermerk: »In voller Höhe bezahlt.«
Endlich war ich frei und konnte gehen!
Der Polizist ging mit uns bis vor die Tür. Seine Abschiedsworte
waren: »Meine Damen, fahren Sie in Zukuntt
nicht mehr zu schnell!«
Ich fühlte mich wie durch die Mangel gedreht. Als
wir zu unserem Auto kamen, sagte ich lächelnd zu Winky:
»Für heute bin ich genug gefahren. Fahr du.«
Bevor wir vom Gericht in Culpeper abfuhren, beteten
wir noch einmal und dankten dem Herrn für alles,
was wir durchgestanden hatt en. Wir baten ihn, uns aus
dieser Erfahrung lernen zu lassen.
Als wir dann über das soeben Erlebte sprachen, wurde
uns klar, was für ein gutes Beispiel es war für das,
was Christus für uns am Kreuz getan hat.
Ich hatt e das Gesetz übertreten, weil ich zu schnell
gefahren war, und war dafür zu fünfzig Dollar Geldstrafe
oder einem Tag Gefängnis verurteilt worden.
Ich konnte die Strafe nicht bezahlen, also zahlte Winky
für mich. Ich konnte nichts weiter tun, als das annehmen,
was sie für mich tat – und ich nahm es gern
an.
Genauso haben wir alle Gott es Gesetze gebrochen
und müssen die Strafe zahlen; sie lautet auf Tod. Aber
148
Gott sandte Christus, damit er für unsere Sünden starb.
Er bezahlte für unsere Schuld und machte uns diese Bezahlung
zum Geschenk. Alles, was wir zu tun haben,
ist, ihn selbst und das, was er für uns am Kreuz getan
hat, anzunehmen.
Als wir über diesen Vergleich sprachen, sagte Winky:
»Ney, ich möchte gern, dass du das, was ich für dich
getan habe, als Geschenk annimmst.«
»Das kann doch nicht dein Ernst sein«, sagte ich.
»Meinst du das wirklich …, du willst meine Strafe bezahlen?«
»Ja. Das will ich wirklich. Und außerdem, wenn du
mir das Geld zurückzahlst, stimmt doch unser Vergleich
nicht mehr!«
Es wurde schon dunkel, als wir uns Washington näherten.
»Diesen Tag werde ich nie vergessen«, dachte
ich. »Und auch Culpeper, Virginia, werde ich nie vergessen!«
Wenn jeder eine so klare Vorstellung von dem bekommen
könnte, was Christus für uns getan hat, wie
Winky und ich sie durch unser Erlebnis in Virginia bekamen,
hätt e wohl jeder den Wunsch, Christus sein Leben
zu öff nen.
Aber ich stelle immer wieder fest, dass viele Menschen
nicht richtig wissen, was es bedeutet, Christ zu
werden und eine »Wiedergeburt« zu erleben. Kürzlich
hörte ich von einer Frau, die zu ihrer Freundin sagte:
»Ich bin noch nicht wiedergeboren, aber ich bemühe
mich ständig darum!« Sie hatt e nicht erkannt, dass
Christwerden so einfach ist, dass sogar ein Kind den
Vorgang verstehen kann: Wir haben nichts weiter zu
tun, als an Jesus Christus und sein Wort zu glauben
und ihn als Herrn und Erlöser anzunehmen und anzuerkennen.
149
Gott führt mir häufi g Menschen über den Weg, die
noch keine Christen sind, die aber einen geistlichen
Hunger haben und Gott kennenlernen möchten. Wie
ott mir solche Menschen schon begegnet sind, kann ich
gar nicht zählen. Mit am merkwürdigsten war wohl ein
Erlebnis in jener Nacht, als in Colorado die Flutkatastrophe
hereinbrach.
Während unserer schrecklichen Flucht in der Finsternis
den rutschigen Berghang hinauf, als uns in jener
Nacht die Flutwelle verfolgte, blieb eine aus unserer
Gruppe zurück, um einer älteren Frau den steilen
Hang hinaufzuhelfen. Als uns die Polizei dann anwies,
wieder auf die Straße unten zurückzukehren, war sie
der erste Mensch, den ich dort sah. Ich schloss sie herzlich
in die Arme und sagte: »Wie freue ich mich, dass
Sie wohlauf sind!«
»Wer sind Sie, und warum sind Sie alle so nett zu
mir?«, fragte sie.
Spontan sagte ich: »Ich kann nur hoff en, dass meiner
Mutt er jemand beistehen würde, falls sie je in eine
solche Situation geriete …«
Ehe ich meinen Satz beenden konnte, drängten uns
die Polizisten, sofort in unsere Autos zu steigen, uns hintereinander
aufzustellen und auf weitere Anweisungen
zu warten. Es war eiskalt und goss in Strömen, als ich
die fünfzig Meter zu meinem Auto rannte, das ich schon
verloren geglaubt hatt e. Ich war froh, dass es sofort ansprang
– das war nicht immer der Fall!
Als ich dorthin kam, wo sich die Autoschlange formieren
sollte, stiegen die Dame, ihr Mann und Jackie
Hudson in mein Auto, um zu warten, bis es weiterging.
Kaum waren sie im Auto, da sagte der Mann: »Ich
will sehen, ob ich weiter oben unseren Wohnwagen fi n
150
den kann. Ich hab Whisky dort, und den kann ich jetzt
brauchen.«
Als er ausgestiegen war, fragte die Frau wieder: »Wer
sind Sie, und warum sind Sie so gut zu uns?«
»Wir sind Mitarbeiter von Campus für Christus, einer
überkonfessionellen christlichen Organisation«, antwortete
ich. »Wir waren heute gerade zu einem Treff en
auf der anderen Seite des Flusses, auf der Sylvan-Dale-
Ranch, als wir die Anweisung der Polizei hörten, das Gebiet
zu verlassen. Einige unserer Mitarbeiterinnen sind
noch drüben, und wir machen uns Sorgen um sie.«
»Von Campus für Christus habe ich schon gehört. Ich
bin seit vielen Jahren Mitglied in der Kirche.«
»Darf ich Ihnen eine Frage stellen? Haben Sie in all
den Jahren, in denen Sie zur Kirche gehören, Jesus Christus
persönlich kennengelernt?«
Sie schütt elte den Kopf. »Ich bin mein Leben lang zur
Kirche gegangen, aber ich glaube, so wie Sie über ihn
sprechen, kenne ich ihn nicht.«
Es war dunkel, die Fenster waren beschlagen, und
wir konnten unsere Gesichter gegenseitig kaum erkennen,
als ich anfi ng zu reden.
»Erst einmal: Gott liebt Sie. In Johannes 3,16 heißt es:
›Denn so hat Gott die Welt geliebt, dass er seinen eingeborenen
Sohn gab, damit jeder, der an ihn glaubt, nicht
verloren geht, sondern ewiges Leben hat.‹ Für den Ausdruck
›die Welt‹ könnte man auch seinen eigenen Namen
einsetzen. Übrigens«, fragte ich lächelnd, »wie heißen
Sie?«
»Lou.«
»Dann würde der Vers also lauten: ›Denn so hat Gott
Lou geliebt, dass er seinen eingeborenen Sohn gab.
Wenn Lou an ihn glaubt, wird sie nicht verloren gehen,
sondern ewiges Leben haben.‹«
151
»Das ist so, Lou.« Auf meiner beschlagenen Frontscheibe
zog ich zwei parallele Linien, eine oben und
eine unten. »Gott ist dort oben, hoch über uns, und er
ist heilig. Wir Menschen sind hier unten, und wir sind
sündig.«
Ich zog von der unteren Linie aus einige Pfeile hoch
bis etwa zur Hältt e der Scheibe. »Wir versuchen auf
verschiedene Weise, zu Gott zu gelangen, aber die Bibel
sagt, dass wir alle Sünder sind und nichts aufzuweisen
haben, was Gott gefallen könnte (Römer 3,23). Das
heißt einfach, dass niemand von uns so gut ist wie Gott
und dass wir leicht unsere eigenen Wege gehen, ohne
viel an Gott zu denken.
Und die Bibel sagt: Wir haben für unsere Sünden
Strafe verdient. ›Denn der Lohn der Sünde ist der Tod,
die Gnadengabe Gott es aber ewiges Leben in Christus
Jesus, unserem Herrn‹ (Römer 6,23).«
Sie ließ mich nicht aus den Augen und hörte mir aufmerksam
zu.
»Sünde ist ein Wort, das mich früher sehr gestört
hat. Es gefi el mir gar nicht. Dann sagte mir jemand, ich
sollte mir vorstellen, alles, was ich je in meinem Leben
verkehrt gemacht habe, sei auf einem Film festgehalten
und alle meine Nachbarn und Freunde seien eingeladen,
um sich den Film auf einer großen Leinwand
anzusehen. Und wenn es bei Ihnen so ähnlich aussieht
wie bei mir, gibt es da ein paar Dinge, die Sie anderen
lieber nicht vorzeigen möchten!«
»Das stimmt«, rief sie. »Es gibt wirklich Dinge, die ich
nicht auf der Leinwand gezeigt haben möchte.«
»Eben«, gab ich zurück, »und das sind z.B. solche
Dinge, die in der Bibel als Sünde bezeichnet werden.
Das sind Vergehen, für die Jesus gestorben ist.« Dann
zeichnete ich das Kreuz Jesu Christi zwischen die par
152
allelen Linien und machte damit klar, dass Jesus die
Schuld für unsere Sünde bezahlt hat, für das, was uns
von Gott trennt – dass er die Klutt zwischen Gott und
uns Menschen überbrückt hat. »Als ich das zum ersten
Mal sah, Lou, dass Jesus die Klutt überbrückt, verstand
ich endlich, welche Rolle Jesus eigentlich spielt. Vorher
hatt e ich das nie verstanden.
Jesus ist Gott es einziger Ausweg aus unserer Sünde,
und durch ihn können wir Gott es Liebe für uns und
seinen Plan für unser Leben erfahren. Sie haben sicher
schon mal gehört, dass er gesagt hat: ›Ich bin der Weg
und die Wahrheit und das Leben. Niemand kommt zum
Vater als nur durch mich‹ (Johannes 14,6).«
»Ja, das habe ich gehört.«
»Es genügt nicht, diese Dinge zu wissen. Manche
von uns haben sie seit ihrer Jugend immer wieder
gehört. Wissen Sie, viele Leute sagen uns, wir sollten
Christen werden, aber nur wenige sagen uns, wie
man das macht. Und das ist doch das Entscheidende
und das eigentlich Wichtige – wie man es macht. Jeder
muss für sich Jesus Christus als Heiland und Herrn
annehmen, indem er ihn persönlich bitt et, die Schuld
zu vergeben und in sein Leben zu kommen. Das bedeutet,
dass niemand ihn an unserer Stelle annehmen
kann.
Jesus sagte: ›Siehe, ich stehe an der Tür und klopfe
an.‹ Gemeint ist die Tür unseres Herzens und Lebens.
›Wenn jemand meine Stimme hört und die Tür
öff net‹, und das können wir tun oder auch nicht tun …,
es ist Sache unseres Willens, ›zu dem werde ich hineingehen‹,
sagt Christus, ›und mit ihm essen, und er mit mir‹
(Off enbarung 3,20).
Lou, möchten Sie Christus in Ihr Leben bitt en?«
»Oh ja, gern, und zwar jetzt gleich.«
153
»Wir nehmen Christus durch Glauben an, Lou, und
unseren Glauben können wir im Gebet zum Ausdruck
bringen. Beten Sie doch und bitt en Sie Christus, in Ihr
Leben zu kommen, und dann werden Jackie und ich
für Sie beten.«
Sie begann: »Herr Jesus, ich brauche dich. Ich danke
dir, dass du für mich gestorben bist und auch für all die
Dinge, die sonst auf dem Film meines Lebens erscheinen
würden. Ich bitt e dich: Komm in mein Leben und
sei mein Heiland und mein Herr.«
Ich betete: »Herr, danke, dass wir Lou heute Abend
getroff en haben. Ich danke dir, dass du ihr Gebet erhört
hast. Du bist in ihr Herz gekommen. Danke für deine
Verheißung, dass du sie niemals aufgeben und niemals
verlassen wirst (Hebräer 13,5).«
Jackie schniett e ein wenig auf dem Rücksitz und
schloss sich dann unserem Gebet an. »Herr, hab Dank,
dass Lou heute die wichtigste Entscheidung ihres Lebens
getroff en hat. Wenn wir sie auch hier nie wiedersehen
sollten, so doch zumindest im Himmel.«
Nachdem wir gebetet hatt en, fragte ich: »Lou, wo ist
Jesus Christus jetzt?«
Strahlend sagte sie: »Er ist in meinem Herzen.« »Ganz
richtig, und woher wissen Sie, dass er dort ist?« »Weil
ich ihn hereingebeten habe; und ich spüre ihn.« »Ja, und
wenn das Gefühl morgen nicht mehr da sein sollte, wissen
Sie doch, dass er noch da ist, weil er es versprochen
hat, und er kann nicht lügen. Er ist nicht nur in Ihr Leben
gekommen, sondern er hat auch versprochen, Sie nie zu
verlassen oder aufzugeben (Hebräer 13,5). All die Dinge
aus Ihrem Leben, die auf der Leinwand erschienen
wären, sind nun nicht mehr da, weil Jesus Ihnen vergeben
hat. Sie haben eine ›saubere Leinwand‹, einen neuen
Anfang! Ist das nicht eine gute Nachricht?«
154
»Ja, wirklich«, strahlte sie. »Das ist wunderbar … Bitte
geben Sie mir Ihre Adresse.«
Gerade hatt en wir die Adressen ausgetauscht, da
machte ihr Mann die Autotür auf und sagte: »Fahren
wir; die Polizei ist gerade dabei, uns herauszulotsen.«
Zehn Minuten hatt e der Herr uns miteinander gegeben,
und Lou verließ uns mit einem Leuchten in den Augen
und auf dem Gesicht.
Jackie kam nach vorn auf den Beifahrersitz und sagte:
»Ney, die ganze Atmosphäre war erfüllt von Liebe, als
du mit Lou geredet hast. Es war, als hielte Gott die Zeit
einen Augenblick an, und während dieses Augenblicks
war die Flut vergessen.«
Wir konnten beide nur staunen über den genauen
Zeitplan Gott es.
In jener kalten Nacht voll Angst und Not, mitt en im
Unglück, durtt e diese nett e ältere Dame erkennen, dass
Gott sie liebt.
Zum nächsten Weihnachtsfest erhielt ich ein kleines
Päckchen mit zwei handgefertigten Kreuzen, einem
aus Gold und einem aus Silber. Dabei lag ein Briefchen
von Lou, in dem stand: »Eins ist für Sie und eins für
Jackie. Ich danke Ihnen für alles, was Sie in jener Nacht
für mich getan haben.«
Mein Leben schien für immer eingeteilt zu sein in
»vor« und »nach« der Flut. Nach der Flut sagte Marilyn
Henderson einen Satz zu mir, den Jesus gesagt hatt e:
»Denn wer sein Leben errett en will, der wird es verlieren;
wer aber sein Leben verliert um meinetwillen
und um des Evangeliums willen, der wird es errett en«
(Markus 8,35).
Der Vers war mir vertraut, aber der Teil »um des
Evangeliums willen« wurde mir jetzt besonders wichtig.
155
Dreimal war in jener Nacht mein Leben bewahrt worden:
als ich das Gebäude verließ, ehe es bis zur Decke
voll mit Wasser und Schlamm war, als ich über die Brücke
gelangte, kurz bevor sie einstürzte, und als ich die
Anweisung hörte, mein Auto zu verlassen, um höher
gelegenes Gelände aufzusuchen. Mein Leben war bewahrt
worden, weil es einen Grund dafür gab.
Das Erleben der Flutkatastrophe bewirkte in mir, dass
ich den Autt rag Jesu Christi, in alle Welt hinauszugehen
und allen Menschen die rett ende Botschatt zu verkünden
(Markus 16,15), neu durchdachte. In einem tie feren
Sinne sagte ich nun: »Herr, mein ganzes Leben will ich
für die Sache des Evangeliums hingeben. Gebrauche
mein Leben dazu, die Welt für dich zu er reichen.«
Ich fi nde es interessant, dass Jesus die Bergpredigt
damit abschloss, dass er von einer Flut sprach.
Er sagte:
»Jeder nun, der diese meine Worte hört und sie tut,
den werde ich mit einem klugen Mann vergleichen, der
sein Haus auf den Felsen baute; und der Platzregen fi el
herab, und die Ströme kamen, und die Winde wehten
und stürmten gegen jenes Haus; und es fi el nicht, denn
es war auf den Felsen gegründet. Und jeder, der diese
meine Worte hört und sie nicht tut, der wird mit einem
törichten Mann zu vergleichen sein, der sein Haus auf
den Sand baute; und der Platzregen fi el herab, und die
Ströme kamen, und die Winde wehten und stießen an
jenes Haus; und es fi el, und sein Fall war groß« (Matthäus
7,24-27).
Wenn wir nach Gott es Wort handeln, wenn wir ihn
beim Wort nehmen, sind wir weise und unser Leben ist
fest gegründet auf den Felsengrund seiner Worte. Wenn
wir ihn nicht beim Wort nehmen, sind wir töricht und
bauen unser Leben auf Sand.
156
Die meisten von uns werden nie eine wirkliche Flut
erleben müssen, aber wir alle müssen durch die »Fluten
des Lebens«. Während wir in diesen »Fluten« sind,
möchte Gott , dass wir ihn bei seinem Wort nehmen und
glauben, dass sein Wort wahrer ist als unsere Gefühle
oder als irgendwelche Lebensumstände, denen wir jemals
ausgesetzt sein werden, denn:
Der Himmel und die Erde werden vergehen, meine Worte
aber werden nicht vergehen.
157
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Christliche Literatur-Verbreitung
Bücher, die weiterhelfen
Glaube ist kein Gefühl
Ney Bailey
Taschenbuch, 160 Seiten
Artikel-Nr.: 255571
ISBN / EAN: 978-3-89397-571-6


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