Hoch über dem Tal, Ein Leben zerrüttet durch eine Tragödie, Mary Brite

04/26/2023
von Christ-und-Buch Günter Arhelger

Hoch über dem Tal, Ein Leben zerrüttet durch eine Tragödie, Mary BriteMittags um 12 Uhr ahnteBN0952.jpg?1682487597048 ich noch nichts davon, daß bereits zwölf Stunden später, um Mitternacht, mein Leben in Trümmern hegen wurde Es war der erste Tag im Januar 1967 Wolken über dem Pike's Peak breiteten im Zusammenspiel mit der Mittagssonne eine grün-braune Decke wie Lochstickerei über die Erde.

Eine Welle der Liebe zog mich zu meinem Mann Charhe, als sein schüchternes Lächeln es wieder einmal fertigbrachte, mein Herz zum Rasen zu bringen Meine Persönlichkeit war seit Jahren in seinen Lebenszielen aufgegangen, aber es machte nur nichts aus Ich beneidete sein natürlich gebräuntes Aussehen, wie er so auf der Kirchentreppe stand, im Gespräch mit Don Beal, unserem Jugendpfarrer.
»Hallo Don Wie war denn die Nacht« fragte Charhe Seine aufmerksamen, nußbraunen Augen zeigten ehrliches Interesse Ich bewunderte seine breiten Schultern und riß einen locker gewordenen Knopf von seinem Wollsakko ab, wahrend ich mich zu ihm stellte

»Gelungen, Dr. Venable Ich hab' sogar von vier bis sechs geschlafen«, antwortete Don, indem er sich die Augen rieb. Don war nicht sehr groß, doch in den Augen unserer Kinder war er überragend, weil er ein reges Leben mit ihnen plante Sie hatten gerade ein gemeinsames Wochenende hinter sich
»Konnten Sie das Feuerwerk um Mitternacht sehen, ganz nah an der Spitze des Pike's Peak?« Charile und ich hatten

diesen einzigartigen Gruß der Mitglieder eines Clubs beobachtet Sie kletterten in jedem Jahr auf den Berg
»Emen Teil davon«, sagte Don, müde nickend »Wie geht es Ihrer Frau« fragte Charlie
»Sie ist in Kansas, besucht ihre Eltern Ich will heute nachmittag hinfahren und sie und das Baby nach Hause holen.«


Wir gingen gemeinsam zu Don's Wagen und halfen unserem ältesten Sohn und unserer Tochter, ihre Schlafsäcke umzuladen.
>Könnn Sie sich denn auf dieser langen Fahrt noch wachhalten?« fragte Charhe, wahrend er die Taschen in unser Auto packte
»Ich hoffe doch«, erwiderte Don
Charhe dankte ihm, daß er für Danny und Kathy so gut gesorgt hatte Rudi und Paul David, unsere beiden jüngeren Kinder, kamen aus der Kirche, und dann fuhr unsere sechsköpfige Familie nach Hause Die frische Luft wehte durch die geöffneten Wagenfenster. Der Winter war selten ein anhaltendes Problem in Colorado Springs Am Fuße der Berge gelegen, war die Stadt vom Pike's Peak teilweise geschützt.
In unserer kleinen Küche nahm Charhe mich in seine starken Arme, hob mich hoch und druckte mich kräftig an sich
»Mir gefallt einfach das neue rote Kleid an dir«, sagte er und hielt mich immer noch fest Er brachte selten Anerkennung oder offene Liebesbezeugungen in Worten zum Ausdruck, aber wenn er es tat, dann war es ihm ernst
Tiefe Zuneigung und Freude durchfluteten mich Nur ungern ließ ich ihn gehen
Ein Kaleidoskop farbenvoller Erinnerungen kam mir in den Sinn, eine nach der anderen - wie ich Charhe aus der Hand futterte mit einem Stuck unserer Hochzeitstorte,- Klänge seines tiefen Gelächters - wie wir beide zweisu n-mig sangen - wie Charhe mit unseren Kindern Krocket spielte— ich sah die Lachfältchen in seinen Augenwinkeln, bevor er mich abends fest in seine Arme schloß
Immer etwas sentimental ordnete ich die neue Umarmung und das Kompliment in meinen Erinnerungsstrom so ein, daß es in Zukunft golden vor mir aufsteigen mußte Das neue Jahr schien gut zu beginnen'
»Könnte ich nicht Don anbieten, ihn nach Kansas zu fliegen, um seine Frau und das Baby abzuholen?«, fragte Charlie. »Es ist ein großartiger Tag zum Fliegen.«
»Das wäre eine gute Idee«, erwiderte ich
Ich wußte, wir dachten dasselbe, indem wir uns beide an eine schreckliche Autofahrt erinnerten Wir hatten damals eine weite Strecke zurückzulegen um heimzukommen, und wir hatten in der vorhergehenden Nacht nicht gut geschlafen. Schon nahe an unserem Zuhause fielen Chailie -die Augen zu.
»Als ich die Augen aufriß, waren wir schon auf dem Seitenstreifen, stracks auf den Graben zu Ich wollte die Ra-der nicht zu plötzlich herumreißen, aus Angst, der Wagen würde sich überschlagen. Ich konnte mich nur noch etitt-. scheiden, die Richtung des Wagens emzuhalten«, erklärte er später.
Ober den Rand eines zwei Meter tiefen Abhangs und noch
einigeMter*eiter holperten wir z u einem abrupten Halt.. Wir beruhigten unsere schreienden Kinder und waren er-leichten, nicht eine körperliche Verletzung zu finden Wenn auch der Wagen die Hinterachse gebrochen hatte, so konnten wir doch wenigstens die letzte Meile heimlaufen
Daran dachten wir. Es konnte ja auch sein, daß Don bei seiner Fahrt heute nicht so viel Gluck haben wurde, wie wir vor einigen Jahren
Ich dachte wieder an Charhes Frage Der Ausflug konnte einen doppelten Zweck erfüllen. Charlie brauchte die Entspannung Fliegen war sein Hobby. Unsere Lebenskosten, kombiniert mit den Kosten zur Eröffnung einer Zahnarztpraxis in den letzten drei Jahren, hatten es für ihn notwendig gemacht, gewöhnlich bis zur Grenze des Möglichen zu arbeiten. Und ich hatte notgedrungen in der Schule weiter Unterricht gegeben. Wir konnten nicht oft ein Flugzeug mieten.
Charlie strich eine dunkle Haarlocke von seiner Stirn, wahrend er mit Don telefonierte. »Ich hatte Lust, ein Flugzeug zu mieten und Sie nach Kansas zu fliegen.« Ich horte eine wachsende Begeisterung in seiner Stimme
Don sagte »Okay«, Charlie drehte sich um und rief es nur zu
»Sag ihm, er kann 'rüberkommen zum Mittagessen.« Ich war gerade dabei, das Roastbeef in Scheiben zu schneiden
Charlie wiederholte meine Einladung durchs Telefon »Wir essen zusammen und machen dabei Plane«, meinte er am Ende des Gesprächs.
Dann wählte er die Nummer einer Flugzeugvenmetung und buchte eine Cessna 205, einen Sechssitzer.
Als nächstes fragte er jedes Kind, ob es mit nach Kansas fliegen wolle Paul David, neun Jahre alt, schüttelte seinen kastanienbraunen Schopf. »Ich nicht Ich werde luftkrank'«
»Ich bin müde«, sagte Kathy, als sie sich zum Essen an den Kuchentisch setzte »Wir haben uns die ganze Nacht unterhalten « Konnte sie endlich ihre Scheu überwinden?, dachte ich zufrieden
»Ich bin zu müde«, rief Danny aus dem Schlafzimmer, wo er und Paul David Dummheiten machten Er war im Stimmbruch und wechselte die einzelnen Oktaven m der Mitte seiner Sätze. Als er ins Wohnzimmer kam, bemerkte ich, daß seine Jeans schon wieder zu kurz wurden Als mein Bruder 15 Jahre alt war, hatten wir ihn »Silo« genannt wegen seines großes Appetits und der langen Beine. Auch eine passende Bezeichnung für Danny, dachte ich
Die elfjährige Rudi ging am liebsten immer mit ihrem Daddy, ein Gefühl, das sie und ich teilten Sie war das einzige der vier Kinder, das in diesem Augenblick Eifer ent-. wickelte, obwohl wir noch mehr Platz in dem Flugzeug gehabt hatten
Nach dem Mittagessen rief Charlie bei Burl an, dem Baß-solisten unseres Kirchenchores »Hatten Sie Lust, mit nach Kansas zu fliegen, wenn wir vor Dunkelheit zurück sind« horte ich ihn fragen »Sie sagten einmal, daß Sie gern mal irgendeinen tYberlandflug mitmachen wurden Wir haben einen freien Platz.«
Buri nahm das Angebot an und freute sich auf das Erlebnis eines Oberlandfluges, das so schrecklich enden sollte Er war vor uns am Flughafen und trug eine lange Flugjacke, die seme zwei Meter Große warmte Er grußte uns mit tie-
fer Stimme »Hall& Das Wetter ist großartig zum FIte-gen!«
Ruth und ich kletterten in das Flugzeug Wir konnten die Männer bei der Besichtigung hören, wie sie die Tragflachen des Flugzeuges überprüften. Ihre Stimmen wurden einen Augenblick von einer vorbeirollenden kleinen Ma-sclune übertönt, die gerade gelandet war.
Ich mußte häufig nach der Chorprobe am Donnerstag warten, wenn BurI und Charlie sich noch über die Fliegerei unterhielten Buri besaß ein kleines Flugzeug und hatte auch einen eigenen Flugschein
Charhe, Burl und Don kletterten herein, und wir alle schnallten uns an Charhe befolgte genauestens die Prozedur der Checkliste, bevor er etwas später als geplant abhob. Die alltäglichen Probleme waren zurückgelassen, als wir aufstiegen und nach Osten drehten, fort von den Bergen
Während des ruhigen Fluges nach Dighton war ich von angenehmer Unterhaltung umgeben Aber meine Gedanken wanderten Jahre zurück, indem ich mir erlaubte, über alle möglichen Unglücksfälle nachzudenken - nur kurz, denn ich fürchtete, sonst Charhe gegenüber einen Mangel an Vertrauen zu zeigen Haue er in den 16 Jahren unserer Ehe nicht viele Stunden und viel Muhe eingesetzt, um jedes Gelernte zu vervollkommnen?
Auch beim Fliegen? Oder bei allem anderen— außer beim Fliegen? Oder war es nur, daß er sich in der Luft so viel freier fühlte als anderswo, daß er dachte, er beherrsche es und könne unbekümmert sein Handle wie gewohnt, sei ein guter Vogel Strauß, steck deine eigentliche Meinung in den Sand - ich zweifelte an mir selbst
Trotzdem, ich mußte an einen Start im April 1958 denken »Wir waren dicht davor, einige Baume zu entblättern«, sagte Charhe damals gleich nach dem Abflug in Richtung Oklahoma auf dem Weg zu Paul Davids Geburt
Ich mußte schwer schlucken, aber ich sagte nichts:
»Ich wußte, daß unsere Piper PA-12 überladen war, aber ich war zum Start entschlossen«, sagte er.
Ich war erschrocken, aber ich wollte nicht darüber nachdenken So verbarg ich bewußt die Zweifel, die ich fühlte. Und ich hatte sie bis heute nicht analysiert Auch hatte ich bis heute noch nicht die Stunden zusammengezahlt, die es mich gekostet hatte, ohne Furcht zu fliegen.
Als zweites dachte ich zurück an einen geradezu katastrophalen Nachtflug im Mai 1965. Damals war die Maschine noch nicht auf Instrumentenflug eingestellt, aber Charlie hatte genügend Erfahrung im Nachtflug, so daß seine Eltern, eine Schwester und ich spät am Abend vertrauensvoll mit ihm als Piloten den Flug nach Oklahoma antraten
Nach ungefähr einer Stunde wich die Maschine vom Kurs ab, weil Charlie es versäumt hatte, einen Richtungswechsel zu korrigieren Durch einen Seitenwind war das notig geworden Wir verloren das Piep-piep-Geräusch des Omni-Signals, das uns geführt hatte, und steuerten weiter außer Kurs, wahrend er versuchte, eine Flugkarte mit Markierungspunkten unter uns zu vergleichen. In der Dunkelheit waren die Orte, die durch wenige Lichter angedeutet waren, nur schwer auszumachen
Unbehagen machte sich breit Wo waren wir
Während Charlie auf der Karte suchte, strengte sich der Rest von uns an, irgendwo unten in der Dunkelheit nur
nen-kleinen erleuchteten Streifen zu entdecken. Wir suchten in Panik, 30 Minuten lang. Endlich sahen wir- eine kleine eleuchtete Landebahn, einen Kreis, und landeten. Ich konnte wieder normal atmen.
Charlie und sein Vater stürmten aus der Maschine. Sie schauten durch ein Fenster in einekleine Flugzeughalle und lasen eine Schrift an der Wand.
»Wir sind in Woodward, Oklahoma.. Charlie sagte es uns, als sie genug entspannt waren, um wieder zu uns her-
einzuklettern. »Wir konnten in Kansas oder in Texas
sein..
- Dann starteten wir gleich wieder und flogen ohne weitere Schwierigkeiten nach Stillwater.
- »t)berläßt du das Leben anderer nicht zu sehr dem Zufall, zumal es deine Angehörigen sind., warf ich ihm später vor. Ich konnte seinem Handeln kein Vertrauen schenken, denn es war seiner sonstigen Art ganz entgegengesetzt.
Denk an etwas Gutes, sagte ich mir selbst und erlebte noch einmal den Frieden eines Weihnachtsferienabends im -Jahre 1%5, als wir über eine geschlossene Wolkendecke flogen. Die Sterne waren hell und strahlend und erschie-
• nen mir so nah, daß es mich lockte, danach zugreifen. Der Nachthimmel war wunderschön, und plötzlich kam ich zu dem Schluß, daß er zu schön sei, um nicht dorthin zu kommen.
»Da möchte ich sein,, wenn ich sterbe., hatte ich geflüstert Gott schien mir nah, und meine Angst fiel von mir ab. Nach diesem Erlebnis begann ich, Charlies Liebe zum Fliegen besser zu verstehen, ich war entspannt i.md konnte nun, das In-der'Luft-Sein genießen.
Trotz- meines Versuchs, mir keine. negativen Gedankeh., mehr zu gestatten, erinnerte, ich mich, daß wir damals ohne zu tanken losgejagt waren, um wegen eines unerwarteten Schneesturms einen anderen Ort zu erreichen.
»Schnallt euch an und steckt eure Nasen in das Kissen., hatte Charlie die Kinder und mich gewarnt.
Wir landeten in einem kaktusübersäten Weideland mit auseinandersebendem Vieh. Nun war es Charlie, der überrascht war, während niemand von uns eine Aufregung zeigte.
»Ich dachte, ihr würdet in Panik geraten., sagte er, »ich bin stolz auf euch..
»Warum sollten wir, haben wir denn nicht Notlandung geübt?«, forschte ich leise.
»Ja., erwiderte er mit Bewunderung in der Stimme.
Positiv denken. Nur drei Zwischenfälle in neun Jahren Flugpraxis, redete ich mir selbst gut zu.
Ich zwang meine Gedanken zurück in die Gegenwart und beteiligte mich an der allgemeinen Unterhaltung.
»Dighton ist in Sicht., hörte ich Don eine Stunde später zu Charlie sagen. Charlie drehte eine Runde, nachdem er den Flughafen gesichtet hatte, und dann eine zweite, so daß er den Windsack sehen konne. Mein Blick glitt aus dem Seitenfenster, und ich entdeckte, daß die Landebahn trocken war, glatt, von Schneerändern gesäumt. Auf den Weiden in der Nähe waren noch Stellen von ungeschmolzenem Schnee. -
Dons Frau und ihre Eltern waren schon am Flughafen, als unsere Maschine zum Stehen kam. Die Männer diskutier-.

ISBN:    9783882240504 
Verlag:    Francke
Erschienen:    1978
Einband:    Taschenbuch
Format:    18 x 11 cm
Seiten:    107