Carothers Merlin, Ich suchte stets das Abenteuer

07/13/2024
von Christ-und-Buch Günter Arhelger

Ein Gefangener 

Ich spürte, wie sich kaltes Metall um mein linkes Handgelenk legte, und hörte jemand mit barscher Stimme zu mir sagen: »FBI. Sie sind verhaftet.« Ich hatte es mir auf dem Rücksitz des Wagens bequem gemacht und meinen linken Arm dabei lässig aus dem Fenster hängen lassen. Der Wagen war gestohlen, ich selbst hatte mich unerlaubt von der Truppe entfernt. Daß ich keine Ausgangserlaubnis hatte, kümmerte mich wenig; aber daß sie mich nun doch geschnappt hatten, das verletzte meinen Stolz empfindlich. 

Ich hatte immer gemeint, ich könne mein eigenes »Ding drehen«, ohne dabei erwischt zu werden. Nun hatte ich das demütigende Dasein eines Gefangenen vor mir: die triste Gefängniszelle, das Schlangestehen um einen Blechnapf voll stinkigen kalten Futters, zurück in die eintönige Zelle, die harte Pritsche und nichts anderes tun, als ständig darüber nachzudenken, wie ich so dumm hatte sein können, mir diese Suppe einzubrocken. Seit meinem zwölften Lebensjahr hatte ich ein recht freies Leben geführt. Damals war nämlich ganz plötzlich mein Vater gestorben und hatte meine Mutter mit uns drei Jungen alleine zurückgelassen. Meine Brüder waren damals sieben und ein Jahr alt. 

Da die Fürsorgeunterstützung für den Lebensunterhalt nicht ausreichte, verdiente meine Mutter mit Wäschewaschen noch etwas hinzu. Sie redete immer davon, daß Papa in den Himmel gegangen sei und daß Gott für uns sorgen würde; aber ich konnte das nicht einsehen und lehnte mich mit der ganzen Kraft eines Zwölfjährigen gegen einen Gott auf, der so etwas zulassen konnte. Jeden Abend nach der Schule trug ich Zeitungen aus, bis es längst schon dunkel war; ich war fest entschlossen, das Leben zu meistern. 

Ich wollte herausholen, was herauszuholen war, und manchmal hatte ich das Gefühl, daß ich es auch schaffen würde. Meiner Meinung nach hatte ich das Recht, alles mitzunehmen, was ich in den Griff bekommen konnte. Als Mutter sich wieder verheiratete, zog ich zu Papas alten Bekannten. Ich besuchte die Realschule, arbeitete aber ständig nebenbei. Ich rbeitete nach der Schule und während der Sommerferien - als Packer, Versandangestellter, Linotypesetzer und einen Sommer als Holzfäller in Pennsylvanien. 

Dann ging ich aufs College, doch das Geld ging mir aus, und ich mußte wieder arbeiten gehen. Diesmal bekam ich einen Job als Stahlschleifer bei B & W Steel. Keine sehr angenehme Arbeit, doch ich blieb dabei in ausgezeichneter körperlicher Verfassung. Wenn ich das Rennen gewinnen wollte, mußte ich vor allen Dingen körperlich fit bleiben; in diesem Punkt wollte ich auf keinen Fall versagen. Ich wollte eigentlich nie in die Armee eintreten. Mein Wunsch war, bei der Handelsmarine zur See zu fahren. Für mich war dies die beste Gelegenheit, um am zweiten Weltkrieg aktiv teilzunehmen. Um in die Handelsmarine zu kommen, mußte ich jedoch von der Wehrdienststelle, die mich für den Collegebesuch vom Wehrdienst zurückgestellt hatte, neu eingestuft werden. Noch bevor es mir gelang, in die Handelsmarine zu kommen, wurde ich von der Armee eingezogen.

Dort wurde mir gesagt, ich könne mich freiwillig zur Kriegsmarine melden. Das tat ich dann auch, doch der Zufall wollte es, daß es nicht soweit kam. Der Sehtest, dem ich unterzogen wurde, fiel nämlich schlecht aus - ich war beim Lesen versehentlich eine Zeile zu tief gerutscht! So landete ich entgegen all meinen Bemühungen schließlich doch bei der Grundausbildung in Fort McClellan (Alabama). Dort langweilte ich mich zu Tode. Die Ausbildung war fade, und da ich das Abenteuer suchte, meldete ich mich freiwillig zur Ausbildung als Fallschirmspringer nach Fort Benning (Georgia). Wegen meiner rebellischen Grundhaltung war es für mich immer problematisch, mit meinen Vorgesetzten auszukommen. Trotz all meiner Bemühungen, nicht aufzufallen, kritisierten sie ständig an mir herum. Während eines körperlichen Trainings im Sägmehlgraben spuckte ich einmal gedankenlos auf die Erde. Der Feldwebel sah es und platzte los wie ein Wolkenbruch: »Heben Sie das sofort mit dem Mund wieder auf und tragen Sie es außer Sichtweite!« schrie er mich an. »Du machst wohl Witze«, dachte ich, do.ein Blick und sein zornrotes Gesicht belehrten mich eines anderen. So ging ich denn - meinen Groll und meinen Unmut sorgsam verbergend -‚ hob das Ausgespuckte und gleichzeitig einen Mundvoll Sägmehl auf und trug es »außer Sichtweite«. 

Die Entschädigung dafür kam, als wir zum erstenmal aus dem fliegenden Flugzeug springen durften. Das war das Leben, wie ich es suchte! Aufregend und abenteuerlich, wie ich es mir wünschte! Durch den dröhnenden Lärm der Motoren hindurch ertönte der Befehl: »Fertigrnachen ...Aufstehen! . . . Anhaken! . . . An die Tür' ...ABSPRINGEN!« Man wird von einem mächtigen Windstoß erfaßt und kommt sich vor wie ein Blatt im Wind. Wenn sich die Fallschirmleine ganz gestrafft hat, gibt es einen gewaltigen Ruck, daß man meint, alle Knochen würden einem zerbrechen. Man hat das Gefühl, als wäre man gegen einen Zehn-Tonner-Lkw geprallt. Wenn man dann aber wieder klare Gedanken fassen kann, schwebt man in einer schönen, stillen Welt; über einem wölbt sich wie ein riesiges weißes Seidendach der Fallschirm. Ich gehörte nun zur Luftlandetruppe und verdiente mir die Ehre, die glänzenden Fallschirmjäger-Stiefel zu tragen. Doch zufrieden war ich immer noch nicht. Ich wollte mehr Abenteuer und meldete mich freiwillig zu einem Lehrgang als Sprengstoffexperte. Ich wollte mitten hinein ins Kriegsgeschehen. Mein Motto war: je heißer die Schlacht, desto besser. Nach Absolvierung dieses Kurses für Sprengstoffexperten kehrte ich nach Fort Benning zurück und wartete auf den Befehl zum Dienst in Obersee. Ich schob Wache vor dem Militärgefängnis, machte Küchiidienst und wartete ab. 

Geduld war nicht gerade meine starke Seite. Ich befürchtete - falls es eine Truppenverschiebung geben würde—, daß mir am Ende der ganze Spaß noch entgehen könnte und ich vielleicht bis Kriegsschluß mit Pfannen-und Töpfescheuern beschäftigt sein würde. Ich war absolut nicht bereit, untätig herumzusitzen, und entschloß mich deshalb eines Tages, zusammen mit einem Freund das Weite zu suchen. Zu Fuß verließen wir das Militärgelände, stahlen unterwegs ein Auto und machten uns aufs Geratewohl auf den Weg. Für den Fall, daß uns doch jemand suchen sollte, ließen wir bald das erste Auto stehen und stahlen ein anderes. Schließlich kamen wir nach Pittsburgh (Pennsylvania). 

Dort ging uns das Geld aus, also entschlossen wir uns zu einem Raubüberfall. Ich hatte die Pistole, mein Freund wartete im Auto. Wir hatten uns ein Ladengeschäft ausgesucht, das für diesen Zweck geeignet schien. Unser Plan war, daß ich zunächst das Telefonkabel zerreißen sollte, damit die Polizei nicht verständigt werden konnte, aber so sehr ich auch daran riß, das Kabel wollte nicht nachgeben. Ich sah meinen Plan durchkreuzt. Zwar hatte ich die Pistole in der Tasche, und die Ladenkasse war sicher voll Geld, aber die Telefonleitung war eben noch intakt. Auf keinen Fall wollte ich eine Katastrophe heraufbeschwören. Ich ging also wieder zum Auto zurück und sagte meinem Kumpel, wie die Dinge standen. Wir saßen noch unschlüssig da, aßen grüne Äpfel und unterhielten uns auf dem Rücksitz des Wagens, als der lange Arm des Gesetzes zugriff. 

Wir wußten nicht, daß bereits in sechs verschiedenen Staaten Großfahndung ausgelöst worden und der FBI uns dicht auf den Fersen war. Meine Suche nach Abenteuern hatte ein ziemlich schmähliches Ende gefunden. Bald war ich wieder in Fort Benning - diesmal hinter Gittern. Noch vor wenigen Wochen hatte ich vor dem Militärgefängnis Wache geschoben. Ich wurde zu sechs Monaten Arrest verurteilt. Im Gefängnis startete ich sogleich eine Kampagne, um endlich den ersehnten Stellungsbefehl durchzusetzen. Meine Kumpels im Arrest lachten mich aus und sagten: »Du wärst doch bestimmt nicht abgehauen, wenn du nach Übersee gewollt hättest.« Aber ich beteuerte ihnen, daß mir nur das Warten zu—lang geworden wäre und daß ich deshalb abgehauen sei. Schließlich setzte ich meinen Antrag doch durch. Ich wurde für den Einsatz in Übersee eingeteilt und kam »unter Aufsicht« nach Camp Kilmer (New Jersey), wo ich im Militärgefängnis auf das Schiff wartete, das uns nach Europa bringen sollte.

Endlich war ich unterwegs - aber in einet anderen Richtung. Noch am Abend vor der Ausfahrt wurde ich ins Büro des Kommandeurs beordert. Dort wurde mir eröffnet, daß ich nicht mit der übrigen Truppe verschifft würde. »Der FBI hat verfügt, daß Sie hierbleiben und nach Pittsburgh zurückkehren.« Wieder spürte ich das kalte Eisen der Handschellen und wurde unter bewaffneter Aufsicht nach Pittsburgh zurückgebracht. Ein streng dreinschauender Richter verlas die Anklage und fragte dann: »Bekennen Sie sich schuldig oder nicht schuldig?« Auch meine Mutter war anwesend. Als ich ihr verweintes Gesicht sah, wurde ich weich. Nicht, daß mir mein Handeln leid getan hätte. Aber ich wollte unbedingt herauskommen und endlich mein Leben genießen. Je früher, desto besser. »Schuldig, Sir.« Ich war auf frischer Tat ertappt worden und nahm mir damals vor, es sollte das letzte Mal sein. Ich wollte nun die speziellen Tricks lernen und diese so meisterhaft anwenden, daß man mich nicht mehr in eine Falle locken würde. Der Bezirksanwalt klärte den Richter über meine Vergangenheit auf; dieser wiederum bat die Unersuchungsbeamten um ihre Empfehlung.

 »Wir plädieren für ein mildes Urteil.« »Angeklagter, was wünschen Sie?« fragte der Richter mich. »Ich möchte in den Wehrdienst zurück und so schnell wie möglich in den Krieg«, sagte ich kurz. »Das Urteil lautet auf fünf Jahre Haft in der Bundesstrafanstalt. « Seine Worte trafen mich wie ein Blitzschlag. Ich war neunzehn und würde vierundzwanzig sein, wenn ich herauskäme. Nun war mein ganzes Leben verpfuscht. »... das Urteil wird jedoch zur Bewährung ausgesetzt, Sie können in den Wehrdienst zurück.« Gerettet - Gott sei Dank! In knapp einer Stunde war ich entlassen. Doch zunächst las mir der Bezirksanwalt tüchtig die Leviten und sagte mir, wenn ich vor Ablauf von fünf Jahren die Armee verließe, müßte ich mich bei ihm wieder melden. Endlich frei! Ich fuhr auf schnellstem Wege nach Fort Dix (New Jersey) zurück, aber nur, um einen neuen Schlag versetzt zu bekommen.

In Fort Dix wurden meine Papiere überprüft, und ich wurde wieder ins Militärgefängnis gesteckt, um die sechsmonatige Haftstrafe zu verbüßen, die ich für unerlaubtes Entfernen von der Truppe bekommen hatte! Nun hatte ich nur noch einen Gedanken: entweder würde ich in den Krieg geschickt, oder aber ich würde draufgehen. Wiederum startete ich eine Kampagne, um nach Übersee verschifft zu werden. Ich belästigte den Kommandeur so lange, bis ich schließlich nach vier Monaten Haft entlassen wurde. Bald darauf bestieg ich die »Mauretania«, mit der ich den Atlantik überquerte. Zu sechst lagen wir übereinander in der Kabine. Ich hatte Glück, denn ich bekam die oberste Falle. Dadurch blieb ich wenigstens von den Duschen verschont, die sich ab und zu über die tiefer gelegenen Kojen ergossen, wenn einzelne sich erbrachen. Nicht, daß ich mir ernsthaft Sorgen gemacht hätte. 

Ich war froh, endlich unterwegs zu sein, und wollte keine Zeit mehr verschwenden. Ich wollte so viel wie möglich erleben und aus dem Krieg so viel wie möglich Gewinn schlagen. Während meiner Haft hatte ich etwas gelernt, das mir nun sehr zustatten kam. Ich hatte mich meisterhaft im Gewinnspiel geübt, und nun vertrieben wir uns auf dem Schiff die Zeit damit. Es gelang mir, ein ansehnliches Sümmchen auf die Seite zu bekommen. Nur ein einziges Mal wurden wir bei einem Zwischenfall an den eigentlichen Grund unserer Seereise erinnert, als ein deutsches U-Boot versuchte, uns zu treffen, aber das Ziel verfehlte. In England wurden wir in Eisenbahnwagen verladen, die uns zum Ärmelkanal beförderten. Dort bestiegen wir kleine Boote, in denen wir dann bei hohem Seegang den Kanal überquerten. Während unserer ganzen Überfahrt goß es in Strömen. 

Auf der französischen Seite angelangt, mußten wir in hüfthohes Wasser springen und an Land waten. Am Strand standen wir dann in tropfnasser Kleidung Schlange und faßten unsere eisernen Rationen. Mit der Bahn ging es weiter in östlicher Richtung. Ohne Halt durchquerten wir Frankreich und wurden dann auf LKWs umgeladen, die uns nach Belgien brachten. Dort trafen wir gerade rechtzeitig zur Schlacht der 82. Luftlandedivision ein.

Am ersten Tag meines Kampfeinsatzes entdeckte der Kommandierende Offizier in meinen Unterlagen, daß ich Sprengstoffexperte war. Sofort mußte ich an die Arbeit gehen und aus einem Haufen Plastik-Sprengstoff kleine Bomben fertien. Der Haufen war knapp einen Meter hoch. Ich zog einen.lzkIotz heran und machte mich an die Arbeit. Ein anderer Soldat half mir dabei. Ich erfuhr, daß er schon seit vielen Monaten bei dieser Einheit war. Während er mir von seinen Erlebnissen bei der 82. Luft-landedivision erzählte, sah ich in der Ferne feindliche Artilleriegeschosse explodieren. Die Explosionen kamen immer näher auf unsere Stellung zu. Ich schielte mit einem Auge zu meinem Kameraden hinüber, um zu sehen, wann er wohl das Signal zum In-Deckung-Gehen geben würde. 

Er hatte ja schon so viel Kampferfahrung, während ich noch Neuling war. Ich wollte mich auf keinen Fall feige zeigen. Die Explosionen kamen immer näher, meine Angst nahm zu. Würde eines dieser Geschosse bei uns einschlagen, dann wäre von dem Stapel Bomben nur noch ein riesiger Krater übrig. Aber der andere saß da und kümmerte sich überhaupt nicht um das Artilleriefeuer. Ich war verzweifelt und wäre um alles in der Welt gerne in Deckung gegangen, aber ein Feigling wollte ich auch nicht sein. Schließlich schlugen die Geschosse auf der anderen Seite ein. Sie hatten ihr Ziel verfehlt! 

Zwei Tage später erfuhr ich dann, weshalb sich der andere Soldat so gelassen gegeben hatte. Wir gingen beide durch einen Wald, der als schwer vermint galt. Ich behielt die Augen offen und achtete sorgsam auf irgendwelche Anzeichen von Sprengfallen; doch der andere ging seinen Weg, als ob es überhaupt keine Gefahr gebe. Schließlich fragte ich ihn: »Weshalb achtest du eigentlich nicht auf die Minen?« »Wenn es mich doch nur erwischen würde«, antwortete er. »Dieser Saukrieg stinkt mir langsam. Lieber heute als morgen ins Gras beißen.« Von da an blieb ich ihm so fern wie nur irgend möglich! Bei Kriegsende ging ich mit dem 508. Luftlanderegiment nach Frankfurt am Main, wo ich als Leibwächter für General Dwight D. Eisenhower eingesetzt wurde.


ISBN-13: 9783872280527
Format: 18 x 11 cm
Seiten: 93
Gewicht: 104 g
Verlag: Johannes Fix
Erschienen: 1974
Einband: Paperback