D Schriftsteller

Dembsen Ewald, Die Brücke über den San

05/15/2023
von Christ-und-Buch Günter Arhelger

Die Brücke über den San

»In der letzten Nacht traf im Lager Friedland wieder ein Transport von Umsiedlern aus Rußland. ein. Es sind fast alles Volksdeutsche aus Polen, die im Kriege von den Russen nach Kasachstan verschlepptwren. In der Mehrzahl Frauen und Kinder.« So ging es durch die Nachrichten im Rundfunk und in den Zeitungen. Von einem Empfang, wie er einst den heimkehrenden Kriegsgefangenen bereitet wurde, war nichts zu hören und zu lesen. Ob sie weniger Anteilnahme verdienten; vielleicht, weil sie »nur« Volksdeutsche waren und die Kinder besser russisch als deutsch sprachen?


Zwei von ihnen lernte ich gut acht Tage später ken-en: Zwei Frauen, die ich auf etwa 60 und 40 Jahre hätzte, betraten meine Amtsstube als Bürgermeister. je hatten hier Verwandte und sollten hier auch Woh-üng und Arbeit finden. Als ich die Geburtstage auf-hrieb, gab die jüngere an: geboren am 10. 9. 1939 in
1.jelikije Zentowka am Sn.
Wjelikije Zentowka am San —10. 9. 1939.—Ich sehe tf und die beiden Frauen an. Plötzlich steht das alles. ieder vor mir, was mich seit den Tagen des »Blitzkrie-es« gegen Polen durch die Jahre als Frage begleitete d meinen Vorgesetzten Anlaß gegeben hatte, mich en den Beförderungen auszuschließen, weil ich kein zackiger« Soldat wäre. Wie war das damals?
Früher Nebel lag noch über den Pregelwiesen um uü, seren Flugplatz, als uns der Einsatzbefehl aus den Betten riß. Den einzelnen Maschinen wurden Sonderaufgaben im Einsatzraum zugewiesen. Wir sollten die Brücke über den San bei Wjelikije Zentowka durch unsere Bomben zerstören, um dem Gegner den Rückzug abzuschneiden.
Es war ein wunderbarer Flug über die ostpreußische Landschaft mit den gelben Gevierten der Stoppelfelder, den braungrauen der Kartoffeln, dem Blaugrün der' Wälder und den dunklen Augen der Seen. »Land der dunklen Wälder und kristallen Seen ... «‚ summte ich vor mich hin. Neben uns die weißen Schaumberge der Haufenwolken, die sich in den großen Wassern spiegelten. Eine stolze und zugleich demütige Freude erfüllte - unsere Fliegerherzen ob der Schönheit der Natur und der Kunst des Fliegens, die dem Menschen diese Wunder erschloß. Wer denkt da an Krieg? Es war ein Flug wie im Frieden. Keine Gegenwehr störte uns, als wir die Weichsel aufwärts flogen. Das mußte schon der San sein, der dort von Osten her seine Fluten der Weichsel zuführt! Und da - ein Blick auf die Karte bestätigte es: Das da ist die Brücke von Wjelikije Zentowka!
Friedlich liegt ein sauberes Großdorf an der geraden Straße, die über die Brücke führt. Bis auf das andere Ufer haben sich die Häuser vorgeschoben. Ringsum Felder, wie wir sie ähnlich in der Heimat überflogen
haben.
Das Graugelbe da müssen Maisfelder sein! Und das Leuchtende dort Sonnenblumep.felder! Einige Bauern brechen mit vier Pferden vor dem Pflug schon die Stop pelfelder um. Das Ganze ein Bild tiefsten Friedens. Die Brücke ist unverteidigt. Am Ufer des San ein paar Frauen beim Wäschespülen. Wir sehen ihr Spiegelbild im stillen Wasser zwischen den Buhnen. Ihre weißen Kopftücher grüßen zu uns herauf wie Wollgrasblüten aus einer grünen Wiese. Und nun winken sie auch mit ihrer nassen Wäsche!
Wißt ihr da unten denn gar nicht, daß Krieg ist? Daß in wenigen Minuten die Trümmer der Brücke über euer Dorf fliegen werden?
Nun kommen sie, durch das fremde Brummen in der Luft angelockt, aus den Häusern und Höfen! Überall zwischen dem Dunkel der Kleidung diese weißen Kopftücher zwischen den Häusern! - Die werden sich wundern, wenn ihnen die Fensterscheiben in die Stuben fallen!
Soll ich sie noch warnen? - Die sollen was erleben! Es ist ja Krieg, und wir sind über Feindesland! - Krieg? Feinde? - Was haben die da unten mir getan —haben die mich durch ihr Winken angegriffen? Ich muß runtergehen und sie wenigstens warnen. Niedrig brausen wir über die Dächer hin, daß das Federvieh erschrocken flüchtet. Eine warnende Garbe aus dem Maschinengewehr wird vom Brummen unserer Motoren übertönt: Ein Winken vieler Hände ist die Folge!
Nun sollen sie aber merken, daß es ernst wird: Ich setze zum Angriff auf die Brücke an. Da kommen sie winkend an den Fluß gelaufen, ja die Kinder, allen voraus, sind mitten auf der Brücke, um besser sehen zu können! Halten die das alles für Spaß? Wissen die nichts vom Krieg, der schon zehn Tage durch ihr Land tobt?
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Und wissen die nicht, was sie von uns zu erwarten haben?
Aber kann ich das verantworten, in diese grüßenden Kopftücher, in diese Kinder auf der Brücke den Tod zu werfen? - »Befehl ist Befehl!« -Und lassen wir unsere Bomben fallen, dann geht nicht nur die Brücke, sondern ein großer Teil des Dorfes diesseits und jenseits der Brücke mit in die Luft! Und die Menschen, diese Menschen?! Nach einem neuen Bogen fliegen wir dicht über der Brücke hin. Sie ducken sich; aber winken zu uns hoch. Und diese Wehrlosen soll ich in den Tod schicken?
»Ich schwöre bei Gott diesen. heiligen Eid, daß ich . . . unbedingten Gehorsam leisten ... «‚ so heißt es im Fahneneid. Jawohl, bei Gott! Und weil ich meinen Eid vor Gott verantworten muß, darum: Nein und abermals Nein!!
Don, der lange, blaue Schlauch in der grünen Wiese, wohl ein alter Arm des San, weit genug weg von Dorf und Brücke, der soll unsere Bomben aufnehmen. Hochauf spritzen die Wasserfontänen. Eine Runde noch über das • Dorf. Kein Arm hebt sich mehr zum Gruß. Wie von Entsetzen gelähmt stehen sie vor ihren. Häusern.
Wir sind zurück. Hatten wir recht getan? Meine Kameraden in der Maschine geben mir die Hand: sie werden schweigen. Wenige Tage später ist der Polenkrieg zu Ende. Ich sage meinem Kommandeur, wie es wirklich war. Er sieht mich lange und unverständig an: »Merken Sie sich: Im Kriege gibt es keine Menschen auf. der anderen Seite, sondern nur Feinde! Mit solcher Ge fühlsduselei kann aus Ihnen nie ein zackiger Soldat werden! Wenn ich die Sache weitergebe, sind Sie geliefert!« Er nahm es mir nicht übel, daß ich bald die Luft mit der Erde vertauschte.
Das alles steht wieder vor mir, als ich schreibe: »Beck, Lydia, geboren am 10. 9. 1939 in Wjelikije Zen-towka am San (Polen)«. Ich sehe über das Formular zu den beiden Frauen hin, deren Gesichter noch die Jahre in der kasachstanischen Steppe widerspiegeln. Und ihre Augen wachen auf, als wir von ihrer Heimat sprechen: jenem alten schwäbischen Kolonistendorf am San. Die Ältere erzählt stolz von dem großen, schmucken Hof, dicht am Ufer, unweit der Brücke über den San.
»Und«, sagte die ältere in ihrem schwerfälligen Deutsch, dem man noch die schwäbischen Reste anmerkt, »als der Pfleger fort war, wurde meine Lydia hier geboren!«
Sie begreifen nicht, warum ich ihnen so herzlich danke, daß sie gekommen sind, zu mir gekommen sind: Das hat ihnen noch keiner hier gesagt.
Aber ich weiß es jetzt ganz gewiß: Wir sind und bleiben Menschen; und kein Eid kann uns die Verantwortung vor Gott füreinander abnehmen. Und wenn ich die Lydia Beck durch unser Dorf gehen sehe, dann sehe ich jene Brücke über den San vor meinen Augen.

​Gottes Herrlichkeit wird sichtbar, Heinz-Horst Deichmann

03/24/2023
von Christ-und-Buch Günter Arhelger

Gottes Herrlichkeit wird sichtbarBV13403-5.jpg?1679648895916

Vor Leprakranken in Mandapeta
Vor 22 Jahren war ich zum ersten Mal bei euch hier in Mandapeta. Ich muß euch sagen, ich wurde reich gesegnet durch euch, die ihr hier um mich herum sitzt. Zuerst hatte ich Angst vor euch mit all euren Gesichtern, die die Zeichen der Lepra tragen. Doch dann sah ich, wie mein Bruder, John David, euch umarmte und• euch die Hand schüttelte. 

Und plötzlich kam es in mein Herz: Auch unser Herr Jesus Christus, dem wir dienen und dessen Evangelium wir predigen wollen, berührte euch. Er umarmte euch, weil er euch liebte. Er heilte die Leprakranken, weil er sie liebte. Er hatte Mitleid mit ihnen. Heilung und Speisung sind Dinge, die unser Herr tat und die wir auch tun. Doch noch wichtiger ist die ewige Speise. Jesus sagt: "Ich bin das Brot des Lebens." Ihr habt von dem Brot gegessen, das Jesus Christus ist. Ihr habt von dem Blut getrunken, das am Kreuz von Golgatha vergossen wurde zu eurer Rettung. Das wurde mir bewußt, als wir mit 500 Menschen in Mandapeta zusammen waren, mit Brüdern und Schwestern im Herrn, als wir das Brot zusammen aßen und den Wein zusammen tranken, ich selbst schob einigen das Brot zwischen ihre Lippen und goss einigen den Wein in den Mund, denn sie hatten keine Hände, keine Finger, um es selbst zu tun. 

Da wurde mir plötzlich bewußt: Der Herr ist mitten unter euch. Ich sah eure leuchtenden Gesichter. Im Epheserbrief heißt es in einem Vers: "Er ist in euch," Wisst ihr, er wird in euch leben. Er schickt seinen Heiligen Geist herab zu euch, in euch hinein. Christus ist in euch: die Hofihung auf die Herrlichkeit. Gottes Herrlichkeit spiegelt sich in euren Gesichtern wider.
Im 2. Korintherbrief, Kapitel 4, Vers 6 lesen wir, dass Gott die Welt aus der Dunkelheit erschaffen hat. Er, Gott, sprach: "Es werde Licht!" Und es wurde Licht. Es heißt dann weiter: Gott scheint in unsere Herzen, damit durch uns alle Menschen Gottes Herrlichkeit erkennen sollen, die in Jesus Christus sichtbar wird. Es ist Gott selbst, der die Dunkelheit aus unserem Herzen vertreibt, Er schenkt das Licht, das in unserem Herzen scheint. Wir sehen seine Herrlichkeit in Jesus Christus.
Jesus Christus war nicht wie einer der irdischen Könige. Er verließ den Himmel, er verließ seinen Vater, um für uns da zu sein. Er wurde arm wie ihr, wie wir alle. Und dann gab er sein Leben für uns.
Er litt für uns. Am Kreuz starb er mit ausgestreckten Armen für uns Er streckte seine Hände zu uns aus Das ist Gottes Liebe zu uns Keiner von euch oder von uns wird so leiden, wie Jesus für uns gelitten hat. Ich sehe Gottes Herrlichkeit auf euren leuchtenden Gesichtern. Wir sehen Gottes Herrlichkeit im Angesicht des sterbenden Jesus aufstrahlen. Es ist Gottes Kraft, die die Macht des Teufels besiegt hat wie auch alle schlechten Dinge, alle Missetaten und alles, was wir gegen Gott getanhaben.
Gott nahm das Opfer von Jesus Christus an. Jesus wurde von den Toten auferweckt. Am dritten Tag erstand er von den Toten. Er lebt jetzt zur Rechten Gottes. Er wird immer der Gekreuzigte bleiben.
Das ist das Wunder, das wir nicht verstehen können. Er ist das geschlachtete Lamm am Thron Gottes im Himmel. Alle Macht im Himmel und auf der Erde wurde ihm gegeben. Wir sind nicht allein. Jesus Christus lebt. Er ist jetzt auf der Erde gegenwärtig, gerade weil er im Himmel auf Gottes Thron ist. Und er wird wiederkommen. Dann wird die Erlösung beendet. Er wird uns unsere eigene Auferstehung bringen. Wir werden alle an dieser Auferstehung teilhaben, an diesem neuen Leben, das wir durch den Geist schon erhalten haben. Aber dann wird es sichtbar werden.

Wir warten also auf jenen Tag. Aber wir sind hier nicht allein. Wir haben hier Brüder und Schwestern. Und wir sind Diener von Jesus Christus. Wir alle wollen ihm dienen. Wie können wir es tun? Wie können wir dem lebendigen Gott dienen? Wir sind voller Sünden und Fehler. Jeden Tag sündigen wir. Aber es gibt Vergebung durch Jesus Christus. Wir sind mit unserer Schuld nicht allein. Er gibt uns seine Kraft. Denn er schickt seinen Geistauf die Erde, nicht nur zu Pfingsten. Er tut es jeden Tag, wenn ein Mann oder eine Frau oder ein Kind zum Glauben an Jesus Christus als Erlöser kommen. Durch diesen Heiligen Geist haben wir Gaben erhalten. Wir wollen euch also in der Kraft Gottes dienen. Durch Gottes Gnade, durch Gottes Gaben. Darum sind wir für Gottes Gnade dankbar. Darum sind wir für die Gemeinschaft mit euch dankbar. Vielleicht kommt ihr uns entgegen, wenn wir in den Himmel kommen. Ihr werdet dort sein. Wir werden uns dort in der Ewigkeit wiedersehen. Ihr werdet völlig geheilt werden. Laßt uns den Herrn loben. Preist den Herrn! Halleluja! Amen.

Quelle

ISBN:    9783935170000 
Format:    19 x 12,5 cm
Seiten:    128
Gewicht:    220 g
Verlag:    Selbstverlag
Einband:    Hardcover mit Bildumschlag

Adeles Wandlung Käthe Dorn

01/23/2023
von Christ-und-Buch Günter Arhelger

Adeles Wandlung - Käthe DornH38.jpg?1674492923284

Inhalt
1. Kapitel Hätt' ich's doch auch so gut!
2. Kapitel Keine Pflichten
3. Kapitel Emsig wie die Bienchen . .
4. Kapitel Mit heller Freude

1. Kapitel
Hätt' ich's doch auch so gut!
»Adele! Du Ideal einer überfleißigen Haustochter, hörst du denn gar nicht? Ich hab dich schon wer weiß wie oft gerufen. Kannst du nicht auf ein. paar Augenblicke zu mir herüberkommen? Ich möchte dir so gern mein neues Mädchenstübchen zeigen, das Papa mir nach meiner Heimkehr aus der Pension hat einrichten lassen.«

Über der wilden Rosenhecke am Gartenzaun tauchte ein dunkler Mädchenzopf auf - und bald wurde die ganze Gestalt einer sehr jungen Dame sichtbar, die noch im Backfischalter stand.
Die Gerufene wandte den Kopf und sah lächelnd zu ihrer liebsten Freundin empor, die jetzt droben auf der Gartenmauer kniete und sich mit beiden Händen an den Zweigen eines blühenden Apfelbaums festhielt.
»Gerda! Du wirst herunterstürzen«, riet sie besorgt.

»Ach, keine Ahnung«, lachte der Wildfang, »ich hab' Übung im Klettern wie ein Eichkätzchen - « und mit einem raschen Satz schwang sie sich über die Brüstung und sprang gerade vor Delas Füßen nieder in das weiche Gras.
Adele machte eine beschwichtigende Bewegung und zeigte mit der Hand auf einen nicht weit davon stehenden Kinderwagen, dessen himmelblaue Vorhänge sorglich zugezogen waren.
Gerda nahm eine schmollende Miene an. »Natürlich schon wieder stellvertretende Mutterpflichten, wenn man dich einmal auf ein halbes Stündchen haben will, als ob der Bengel das einzige Anrecht auf dich besäße. Wozu hat er denn
Hanne, das Ideal einer Kinderfrau?«

»Papa meint, es sei meine Pflicht, ihn unter meine besondere Obhut zu nehmen. Du weißt ja, daß Mama beständig leidend ist.«
»Na du! Das wird aber unbequem mit der Zeit. Ich glaube, ich eignete mich wenig dazu. Huh, wie langweilig!« Gerda schüttelte sich lachend.
Adele seufzte leise. »Ja du! Du hast es viel besser in allem. Von dir verlangt niemand einen Dienst. Du hast keine jüngeren Geschwister und auch keinen großen Bruder, der fortwährend Anspruch auf Gefälligkeiten erhebt«
Gerda lachte leise auf. »Um den würde ich mich gerade kümmern! Der dankt dir's doch sicher nicht. Hab' ich recht?«
Dela nickte. »Er tut immer, als könnte er alles als sein gutes Recht verlangen.«
»Na, siehst du, du bist eben ein kleines Schäfchen. Jetzt komm aber, derjunge schläft ja wie ein Murmeltier; der wird wohl ein Viertelstündchen allein bleiben können.«

Sie zog die Halbwiderstrebende mit sich fort durch das Pförtchen in den nachbarlichen Garten. Leichtfüßig eilten die beiden schlanken Gestalten durch die schattigen Wege dem Hause zu und standen bald darauf in Gerdas Mädchenstübchen. Adele stand still vor Staunen und konnte sich nicht satt sehen an all der Pracht und dem Luxus, der hier vereinigt war.
»Na, Kind, so sag doch etwas!«
»Ach, Gerda, du mußt doch überglücklich sein«, sagte Dela langsam.
»Überglücklich?« Gerda lachte und drehte sich auf dem Absatz herum. »0 ja, es ist wirklich nett geworden. Aber weißt du, Schatz, mit der Zeit fängt alles an, langweilig zu werden. Man sieht sich bald satt an dem Zeug.«
Die beiden jungen Mädchen setzten sich auf das zierliche Sofa und tauschten Pensionserinnerungen aus. Sie waren ganz versunken darin und vergaßen darüber die flüchtige Zeit. Plötzlich fuhr Adele erschrocken auf. Aus dem Nachbargarten war klägliches Weinen gedrungen. »Um Gotteswillen, das Kind!« Sie stürzte ans Fenster.

»Hab doch nicht solche Angst«, beruhigte sie Gerda. »Du siehst ja, Hanne bietet bereits ihre schätzenswerten Kenntnisse auf, es zu beschwichtigen.« Sie suchte die Freundin zu halten, aber Dela war es ungemütlich geworden. Sie eilte davon. Als sie durch das Mauerpförtchen trat, kam eben die Mama eilig aus dem Hause. Auf ihrem feinen, blassen Antlitz lag der Ausdruck des Schreckens. Dela senkte den Blick vor den dunklen Augen der Mutter, sie las einen Vorwurf darin.
»Verzeih, Mama«, sagte sie, an das Bettchen tretend, »Ich glaubte, Armin schliefe fest; ich wollte auch nicht so lange bleiben. Gerda wünschte mir nur ihr neues Zimmer zu zeigen.«
Die junge Frau strich ihr leise über das blonde Haar. »Ich gönne dir's ja von Herzen, wenn du mit deiner Freundin zusammen bist. Es tut mir leid, daß ich dir das Kind sooft zur Last legen muß.«
»Aber Mama!« Delas Gesicht überzog sich mit dunkler Glut. Der Mutter Sanftmut traf sie härter, als eine Strafpredigt es getan hätte. »Du siehst wirklich sehr schlecht aus, Mama! Bitte, schone dich, ich gehe nicht wieder fort von dem Kleinen!«

»Du bist mein gutes Kind«, sagte die junge Frau leise. Sie sah der Stieftochter freundlich in die Augen und kehrte ins Haus zurück.
Adele sah ihr nach. Sie merkte es der schwankenden Gestalt an, wie schwer ihr jeder Schritt wurde, und heiße Beschämung stieg in ihr auf. Sie gelobte sich, in Zukunft nicht wieder pflichtvergessen zu sein. Aber sie atmete doch wie erlöst auf, als das Kind abends in seinem Gitterbettchen lag und ihre Aufgabe für den heutigen Tag erfüllt war. Nach dem Abendbrot huschte sie noch ein wenig in den Garten hinab, wo die Freundin schon ihrer harrte, und bald wandelten beide, lebhaft plaudernd, Arm in Arm durch die schattigen Gänge.
»Hast du deinen Schreihals für heute endgültig zur Ruhe gebracht?« warf Gerda im Laufe des Gesprächs hin. »Es gab wohl eine große Strafpredigt heute nachmittag von Seiten der gnädigen Frau Mama?«
Adele errötete. »Mama schilt nie; sie ist immer gut Zu mir.«
»Hm, ja! So sieht's aus. Immer sanft wie ein Reh. Aber in den gewiß wunderschönen Augen steht eine ewige Anklage gegen ihre große Tochter geschrieben. Ich bin fest überzeugt, du machst ihr nichts recht«, schloß sie im Tone innigster Überzeugung.

Adele stimmte nicht mit ein in die lieblosen Äußerungen der Freundin, aber sie widersprach auch nicht. Schweigend ließ sie den Redestrom über sich ergehen, und dabei regte sich leise in ihrem Herzen der alte Trotz, mit dem sie der Stiefmutter zuerst begegnet war. Die weiche Regung von heute nachmittag war vergessen. Sie schämte sich derselben jetzt fast.
»Adele!« klang es plötzlich in den Garten hinab. Eine jugendfrische, kräftige Männerstimme rief der Schwester Namen. »Komm herauf, es wird kühl unten.«

»Horch! Dein gestrenger Herr Bruder ruft; da will ich dich ja nicht abhalten. Gute Nacht, mein Herz!« Gerda küßte die Freundin zärtlich und huschte über den Kiesplatz dem nachbarlichen Garten zu. Adele stieg langsam die Treppe empor; sie war wie traumbefangen, aber es war ein böser Traum. Die Äußerungen der leichtfertigen Freundin hatten Gift in ihre junge Seele geträufelt. Als sie oben ankam, suchte sie ihr Zimmer zu erreichen. Sie tat, als sähe sie den Bruder nicht, aber dieser vertrat ihr den Weg und faßte nach ihrer Hand.
»Dela«, sagte er im Ton ernsten Vorwurfs, »ich bitte dich, verkehre nicht so viel mit dieser Gerda Walther. Sie verdirbt dein junges Gemüt.«

Das junge Mädchen machte sich hastig frei. »Du gönnst es mir nicht, daß ich eine treue Freundin habe. Was habe ich denn überhaupt sonst?« sagte sie in ausbrechender Bitterkeit. »Ihr alle findet ewig zu tadeln an mir. Gerda ist die einzige, die mich wirklich lieb hat.«
»Adele, das glaubst du doch selber nicht. Sieh, ich meine es nur gut. Du hast schon gelitten unter diesem Einfluß, du bist nicht mehr das liebevolle Kind, das ich so liebte.«

»Das weiß ich längst«, gab sie trotzig zurück. »Du verhätschelst nur noch Lore, das wilde Ding.«
»Bist du es nicht selbst gewesen, die mir das Vertrauen entzogen hat?« entgegnete der Bruder schmerzlich bewegt. »Wäre es nicht besser, wir ständen wie früher treu zusammen und freuten uns gemeinsam an dem sonnigen Wesen unserer herzigen Lore - und ja und nähmen auch gemeinsam warmen Anteil an unserm lieben Nesthäkchen, das unsern Familienkreis bereichert hat?«
»Armin, meinst du? Kümmere ich mich etwa nicht um ihn? Sehe ich nicht auch Lores Schularbeiten täglich durch und halte ihre Sachen in Ordnung? 

Oder lasse ich etwa einen deiner Wünsche unberücksichtigt? Was willst du eigentlich noch mehr von mir? Willst du etwa mein Benehmen gegen Papas zweite Gattin tadeln? Habe ich ihr je den schuldigen Gehorsam verweigert?« -
»Das nicht, Adele!« gab der Bruder ernst auf dieses große Fragenheer zurück. »Du erfüllst deine Pflichten wohl gewissenhaft -‚ aber nicht mit freudigem Herzen, besonders Mama gegenüber. «
»Zur Liebe gegen sie kann ich mein Herz nicht zwingen«, entgegnete sie ihm trotzig. »Ich liebe meine selige Mama, die steht mir höher. Aber du hast keinen Funken Pietät für die Verstorbene, du hängst an der neuen Mutter wie ein kleines Kind.«

Der junge Mann erblaßte leicht. »Adele, vergiß dich nicht! Du weißt selbst am besten, wie tief wir beide unserer eigenen Mutter nachgetrauert haben!«
»Bis die von dir angebetete Stiefmutter kam,« murmelte Adele verbittert vor sich hin. Kurt überhörte diesen Einwurf geflissentlich und fuhr ruhig fort: '>Aber ich habe es meinem Vater nicht verdenken können, daß er eine zweite Frau in sein Haus einführte, zu dessen alleiniger Führung du noch zu jung warst, liebes Schwesterchen. Und ich muß sagen, ich habe Mamas stilles, sanftes Wesen, ihr edles, selbstloses Herz kennen und schätzen gelernt und kann ihr deshalb meine Hochachtung und auch eine gewisse Zuneigung nicht versagen. 

Denn sie ist uns Kindern aus der ersten Ehe wirklich mit warmem Herzen entgegengekommen. Doch sie drängt dabei ihre Liebe niemandem auf. Ich weiß aber, daß es sie bitter schmerzt, daß gerade du, an der sie am meisten zu hängen scheint, ihre dir mehr schwesterlich-freundschaftlich entgegengebrachte Liebe so wenig erwiderst. «
Adele hatte die letzte Rede ihres Bruders schweigend angehört. Sie war nachdenklich dabei geworden. Ihre Hand lag unentschlossen auf der Türklinke, in ihrem jungen Herzen kämpfte es. Doch ach! Dann siegte der von Gerda aufgewühlte Trotz in ihr. Sie wandte sich zum Gehen. »Wünschst du vielleicht noch etwas?« fragte sie halb über die Schulter zurück.
»Nein, ich danke dir, Adele! - Möchtest du aber nicht noch einmal nach Mama sehen? Sie scheint heute sehr leidend zu sein.«
»Hat sie nach mir gefragt?«

»Das nicht! Aber sie würde sich vielleicht freuen, wenn du von selber kämst.«
Adele schwankte einen Augenblick. Dann klinkte sie rasch die Tür ihres Mädchenstübchens auf. »Ich will sie nicht mehr stören, es ist schon spät. Gute Nacht!«
Noch ehe der Bruder auf die letzte Entgegnung antworten konnte, stand er vor der verschlossenen Tür. Er wandte sich mit einem tiefen Seufzer um und schritt in sein eigenes Zimmer.
Der nächste Morgen fand die Familie am Kaffeetisch vereinigt. Die Mutter saß, blaß und still, aber freundlich lächelnd, im Kreis ihrer Lieben. Der Vater schien Eile zu haben; Kurt rührte, ernst vor sich hinblickend, in seiner Kaffeetasse, selbst Lore war heute merkwürdig still. Das Brüderchen schlief noch.
Adele hatte ihr Frühstück schon beendet. Sie strich schweigend die Brötchen für Vater und Bruder zum Mitnehmen und wickelte sie ein. Da kamen die Postsachen an und brachten etwas Leben in den stillen Kreis; besonders erweckte ein an die Hausfrau gerichteter Brief allgemeines Interesse.

»Meine Schwester Marie hat sich zu mehrtägigem Besuch angemeldet«, wandte sich die junge Frau, nachdem sie den Brief überflogen hatte, an ihren Gatten und reichte ihm das offene Schreiben hin. »Ist es dir recht, wenn sie kommt, Arno?«
»Natürlich, mein Herz«, beeilte sich dieser zu versichern. »Es ist mir sogar sehr lieb, denn ich kann dir ohnehin jetzt so wenig Zeit widmen. Der Gang des Geschäftes erfordert meine ganze Kraft.«
»Auch mich freut es um deinetwillen, Mama«, warf Kurt lebhaft ein.
Lore war von ihrem Sitz herabgeglitten und schmiegte zärtlich ihr dunkles Lockenköpfchen an der Mutter Knie.
»Mama, wie sieht denn die Tante aus?« forschte sie nach Kinderart. »Auch so schön wie du?«
Die junge Frau lächelte und strich sanft über das Haar der Kleinen. »Jedenfalls sieht sie lieb und freundlich aus. Wirst du sie auch liebhaben, mein Kind?«

»Freilich, Mama, so lieb wie dich!« und Lore kletterte ihr flink auf den Schoß und schlang beteuernd die kleinen Arme um ihren Hals.
Die Mutter drückte sie an sich, ihre Augen aber schweiften hinüber zu Adele, die ruhig ihrer Beschäftigung nach ging, als ginge sie die ganze Sache gar nichts an.
»Nun, was meint denn meine große Tochter dazu? Bist du auch einverstanden, Dela?«
»Gewiß, Mama! Ich habe nie etwas gegen deine Anordnungen einzuwenden.« Es klang freundlich, aber es lag auch nicht ein Hauch von Herzlichkeit in ihrer Stimme.
Die junge Frau fühlte es und wandte sich schweigend ab; ein schmerzliches Zucken lief um ihren Mund. Dann stand sie auf, den beiden Herren, die sich zum Weggang rüsteten, Lebewohl zu sagen. Herr Werner küßte seine junge Frau, und Kurt zog artig ihre Hand an seine Lippen. Dann reichte er Adele die Hand und suchte ihr dabei in die Augen zu sehen. Aber Dela behielt dieselben hartnäckig gesenkt.
Es waren nicht gerade sehr freundliche Gedanken, die hinter der weißen Stirn kreisten.
»Für mich gibt es nur wieder neue Pflichten«, war ungefähr ihr Gang; »Das Vergnügen will ich den andern überlassen.«
Adele hatte sich so in diese Anschauung der Dinge verrannt, daß sie sich förmlich darin gefiel, sich selbst für eine Märtyrerin zu halten.
Sie bemühte sich daher, alles als aufgelegte Last mit ruhiger Würde zu tragen. Wie schwer sie dadurch sich und allen andern das Leben machte, ahnte sie nicht. Am meisten litt die junge Stiefmutter darunter. Sie hätte sich gern den Weg zum Herzen der Tochter gebahnt, aber alle ihre Versuche prallten ab an der gleichmäßigen, ruhigen Freundlichkeit, die jedes wärmere Gefühl ausschloß. Sobald Vater und Bruder das Zimmer verließen, griff Adele nach dem Schlüsselkörbchen.
»Ich will gleich nach dem Rechten sehen im Gaststübchen.«
»Nimm mich mit Dela«, sagte die junge Frau in fast bittendem Tone. »Wir wollen das Stübchen der Tante gemeinsam schmücken.«
»Bemühe dich nicht, Mama. Du sollst dich ja nicht anstrengen«, klang es kühl zurück, und ohne eine Antwort abzuwarten, war Adele hinausgeeilt.
Die junge Frau seufzte tief auf. Sie trat ans Fenster und schaute schweigend hinaus in den morgenfrischen Garten. Dann schweifte ihr Blick durchs Zimmer. 

Es war alles so schön darin. Warum sie sich nur nicht so recht von Herzen daran zu freuen vermochte? Trug nicht ihr Gatte sie auf den Händen; begegnete ihr nicht Kurt stets zart und ritterlich, und hing nicht Lore mit ganzer Zärtlichkeit an ihr? Und besaß sie nicht noch ein besonderes Glück - ihr eigenes Kind? Es blühte so viel Liebe um sie her. Doch anstatt sich darin reich zu fühlen, verzehrte sie sich um das eine Herz, das sich ihr entzog. Sie schalt sich selbst töricht! Aber sie mußte immer und immer wieder um die Liebe ihrer großen Tochter werben, obwohl sie nur Niederlagen, Schmerz und Enttäuschung von ihrer Seite erfuhr.
Ein schwerer Seufzer hob ihre Brust. Sie wandte das Auge flehend zum Himmel empor. »0 Gott! Ich kann nicht mehr. Du weißt, ich wollte ihr eine gute Mutter, eine Vertraute und schwesterliche Freundin sein. Wie soll ich ihr noch anders begegnen? Ach Herr! Erbarme du dich über diesen Mißklang unserer Herzen.«

»Mutti! Du hörst ja gar nicht, daß Armin weint«, weckte sie endlich Lore aus ihren düsteren Betrachtungen.
Die junge Frau fuhr erschrocken zusammen und eilte ins Nebenzimmer.
Der Kleine saß aufrecht im Bett. »Mama fort!« weinte er kläglich. Als er die Mutter sah, flog es wie Sonnenschein über sein Gesichtchen. Er streckte ihr die Arme entgegen, und die Mutter preßte ihn zärtlich an sich. Jetzt leuchtete das Antlitz der jungen Mutter im reinsten Glück. Sie kleidete selbst ihren kleinen Sohn an, während Lore in der Küche das Frühstück für ihn bestellte. Dann begaben sich alle drei in den Garten.
Der Vormittag verfloß still und ruhig. Ab und zu ging die junge Frau ins Haus zurück, um hier und da nach dem Rechten zu sehen. Dabei traf sie Dela, die dann sehr eifrig war in ihren häuslichen Beschäftigungen.
»Nimm dir Zeit, mein Kind«, rief sie ihr freundlich zu. »Laß mich lieber ein wenig helfen, wenn dir 's zuviel wird.« »Nein, Mama, ich danke dir; ich tue ja nur meine Pflicht. « Man sah am Ausdruck ihres Gesichtes, wie sauer ihr dies wurde, und doch hätte sie der Stiefmutter kin Haarbreit davon abgetreten. Sie haßte das Wort »Pflicht« und beneidete Gerda, die mit ihrer Zeit nach Belieben schalten und walten konnte. 

Es lebte ein starker Trotz in ihr, der es nicht zuließ, der Stiefmutter etwas von ihren Rechten abzutreten, die sie vor deren Eintritt ins Haus als große Tochter besessen hatte, obgleich sie sich scheinbar immer den Wünschen der Mama fügte.
Die junge Frau fühlte diese Macht wohl; es widerstrebte jedoch ihrer sanften Natur, sie zu brechen. So fügte sie sich um des lieben Friedens willen. Aber sie fühlte, daß sie sich heimlich verzehrte an diesem Schmerz, daß ihr körperliches Befinden nicht besser wurde, solange dieser Druck auf ihrer Seele lag. - Da dachte sie an ihre Schwester Marie. Ein neuer Hoffnungsfunken glomm in ihr auf. Vielleicht gelang es dieser, mit ihrem klaren, bestimmten Wesen einen Einfluß auf das junge Mädchen zu gewinnen. Sie sehnte ihre Ankunft mit fast krankhafter Ungeduld herbei.
Nun war die Tante da. Sie war mit großem Jubel empfangen worden und hatte gleich am ersten Tage die Herzen für sich gewonnen. Selbst Adele hatte sich dem Einfluß ihres angenehmen Wesens nicht ganz entziehen können.
Tante Marie wußte schon nach einigen Tagen, wie es im Hause stand. Mit klarem Blick hatte sie alle Verhältnisse durchschaut und benutzte das erste ungestörte Alleinsein mit der geliebten Schwester, diese zu bewegen, sich gründlich auszusprechen.
Die junge Frau zögerte erst, denn es widerstrebte ihr, die
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Anklagen gegen Dela zu erheben.
Die ältere Schwester aber wußte, wo der Haken saß. »Es ist deine Tochter, welche dir Kummer macht, nicht wahr?« fragte sie in warmer Anteilnahme.
Die junge Frau antwortete nicht, sie nickte nur leise, während eine Träne über ihre bleichen Wangen rollte.
Die andere aber fuhr mit sanftem Vorwurf fort: »Du behandelst sie aber auch ganz falsch, meine Else. Du beugst dich viel zu sehr unter ihren Willen, während doch der deine im Hause gelten sollte. Das ist nicht die gottgewollte Ordnung, daß die Tochter über die Mutter herrscht.«

»Ja, ich weiß, ich bin schwach gegen sie«, gab Else zu. »Doch ich wollte ihr gegenüber nicht die Stiefmutter herauskehren, sondern ihr mehr als Schwester und Freundin entgegenkommen, weil Dela schon erwachsen war. Das hatte ich mir so schön gedacht. Aber mein Kind versteht mich nicht. Sie betrachtet mich als die Fremde, während ich ihr doch so gerne nähertreten möchte.«
»Armes Herz!« tröstete Marie sie mitleidig. »Doch wir wollen nicht verzagen, sondern dem Herrn vertrauen, der alles ändern kann. Wir aber müssen auch an unserm Teile tun, was wir in eigner Kraft vermögen, damit euch beiden geholfen wird.«
»Wenn ich nur wüßte, wie ich's anfinge«, seufzte die junge Frau, »ich sehe auch gar keinen Ausweg.«

»Aber mir hat Gott einen gezeigt. Und deshalb wollte ich dich bitten: Gib mir deine große Tochter mit auf einige Zeit. Sie muß einmal ganz aus ihren jetzigen Verhältnissen herausgerissen werden, bis sie sich wieder danach sehnt.«
»Wenn du das wolltest, Marie! Aber ich fürchte, da wirst du sie lange behalten müssen. Und wenn Dela die Absicht merkt, wird sie wohl mißtrauisch werden. Sie ist so leicht zu verstimmen. «
»Davor ist mir nicht bange«, meinte Tante Marie fröhlich. »Ich habe als guter Feldherr das Terrain schon sehr gründlich untersucht und auch bereits den Schlachtplan entworfen. Laß mich nur machen. Ich bringe dir meine kleine Gefangene eher wieder als du denkst und ich hoffe sogar, vollständig besiegt. «
»Ich danke dir, Marie«, sagte die junge Frau warm. »Du machtest mein Glück vollkommen, wenn dein Plan gelänge.«
»Vollkommen kann es nur einer machen, der auch noch in euer Haus kommen muß - Jesus!« ergänzte Marie leise.
»Ja, du bist viel weiter im Glauben als ich, könnte ich doch auch so vertrauen wie du«, gestand die jüngere Schwester mit einem tiefen, sehnsuchtsvollen Seufzer ein.
Die ältere tröstete sie freundlich und ermunterte sie noch, ihre Augen aufzuheben zu den Bergen, von denen die Hilfe kommt. Sie selber aber wollte gern Gottes Handlanger dazu sein.

Francke ISBN 4 88224 562 X

Einleitung zum Neuen Testament, J.N.Darby (1)

01/07/2023
von Christ-und-Buch Günter Arhelger

Einleitung

Mit einer gewissen Furcht behandle ich den auf das Neue Testament bezüglichen Teil unserer Betrachtungen, wie groß auch der Segen sein mag, der eine solche Arbeit begleitet. Das Zusammenströmen und zugleich die Aus­dehnung des göttlichen Lichtes im Neuen Testament, die­ser köstlichen Gabe Gottes, die unermeßliche Tragweite der ‑darin enthaltenen Wahrheiten, die unendliche Man­nigfaltigkeit der Gesichtspunkte und richtigen Anwendun­gen einer und derselben Stelle, sowie der Beziehungen dieser Stelle zu dem ganzen Umfang der göttlichen Wahr­heiten, die unermeßliche Wichtigkeit dieser Wahrheiten, sei es, daß man sie an und für sich oder im, Blick auf die Herrlichkeit Gottes und die Bedürfnisse der Menschen betrachtet, die Art und Weise, wie diese Wahrheiten Gott offenbaren und den Bedürfnissen des Menschen begegnen ‑ alle diese Erwägungen, die ich nur sehr unvollkom­men auszudrücken vermag, lassen jeden demütig gesinnten Menschen vor der Anmaßung zurückschrecken, einen wahren und (selbst dem Grundsatz nach) entsprechenden Begriff von der Absicht des Heiligen Geistes in den Bü­chern des Neuen Testamentes geben zu wollen. 

Und je mehr die Wahrheit selbst geoffenbart ist, je mehr das wahre Licht leuchtet, desto mehr muß man seine Unfähigkeit fühlen, darüber zu reden, desto mehr muß man befürch­ten, das Vollkommene zu verdunkeln. Je reiner die Wahr­heit ist, mit‑der wir uns beschäftigen (und mit der Wahr­heit selbst haben wir es hier zu tun), desto größer ist die Schwierigkeit, sie anderen vorzustellen, ohne ihre Rein­heit irgendwie zu beflecken, und desto verhängnisvoller ist dann diese Befleckung. Wenn wir die eine oder andere Stelle betrachten, so können wir zum Nutzen anderer das Maß des Lichtes mitteilen, das uns gegeben ist. Wenn wir aber eine Vorstellung von dem Neuen Testament als Ganzes geben wollen, so stellt sich die ganze Vollkommenheit der Wahrheit selbst vor unseren Geist, sowie die Gesamtheit des Vorsatzes Gottes in der Offenbarung, die Er von ihr gegeben hat; und man zittert bei dem Gedanken, eine wahre und allgemeine, wenn auch nicht vollständige Darstellung geben zu wollen, welch letzteres sich gewiß kein ernster Christ anmaßen wird.