Dembsen Ewald, Die Brücke über den San

05/15/2023
von Christ-und-Buch Günter Arhelger

Die Brücke über den San

»In der letzten Nacht traf im Lager Friedland wieder ein Transport von Umsiedlern aus Rußland. ein. Es sind fast alles Volksdeutsche aus Polen, die im Kriege von den Russen nach Kasachstan verschlepptwren. In der Mehrzahl Frauen und Kinder.« So ging es durch die Nachrichten im Rundfunk und in den Zeitungen. Von einem Empfang, wie er einst den heimkehrenden Kriegsgefangenen bereitet wurde, war nichts zu hören und zu lesen. Ob sie weniger Anteilnahme verdienten; vielleicht, weil sie »nur« Volksdeutsche waren und die Kinder besser russisch als deutsch sprachen?


Zwei von ihnen lernte ich gut acht Tage später ken-en: Zwei Frauen, die ich auf etwa 60 und 40 Jahre hätzte, betraten meine Amtsstube als Bürgermeister. je hatten hier Verwandte und sollten hier auch Woh-üng und Arbeit finden. Als ich die Geburtstage auf-hrieb, gab die jüngere an: geboren am 10. 9. 1939 in
1.jelikije Zentowka am Sn.
Wjelikije Zentowka am San —10. 9. 1939.—Ich sehe tf und die beiden Frauen an. Plötzlich steht das alles. ieder vor mir, was mich seit den Tagen des »Blitzkrie-es« gegen Polen durch die Jahre als Frage begleitete d meinen Vorgesetzten Anlaß gegeben hatte, mich en den Beförderungen auszuschließen, weil ich kein zackiger« Soldat wäre. Wie war das damals?
Früher Nebel lag noch über den Pregelwiesen um uü, seren Flugplatz, als uns der Einsatzbefehl aus den Betten riß. Den einzelnen Maschinen wurden Sonderaufgaben im Einsatzraum zugewiesen. Wir sollten die Brücke über den San bei Wjelikije Zentowka durch unsere Bomben zerstören, um dem Gegner den Rückzug abzuschneiden.
Es war ein wunderbarer Flug über die ostpreußische Landschaft mit den gelben Gevierten der Stoppelfelder, den braungrauen der Kartoffeln, dem Blaugrün der' Wälder und den dunklen Augen der Seen. »Land der dunklen Wälder und kristallen Seen ... «‚ summte ich vor mich hin. Neben uns die weißen Schaumberge der Haufenwolken, die sich in den großen Wassern spiegelten. Eine stolze und zugleich demütige Freude erfüllte - unsere Fliegerherzen ob der Schönheit der Natur und der Kunst des Fliegens, die dem Menschen diese Wunder erschloß. Wer denkt da an Krieg? Es war ein Flug wie im Frieden. Keine Gegenwehr störte uns, als wir die Weichsel aufwärts flogen. Das mußte schon der San sein, der dort von Osten her seine Fluten der Weichsel zuführt! Und da - ein Blick auf die Karte bestätigte es: Das da ist die Brücke von Wjelikije Zentowka!
Friedlich liegt ein sauberes Großdorf an der geraden Straße, die über die Brücke führt. Bis auf das andere Ufer haben sich die Häuser vorgeschoben. Ringsum Felder, wie wir sie ähnlich in der Heimat überflogen
haben.
Das Graugelbe da müssen Maisfelder sein! Und das Leuchtende dort Sonnenblumep.felder! Einige Bauern brechen mit vier Pferden vor dem Pflug schon die Stop pelfelder um. Das Ganze ein Bild tiefsten Friedens. Die Brücke ist unverteidigt. Am Ufer des San ein paar Frauen beim Wäschespülen. Wir sehen ihr Spiegelbild im stillen Wasser zwischen den Buhnen. Ihre weißen Kopftücher grüßen zu uns herauf wie Wollgrasblüten aus einer grünen Wiese. Und nun winken sie auch mit ihrer nassen Wäsche!
Wißt ihr da unten denn gar nicht, daß Krieg ist? Daß in wenigen Minuten die Trümmer der Brücke über euer Dorf fliegen werden?
Nun kommen sie, durch das fremde Brummen in der Luft angelockt, aus den Häusern und Höfen! Überall zwischen dem Dunkel der Kleidung diese weißen Kopftücher zwischen den Häusern! - Die werden sich wundern, wenn ihnen die Fensterscheiben in die Stuben fallen!
Soll ich sie noch warnen? - Die sollen was erleben! Es ist ja Krieg, und wir sind über Feindesland! - Krieg? Feinde? - Was haben die da unten mir getan —haben die mich durch ihr Winken angegriffen? Ich muß runtergehen und sie wenigstens warnen. Niedrig brausen wir über die Dächer hin, daß das Federvieh erschrocken flüchtet. Eine warnende Garbe aus dem Maschinengewehr wird vom Brummen unserer Motoren übertönt: Ein Winken vieler Hände ist die Folge!
Nun sollen sie aber merken, daß es ernst wird: Ich setze zum Angriff auf die Brücke an. Da kommen sie winkend an den Fluß gelaufen, ja die Kinder, allen voraus, sind mitten auf der Brücke, um besser sehen zu können! Halten die das alles für Spaß? Wissen die nichts vom Krieg, der schon zehn Tage durch ihr Land tobt?
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Und wissen die nicht, was sie von uns zu erwarten haben?
Aber kann ich das verantworten, in diese grüßenden Kopftücher, in diese Kinder auf der Brücke den Tod zu werfen? - »Befehl ist Befehl!« -Und lassen wir unsere Bomben fallen, dann geht nicht nur die Brücke, sondern ein großer Teil des Dorfes diesseits und jenseits der Brücke mit in die Luft! Und die Menschen, diese Menschen?! Nach einem neuen Bogen fliegen wir dicht über der Brücke hin. Sie ducken sich; aber winken zu uns hoch. Und diese Wehrlosen soll ich in den Tod schicken?
»Ich schwöre bei Gott diesen. heiligen Eid, daß ich . . . unbedingten Gehorsam leisten ... «‚ so heißt es im Fahneneid. Jawohl, bei Gott! Und weil ich meinen Eid vor Gott verantworten muß, darum: Nein und abermals Nein!!
Don, der lange, blaue Schlauch in der grünen Wiese, wohl ein alter Arm des San, weit genug weg von Dorf und Brücke, der soll unsere Bomben aufnehmen. Hochauf spritzen die Wasserfontänen. Eine Runde noch über das • Dorf. Kein Arm hebt sich mehr zum Gruß. Wie von Entsetzen gelähmt stehen sie vor ihren. Häusern.
Wir sind zurück. Hatten wir recht getan? Meine Kameraden in der Maschine geben mir die Hand: sie werden schweigen. Wenige Tage später ist der Polenkrieg zu Ende. Ich sage meinem Kommandeur, wie es wirklich war. Er sieht mich lange und unverständig an: »Merken Sie sich: Im Kriege gibt es keine Menschen auf. der anderen Seite, sondern nur Feinde! Mit solcher Ge fühlsduselei kann aus Ihnen nie ein zackiger Soldat werden! Wenn ich die Sache weitergebe, sind Sie geliefert!« Er nahm es mir nicht übel, daß ich bald die Luft mit der Erde vertauschte.
Das alles steht wieder vor mir, als ich schreibe: »Beck, Lydia, geboren am 10. 9. 1939 in Wjelikije Zen-towka am San (Polen)«. Ich sehe über das Formular zu den beiden Frauen hin, deren Gesichter noch die Jahre in der kasachstanischen Steppe widerspiegeln. Und ihre Augen wachen auf, als wir von ihrer Heimat sprechen: jenem alten schwäbischen Kolonistendorf am San. Die Ältere erzählt stolz von dem großen, schmucken Hof, dicht am Ufer, unweit der Brücke über den San.
»Und«, sagte die ältere in ihrem schwerfälligen Deutsch, dem man noch die schwäbischen Reste anmerkt, »als der Pfleger fort war, wurde meine Lydia hier geboren!«
Sie begreifen nicht, warum ich ihnen so herzlich danke, daß sie gekommen sind, zu mir gekommen sind: Das hat ihnen noch keiner hier gesagt.
Aber ich weiß es jetzt ganz gewiß: Wir sind und bleiben Menschen; und kein Eid kann uns die Verantwortung vor Gott füreinander abnehmen. Und wenn ich die Lydia Beck durch unser Dorf gehen sehe, dann sehe ich jene Brücke über den San vor meinen Augen.