Harold Myra, Elsbeth

06/26/2023
von Christ-und-Buch Günter Arhelger

Marokko

»Mademoiselle! Mademoiselle!« Elsbeih ging schneller, als sie sah, daß inzwischen mehr als ein Dutzend französischer Soldaten ihr nachfolgten Soweit sie wußte, war sie das einzige europäische Mädchen in der marokkanischen Stadt Marrakesch - und die franzosischen Truppen gaben nicht so schnell auf.
Wie leicht wäre es hier, jegliches Moralgefühl zu verlieren, dachte das Mädchen aus der Schweiz, während es schnell, aber bestimmt vor ihren Verfolgern herging. Für ein hübsches, siebzehnjähriges Mädchen war Marokko gefährlich. Es war ungefähr zehn Uhr morgens. Sie war in den Laden gegangen, um Fleisch zu kaufen; aber nachts würde sie sich nicht mehr auf die Straße wagen. 

Sie eilte auf den Teeladen ihrer Großtante zu, öffnete die Tür, ohne zurückzublicken, und trat ein, während sie die Franzosen bewußt aus ihrer Sicht und ihrem Gedächtnis verbannte. Renee, die junge jüdische Frau, die in dem Laden arbeitete, stand am Ladentisch. Elsbeth arbeitete gerne mit ihr zusammen. Sie lernte dabei die Preise der Waren und half beim verkaufen, wenn der Andrang groß war. Außer den Geschenkartikeln, die im Schaufenster ausgestellt waren, gab es noch vier Tische mit Stühlen, auf denen die Kunden ihren Kaffee oder Tee mit Kuchen, Pasteten oder Torten zu sich nehmen konnten.

Elsbeth betrachtete Renees schwarzes, lockiges Haar, das im Morgenlicht bläulich schimmerte. Sie war hübsch angezogen, hatte eine helle Haut -und dunkelbraune Augen. Beide lachten sie über das - Pech der französischen Soldaten und sprachen dann über Renees Familie. Im Spiegel bemerkte Elsbeth, daß ihre Tante auf den Laden zukam. Mit ihrem hoch erhobenen Kopf, den zurückgeworfenen - Schultern und dem bestimmten Gang sah sie aus wie ein Soldat. Schnell griffen die Mädchen nach einem Staublappen und begannen, die Spiegel zu bearbeiten. »Ihr solltet immer irgend etwas tun«, hatte ihre Tante energisch gesagt. »Ihr dürft nie irgendwo herumsitzen. Für die Kunden ist es besser, daß -ihr beschäftigt seid.« 

Die kleine untersetzte Frau mit den kurzen lockigen Haaren trat durch die Ladentür ein und begann sofort, herumzukommandieren. Es war Dezember, und die betriebsame Weihnachtssaison hatte begonnen. Antoine, der Mann, mit dem die Tante zusammenlebte, hatte hinten im Laden fünf Araber beschäftigt, die Kuchen, Torten :und Pasteten zubereiteten.
1beth betrachtete heimlich ihre strenge Tante. Vor einiger Zeit war sie nach Bern gekommen und hatte Elsbeth nach Marokko eingeladen, damit sie dort ihr Französisch verbessern konnte. Die Tante war zwar etwas dick, hatte aber ein attraktives Gesicht und achtete peinlich genau auf ihr Äußeres. Elsbeth ärgerte sich ein wenig, daß sich ihre Tante mehr Respekt verschaffte als andere. Jeder nannte sie nur Madame Dpiez; aber sie war nicht mit Antuine verheiratet, obwohl sie nun schon fast fünfundzwanzig Jahre mit ihm zusammenlebte.

Als Elsbeth am nächsten Morgen aufstand, zitterte sie, obwohl ein kleiner Gasofen in ihrem Zimmer brannte. in Marokko ist der Dezember sehr kalt, und es gab in dem einstöckigen Teeladen, in dem auch die Wohnung war, keine Zentralheizung. Sie brachte ihr Nachtlager wieder in die Form eines Sofas und begann mit dem täglichen Ritual, die altmodischen Puppen der Tante genau auf ihren Platz zu setzen. Nachts diente dieser Raum als Elsbeths Schlafzimmer, aber tagsüber wurde er sowohl als Wohn- als auch als Eßzimmer benutzt.
Eine Fatima - ein arabisches Dienstmädchen - kam herein, um den Frühstückstisch zu decken. Als sie eintrat, verbeugte sie sich. Elsbeth war dies peinlich. Sooft sie konnte, steckte sie deshalb der Fatima eine der Pasteten oder Torten vom vorherigen Tag zu, die ihre Tante lieber wegwerfen würde, als ein Dienstmädchen damit zu »verwöhnen«. Elsbeth und ihre Tante setzten sich zu Tisch; um sie herum war alles makellos hergerichtet. Sie aßen mondförmige Kuchen und Hörnchen und tranken Tee dazu. Die Fatima verbeugte sich und verließ gehorsam das Zimmer.
»Ich habe heute nacht etwas Seltsames geträumt«, erzählte Elsbeth. »Irgend jemand ist gestorben, und wir haben den Sarg zugemacht.«
Erregt unterbrach die Tante ihre Nichte: »Gestorben! Elsbeth, warum sprichst du vom Sterben? Du bist viel zu jung, um an so et-.was zu denken.«
Elsbeth war verwirrt. »Warum sollen wir nicht über den Tod reden?«
eden?« Sie haue keine Angst vor ihrer Tante und schaute fest in ihre großen, blauen Augen, die über einer geraden, kräftigen Nase lagen.
»Wir leben!« erwiderte ihre Tante unwillig. »Wir denken an das Leben, nicht an den Tod. Nach diesem Leben ist es aus, da gibt es nichts mehr. Ein junges Mädchen wie du sollte an das Leben denken.«
»Aber ich glaube an ein Leben nach dem Tod. Weil Jesus Christus gestorben ist, haben wir das ewige Leben. Ich glaube an den Himmel.«
Ein vernichtender Blick traf Elsbeth. Für ihre Tante - sie konnte schließlich vier verschiedene Sprachen sprechen - war ihre Ansicht die einzig intelligente Ansicht. »Du bist noch zu jung, um das zu verstehen. Aber irgendwann wirst auch du es begreifen.«
Madame Dpiez haue im Alter von sechzehn Jahren die Schweiz verlassen und war nach Ägypten gegangen. Sie hatte nicht geheiratet, aber sie haue ein Kind gehabt. Sie erinnerte Elsbeth an einen Pfirsichstein, der äußerlich hart und rauh ist, aber einen weichen Kern hat. Die Tante erwiderte die Zuneigung ihrer Nichte, doch Elsbeth fragte sich, ob sie wohl einmal diese harte Schale zerbrechen würde. -
Der Teenager aus der Schweiz bemerkte überrascht, daß es das marokkanische Volk zu lieben begann. Die Stadt Marrakesch war etwa hundert Kilometer vom Atlas-Gebirge entfernt, das die Sahara von• Nordafrika abtrennt. Die Bevölkerung lebte streng getrennt. Die Araber wohnten in einem Teil, die Juden in einem anderen und die Europäer hatten einen dritten Bereich besetzt. Eines Tages nahm Elsbeth Renees Einladung an, nach der Arbeit ihre Familie im jüdischen Viertel zu besuchen. Sie stiegen in Renees kleines Auto und fuhren an den zweistöckigen Häusern und den hübschen Höfen des europäischen Viertels vorbei. Elsbeth entdeckte Orangenbäume und gelegentlich einen auf einem Esel reitenden Araber. Aber was sie auf der Fahrt am meisten beeindruckte, war der plötzliche Sonnenuntergang. Sie schaute durch die Windschutsscheibe Der Himmel war dunkel; nur ein bunter-Streifen war am Horizont zu erkennen -.Dunkelblau, Violett, Orange, Gelb und ein feurigesRöt flossen ineinander über. Palmen warfen ihre Silhouetten gegen das breite Band der Farben.
Die Mädchen gelangten durch ein Tor in einen älteren Stadtteil. Sie Waren im jüdischen Viertel, und augenblicklich war alles verändert. Die:&raße war holperig und mit Schlaglöchern übersät. Anstelle von Häusern sah Elsbeth nur Lehmxnauern an den Straßen. Sie hatten kleine Eingänge. Man mußte sich bücken, um hindurchzu kommen. Männer mit Bärten und alten, dunklen Hüten und Frauen, die in bunte Tücher gewickelt waren, eilten an den Händlern vorbei, die an den Tischen saßen. Überall war Kindergeschrei, Die Juden hatten an den Verkaufstischen in der Straße Petroleumlaxn-pen angezündet. In diesem Teil von Marrakesch gab es keine Elektrizität.
Sie parkten, und Renee öffnete die Wagentür. »Ist das Auto hier siehe!?« fragte Elsbeth.
»Ja, natürlich., antwortete Renee, als sie ausstiegen. Elsbeth folgte ihr durch das Meine Loch in der Mauer und war überrascht, als sie sich in einem hübschen Garten befand, in dem Pflanzen mit großen, weit ausschweifenden Blättern, Zitronen- und Orangenbäume wuchsen. Vom Hof aus sah man verschiedene Räume.
Renees Vater war ein wohlhabender Händler. Er konnte Arabisch und auch ein wenig Französisch, mit dem er Elsbeth begrüßte. Ihre Mutter nickte einfach liebenswürdig mit dem Kopf, der mit einem Schal umwickelt war. Alle setzten sich auf bestickte Kissen, die nahe beim Feuer lagen, während ihnen auf großen Platten das Essen gereicht wurde. Elsbeth fand das Essen einzigartig. Es bestand aus Hühnchen mit Gemüsesoße, Pfeffer und anderen Gewürzen.
Elsbeth versuchte, ihren Aufenthalt in Marokko so gut wie möglich auszunutzen; sie besuchte eine kleine Kirche, in der sie Sen Schweizer Missionar kennenlernte, der im arabischen Viertel wohnte. Eine französische Familie in dieser Gemeinde lud sie ein, sie zu besuchen und bei ihnen Klavier zu spielen. Eine robuste britische Hebamme leitete eine Sonntagsschule und heuerte Elsbeth als Lehrerin an. Trotzdem fand sie noch Zeit zum Häkeln, im Garten
ihrer Tante die. Ziträaet- und Orangenstauden und die Granatap: felbäunie zu pflegen und mit dem Hund herumzutollen. Ein junger französischerSäldatauderGemeindemtemitihrSenSh1 flug in das Atlas-Gebirge.

Dennoch wurde es ihr in Marrakesch allmählich langweilig. Zu Hause in Bern war sie es gewöhnt, eine Mengeharter Arbeit zu verrichten. Hier durfte sie nicht einmal das Geschirr abwaschen. Eines Sonntags fragte die große, dünne und entschlossene britische Hebamme mit ihrer rauhen Stimme: »Elsbeth, was machst du eigentlich hier in Marokko? Kannst du hier tun, was du willst?. Die Worte hatten deutlich einen britischen Akzent.
»Ja, man braucht mich überhaupt nicht. Ich würde gerne irgend etwas tun. • Elsbeth hatte ein wenig Ehrfurcht vor dieser Frau, die in den vierziger Jahren war und jeden Tag fast Unmögliches leistete. An einem vorhergehenden Sonntag hatte Elsbeth gefragt, ob alles gut ginge, und sie hatte geantwortet: »Nun, ich habe sechs Frauen, die in den Wehen liegen.. Während des Gottesdienstes wurde sie dann gerufen, und sie fuhr schnell mit ihrem Fahrrad fort.
»Wir haben Hunderte von arabischen Frauen, die mit ihren Kindern kommen«, erklärte sie. »Du könntest ihnen zeigen, wie man die Babies wäscht, das Wasser abkocht und wie man das Milchpulver zubereitet..
»Mit Freuden könnte ich das tun!. Elsbeth war so aufgeregt, daß sie während des Gottesdienstes kaum stillsitzen konnte. Sie dachte an die reizenden bronzefarbigen Kinder mit ihren schwarzen Haaren. Kaum war der Gottesdienst zu Ende, eilte sie halb gehend, halb rennend zum Laden zurück.
Ihre Tante arbeitete gerade im Lager. Elsbeth sprudelte fast über, als sie aufgeregt von der Not und der wunderbaren Gelegenheit erzählte. »Was meinst du dazu, Tate?.
Ihre Tante stand aufrecht wie eine Königin, und Elsbeth merkte, wie ihre Hände sich verkrampften. »Was erlaubst du dir!« explodierte sie, und es hatte fast den Anschein, als ob sie zuschlagen wollte. Dann stemmte sie ihre Hände in die Hüften und schnaubte: »Du willst also zu diesen dreckigen schwarzen Kindern gehen. Kannst du dir nicht denken, was die Leute sagen werden? Madame D€piezs Nichte geht zu diesem dreckigen Volk? Ausgeschlossen! Niemals!«

war ,m miMken. >Wie abiciie,iliclic, dachte sie Sie, die immer so pieckfein ist und so tut, als sei sie verheiratet, .obwohl sie e tidt ist.< Verzweifelt rannte sie in ihr Zimmer. »Herr«, betete sie, »ich möchte diesen Menschen helfen. Ich werde nachHaüse fahren und einen Beruf erlernen. Ich möchte unabhängig sein von-Tanten und allen anderen. Herr, hilf, daß ich solchen Kindetn helfen kann;..

In der Schweiz
Einige Jahre später, als Elsbeth Schwesternschülerin war, lernte sie Klaus kennen. Ein Arzt hatte Mitarbeiter seiner Abteilung und einige Studenten in sein Haus am Bodensee zu einem »Musikabend« eingeladen. Klaus, ein junger Assistent aus Deutschland, spielte Flöte. Während einer Erfrischungspause trafen sie sich unten am See. Klaus kam auf sie zu und begrüßte sie: »Ich bin froh, daß Sie kommen konnten!«
Elsbeth hatte den jungen Arzt bereits im Krankenhaus gesehen und fragte verwirrt nach seinem Namen. »Klaus Peter.«
»Haben Sie Geschwister?« »Nur neun Brüder.«
Die spöttische Untertreibung paßte zu seinen lustigen Augen. Er sprach mit jener milden, aber verwirrenden Ironie, die Elsbeth sofort gefiel. Während des Gesprächs erfuhr sie, daß sein Vater, ein Arzt, von den Nazis sechs Jahre lang in einem Konzentrationslager festgehalten worden sei, während die Mutter die Familie mitheimli-ehen IJbersetzungsarbeiten für die Amerikaner durchgebracht hatte.
Elsbeth und Klaus fühlten sich schnell zueinander hingezogen, während sie bis nach Mitternacht Geschichten austauschten. Schließlich bot Klaus ihr an, sie nach Hause zu begleiten. Elsbeth wohnte am See, wo die Grenze zwischen der Schweiz und Deutschland verläuft. »Warum unterhalten wir uns nicht noch ein wenig?« fragte Klaus. Es war eine idyllische Märchenszene, dichter Wald, Weinberge und sogar ein altes Schloß waren um sie herum. Elsbeth harte das Gefühl, als ob sie ein Teil eines romantischen Gedichtes sei; Schwäne schwammen auf dem-See, und helles Mondlicht berührte die Bäume, das Wasser und ihre Gesichter.

Sie schritten Arm in Arm zu einer kleinen Bauminsel und setzten sich dort auf eine Bank, die einfach aus einem Stück Holz und zwei Pfosten zusammengezimmert war. Don küßten sie sich das erste Mal. Die Schwäne standen bewegungslos auf dem Wasser, und das Möndlithtuütriß ihre weiße Gestalt in der Frühsommernacht
Elsbeth fand an diesem Sonntag nur ein paar Stunden Schlaf, bevor Erwin, ein junger Mann, mit dem sie über ein Jahr befreundet war, sie abholte. Kurz nach ihrer Rückkehr aus Marokko hatte sie einen Fehler gemacht. Sie wollte einen jungen Mann nicht verletzen, und schließlich hatte sie sich mit ihm verlobt. Aber nach einer Weile trennten sie sich wieder. Mit Erwin war es nie soweit gekommen. Sie wußte nun, warum. Sie mochte ihn ziemlich gerne, aber sie liebte ihn nicht.
Sie versuchte, es ihm sanft beizubringen, und doch trafen ihn ihre Worte wie Messerstiche. Bestürzung zeigte sich in seinem Gesicht, und er begann zu weinen wie ein kleines Kind. Elsbeth wußte, daß er ihr jenes Gefühl der Liebe entgegenbrachte, das sie für Klaus empfand. Aber sie konnte seine Liebe nicht erwidern, obwohl sie ihn sonst gerne hatte.
Die Traurigkeit dieser Abschiedsszene vermischte sich auf eine seltsame Weise mit ihrem Wunsch, jedem von dem wunderbaren Abend zu erzählen, den sie verbracht hatte. Aber in dem starren Programm ihrer Schwesternausbildung durfte sie sich nicht anmerken lassen, daß sie in einen Arzt verliebt war, mit dem sie zusammenarbeitete. Deshalb erzählte sie es nur ihrer besten Freundin Margret.
So arbeiteten Klaus und Elsbeth jeden Tag Seite an Seite, aber niemand schöpfte Verdacht. Einmal erfuhr sie, daß Klaus im zweiten Stock war und dort im Badezimmer Flöte übte, um niemanden zu stören. Elsbeth war im ersten Stuck für zwei Stationen verantwortlich. Sie konnte sieh einen Augenblick freimachen, lief die Treppen hinauf, öffnete die Tür, küßte sein erschrockenes Gesicht, lief wieder die Treppen hinunter und hoffte, daß es niemand bemerkt hatte.
Eines Abends machten sie einen langen Spaziergang im Licht des hellen Vollmondes. In der Mitte des Waldes gelangten sie zu einer

1  Drei Länder
2  Biafra
3  Zwei Wochen im Urwald
4  Zusammen
5  Im Zug nach Serikinpawa
6  Ein amerikanischer Frühling
7  Lausanne
8  Ein Wochenende im August
9  Das Licht
10 Danach