Hoff B. J. Insel der Erinnerung

05/26/2023
von Christ-und-Buch Günter Arhelger

Himmelsgewand
Dir, der Zeit und Unendlichkeit wob,
verschlung'ne Muster meines Leben zeichnet -
all den Tagen, all den Jahren -‚
Dir bring ich Lachen wie Tränen hin:
Hoffen, Träumen und Gedenken,
Triumphe und Tragödien.
Dir bring ich's, ein ums andere Mal -
Dir: nichts weist Du ab, machst alles neu!
Mein Leben nimm, Herr,
nimm's und web mir drum
den Mantel der Ewigkeit.
B. J. Hoff

Prolog: Die Stille
Tödliche Stille hing schwer in der Luft; überall Schweigen, daß man erschrak..
Thomas D'Arcy McGee

Irland, 6. Januar 1839
An jenem Tag blickten viele in Irland mit bangem Stirnrunzeln gen Himmel - beinah so, als erwarteten sie, ein Zeichen zu erblicken oder womöglich einen Hinweis auf irgendeine unnatürlich-düstere Macht, die hinter den Wolken lauerte. Die warme Stille des winterlichen Tages hatte etwas Zermürbendes, so willkommen das Ende der bitteren Kälte auch sein mochte.
Der Epiphaniassonntag war über einer stillen weißen Welt heraufgedämmert; das dichte Schneetreiben der vergangenen Nacht hatte alles zugedeckt. Als es Nachmittag wurde, war das Thermometer so hoch gestiegen, wie seit Menschengedenken zu dieser Jahreszeit noch nicht. In Hemdsärmeln standen die Männer an den Weggabelungen und ergingen sich in Erörterungen über die Kapriolen des .Wetters und darüber, ob diese Absonderlichkeit etwas ankündige und wenn ja, was
Den Frauen auf der Insel blieb landauf, landab keine Zeit, sich derlei Spekulationen hinzugeben. Den ganzen Nachmittag hindurch hatten sie alle Hände voll zu tun, um mit dem wenigen, was ihre Geldbörsen hergaben, irgendwie eine festlich gedeckte Tafel zu zaubern. Stundenlang geschürte Backofenglut hüllte die Katen in Rauch, und je weiter die Uhrzeiger vorrückten, um so zappeliger wurden die Kinder vor Vorfreude auf den Abend. Doch wen wunderte es, wenn ganze Dörfer vor Erregung zu vibrieren schienen, zumal festliche Tage im ländlichen Irland allzu selten waren. In, letzter Zeit war man weit mehr an Totenklagen gewöhnt als an die beschwingten Klänge eines Tanzvergnügens.

So kam es, daß man an diesem Tage selbst in den entlegensten und zurückgebliebensten Grafschaften jeden Augenblick der Wärme wie ein Geschenk empfand, wie eine Stundung der winterlichen Düsternis und des allseitigen Schreckens, der Irland schon lange in seinem Klammergriff hielt. Der heutige Abend würde den Familien, die sich glücklich schätzen konnten, noch ein Dach überm Kopf zu besitzen, ein paar Stunden des Zusammenseins rund ums Herdfeuer gewähren, in denen sie sich der Gaben eines gedeckten Tisches erfreuen würden, Gaben, deren Knappheit sie um so kostbarer machte. Für einen Abend wenigstens würden die irischen Männer ihre Sorgen über steigende Pachten und die erschreckenden Berichte von Zwangsräumungen vergessen, während ihre Frauen bei dem Versuch, auch ihre Ängste zu verdrängen, tapfer lächelten und sich in helle Gewänder kleideten.
Gelächter würde erschallen, man würde Lieder singen und Gott um seine Bewahrung bitten; und das Herzstück von allem würde die Musik sein: eine Musik voller Tiefe und Lebenswillen, erwachsen aus Jahrhunderten der Sorgen und der Sehnsucht nach Freiheit. Musik, die dem Wunsch Ausdruck verlieh, endlich hoffen zu können.
Indessen gab es einige, deren Hoffnung sich weder auf die fröhlichen Feierlichkeiten des bevorstehenden Abends gründete noch auf den Boden des uralten Landes ihrer Geburt, ja, noch nicht einmal auf den Gott ihrer Väter oder den Glauben, der ihre Familien seit Generationen am Leben erhalten hatte. Ihre Hoffnung klammerte sich an einen einzigen Gedanken: Flucht!
Diese Leute gehörten nicht unbedingt zu denen, die unentwegt davon redeten, die „arme alte Insel" endlich hinter sich zu lassen. Es war nicht so, daß der Gedanke sie bedrückte, Haus und Hof, ja das Vaterland im Stich zu lassen und sich auf die beschwerliche Reise übers Meer machen zu müssen, um ein besseres Leben zu finden. Sie hatten gar kein Zuhause mehr oder waren tagtäglich von der Zwangsräumung bedroht. Zum Erschauern brachten sie eher die beißende Kälte des Winters und der Hunger, als irgendwelche Ängste vor der Überfahrt über den weiten Atlantik.
Diese Menschen hofften auf die Möglichkeit zur Flucht. Für viele von ihnen gab es keine andere Hoffnung mehr.

1. Terese
Voll Spuk ist die Luft des Zwielichts:fremd und still
Lieber ist meiner Seele der sanfte Hauch der Dämmerung.
Eva Gore-Booth

Inishmore (Aran-Inseln, vor der Westküste Irlands)
Terese Sheridan stand in dem tiefen Schatten von Dun Aengus und sah zu, wie sich die Nacht über den Ozean senkte. Es war ein warmer, ein geradezu unnatürlich warmer Tag gewesen, die Luft so stickig, daß die Flamme eines Talglichts nicht einmal flackerte. Inzwischen aber war eine leichte Brise aufgesprungen, die die Felsen umspielte. In der Ferne flammte hier und da ciii Blitz auf und erhellte den Himmel.
Die gewaltige steinerne Festung, die über ihr aufragte, hatte schon immer an ihrem Platz gestanden - längst vor der Ankunft Patricks, wenn man den Dorfliltesten Glauben schenken durfte. Die gewaltigen Ringmauern mit ihren einst nach Tausenden zählenden Zinnen, hinter denen man sich in grauer Vorzeit verschanzte, um Angreifer zurückzuwerfen, ließen die Burg über Inishmore und seinen Bewohnern erscheinen wie ein kolossales, ehrfurchtgebietendes Urtier, das der See entstiegen und in endlosen Jahrhunderten der Wacht zu Stein erstarrt war.
In ihrer irgendwie schwerelosen Riesenhaftigkeit war die Burganlage für Terese nicht bloß zum Wächter über die ganze Insel, sondern auch zu einer Art persönlichem Hüter geworden. Neben Dun Aengus gab es nichts in ihrem Leben, das sich als wirklich beständig erwiesen hatte. Heute abend jedoch nahm sie Abschied von der alten Burg. Sie war aus der Kate ihrer Tante hinten im Dorf ins Freie getreten, um der Burg und Inishmore Lebewohl zu sagen.
Noch vor der ersten Morgendämmerung würde sie nicht mehr hier sein.
Monatelang hatte sie mit ihrer besten Freundin, Peggy O'Grady, ihre Abreise von der Insel geplant. Doch so sehr sie auch den Tag herbeigesehnt hatte, der sie von hier wegbringen würde, ganz freimachen konnte Terese sich nicht von dem schwermütigen Gefühl, das sie schon den letzten Abend empfunden hatte. Oft hatte sie Abschied nehmen müssen, zu oft; und mochte sie auch an diesem Ort Bitterkeit und Sorgen durchlebt haben, so ließ sie hier doch Erinnerungen zurück, Spuren ihres Lebens und der Familie, die sie verloren hatte, Spuren viel zu selten von Liebe und Wärme.
Mit siebzehn Jahren war Terese die einzige aus ihrer Familie, die noch auf dieser Seite des Atlantiks lebte. Mehr als sechs Jahre war es her, daß ihr Vater wie auch ihr Bruder Cavan die Überfahrt nach Amerika angetreten hatten. Zurückgelassen hatten sie nichts weiter als das Versprechen, binnen eines Jahres Geld zu schicken, damit der Rest der Familie nachkommen konnte.
Es hatte sich erwiesen, daß die Straßen Amerikas keineswegs, wie man hatte erzählen hören, mit Gold gepflastert waren, sondern mit Pferdeäpfeln. Aus den Stellungen, von deren Lohn man die Passage-gebühren für die Familie - wenn nicht sogar ein eigenes Haus in der Neuen Welt - hätte bezahlen können, war nie etwas geworden. Ihr Vater war verstorben, nachdem er noch nicht einmal ein Jahr aus Irland fort war, und Cavan hatte sich schließlich in einem Land namens Pennsylvanien wiedergefunden, wo er mit ihrem Onkel Tibbot und dessen Söhnen unter der Erde nach Kohle grub.
Binnen Jahresfrist nach der Auswanderung von Vater und Bruder hatten Terese und die übrigen Angehörigen den Pachtzins nicht mehr aufbringen können, und man harte sie von Haus und Hof vertrieben. Nachdem sie den größten Teil des Winters in einer Höhle auf den Klippen der Küste haften hausen müssen, waren sowohl die kleine Mada als auch Tereses ältere Schwester, Honor, an Kälte und Lungenentzündung gestorben. Danach hatte es keine Woche gedauert, bis auch ihre Mutter tot dalag und Terese, damals noch nicht ganz zwölf Jahre alt, allein zurückließ.
12 13
Bis auf die Knochen durchgefroren und halbtot vor Hunger hatte sich Terese aufgemacht, um ihre Tante Una um Unterschlupf zu bitten, die in Held of the Horses lebte, einem verschlafenen Nest nicht weit hinter der Küste. Als sie zum erstenmal anklopfte, hatte ihre Tante ihr die kalte Schulter gezeigt und gefragt: „'Wie soll ich es denn bitteschön fertigkriegen, noch einen weiteren Esser sattzu-bekommen? Ich habe weder Platz noch Essen übrig. Du bist doch jetzt 'n feines, großes Mädchen. Du wirst keine Mühe haben, von deiner eigenen Arbeit zu leben."
Es hatte aber auf der hungernden Insel keine Arbeit für sie gegeben. Verzweifelter denn je, hatte Terese schließlich ihren Stolz überwunden und ein zweitesmal Tante Una aufgesucht. Und jetzt, sei es aus Schuldgefühlen oder plötzlich wieder zum Leben erwachten Familienbindungen hatte ihre Tante der Nichte einen stinkenden Strohsack in der Ecke angewiesen, wo manchmal das Schwein lagerte, und einen beengten Sitzplatz am Tisch inmitten ihrer fünf Vettern und Cousinen.
Seitdem war kein einziger Tag vergangen, an dem sie Tante Terese nicht daran erinnerte, welch eine Last sie ihr war und wie unendlich glücklich sie sich schätzen konnte, daß sie, Tante Una, aus christlichem Hause stammte und sich deshalb willens zeigte, ihr unter derartigen Opfern Obdach zu bieten. Andererseits hatte es in den Jahren, die folgten, ebensowenig einen Tag gegeben, an dem Terese niht vor Genugtuung erglühte, während sie das Geld zählte, das Cvan endlich zu schicken begonnen hatte und das sie in der Ab-sj'cht, genug zu sparen, um Inishmore und der „christlichen Nächstenliebe" ihrer Tante den Rücken zu kehren, sorgfältig verbarg.
Mitunter, wenn die Einsamkeit am allerschlimmsten war, hatte sie sich gefragt, ob es nicht besser gewesen wäre, sie wäre in der Höhle umgekommen wie ihre Mutter und ihre Schwestern. Doch jedesmal schaffte sie es, sich vor der Versuchung des Selbstmitleids in acht zu nehmen in der Hoffnung, daß eine bessere Zukunft ihrer harrte - eine Zukunft dort drüben, jenseits des Atlantiks.
Tatsächlich war es diese Hoffnung, die Terese buchstäblich am Leben hielt, diese verzweifelte Hoffnung, in der sie einem Tag ent gegensah, an dem sie endlich der erbärmlichen Armut ihres Daseins den Rücken kehren und jene bessere Zukunft sehen würde.
Jetzt war dieiser Tag gekommen. Morgen um diese Zeit würden sie und Peggy schon in Galway sein. Terese hatte es geschafft, von dem Geld, das Cavan ihr im Laufe der Jahre geschickt hatte, und ihrem Verdienst in der Küche von Corcoran's Inn jeweils fast doppelt so viel beiseite zu legen, wie sie gewöhnlich ihrer Tante für Kost und Logis aushändigte. Nun hatte sie genug für die Überfahrt nach Amerika beisammen - genug für ein neues Leben.
Plötzlich, so als wäre die Hoffnung höchstselbst vom Himmel her auf sie herabgekommen und hätte sie auf den Schwingen des Windes davongetragen, wich die melancholische Stimmung von ihr, die ihr den ganzen Abend zu schaffen gemacht hatte. Terese fühlte sich irgendwie erleichtert, ja erlöst, so daß sie ihre zum Greifen nahe Freiheit am liebsten über die ganze Insel hinausgeschrien hätte.
In diesem Moment heulte eine jähe Windbö über die Küste hinweg, gefolgt von krachendem Donner und einem atemberaubend grellen Blitz. Augenblicklich wurde die Luft kühl, und Terese wünschte, sie hätte ihren Mantel übergezogen und nicht bloß den dünnen Pullover ihrer Cousine Nancy.
Sie wurde gewahr, daß es schon spät war, wahrscheinlich schon nach acht, und nach einem letzten Blick auf die steinerne Festung wandte sie sich ab und machte sich auf den Rückweg ins Dorf. Ohne Vorwarnung traf sie ein weiterer Windstoß, noch stärker diesmal und klagend wie eine Todesfee, als er über die tückischen Gemäuer der Festung hinfuhr.
Terese blickte zum Himmel, dessen tintenblaue Färbung schwere Regenwolken erkennen ließ, und drehte sich dann nochmal zur Küste um, wo die Flut jetzt höher auflief. Draußen vor den Klippen bildeten sich immer mächtigere Brecher und rollten tosend auf das Land zu. Ein Sturm kam unglaublich rasch auf. Der Wind peitschte gegen ihr Gesicht und ihre Schultern. Als sie sich wieder umdrehte, um nach Hause zu rennen, schlang sie zum Schutz gegen die Kälte die Arme um sich.

Inhaltsverzeichnis
Prolog: Die Stille 9
I.Terese 12
2. Brady 16
3. Suche nach Zuflucht 24
4. Der Schrecken des Windes 29
5. Die Müden und Verwundeten 37
6.Jack 50
7. Der Starke trifft den Starken 56
8. Zu lange getrennt 69
9. Wenn man eine Diebin fängt 78
10. Engel - ohne es zu wissen 88
11. Im Hause des Fischers 94
12. Jane Connolly 106
13. Der Blick auf die Frauen 116
14. Ein berechnender Brief 129
15. Der Schlüssel zu einem Traum 142
16. Möglichkeiten 149
17. Diese Frau ist ein Rätsel 163
18. Die Prinzessin und der Pirat 170
19. Gewinnen oder erobern? 183
20. Verschiedene Arten von Menschen 195
21. Ein Mantel, das Feuer zu umhüllen 207
22. Stern des Schicksals 217
23. Pfarrer Gnadenlos 223
24. Ein Atemzug zwischen den Erinnerungen 236
25. Ein Treffen in der Mercer Street 247
26. Ein Tag voller Überraschungen 259
27. Inmitten der Scharten 271
28. Traurige, unerwartete Neuigkeiten 278
29. Das vertraute Antlitz der Verzweiflung 285
30. Ein Abschied ohne auf Wiedersehen 294
31. Preis der Träume, Strafe der Narrheit 302
32. Klagelied der Einsamen 314
33. Sturm im Herzen 324
34. Ein unerwartetes Willkommen 332
35. Ein Plan für die Zukunft 340
36. Konfrontation mit dem Bösen 351
37. von Anwälten und Rechtshändeln 356
38. Himmelstuch 372
39. Samanthas Lächeln 382
40. Von Stille und Schatten 395
41. In die Nacht 407
42. Erinnerungen und Geheimnisse 414
43. Wacht im Bellevue 426
Epilog: Gaben von Gold und Gnade 436
Published by Tyndale House Publishers, Wheaton, USA
© der deutschsprachigen Ausgabe
1999 by Verlag der Francke-Buchhandlung GmbH